Das Lachen der Hexe - Margrit Schriber - E-Book

Das Lachen der Hexe E-Book

Margrit Schriber

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Beschreibung

Im Muotatal, dem abgelegenen Tal von Schwyz, bleibt Anna Maria Gwerder auch nach ihrer Ehe mit dem angesehenen Bezirksvorsteher eine »Auswärtige«, obwohl sie mit ihrer einnehmenden und fröhlichen Art das Misstrauen zunächst überwinden konnte. Nach dem Tod des Mannes wird die wirtschaftlich erfolgreiche Frau mit dem »erregenden Lachen« immer argwöhnischer betrachtet. Hat sie sich nicht zu viel herausgenommen? Einen Krämerladen eröffnet, was noch niemand gewagt hat, und schon gar keine Frau. Soldaten bewirtet und dafür junge Mädchen aus dem Tal eingestellt. Handel getrieben. Ihre Tüchtigkeit wird ihr zum Verhängnis. Aus der Fremden wird bald etwas Böse, eine Hexe. Im Jahr 1753 stirbt Anna Maria Gwerder im Gefängnis von Schwyz an den Folgen der Folter, noch bevor sie als Hexe verurteilt wurde. Margrit Schriber erzählt das Schicksal der Anna Maria Gwerder in seiner erschreckend zwingenden Logik im Denken der damaligen Zeit.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Margrit Schriber

Das Lachen der Hexe

Roman

Atlantis

Ich bin keine Hexe.

Sie erklärt es den hohen Herren. Sie ist eine Frau. Sie ist wie jede andere. Eine aus dem Land Schwyz, wie die Herren selbst.

Eine Schar Muotataler hat sie auf dem Karren in den Hauptort gebracht. Man habe das Mensch auf dem Wasserberg gefangen.

Wie alle Hexen wurde sie an den Flaschenzug gehängt und mit Schwung in den Turm gezogen.

Es ist der Juli des Jahres 1753. Der Landrat hat den Informativprozess angeordnet. Die Verhöre haben begonnen. Läufer ziehen im Tal und auf den zugehörigen Höfen Erkundigungen über die Gefangene ein. Sie heißt Anna Maria Schmidig, geboren am 19. Oktober 1679 in Steinen als jüngste Tochter des Sebastian Schmidig und der Anna Ulrich von Steinen.

Wie konnte sie in den ungeheuerlichen Verdacht geraten? Hat sie eine welsche Tracht getragen? Ringe an den Fingern? Roch sie anders als die anderen, nach Safran, Zimt und Muskat? Nach einem köstlichen, unbekannten Duft? Nach einem ganzen Krämerladen vielleicht? Soviel man weiß: nein. Sie hüllte sich nie in Seide oder Damast. Ihre Hände sind von der Arbeit hart. Ihr Kleid ist zerrissen vom Karren, auf den man sie geworfen hat. Sie ist verdreckt. Sie trägt keine Schuhe. Sie trocknet die schweißnassen Hände am Wollumhang ab. Vor dem Bildstock hat sie die Augen gehoben, das ist wahr. Aber vor den Herren in Schwyz schlägt das Mensch die Hände nicht vors Gesicht, auch das ist wahr. Von Hiesigen gesehen und bezeugt.

Sie war nie wie wir. Sie ist eine Äußere. Die sind anders.

Trägt sie ein Zeichen? Ist sie missgestaltet? Bucklig vielleicht, dass jedermann den Kopf nach ihr dreht?

Tatsächlich, sie hat ein Mal von Geburt. Der Teufel hat, wie man so sagt, an ihr ein wenig gefuhrwerkt. Manch einer starrt sie an. Aber sie gewinnt, wenn sie spricht. Wenn sie lacht, vergisst man ihr Mal. Und sie hat etwas im Blick. Dieser Blick hat einen angesehenen Witwer aus dem Muotatal verwirrt. Er hat sich für die Missgestaltete interessiert.

Die Läufer werden über das Glück der Anna Maria Schmidig informiert. Dieses unverschämte Glück einer Gezeichneten. Erscheine doch der verwitwete Kastenvogt an einem Kilbitag mit dieser Person, bringe also der Ratsherr und Schatzverwalter vom Viertel eine Auswärtige in unser Tal. Eine auffällige Gestalt mit einer Haube, die unter dem Kinn mit einer großen Masche festgebunden war. Ihre Augen waren Scheiben aus nassem Pech. Regentropfen sprangen von ihrem Buckel ab. Ihre eine Hand hielt einen Krapfen, die andere Hand war in den Ärmel des Kastenvogts gekrallt. Sie lief, um mit ihm Schritt zu halten. Ihr Saum schleifte durch die Pfützen, der Rock war bis zum Mieder mit Dreck beworfen und der nasse Stoff klebte an ihren Schenkeln.

