Das Leben braucht mehr Schokoguss - Ella Lindberg - E-Book
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Das Leben braucht mehr Schokoguss E-Book

Ella Lindberg

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Beschreibung

Der humorvolle Feelgood-Roman von Ella Lindberg ist wie Schokolade: hat man erst mal angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Ella Lindberg überzeugt mit Atmosphäre, Witz und einer wunderbaren Liebesgeschichte. »Ich kann spüren, wie die Erdbeer-Sahne-Füllung der Praline auf meiner Zunge zergeht, wie das Karamell schmilzt und die weiße Schokolade meinen Gaumen kitzelt. Ja, das ist das Paradies.« Mias Praktikum in einer Schweizer Schokoladen-Manufaktur könnte so schön sein: die Schweizer Berge genießen, nette Kollegen kennenlernen und Schokolade, so viel sie will. Die Realität sieht leider etwas anders aus. Die Manufaktur hat finanzielle Schwierigkeiten, keiner fühlt sich für Mia verantwortlich, und dann soll sie auch noch der im Sterben liegenden Großmutter des Juniorchefs vorspielen, sie sei dessen Verlobte Isabella. Widerwillig lässt sich Mia auf die falsche Liebesgeschichte ein und muss bald feststellen, dass sie sich nicht nur in die Schweizer Berge und die skurrile Belegschaft der Schokoladen-Manufaktur verliebt hat – sondern auch in ihren Chef Fabian. Da taucht plötzlich die echte Isabella auf und macht das Liebes-Chaos perfekt. Aber wer sagt eigentlich, dass Schokolade keine Probleme lösen kann? Ella Lindberg vereint in ihrem humorvollen Feelgood-Roman Schweizer Berg-Atmosphäre mit wunderbaren Figuren, einer schönen Liebesgeschichte und einer guten Portion Witz. Eine unwiderstehliche Mischung für unterhaltsame Lesestunden – mit oder ohne Schokolade.

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ella Lindberg

Das Leben braucht mehr Schokoguss

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Schokolade, so viel sie will! Mia freut sich riesig auf ihr Praktikum in einer Schweizer Schokoladenmanufaktur. Doch die Realität sieht anders aus: Die Manufaktur hat finanzielle Schwierigkeiten, keiner fühlt sich für Mia verantwortlich, und dann soll sie auch noch der im Sterben liegenden Großmutter des Juniorchefs vorspielen, sie sei dessen Verlobte Isabella. Widerwillig lässt sich Mia darauf ein und muss bald feststellen: Sie hat sich in die Schweizer Berge und die skurrile Belegschaft der Schokoladenmanufaktur verliebt – und in ihren Chef Fabian. Da taucht plötzlich die echte Isabella auf und macht das Chaos perfekt. Aber wer sagt eigentlich, dass Schokolade keine Probleme lösen kann?

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Epilog

Danksagung

 

 

 

 

Für alle, die ein paar tröstliche Worte, eine Umarmung oder eine Tasse heiße Schokolade brauchen

Ich bin nicht nervös. Ich habe auch keine Angst, ich fliege einfach nur sehr ungern. Es ist mir ein wenig unheimlich, wie ein so großes, schweres Ding sich in die Luft erheben kann. Natürlich sage ich das keinem, das wäre ja albern. Ich meine, ich hatte in der Schule Physikunterricht, und da wurde uns ganz genau erklärt, wie das funktioniert, mit Kräfteausgleich und so weiter. Ich habe die Einzelheiten zwar vergessen, aber an den zahlreichen Flugzeugen am Himmel sieht man ja, dass unser Lehrer recht hatte. Es ist nur so, dass ich es jedes Mal nicht glauben kann, bevor wir abheben.

Als es so weit ist, hole ich tief Luft und vermeide dabei den Blick aus dem Fenster. So ähnlich fühlt sich ja auch Aufzug fahren an, und dabei wird mir schließlich auch kein bisschen mulmig.

»Flugangst?«, fragt die ältere Frau neben mir und sieht mich eher spöttisch als mitfühlend an. O nein, die hat vorhin schon bei der Sicherheitskontrolle ewig gebraucht und die Stewardess vollgetextet. Ich hatte gehofft, sie wäre schon eingedöst.

