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Eine Entdeckung aus dem Nachlass: bisher unveröffentlichte Erzählungen von einer der beliebtesten Autorinnen Amerikas.
Harper Lee (1926-2016), Verfasserin des berühmten Romans »Wer die Nachtigall stört«, ist eine der größten und wichtigsten amerikanischen Autorinnen, dennoch ist über ihre schriftstellerischen Anfänge bisher nur wenig bekannt. In »Das Land der süßen Ewigkeit« werden nun acht bisher unveröffentlichte Erzählungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die aus den frühen Jahren ihrer Schriftstellerkarriere stammen und nach Lees Tod in ihrer New Yorker Wohnung gefunden wurden. Von der Kleinstadt in Alabama zum Leben einer jungen Autorin in New York City, bringen diese Geschichten uns die Schöpferin von Tom Robinson und Atticus und Scout Finch näher. »Das Land der süßen Ewigkeit« beinhaltet außerdem acht Essays und Artikel, die uns eine Autorin zeigen, die sehr zurückgezogen wirkte, die die Welt um sie herum jedoch mit großer Neugier, Klarheit und Weitsicht betrachtet hat.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als 1960 Wer die Nachtigall stört erschien, war der Roman eine riesige Sensation – genau wie die bis dahin völlig unbekannte Autorin Harper Lee. Erst 2015 erschien ihr zweiter Roman Gehe hin, stelle einen Wächter, eine verlorengeglaubte Wiederentdeckung. Lange Zeit wusste man kaum etwas über die schriftstellerischen Anfänge dieser Autorin, die wie kaum eine andere die amerikanische Literatur geprägt hat. Diese Sammlung von Essays und neuentdeckten Storys zeigt Lees enormes Talent und ihren so klugen, wachen Blick auf die Gesellschaft. Sie erzählt von einer Kindheit in Alabama, vom großen New York, von Familien und Wahlfamilien. Und es zeigt sich einmal mehr, was für eine ungemein feine und genaue Beobachterin der amerikanischen Gesellschaft Harper Lee war. Ihre Geschichten haben auch heute nicht an Aktualität verloren.
Harper Lee wurde 1926 in Monroeville/Alabama geboren. Sie studierte Jura an der Universität von Alabama und ging dann nach New York. Für ihr 1960 veröffentlichtes Debüt Wer die Nachtigall stört erhielt sie u.a. den Pulitzer-Preis. Der Roman zählt zu den bedeutendsten US-amerikanischen Werken des 20. Jahrhunderts, wurde in 40 Sprachen übersetzt und hat sich international rund 40 Millionen Mal verkauft. Gehe hin, stelle einen Wächter wurde vor ihrem Weltbestseller geschrieben und galt als verschollen. Erst 2015 erschien er unter großer weltweiter Aufmerksamkeit. Harper Lee lebte zurückgezogen in ihrem Heimatort Monroeville/Alabama, wo sie im Februar 2016 verstarb.
»Eine literarische Sensation.« Süddeutsche Zeitung über Gehe hin, stelle einen Wächter
»Eine große erzählerische Kraft (…). Man wünscht sich nach der Lektüre, Harper Lee hätte (…) noch ein paar weitere Romane veröffentlicht.« ZEIT Online über Gehe hin, stelle einen Wächter
»Wer die Nachtigall stört ist (…) so etwas wie Amerikas Nationalroman (…), weil so viel in dieser Geschichte zusammenkommt: Südstaatenromantik, Gerichtsdrama, Empathie und Suspense, vor allem aber Amerikas oft geprüfter, doch immer noch unbändiger Wille zum Guten.« Die Welt über Wer die Nachtigall stört
www.penguin-verlag.de
HARPER LEE
Storys und Essays
Aus dem amerikanischen Englisch von Nicole Seifert
Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel The Land of Sweet Forever bei Harper, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright der Originalausgabe © 2025 by Harper Lee LLC Copyright Nachwort © 2025 by Casey Cep
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Robin Bilardello
Umschlagillustration: Robin Bilardello
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33865-7V002
www.penguin-verlag.de
Storys
Der Wassertank
Das Fernglas
Die Zickzackschere
Ein Zimmer voller Futter
Die Betrachtenden und die Betrachteten
Das ist Showbusiness?