Die ledigen Fassbindtöchter, im Schlepptau von Vormund Rickenbacher, die sich auf dem Weg zum Tanzlokal befanden, stockten beinah mitten im Flug. Das Volk trat zur Seite. Und der verehrte Herr Amtsinhaber schritt mit diesem unglaublichen Anhängsel durch sein Muotataler Viertel, in dem es durchaus nicht an tugendlichem Weibervolk mangelt. Er marschierte stracks mit ihr zum Tanzlokal. Der Vormund der Fassbindtöchter pfiff durch die Finger und trieb seine Mündel in dieselbe Richtung. Die drei flatterten mit ihren hellen sauberen Röcken wie eine Schar aufgeregter, girrender Hühner dem Tanzlokal zu.

Haide Mathis spielte auf. Landauf, landab fiedelt keiner so gut wie er. Er spielt heillos tänzig. Unirdisch. Wenn Mathis seine Geige aufhängt, dann spielt das Instrument noch von sich aus drei Tänze. Der Kastenvogt zog sein Anhängsel zum Parkett. Dort stemmte die Person eine Hand in die Hüfte, schürzte mit der anderen den Rock über ihr vorgeschobenes Füßchen, schwenkte den Saum ein wenig und begann zu tanzen.

Und wie sie ihn angeschaut hat! Mit geflatterigen Augen! Der Gockel sank ihr entgegen, knickte beinah in die Knie. Er drehte sich um diese Person, die rechte Hand mit gefächerten Fingern auf dem Scheitel, die linke im Kreuz. Hüpfte einen Schritt vor und zur Seite und einen Schritt zurück.

Die übrigen Paare zogen sich langsam vom Parkett zurück. Man sah den ausgeschämt Tanzenden vom Rand aus zu. Der Kastenvogt stampfte, ging in die Knie, hopste in die Höhe und kreiselte um sich selbst. Während die Seinige sich mit kleinen Schritten um seinen Finger drehte. So tanzen sie unseres Wissens nicht einmal im Hauptort Schwyz. Geschweige unter dem Rossberg in Steinen. So tanzen sie vielleicht bei den Venedigern. Oder den Parisern und den Heiden.

Voll Entsetzen habe man diesem Gehüpfe und Gedrehe und Getue zugeschaut.

Der Geiger stand plötzlich auf der Bank, schwang seine Fiedel, popelte aufs Kastenholz, zupfte die Saiten und zog seinen flatternden, schnellenden, holpernden Bogen über sein Instrument.

Es war, als spiele der Teufel für das Paar. Gebannt habe man hinsehen müssen.

Wir konnten uns nicht fortrühren, keinen Schritt. Wir waren angewurzelt.

Die Haube des Weibsbilds segelte immer rascher durchs tranige Licht und Tropfen rieselten vom peitschenden Rock.

Hat dieses Geschöpf zur Musik gesungen?

Uns schien es so. Ihr offener Mund, das verklärte, entrückte Lächeln hat den Luftikus Haide Mathis ungemein angefeuert.

Alle Zuschauer haben den Buckel einfach vergessen. Ihr Gesicht glühte und Funken sprühten aus den dunklen Augen. Uns allen war klar, dass der Ehrenmann von unserem Viertel für die hiesigen Frauenzimmer verloren war. Er hampelte an der Schnur einer Auswärtigen.

Plötzlich begann ein Zuschauer den Takt mit den Fingern zu schnippen. Vielleicht machte er ein Kreuz, denn wir konnten uns von einem zum andern Augenblick wieder rühren, mit dem Holzschuh stampfen, juchzen und bödelen nach unserer Art. Haide Mathis hat pausenlos gespielt. Und die Fassbindtöchter haben das ungleiche Paar umtanzt. Bei jeder Begegnung gab die älteste, Kathrin, dem Kastenvogt einen Stoß. Und dann neigte sie den Kopf weit in den Nacken und versengte ihn beim Vorübertanzen mit einem Blick. Er hat es nicht einmal bemerkt.

Die Diele kochte. Man verstand kein Wort. Im Übermut hob Bänz von der Källenen die Bucklige auf den Tisch und raffte den Saum über ihre Wollstrümpfe. Zeigt, wie euresgleichen auf dem Bocksberg tanzt!