»Nein, gar nicht«, sage ich und klammere mich an der Armlehne fest. Hoffentlich will sie kein längeres Gespräch anfangen. Dazu habe ich jetzt echt keine Nerven.

Meine Sitznachbarin wirkt in ihrem wallenden, bunten Kleid wie ein sehr in die Jahre gekommenes Blumenkind. Sie hat eine riesige, altmodische Handtasche auf dem Schoß, in der sie unermüdlich herumkramt. Die Tasche gleicht mit dem braunlila Blumenmuster einem alten Vorhang oder Sofabezug, und ein bisschen riecht sie auch so.

»Muss Ihnen nicht peinlich sein, Kindchen.« Jetzt hat sie offenbar endlich das gefunden, was sie gesucht hat, denn sie quetscht ihr muffiges Behältnis in den schmalen Platz zwischen ihren Beinen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn mich jemand Kindchen nennt. Zu einem Mann würde auch keiner Bübchen sagen.

»Es hat nichts mit dem Flug zu tun. Ich fange morgen einen neuen Job an und deshalb bin ich aufgeregt«, erkläre ich und frage mich sofort, warum. Das mit dem Job stimmt zwar halbwegs, aber das Flugzeug ist mir unheimlicher, als ich zugeben will.

»Soso«, murmelt sie nur und zieht dann eine Stricknadel aus ihrem Dutt. Zu meiner Verwunderung klemmt sie die Nadel zwischen ihre Zähne und schüttelt den Kopf, sodass ihre langen, grauen Haare um ihr Gesicht fliegen – und in meines. Ich versuche, von ihr abzurücken, aber die Sitze sind arg schmal. Dann rollt sie ihr Haar zu einer Schnecke zusammen und steckt es mit der Stricknadel wieder am Hinterkopf fest.

»Die ist aus Plastik«, erklärt sie, »die piepst nicht bei der Sicherungskontrolle. Dabei ist die auch ganz schön scharf. Könnte man gut als Waffe verwenden.«

Ich beschließe, ihre Bemerkung einfach zu überhören, und hole mein Buch aus dem Rucksack. Das Startmanöver ist mittlerweile abgeschlossen, und ich bin einigermaßen ruhig. Start und Landung sind die beiden kritischsten Phasen, somit habe ich praktisch die Hälfte der Gefahr schon hinter mir, rede ich mir innerlich gut zu. Außerdem muss ich langsam anfangen, mich zu entspannen, sonst sagt Annette später wieder was über die Falte auf meiner Stirn. Obwohl meine Schwester meistens kühl und distanziert ist, freue ich mich darauf, sie wiederzusehen. Und trotz der Nervosität freue ich mich auch auf mein Praktikum. In der malerischen Schweiz zwischen Bergen und Wiesen in einer wunderschönen alten Schokoladenmanufaktur zu arbeiten muss traumhaft sein. Mein Schwager hat mir diese Stelle in seinem Unternehmen besorgt, und ich kann noch immer kaum glauben, wie idyllisch alles auf den Bildern im Faltprospekt aussieht. Die Broschüre scheint schon ein paar Jahre alt zu sein, aber Berge und Wiesen neigen ja nicht dazu, sich plötzlich aufzulösen, also ist es bestimmt wundervoll dort. Und es gibt Schokolade in Hülle und Fülle; ich meine, muss ich noch mehr sagen? Mir ist schon klar, dass ich nicht in Willy Wonkas Schokoladenfabrik arbeiten werde, aber anders als zauberhaft kann ich mir dieses Praktikum einfach nicht vorstellen. Es kommt nur ein wenig zum falschen Zeitpunkt. Natürlich bin ich dankbar für diese Chance, und ich brauche auch wirklich diese Praktikumsbescheinigung, aber gerade jetzt, nachdem Johnny und ich uns wiedergefunden haben, fällt es mir verdammt schwer, Hamburg zu verlassen.

Es ist eine lange, komplizierte Geschichte, wie aus unserer Teenagerliebe erst ein Kontaktabbruch, dann Waffenstillstand, danach eine zaghafte Freundschaft und schließlich wieder Liebe geworden ist. Aber so ist das eben im echten Leben, da verläuft nicht alles nach Plan, und man wird immer wieder vom Schicksal überrascht. Jedenfalls hatten sich in diesem Frühjahr all unsere früheren Probleme aufgelöst, und Johnny hat so ernsthaft und geduldig um mich geworben, dass ich irgendwann alle Bedenken fallen gelassen und mich noch einmal neu auf ihn eingelassen habe. Menschen verdienen eine zweite Chance, und er ist einfach mein Traummann: gut aussehend, lustig, locker, unkonventionell – und eben auch meine erste große Liebe.