Einfach umwerfend
Das Land der süßen Ewigkeit
Essays und Vermischtes
Liebe – mit anderen Worten
Griebenbrot
Weihnachten für mich
Über Gregory Peck
Wenn Kinder Amerika entdecken
Truman Capote
Romanzen und große Abenteuer
Offener Brief an Oprah Winfrey
Nachwort
Von ihrem Platz auf dem Schulhof aus glaubte Abbie vom Himmel geröstete Felder sehen zu können und ein Schimmern, wo sie sich berührten. Zu heiß für Townball. Sie ächzte, streckte die Beine steif im gelben Gras aus und fragte sich, warum ihre großen Zehen so groß waren – sie standen in keinem Verhältnis zum Rest ihrer Füße. Sie war kein Kind, nach dem man die Hände ausstreckte, um es zu berühren: Die Nägel ihrer plumpen Finger waren eingerissen, mehrere rote Narben auf der rauen Haut ihrer Knöchel passten zu denen auf ihren Knien. Das braune Haar über ihrer Stirn war zottelig, weil der Pony rausgewachsen war, und ihre übergroßen Augen lagen so tief, hatten so schwere Lider, dass sie wirkten, als wären sie nur halb offen. Man sagte, sie würde träge wirken.
Um sie herum versammelte sich eine Schar Mädchen, barfuß und in ausgeblichenen Baumwollkleidern. Es war Gruppe zwei aus der Sechsten, Fünfzehn- und Sechzehnjährige, die das halbe Jahr über Baumwolle verarbeiteten und das restliche Jahr über lernten, was sie konnten: Mädchen mit dicken Fesseln und roten Gesichtern, glänzenden rosa Händen und strohigem Haar. In diesem Jahr war Abbie mit Gruppe zwei in einer Klasse; sie war fasziniert von der derben Ausdrucksweise und den Erfahrungen, die sie von den anderen Stadtkindern unterschieden. Unwissentlich gab Abbie ihnen im Gegenzug, was deren Eltern sich für sie wünschten: eine Freundin aus der Stadt, die auf die Universität gehen und eines Tages einen Zahnarzt oder Anwalt heiraten würde oder wenigstens nach Hause zurückkommen und als Sekretärin in der Maiben County Bank arbeiten würde.
Das größte Mädchen atmete zischend aus und kroch zu Abbie rüber. »Mach mal Platz«, sagte sie. »Die Erde ist so heiß, da kann ich nicht drauf sitzen.«
Als Maybelle sich auf die graue Steinbank hievte, roch Abbie Hoyt’s-Parfüm und Schweiß. »Achte besser drauf, dass Miss Nash dir nicht zu nah kommt und was riecht, Hawkins«, sagte sie.
Maybelle schnaubte. »Die sagt nur, wir sollen keins benutzen, weil sie selbst hinter Raymond Walters her ist.« Raymond ist der älteste und größte Junge in der Maiben County Elementary School: siebzehn und ein Meter dreiundachtzig. Gruppe zwei kam in dem Jahr mit gekräuseltem Haar und Puderdosen zur Schule, und Miss Nash meinte dem sofort einen Riegel vorschieben zu müssen. »Die kleineren Kinder«, sagte sie zu ihnen in ihren zahlreichen Vieraugengesprächen, »die schauen zu euch älteren Mädchen auf, ihr habt großen Einfluss auf sie, zum Guten oder zum Schlechten. Sorgen wir doch dafür, dass der Einfluss gut ist, ja?«
»Mir kann sie gar nichts«, sagte Maybelle angriffslustig. »Ich würde sie mit der Spitzhacke in den Boden rammen.« Die Mädchen kicherten.
»Ich würd mich heute lieber von ihr fernhalten. Sie hat wieder dieses kreidige Zeug gegessen, also hat sie es mit der Verdauung.«
»Miss Nash kann mich mal. Hast du das mit Louise Finley gehört, Ab? Heut Morgen im Bus haben alle drüber geredet.« Maybelles blaue Augen funkelten.
»Nee, wer ist das?«
Maybelle fuchtelte mit einem rosa Finger Richtung Highschoolgebäude. »Sie ist in der Neunten. Mildreds große Schwester.«
Abbie nickte. Mildred Finley war ein glubschäugiges Mädchen in der Vierten, das aus Mexia kam und am ersten Schultag für Aufsehen gesorgt hatte, weil sie nicht wusste, wie man eine Toilettenspülung bediente. »Und? Was ist mit ihr?«, fragte Abbie.