Es war im Tanzlokal mit einem Schlag still. Plötzlich waren wir nüchtern. Der Kastenvogt war erbleicht, wie ein Lilache ist er geworden. Unversehens packte er den betrunkenen Bänz an Kragen und Hosenboden, wuchtete ihn hoch und warf ihn mit Schwung über einen gedeckten Tisch hinweg durchs geschlossene Fenster. Dann hob er die zitternde Person vom Tisch, ohne ein Wort, hängte sie sich wie einen Regenschirm an den Arm, zupfte sein Wams gerade und ging.

Und stracks zu Herrn Hochwürden mit ihr. Am Sonntag wurde die Ehe zwischen dem Witwer und der Misswüchsigen verkündet.

 

Das ist das unverschämte Glück der Anna Maria Schmidig aus Steinen.

Die St.-Agatha-Glocke von Muotathal läutete im Jahr 1706 die zweite Ehe ein von Kastenvogt Hans Leonhard Gwerder, Lienert genannt. Die Kleiderkiste der Steinerin wurde ins Haus zum Rössli auf der Gand gebracht und ihre Lilache wurden zum Bleichen auf die Wiese neben der Muota gebreitet. Im Dorf wurde sie jetzt Frau Kastenvogt genannt. Die honorige Gattin. Sie zählte nun zum verzweigten Geschlecht der Gwerderigen. Anna Maria vertrat an den beiden Kindern der verstorbenen Frau, Geörg und Regina, Mutters statt. Ein Bub und ein Mädchen ergeben, wie man sagt, ä Tanzete. Im folgenden Jahr hat sie ihre Tochter Maria geboren. Darauf folgt Rosa. Und die Söhne Jacob und Leonhard.

Die Muotataler sind ein Volk von Bauern, Sennen, Knechten, Mägden. Sie haben viele Kinder. Mehr hungrige Mäuler als Gemüse, um sie zu stopfen. Der älteste Sohn erbt den Hof. Die jüngeren Söhne sehen sich gezwungen, das Muotatal zu verlassen. Sie ziehen als Söldner in fremde Kriegsdienste. Die Töchter dienen als Mägde.

Die Familie des Rats vom Muotataler Viertel lebte in guten Verhältnissen. Sie wohnte auf der Gand an der hinteren Brücke. Ihr Tätschhaus mit Klebdach ist nicht aus Tremeln des Bannwalds gezimmert. Und es ist benediziert. Seine Putzenscheiben blinken im Morgenlicht wie viele kleine Sonnen. Die Söhne trugen ein Hemd aus selbst gesponnenem weißem Garn. Und die Töchter hatten eine jede ihr Halstuch aus Seide mit einer Busennadel befestigt. Das Herz auf dieser Nadel war aus Silber.

Und jeden Sonntag schritt Anna Maria am Arm ihres Ehemanns zur Kirche auf der Anhöhe, gefolgt von ihren Kindern. Und die Dorfbewohner kneteten grüßend den Hut. Kastenvogt Gwerder hatte einen guten Namen. Sein Wort galt. In der Kirchbank rückten die Frauen zusammen, damit die Kastenvögtin Platz finde. Die Münze, die sie in den Opferstock fallen ließ, unterschied sich nicht vom Klang, den die Münze ihrer Nachbarin erzeugte, und das Fazolet, das sie an ihre Nase hielt, war mit nicht minder breiter Spitze besetzt. Ihre Spende an die Kirche war beachtlich. Ihre Wachskerzen dufteten nach Honig und warfen flackernde Schatten an die Gewölbedecke. Das Gemurmel ihres Gebets und ihr Gesang vermischten sich mit den anderen Stimmen. Anna Maria Gwerder tauchte die Finger ins Becken und gab das Weihwasser weiter.

Sie glaubte, es sei für immer. Sie hat geglaubt, ihr Glück daure bis ans Ende der Tage.

 

Das Muotatal zieht sich durchs Hochgebirge. In seiner Mitte fließt die launische Muota. Fast senkrecht steigen Felswände auf beiden Seiten des Wildbachs in die Höhe. Schattenhalb liegen die Häuser südlich der Muota und sonnenhalb die Häuser nördlich. Es musste Anna Maria zu Beginn schwerfallen, dass im Winter kaum ein Sonnenstrahl auf die Gand trifft. Sie hatte die zerklüftete Zinglenfluh vor sich. Und musste den Kopf weit in den Nacken legen, um im engen Himmelsausschnitt für kurze Zeit die Sonne zu sehen. Die Gand zählt zum Dorf Muotathal im Muotatal. Der Kastenvogt übt sein Amt in einem weitläufigen Gebiet aus. Die meisten Weiler sind nur zu Fuß zu erreichen.