Unser zweiter Anlauf ist noch sehr frisch, und richtig offiziell ist Johnny auch noch nicht getrennt. Er und seine Ex-Freundin Tina haben zwar bereits während ihres Auslandssemesters telefonisch Schluss gemacht, aber Johnny ist es wichtig, noch einmal persönlich mit ihr zu sprechen. Das verstehe ich vollkommen, eigentlich finde ich es sogar sehr anständig. Es ist nur ein wenig unglücklich, dass Tina ausgerechnet heute zurückkommt, wo ich in die Schweiz fliege und ich Johnny nach ihrer Aussprache nicht gleich treffen kann. Er wird mich natürlich anrufen und mir alles erzählen, das hat er mir versprochen, und ich habe ihm versichert, dass ich die Ruhe in Person bin. Ich bin vollkommen entspannt, so entspannt, wie man nur sein kann.

Plötzlich ruckelt das Flugzeug, unerwartet und heftig. Ich schreie auf und packe meine Sitznachbarin am Arm. Peinlich berührt lasse ich sie gleich darauf wieder los und entschuldige mich. »Tut mir echt leid, das war ein Reflex.« Ich zupfe verlegen an meinem Pulloverärmel. Es ist mein teuerster, bester Wollpulli, und er passt perfekt zu der Bluse und dem grauen Rock, die ich trage. Wenn ich zu meiner Schwester fliege, ist nämlich nichts mit Schlabberklamotten beim Fliegen. Sobald ich ankomme, beginnt ein durchgetaktetes Programm, bei dem man vorzeigbar sein muss.

»Schon gut, Kindchen, das sind ganz normale Turbulenzen. So schnell stürzt ein Flugzeug nicht ab.«

Dankbar für ihr Verständnis nicke ich meiner Sitznachbarin zu und verstaue dann mein Buch im Gepäcknetz vor mir. Offenbar läuft es doch auf eine Unterhaltung hinaus, aber vielleicht habe ich ihr ja auch unrecht getan, und sie ist richtig nett. Da ich keine Oma habe, sollte ich mich eigentlich über ein Gespräch mit einer älteren Dame freuen.

»Obwohl man natürlich nie genau weiß … Es kann auch ganz schnell gehen und muss gar nicht besonders dramatisch verlaufen«, fährt sie fort.

Das beruhigt mich jetzt weniger.

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt alle möglichen Gründe, warum ein Flugzeug abstürzen kann. Nicht nur, dass der Pilot die Kontrolle verliert.«

Langsam macht sie mir wirklich Angst.

»Nicht immer hat man noch die Möglichkeit, den Angehörigen eine Nachricht zu senden. Aber das macht nichts. Ich hatte ein gutes Leben. Wenn es jetzt vorbei wäre, wäre das okay für mich.«

Wie bitte?

»Aber für mich nicht«, widerspreche ich. »Ich bin erst sechsundzwanzig. Ich bin frisch verliebt. Mein Leben fängt doch gerade erst an!«

»Ja, in Ihrem Alter, da hält man die Liebe noch für das Wichtigste.«

»Aber die Liebe ist doch auch das Wichtigste!« Ich klinge wie eine Anwältin bei ihrem Schlussplädoyer.

»Sie waren bestimmt noch nie verheiratet, oder?«

»Nein«, sage ich etwas leiser.

»Ich war dreimal verheiratet, zweimal verwitwet, einmal geschieden«, sagt sie zufrieden und öffnet eine große Bonbondose. »Auch eins?«

Der Geruch von Salbei, Lavendel oder irgendetwas eklig Kräuterigem wabert zu mir herüber, und ich lehne dankend ab und überlege, wie ich dieses Gespräch wieder beenden kann. Dies hier ist nicht die Oma, die ich nie gehabt habe. Also hole ich meine Bewerbungsmappe aus dem Rucksack, ziehe vorsichtig den Faltprospekt der Zuckermann-Manufaktur aus der Klarsichthülle und schaue mir zum vermutlich hundertsten Mal meine zukünftigen Arbeitgeber an.