»Also – hey, hört mal alle her, aufgepasst! Habt ihr das mit Louise Finley gehört?« Die welken Baumwollkleider rückten näher. Maybelle beugte sich zu ihnen vor und sagte: »Louise Finley kriegt ein Baby, und ich weiß, wer der Papa ist!«
Maybelle wurde mit dem Kreischen der Mädchen belohnt. Ihre runden Arme brachten das Woher-weißt-du-das und Wer-hat-dir-das-erzählt zum Schweigen. »Außerdem«, sagte sie, »wird Louise morgen in ein Heim für unverheiratete Mütter in Mobile geschickt. ’türlich hat ihr Daddy dem Eddards-Jungen den Sheriff auf den Hals gehetzt – der war das nämlich. Das hat Mr. Finley rausgefunden, weil Louise es Dr. Simmons erzählt hat, und der hat es ihm erzählt, und mein Pa und ich haben gehört, wie es der Daddy Mamma erzählt hat. Mamma rastet ja gern mal aus und hat gesagt, es sei eine Schande für das Christentum, und der Staat sollte diesen Finleys ein Ende machen, und sie hat auch gesagt, es wär Mr. Finleys Schuld, weil er das Mädchen an der langen Leine gehabt hat, und sie sagt, Mr. Finley wird den Leuten nie wieder in die Augen sehen können!« Maybelle befeuchtete sich die Lippen. »Ich sag euch was«, sagte sie langsam, »besser, Mildred und Louise Finley zeigen ihre Gesichter nicht mehr in Mexia. Die sind eine Schande fürs County, so ist das nämlich!«
Abbie wurde übel. »Louise ist doch so alt wie du, oder?«
»Ja. Paar Monate jünger, glaub ich.«
Abbie war verwirrt und riss dann immer die Augen auf und rieb sich den Hinterkopf. »Aber Louise kann kein Baby kriegen. Sie ist ja noch nicht mal verheiratet, Maybelle.«
Maybelle grinste in die Runde. »Kann sie doch, Dummkopf.« Sie holte tief Luft und fügte leise hinzu: »Hör zu, Schätzchen, ab wenn du zwölf bist, kannst du jederzeit ein Baby kriegen. Ich hätte sogar schon mit elf eins kriegen können … Es braucht dir nur ein Mann nahe zu kommen und – Abbie, ist es bei dir etwa noch nicht losgegangen?«
»Doch. Letzten Monat.«
»Na, dann müsstest du ja Bescheid wissen.«
»Was meinst du, Maybelle? Worüber müsste ich Bescheid wissen?« Abbies verschwitzte Hände zwirbelten den Saum ihres Kleides zu einem schmutzigen Strang. Ihr Magen meldete sich, und eine dumpfe Schwere kroch in ihre Schultern. Maybelles blonde Zöpfe schienen sich scharf vom Himmel abzuheben, das Schulgebäude hinter ihr verrutschte ein wenig.
»Also gut.« Die Zöpfe wackelten. »Ich erklär’s dir, pass gut auf: Wenn ein Mann dich anfasst, nachdem es bei dir losgegangen ist, kriegst du garantiert ein Baby!« Maybelle ließ ihre Handfläche auf die Bank klatschen.
Alle Farbe wich aus Abbies Gesicht, und sie hörte ihre eigene Stimme aus dem Schulgebäude: »Du meinst, wenn ein Junge fragt, ob er –«
»Ganz genau. Und wenn du mitmachst, kriegst du ein Baby.« Die Zöpfe nickten triumphierend. »Diese Louise Finley – hey, was ist denn los, Ab?«
Sie wachte auf, ein feuchtes Tuch im Gesicht und Miss Nashs Mundgeruch auf den Augenlidern. Abbie spürte, wie sie vom Boden hochgezogen wurde. »Ich schicke dich für den Rest des Tages nach Hause des Tages nach Hause«, sagte Miss Nash. Ab der Stelle spielte die Schallplatte richtig weiter: »Schaffst du den Heimweg alleine?«
»Klaro.« Abbie wohnte gleich um die Ecke von der Schule, es war nur ein kurzer Weg.
»Sag deiner Mutter, dir ist draußen zu heiß geworden.« Miss Nashs harte weiße falsche Zähne grinsten sie an.
Die Hände in die Hüfte gestemmt, wartete Mrs. Henderson, bis Abbie die Stufen geschafft hatte und im kühlen, düsteren Flur stand. »Habt ihr wieder gestritten?«, fragte sie. »Miss Nash hat angerufen und gesagt, du wärst auf dem Weg nach Hause, du würdest es mir erzählen.« Mrs. Henderson schob sie durch den Flur.