Es sei anzunehmen, sagen die Leute, dass seine Frau ihn begleitete, neugierig, wie die Person war. Sie sei überhaupt oft unterwegs gewesen. In den abgelegensten Gebieten sei sie aufgetaucht, wo niemand eine Fremde zu sehen erwartete.

Plötzlich trat das Weibsbild aus dem Wald und wedelte mit einem Fazolet in Richtung der verdutzten Einheimischen.

Wenn der Schnee sich auf die Berggipfel zurückzieht, steigen die Bewohner mit dem Vieh auf die Alp. Sie sömmern die Tiere und wohnen für eine Zeit in der Hütte auf der mittleren Stafel. Und im Hochsommer ziehen sie mit dem Vieh zur Hütte auf der oberen Stafel, im Frühherbst treiben sie es wieder zur mittleren Stafel hinunter. Mit den ersten Schneeflocken kehren Mensch und Vieh ins Tal zurück. Die weit verstreuten Alphütten versinken für Monate im Schnee.

Im Dorf schaufelten Kastenvogts eine Gasse von ihrer Tür zur Kirche und zum Nachbar Niederöst. Lautlos zogen die Rosse ihren Schlitten durch die Schlattlischlucht. Trotteten mit stiebenden Hufen, schnaubend und dampfend durchs Pulver. Manchmal hörte man das Krachen eines stürzenden Baums. Oder die dumpfen Schläge einer Axt auf dem Ambäck. Dann herrschte wieder Stille.

Mit dem Tauwetter erwacht das Tal. Holzfuhrwerke rumpeln heran. Viehherden ziehen ein. Die Schlucht ist dann von Herdengeläut, Karrengerumpel, Peitschenhieben und Stimmen erfüllt.

Kastenvogts Hof auf der Gand liegt am Kreuzpunkt von zwei Heerstraßen. Die eine führt nach Osten über den Pragelpass ins Glarnerland. Die andere führt nach Süden über den Kinzigpass ins Schächental und von da über den Gotthard. Hier steigen die Reiter vom Pferd. Pilger, wanderfreudige Gesellen, Soldaten und Händler füllen ihre Ziegenbeutel mit Wasser. Das Vieh trinkt. Und für eine Weile ruhen sie aus in dem friedlichen Ort, ehe sie den steilen Aufstieg unter die Füße nehmen.

 

Anna Maria hat leichtfertige Versprechen ans Leben gemacht. Gib mir eine Stunde Seligkeit und ich will sterben!

Die Gefangene im Turm zu Schwyz sucht in ihrer Einsamkeit Trost bei den Bildern aus schönen Tagen, denn ein Menschenalter zerfällt nie nur in Glücks- und nie nur in Unglückstage. Sie wandert mit dem Pilzkorb der stiebenden Muota entlang. Ihre Töchter trompeten eine Melodie auf einem Baumblatt, die Söhne klappern mit Steinen den Takt. Und der Kastenvogt steht auf der Schwelle des Hauses und ruft ihren Namen in die Sonne hinaus. Er überreicht ihr sein Geschenk, eine goldene Halskette aus Venedig, zum Zeichen, dass sie für immer verbunden sind. Und er sie schützt. Bis ans Ende der Tage.

 

Amtsgeschäfte führten den Kastenvogt auch nach dem Landeshauptort Schwyz. Er sattelte sein Ross, überbrachte dem Frauenkloster am Weg eine Spende für ihre Fürbitte und trottete gemächlich durch den Wald dem Schlattli zu.

Kathrin Fassbind sei ihm einmal bei der Brücke begegnet. Er ritt hoch zu Ross mit klirrendem Zaumzeug durchs wechselnde Baumlicht und das blinkende Geschirr habe sie geblendet. Sie sei zur Seite gewichen und dabei rückwärts über einen am Boden liegenden Ast gestrauchelt.