Sie wirken auf dem Gruppenbild vertraut: einander zugewandt, liebevoll. In der Mitte sitzt Elisabeth Zuckermann, die Chefin, und um sie herum sind junge gut aussehende Menschen in schicken Klamotten. Ein bisschen wie die Familienbilder der englischen Königsfamilie, die dann ausgiebig in den Klatschzeitschriften analysiert werden. Der junge Mann rechts neben Elisabeth hat die Hand leicht auf ihrer Schulter und lächelt sie halb an. Das ist laut Bildunterschrift Fabian Zuckermann, wahrscheinlich ihr Enkel, und man sieht sofort, dass sie ihm enorm wichtig ist. Die Frau neben ihm (Bildunterschrift Kirsten Zuckermann-Brenner) hält dagegen einen größeren Abstand zu ihm, und obwohl sie lächelt, wirkt sie bei genauerem Hinsehen fast so, als ob sie der Gruppe gern entfliehen würde. Das ist mir ein Rätsel, denn schließlich ist es ihre Familie. Wenn ich eine richtige Familie hätte, würde ich mich drum reißen, neben meiner Oma auf dem Sofa sitzen und ihre Wärme und den Zusammenhalt empfinden zu können. Aber vielleicht ist es auch nur ihre Schwiegerfamilie, und ihre Ehe mit Fabian ist längst am Ende, wegen unüberbrückbarer Differenzen. Sie ist ein Fan von Traube Nuss, er schwört auf Marzipan.

Mit einem Grinsen im Gesicht schaue ich mir die beiden gegensätzlichen Einzelporträts auf dem Feld mit der Aufschrift Kontakt an. Ein sympathisch lächelnder Urs Schröter und ein steifes Porträt von Fabian Zuckermann. Er schaut streng und fast hochmütig in die Kamera, ganz anders als auf dem Gruppenbild. Ich hab so eine Ahnung, welche Seite ich kennenlernen werde.

»Ist er das?«, fragt meine Nachbarin und zeigt auf das Porträtfoto auf dem Faltblatt.

»Nein! Das ist mein zukünftiger Chef.« Als ob ich mich für so einen Schnösel interessieren könnte! Gegelte Haare, steifer Hemdkragen, perfekte Krawatte. Das Schlimmste aber ist der Lebenslauf: Fabian Zuckermann, 29, Juniorchef, Abschluss School of Management in Rotterdam, Abiturnote 0,9 am Elite-Internat Rosenberg, erste Klasse übersprungen an der Grundschule in Schnöselhausen und so weiter.

»Wollen Sie meinen Freund sehen? Das ist er!« Stolz reiche ich ihr mein Handy, von dem ihr Johnny und ich eng umschlungen entgegenstrahlen.

»Der? Das ist ein Hallodri!«, behauptet sie. Hallo? Habe ich sie etwa nach ihrer Meinung gefragt?

»Woher wollen Sie das denn wissen?«, frage ich gekränkt.

»Lebenserfahrung«, sagt sie knapp. »Den Typus kenne ich: immer lächelnd, immer charmant, nie um einen Spruch verlegen, aber chronisch untreu und will sich nie festlegen. Herzlichen Glückwunsch, mit dem werden Sie noch viel Spaß haben.« Zufrieden über ihr Urteil stopft sie sich noch ein Bonbon in den Mund.

»Sie irren sich!«, sage ich irritiert. »Wir sind seit zehn Jahren glücklich verliebt. Auf diesem Bild waren wir 16 und 17.« Ich liebe dieses Foto, das uns beim gemeinsamen Fernsehen zeigt, denn Becky hat es an dem Abend geschossen, an dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben, aber kurz davor. Daher ist mein Lipgloss noch drauf, meine Haare liegen richtig, und außerdem sehe ich nicht nur glücklich, sondern auch richtig hübsch aus. Was ein echter Glücksfall ist, denn ich bin leider nicht besonders fotogen. Auf zehn Bilder von mir kommt höchstens eins, auf dem ich mir gefalle, oder sagen wir, das ich nicht furchtbar finde. Aber dieses eine ist perfekt. Dass unsere Beziehung damals nicht lange gehalten hat, habe ich längst verwunden, wir waren eben noch unglaublich jung. Das einzig Wichtige ist, dass wir uns wiedergefunden haben und dass diesmal alles anders ist.