»Ich bin ohnmächtig geworden, Mamma.«
Die Runzeln auf der Stirn ihrer Mutter verschwanden. »Oh. Dann hole ich dir besser was. Leg dich hin.«
Den Großteil des milchigen Ammoniakwassers spuckte sie wieder ins Glas, drehte sich auf den Bauch und lag still, bis Mrs. Henderson das Zimmer verlassen hatte.
Als die Tür sich quietschend schloss, machte Abbie die Augen zu. Sie zitterte unter der Decke heftig; eine feste Masse schob sich ihre Luftröhre hoch, und sie machte den Mund auf, um sie rauszulassen. O Gott, betete sie, mach, dass ich nicht – mach, dass ich nicht! Ich tue alles, wenn ich nurnicht –! Die Schwere in ihren Schultern kroch langsam ihre Arme entlang; ihre Knie und Oberschenkel schmerzten. Bitte, Gott, ich will sterben. Das wollte ich nicht. Ich wusste nicht –. O Gott. Sie würden sie nach Mobile schicken, und sie würde sie nie wiedersehen. Da war doch mal das Ames-Mädchen … Die Ameses haben Maiben County verlassen und sind nie zurückgekommen … Alle im County kannten die Hendersons; sie würden bis nach Barbour gehen müssen – nein, da lebte Onkel Dick. Was würden sie ohne sie tun? Sie sah ihren Vater auf dem Nachhauseweg, wie er nach Abbie Ausschau hielt, die ihm entgegenkam, aber nichts weiter sah als den Laden der Brantleys. Er ging ins Haus und nahm seinen Strohhut ab. Mutter, sagte er. In der Küche, Jim, sagte sie. Als Mr. Henderson sie berührte, weinte sie. Abend für Abend saßen sie allein im Wohnzimmer und fragten sich, was aus Abbie in Mobile geworden war …
Abbie ächzte und ließ den nächsten Kloß raus. In ihrem Kopf tönte jedes schmutzige Wort, das sie je gehört hatte – was bedeuteten sie eigentlich genau? So war es nun: Sie würde also ein Baby bekommen. O Gott, was würden ihre Mutter und ihr Vater sagen?
Und Ed Dennis? Er hatte es nicht gewollt, wenn er das gewusst hätte, hätte er ja nicht … Bis heute hatte sie nicht mehr an Ed Dennis gedacht, der sie mit seiner aufgeknöpften Hose im Arm hielt, es war so lange her. Nein, es war erst letzten Dienstagnachmittag gewesen. Sie hatten im Garten Kickball gespielt, und als sie müde wurden, hatten sie sich hinter der Garage auf den Boden gesetzt. »Abbie«, hatte er gesagt. »Zeig dich mal. Ich möchte nur sehen, wie ein Mädchen aussieht.«
Wenn sie das rausfanden, würde der Sheriff ihn ihretwegen in der Stadt ins Gefängnis stecken, das voller Ratten war. Armer Ed, dabei war nichts verkehrt mit ihm. Sie kannten sich, seit sie auf der Welt waren, und als Ed sich mal das halbe Bein aufgeschnitten hatte, hatte Abbie ihm ein Genesungsgeschenk gebracht. Sie überlegte, was sie alles über Ed Dennis wusste: Seinem Vater gehörte die Cas-A-Loma-Tankstelle am Stadtrand, und ihm fehlten zwei Finger; seine Mutter war Nazarenerin; er hatte zwei erwachsene Schwestern …
Sie warf sich auf den Rücken und starrte die Astlöcher in der blauen Holzdecke an. Zähl die Risse, dachte sie, wie damals, als du Scharlach hattest. Zähl die Risse, und sie verwandeln sich in Tage, dann kommt das Baby, und sie haben dich … Mrs. Dee Peavy von gegenüber wird zu Mrs. Burkett rennen, um ihr von der Schande der Hendersons zu erzählen, und wenn dein Daddy vom Büro nach Hause kommt, werden sie ihn ansehen … Plötzlich kicherte sie und setzte sich auf.
Sie trat die Decke weg und stand auf: Sie hätte ja noch mindestens eine Woche lang Zeit, und wenn es so weit war, würde sie es beim Schornstein unterm Haus verstecken! »Mamma«, rief sie. »Es geht mir besser, kann ich aufstehen?«
»Nein, du bleibst noch ein bisschen liegen«, rief Mrs. Hendersons Stimme aus den Tiefen der Küche.