Ich musste mich hinsetzen, erzählt sie den hohen Herren in Schwyz. Ich war verletzt. Ich glaube, die Kastenvögtin hatte die Hand im Spiel. Zumindest könne sich Kathrin keine andere Ursache für ihren Sturz einbilden. Ich hielt meinen Fuß und jammerte vor Schmerz. Lienert, unser Kastenvogt, ist sofort vom Ross gestiegen. Wir waren ja einmal verlobt. Er hat sich vor mich hingekniet, meinen Fuß nach allen Seiten gedreht und geknickt. Das Gelenk war nicht gebrochen oder aufgeschrammt, aber es war geschwollen. Und ich habe den Wollstrumpf gelöst, damit er mein Schienbein untersuchen konnte. Auch das tat weh. Bis hinauf zum Knie tat es mir weh. Und als er unter die Röcke tastete, spürte ich selbst an den Schenkeln jämmerlich den Druck seiner Finger. Alles tat mir weh. Noch nie in ihrem Leben sei Kathrin so hilflos gewesen. Ich konnte mich kaum bewegen. Sie habe ihr Gesicht auf Lienerts vorgeneigten Scheitel gesenkt und in die Locken ihres früheren Verlobten geweint. Er habe sie dann, sie wisse nicht, ob nach Minuten oder Stunden, aufs Ross gehoben und zu beiden Seiten die Zügel ergriffen. Er habe das Ross wenden lassen. Und in seinen Armen sei sie im Trott ins Dorf zurückgeschaukelt.

Auf Ehr und Wahrheit! Die Unsrigen vergaßen den Mund zu schließen. Sie hatten nicht einmal die Geistesgegenwart, grüßend an ihrem Hut herumzudrücken. Anna Maria, die Frau von Lienert, war dabei, einen Apfel zu essen, als ich in den Armen ihres Gatten auf dem Ross herangeschaukelt kam. Der Biss blieb ihr stecken. Sie war kreidebleich.

Nachbar Niederöst will von einem solchen Einritt Kathrins ins Dorf nichts wissen. Der Kastenvogt sei neben seinem Ross hergegangen. Niederöst habe sich gewundert, warum die Fassbindsche auf dem Ross hockt. Sie war wohlauf, denn am nächsten Tag hat sie mit einigen Franziskanerinnen und Pfarrer von Euw eine Wallfahrt nach Einsiedeln gemacht. Und zwar zu Fuß.

 

Niemand will sich auf Anna Marias erste Jahre im Muotatal besinnen. Eine Gabe an die Barbara-Kerze ist im Kirchenbuch verzeichnet. Sonst gibt es kaum Aufzeichnungen. Dies sei, heißt es, ungewöhnlich, da Pfarrer von Euw sehr genau Buch geführt hat. Des Kastenvogts Frau hat sechs Kinder aufgezogen. So viel ist gewiss. Sie stand dem Haushalt und dem Gesinde vor. Der Kastenvogt besaß Vieh und Weideland, etwas Wald und eine Alphütte auf dem Wasserberg. Wenn er unterwegs war, wird sie wohl die Tiere gefüttert haben. Wie andere Frauen auch. Es war für sie selbstverständlich, eine Sense zu wetzen und die Wiese zu mähen.

Sie sei nicht aus dem Rahmen gefallen. Kleidete sich nach der Sitte. Tat ihre Christenpflicht. Es ist anzunehmen, dass sie ihre Träume hatte. Und Flausen im Kopf. Eine Steinerin wird nicht anders sein als eine Muotatalerin.

Anna Marias unbändiges Lachen. Daran erinnern sich die Leute. Ein mitreißendes, perlendes, ein geradezu wildes Lachen. Es hallte von den Felswänden und füllte das Muotatal mit Heiterkeit. Es hat alle angesteckt.

Doch sonst? Damals? Bevor der Verdacht aufkam?

Sie hatte etwas Frisches. Sie war eine lebhafte, anpackende, strahlende Person. Zeigte sich an allem interessiert. Am Urwald, dessen mächtige Tannen seit Jahrhunderten zum Schutz vor Lawinen und Steinschlag gebannt sind. An der fremdartigen Ausstattung der Durchreisenden, ihrem Zierrat, der Webtechnik ihrer Kleidung. Sie roch an den unbekannten Gewürzen in ihren Beuteln. Wo wachsen diese Pflanzen? Wie wird der Türkentrank gebraut? Welche Menge des Gifts wirkt tödlich?

Beim Reden raffelte Anna Maria den Anhänger über die goldene Halskette. Wenn man sie so sah, vergaß man ihr Gebrechen. Sie war keine stille Natur. Sie wanderte auf und ab, redend, lachend, fragend, brach hier eine verblühte Blume, streichelte dort eine Katze, wischte bald diesem Kind Rotz vom Gesicht, knotete bald jenem ein Band. Und schnellte von der Hocke auf, als wolle sie im nächsten Augenblick über den Zaun springen.