»Vor zehn Jahren? Wieso nennen Sie sich dann frisch verliebt?«, hakt die Alte nach. Mist, der entgeht auch nichts.

»Wir hatten eine, na ja, kleine kreative Pause, um uns zu orientieren. Um herauszufinden, was wir im Leben wirklich wollen.« Die hatten Kate und William schließlich auch, und ihre Ehe läuft super.

»Lassen Sie mich raten: Sie haben herausgefunden, dass Sie auch noch nach Monaten sehnsüchtig auf seinen Anruf warten, und er hat herausgefunden, dass Sex auch mit anderen Frauen Spaß macht?« Ist meine Sitznachbarin etwa eine Hexe, die glücklichen jungen Menschen das Leben zerstören will?

»So war das gar nicht«, murmele ich. »Ich habe auch rumexperimentiert.« Ich kann leider nicht leugnen, dass ich ihm damals länger hinterhergetrauert habe als er mir, aber da war er eben noch ein hormongesteuerter Teenager und ich übertrieben romantisch. Wir waren zu jung für eine echte Bindung.

Leicht verunsichert stecke ich den Prospekt wieder in die Hülle, ziehe meinen Lebenslauf aus der Bewerbungsmappe und versuche, mich darauf zu konzentrieren. Sieht so weit alles gut aus. Abitur in Hamburg mit normalen Noten, die mir jetzt und verglichen mit Mr Juniorchef allerdings etwas mickrig erscheinen. Ein Jahr kreative Auszeit, wie Becky es formuliert hat, dann Start des Marketingstudiums in Hamburg und seitdem ordentliche Studentin, die voraussichtlich im kommenden Jahr ihr Examen ablegen wird. Wie wenig ich momentan davon überzeugt bin, das auch zu schaffen, steht natürlich nicht drin, aber zumindest auf dem Papier läuft alles geordnet und nach Plan.

»Aufgrund mittelschwerer Turbulenzen können wir unseren Getränkeservice leider nicht durchführen«, flötet die Stewardess durch den Lautsprecher. Ich lasse meine Unterlagen los und halte mich an der Lehne meines Vordermanns fest. Mittelschwer ist gut, wir werden tatsächlich ordentlich hin und her geschaukelt, und ein wenig neidisch sehe ich zu meiner Sitznachbarin, die inzwischen wieder seelenruhig mit ihrer Stricknadel hantiert. Meine Fingerknöchel verlieren dagegen mit jedem Ruckeln des Flugzeugs ein wenig mehr an Farbe.

Als wir in ein ordentliches Luftloch plumpsen, fängt meine Sitznachbarin plötzlich an zu schreien und krallt sich mit beiden Händen an meinem Ellbogen fest.

»Hilfe! Wir stürzen ab!«, kreischt sie und steckt den Kopf zwischen ihre Knie. Die anderen Passagiere schauen uns skeptisch und ein wenig amüsiert an, und ich schäme mich ein bisschen, weil außer ihr und mir offensichtlich keiner in Panik gerät. Dann kommt die Stewardess vorbei und behauptet, dass der Pilot alles unter Kontrolle habe und uns keine Gefahr drohe.

»Na gut«, keucht die Frau und richtet sich wieder auf, »auf Ihre Verantwortung!«

Als sie mich aus ihren Krallen entlässt, prangt ein münzgroßes Loch im Ärmel meines Pullis. Shit, shit, shit! Ich hab keine Wechselklamotten im Handgepäck, und ich werde sofort nach der Landung mit meinem Schwager und meiner Schwester ist ein schrecklich vornehmes Restaurant gehen, in dem sie mich meinem zukünftigen Chef vorstellen wollen. Ich könnte die Oma erwürgen, ihr Glück, dass ich ein freundlicher, mitfühlender Mensch bin.

»Geht’s wieder?«, frage ich. Sie nickt und wischt sich die Stirn mit einem großen Stück Papier ab.