Sie legte sich wieder aufs Bett. Die Anspannung rann durch ihre Fingerspitzen und ließ sie müde zurück. Bald schlief sie ein.
Aber ihre Zuversicht war nur von kurzer Dauer. In der Schule bestätigten die täglichen Gespräche mit Gruppe zwei: Bekam eine ein Baby, die keins bekommen sollte, kam sie per Gesetz in ein Heim, und ihr Vater verlor seine Stelle. Er würde auch keine neue Stelle bekommen, egal, wo er fragte, denn was passiert war, eilte ihm voraus. Babys? Also, die wuchsen im Bauch und wurden geboren, wenn man ins Bad ging. Was sehr wehtat. Ja, jeder Junge über zwölf kann dir eins machen.
Ihr Vater schwor, er wusste nicht, was los war mit dem Kind. Warum sie seit einer Woche schlecht gelaunt war; warum sie, wenn sie nicht Trübsal blies, hinter der Garage saß. Wenn er ihren Namen rief, sah sie auf, als erwarte sie Schläge.
»Ach, du weißt schon, Jim«, sagte Mrs. Henderson. »Sie hat es ja noch nicht so lange und hat sich einfach noch nicht dran gewöhnt.«
»Aber du hast ihr alles erklärt, oder?« Jim Henderson dachte, er würde sich mit Mädchen auskennen, aber dass eine reagierte wie Abbie, hatte er noch nie erlebt.
»Ich denke schon«, sagte ihre Mutter.
Als es passierte, war ihre erste Reaktion Ungläubigkeit, dann Entsetzen. Ihre Mutter hatte sie sanft aufs Bett gedrückt und gesagt, das würde sie jetzt jeden Monat haben. Abbie war zu verängstigt, um viele Fragen zu stellen, und ihre Mutter tat nicht mehr, als sie zu beantworten. Jim Henderson schmunzelte, als er sich daran erinnerte, wie Abbie zu ihm gekommen war, um es sich bestätigen zu lassen. Er hatte seine liebe Not, sie davon zu überzeugen, dass das natürlich war, dass das alle Mädchen hatten, dass sie nicht aufhören musste, Ball zu spielen, dass sie es nur von jetzt an langsamer angehen lassen sollte. »Du wirst eben erwachsen, Abbie.«
Sie hatte geschrien: »Ich will aber nicht erwachsen werden, wenn das dann die ganze Zeit passiert!« und war rausgelaufen. An dem Abend hatte Jim Henderson sie zur Abendessenszeit zusammengekauert hinter der Garage gefunden, ganz dicht an der Mauer. Es war nicht leicht gewesen, sie zum Reinkommen zu bewegen.
Was es noch schlimmer machte, war, dass alle in der Schule wussten, warum sie einen Tag nicht da gewesen war: Als sie in der Pause nicht Townball spielen wollte, grinste Ed Dennis und sagte irgendwas zu Raymond Walters. Raymond lachte und sah rüber zu Abbie.
Jetzt saß sie jeden Tag im Klassenzimmer und starrte mit leerem Blick auf ein paar orangefarbene Ausschneideformen, die irgendein längst vergessener Schüler an die Tafel geklebt hatte. Ihr Rock war immer schmutzig, wo sie ihre Hände abrieb, die nicht aufhören wollten zu schwitzen.
In der Hölle zwischen Wachen und Schlafen fand sie Frieden, aber sobald sie ganz wach war, war es wieder da und starrte ihr ins Gesicht. Manchmal vergaß sie es tagsüber für ein Weilchen, wenn sie eine interessante Geschichtsstunde hatten oder ein knappes Ballspiel. Samstagnachmittags, wenn sie Hoot Gibson war, vergaß sie es, aber sobald die letzten Schüsse verklungen waren, hatte sie es schlagartig wieder auf dem Schirm. Maybelle hatte gesagt, es gäbe im County einen Arzt, der einen für fünfzig Dollar auf einen Küchentisch legte und aufschnitt, aber wer hatte schon fünfzig Dollar? Sie erinnerte sich an den Sonntag, an dem Mr. Q W Tatum bei Girls for Sale gepredigt und gesagt hatte: »Mütter, warnt eure Töchter! Töchter, hört auf eure Mütter!«
Abbie guckte jeden Morgen, wenn sie aufstand, nach dem Baby, und betete, dass es rauskäme, wenn sie ihren Unterleib zusammenpresste. Sie trug schnell mehr Informationen von Gruppe zwei zusammen; manchmal waren sie ermutigend: Der Bauch wurde dick, und manchmal wurde einem übel. Abbies Bauch war so flach, dass ihre Hüftknochen vorstanden. Abgesehen von einem ständigen Nicht-Gefühl in der Nähe ihrer Rippen ging es ihr gut. Manchmal kam man ins Krankenhaus und ließ es rausschneiden, aber das konnten sich nur Reiche leisten. Es dauerte neun oder zehn Monate, bis ein Baby kam, manchmal auch ein Jahr: Das war bisher das Allerbeste – sie hatte Zeit.