»Ich hänge wohl doch mehr am Leben, als ich dachte«, erklärt sie. Ich nicke ihr aufmunternd zu, bis ich bemerke, was sie da gerade nervös in ihrer Hand zerknüllt. Ja, ist sie denn wahnsinnig?

»Hey, das gehört zu meinen Bewerbungsunterlagen!«, schreie ich. »Haben Sie denn kein Taschentuch?«

»Es lag am Boden vor meinem Sitz, kann man ja nicht ahnen, dass Sie das noch brauchen«, sagt sie beleidigt. Na gut, dagegen kann ich schlecht was sagen, dann drucke ich mir eben alles bei Annette noch mal aus. Aber das Loch in meinem Ärmel ist echt ein Problem.

»Haben Sie in Ihrer großen Tasche zufälligerweise auch so etwas wie ein Nähset?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Nähset? Keine Chance, Kindchen. Einmal hatte ich eine Baby-Nagelschere dabei, mit abgerundeten Ecken, aber die haben sie mir bei der Sicherheitskontrolle abgenommen. Nadeln sind Waffen, die sind absolut verboten.«

»Ach so.« Was soll ich jetzt nur machen? So kann ich mich doch nicht vor Stefans Chef sehen lassen.

»Was wollen Sie denn nähen?«

Wortlos zeige ich auf das Loch in meinem Ärmel.

»Ach, da habe ich was Besseres, warten Sie mal!« Sie hebt erneut das Teppichmonster auf ihren Schoß und kramt eine Weile darin herum. Schließlich fördert sie triumphierend einen schwarzen Filzstift zutage.

»Ähm, wofür soll der sein?«

»Geben Sie mal Ihren Arm her!«, sagt sie, und ehe ich mich’s versehe, hat sie meinen Arm erneut gepackt und angefangen, durch das Loch einen Kreis auf meine Haut zu malen.

»He, Moment, was wird das?«, frage ich, aber es ist zu spät. Sie krempelt meinen Ärmel hoch und vergrößert den Kreis ordentlich, dann füllt sie ihn vollständig aus.

»So, jetzt ziehen Sie mal den Ärmel drüber!«, verlangt sie.

Okay, ich verstehe. Eigentlich gar nicht blöd. Wenn man nicht zu nah herangeht, ist das Loch tatsächlich unsichtbar. Allerdings … »Wie lange hält denn die Farbe?«

»Moment, ich glaube, Sie können beruhigt sein, der hält …« Sie kramt ihre Brille hervor und studiert die Schrift auf dem Filzstift. »Mindestens sieben bis zehn Tage«, verkündet sie strahlend.

»Und was mache ich, wenn ich den Pulli ausziehen will?«

»Dazu kann Sie schließlich niemand zwingen«, erwidert sie ungerührt und steckt ihr Malwerkzeug wieder ein. »Sagen Sie halt, dass Ihnen kalt ist. Oder dass Sie schamhaft sind, was weiß ich.«

»Hm.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

»Haben Sie nicht was vergessen?«, fragt sie.

»Was denn?« Habe ich etwa irgendwo anders noch ein Loch? Bitte nicht.

»Sie haben sich nicht bedankt.«

Echt jetzt? Soll ich mich dafür bedanken, dass eine Irre erst meinen Lebenslauf zerknüllt, meinen Lieblingspulli ruiniert und mich dann dazu zwingt, diesen den ganzen Abend anzubehalten? Und das auch noch, fällt mir siedend heiß ein, wo wir in ein Restaurant gehen, bei dem die Speisen direkt am Tisch gekocht werden. O nein. Das letzte Mal habe ich im Chez Louis so geschwitzt, dass ich mir geschworen hatte, nie mehr hinzugehen. Aber da Stefans Chef extra dorthin eingeladen hat, kann ich mich schlecht weigern. Und nun also gefangen am Grill im Wollpulli, und das im September, na, besten Dank!

»Und?«, fragt die alte Frau lauernd. Sie wird mich wohl nicht in Ruhe lassen, bevor ich mich bedankt habe.

»Also gut, danke«, presse ich heraus, während ich mir vorstelle, ihr ihre Bonbons einzeln ins Gesicht zu schmeißen.

»Na also, geht doch. Warum nicht gleich so?«, murmelt sie und kramt erneut in ihrer Tasche. Ich schließe die Augen. Meine Reise in die Schweiz fängt ja fantastisch an.

Ich bin froh, als ich durch den Zoll bin, obwohl ich nichts Verbotenes bei mir trage. Dennoch machen mich Sicherheitskontrollen immer etwas nervös. Während ich mit den anderen Passagieren in die Ankunftshalle gespült werde, halte ich Ausschau nach meiner schönen Schwester. Aber statt Annette sehe ich nur Stefan mit seinem Hipsterbart. Oje, jetzt muss ich die ganze Fahrt über mit ihm allein Konversation machen, obwohl ich in seiner Gegenwart nie genau weiß, was ich eigentlich sagen soll.

»Hi, Stefan, wo ist denn Annette?«, frage ich, während wir uns unbeholfen und steif umarmen.

»Muss noch arbeiten«, brummt er zur Begrüßung. Er scheint schlechte Laune zu haben, wahrscheinlich nervt es ihn, dass er mich allein in Zürich abholen muss. Wenigstens nimmt er mir den Rucksack ab und trägt ihn zu seinem Jeep.

»Fahren wir jetzt direkt zum Essen mit deinem Chef?«, frage ich und klappe den Spiegel der Sonnenblende herunter. Ich sehe halbwegs okay aus, nicht super, aber passabel.

»Ach so, das. Sorry, das wurde gecancelt, irgendein privater Notfall.«

Oh, was für ein Glück! Dann muss ich heute keinen superguten Eindruck mehr machen und kann auch den kaputten Pulli ausziehen. Schön, dass zumindest diese Peinlichkeit keiner mitbekommen wird.

»Was hast du denn da am Arm?«, fragt Stefan aber sofort. Shit, so viel dazu … »Ist wohl Schmutz drangekommen.«

»Aha.« Dann schweigt er und dreht laut irgendeinen alten Heavy-Metal-Song an. In seiner Gegenwart fühle ich mich immer etwas unbehaglich, obwohl er noch nie unfreundlich zu mir gewesen ist. Aber das ist eben das Problem, wir hatten noch nie Streit, wir haben uns noch nie angeschrien und dann wieder versöhnt, wir gehen vorsichtig wie verfeindete Staatschefs miteinander um, die einen Waffenstillstand beschlossen haben. Und mit Annette, auch wenn ich mich jedes Mal auf sie freue, ist es im Grunde noch viel schwieriger. Außer ein bisschen DNA und einer verkorksten Geschichte verbindet uns eigentlich überhaupt nichts. Ich würde es nie wagen, sie zu kritisieren oder einen blöden Witz über sie zu machen – wir sind keine taktierenden Staatschefs, sondern tänzeln über rohe Eier.

Wir haben nie zusammengelebt, und über ihrer Existenz hing immer der Schleier des Verbotenen, weil unser Vater ihre Mutter mit meiner betrogen hatte und das damals alles schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären war.

Erst seit Mamas Tod durften wir uns treffen, und da war ich vierzehn und sie schon erwachsen, und es war einfach schon viel zu spät, als dass wir uns noch wirklich nahekommen konnten. Annette gibt sich immer kühl und geschäftig, und wahrscheinlich lädt sie mich nur aus einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und schlechtem Gewissen zu sich ein. Dass ihr Mann mir in letzter Minute ein neues Praktikum besorgt hat, als mein längst zugesagter Praktikumsplatz kurzfristig gecancelt wurde, macht es für mich auch nicht besser. Denn jetzt stehe ich in seiner Schuld und kann mich nicht revanchieren, weil er tausendmal mehr verdient als ich und sowieso alles hat, was er will. Bei dem Gedanken, den beiden mein Mitbringsel – die bunten Kerzen aus Esthers Laden – zu überreichen, fühle ich mich jetzt schon blöd. Aber gar nichts mitzubringen ist noch schlechter als etwas Unpassendes, oder?

Ich schließe die Augen und gehe in Gedanken durch, was ich heute Abend noch erledigen muss: duschen, Haare waschen, Beine rasieren, die Firma noch mal googeln, um auf dem neuesten Stand zu sein, falls seit gestern irgendetwas Bedeutendes passiert ist. Dann meine Bluse für morgen bügeln, meinen Lebenslauf und mein hypothetisches Marketingkonzept für das Unternehmen noch mal ausdrucken und wieder in eine ordentliche Mappe heften, falls Annette so etwas zu Hause hat. Meine hatte nach dem Kampf mit der Kräuterhexe einen Riss und sah nicht mehr präsentabel aus, deshalb habe ich sie direkt am Flughafen weggeworfen.