Soweit sie wusste, hegten bisher weder ihre Mutter noch ihr Vater Verdacht. Sie sah schon den furchtbaren Gesichtsausdruck ihres Vaters, wenn sie es ihm sagte – vielleicht würde er sie in die Garage sperren und dort sterben lassen und dem Sheriff sagen, sie wäre verschwunden, und dann würde sie erst drei Tage später gefunden werden. Vielleicht würde er sie mit einem Kissen ersticken – nein, das würde er nicht tun. Er würde sie wegschicken.
»Daddy«, sagte sie eines Nachmittags, als sie ihren täglichen Eiscreme-Nickel abholte. »Wie nennt man das, wenn man ein Baby tötet?« Sie sah zum Code of Alabama im Regal des Büros.
»Mord.« Jim Henderson legte die Zeitung hin und sah Abbie an.
»Dafür kommt man in den Knast, oder?«
»Natürlich, wenn man nicht auf den elektrischen Stuhl kommt.« Zwischen seinen dicken schwarzen Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Das weißt du doch, Abbie. Ein Kind zu töten, ist, als würde man einen Erwachsenen töten.«
»Yessir. Ich habe nur über was nachgedacht …«
»Du wirkst, als würdest du in letzter Zeit über seltsame Dinge nachdenken, Abbie«, sagte er. Er konnte es ihr auch jetzt sagen. »Was ist denn mit dir los? Seit Wochen bläst du Trübsal. Du isst nicht, siehst aus wie eine Vogelscheuche, du bist gemein zu deiner Mutter und tust nichts, was sie dir sagt. Wenn du nicht aufpasst, kriegst du eine Dosis Öl und meinen Gürtel auf den Po.« Die Zeitung zerriss, als er sie wieder aufnahm. Seltsamstes Kind aller Zeiten.
»Yessir.« Abbie sah zu Boden.
»Und jetzt ab mit dir. Ich bin beschäftigt.«
Sie ging über den kleinen grünen Platz zur Praxis von Dr. Simmons. Sie stand in der Tür, während das Fliegengitter hin und her schwang. »Hallo, Onkel Charlie!«, sagte sie.
Dr. Simmons drehte sich um. »Du kommst gerade richtig, um auf die Praxis aufzupassen, Abbie. Miss Metts und ich müssen einen Besuch machen.«
Abbie strich mit dem Finger über ihre Nase. »Seid ihr lange weg?«
»Kann ich nicht sagen. Wenn wir um fünf noch nicht zurück sind, schließ einfach ab.«
Dr. Simmons kramte in seiner Hosentasche, fand einen Vierteldollar und knallte ihn auf den Tisch. »Wiedersehn. Und mach keinen Quatsch.«
Als Dr. Simmons und die Schwester im Auto waren, sprang Abbie aus dem Schaukelstuhl. Sie liebte es, die Schubladen mit weißen Verbänden zu erforschen, mit den Fingern über die blitzenden Instrumente und Röhrchen in der Vitrine zu streichen, aber an diesem Nachmittag griff sie nach einem in rotes Leder gebundenen Buch, auf dem Frauenkrankheiten stand, und begann, darin zu blättern. Bilder von aufgeblähten Frauen, in weiße Laken gehüllt, etwas, das nach Eiszangen aussah, lange schmale Messer und offene blutende Wunden sprangen sie an. Sie warf das Buch auf den Boden, lief zur Hintertür und schaffte es gerade noch nach draußen. Sie wischte sich über den Mund, lief den ganzen Weg nach Hause und blieb hinter der Garage sitzen, bis es dunkel war.