Je näher wir der Wohnung kommen, desto unwohler fühle ich mich. Die Vorfreude, in die ich mich vorher noch so eifrig gehüllt habe, ist wohl irgendwo über den Wolken hängen geblieben.

Am liebsten würde ich mich in Stefans und Annettes Wohnung in die Wanne legen und dann sofort im Bett verschwinden. Bloß kann ich das nicht bringen, denn ich muss mich wohl mindestens eine Stunde lang höflich mit ihnen unterhalten. Wir sind leider nicht annähernd vertraut genug miteinander, dass ich dort ohne Hose auf dem Teppich lümmeln könnte, wie in Beckys Gegenwart. Ich vermisse meine engste Freundin jetzt schon, und gleichzeitig vermeide ich es lieber, an sie zu denken, denn dann müsste ich ihr die Sache mit Johnny beichten, und das kann ich einfach noch nicht. Schließlich ist sie heiklerweise zusammen mit Tina in Spanien gewesen. (Ja, sie ist auch mit Tina befreundet. Früher hat mich das sehr gestört, aber jetzt macht es mir nichts mehr aus.) In so eine Situation bringt man seine beste Freundin einfach nicht. Becky wäre in einem riesigen Loyalitätskonflikt, denn dass Johnny jetzt wieder mit mir zusammen ist, muss er Tina selbst sagen, und ich muss geduldig warten.

Da Stefan ohnehin nicht mit mir redet, hole ich mein Handy aus der Tasche. Nichts.

Johnny wollte mir eigentlich schreiben, sobald er mit ihr geredet hat. Dafür hat Becky ein Bild gepostet, dass sie gut gelandet sind, und das war vor drei Stunden. Klar kann er nicht mit Tina reden, wenn ihre Eltern dabei sind, aber es wird nur noch wenige Stunden dauern. Und dann ist es endlich offiziell mit uns beiden. Bei dem Gedanken werde ich plötzlich wieder munter, das sind wohl die Endorphine, die mir sofort durch den Körper schießen, wenn ich an ihn denke. Sein Geruch ist es, der mich immer schwach werden lässt. Wenn ich meinen Kopf an seinen Hals drücke, durchflutet mich eine Glückseligkeit, die ich nicht erklären kann. Wie ein Glitzerbad, wie Heimkommen, ein Sog, dem ich mich kaum entziehen kann. Erst gestern Abend haben wir uns verabschiedet und das letzte Mal geküsst, und ich vermisse ihn jetzt schon so sehr, dass ich es kaum aushalte …

Stefan holt mich mit einer abrupten Bremsung von meiner Wolke. Wir sind da, und ich klettere mit leicht steifen Beinen aus dem hohen Auto. Meine Schwester und ihr Mann wohnen nicht direkt in Zug, sondern in einem Miniort namens Unterrügeri. Hier ist alles so sauber, kein Fitzelchen Dreck liegt auf den Gehwegen oder auf der Straße, und jeder Vorgarten ist ordentlich bepflanzt. Ein bisschen gruselig, fast wie in Stepford. Wozu man hier einen Geländewagen benötigt, erschließt sich mir echt nicht. Stefan öffnet die Haustür, und wir stapfen die Treppen hoch. Auch das Treppenhaus ist picobello, es gibt weder Matsch noch irgendwelchen Schmutz auf den Stufen, und auf jedem Treppenabsatz stehen drei sorgfältig ausgewählte Dekoartikel auf dem Steinsims, wie im Museum. Ein bisschen kommt mir das Treppenhaus wie eine Parodie auf ein echtes Haus vor, in dem sich Schuhe und Jacken türmen und die Simse vor lauter Mützen, Handschuhen, Flyern und unnützem Zeug überquellen würden.

Stefans und Annettes Wohnung liegt im dritten Stock unter dem Dach und ist minimalistisch in Schwarz und Glas gehalten. Ich ziehe meine Stiefel lieber vor der Tür aus und tappe dann auf Zehenspitzen über den dunklen Boden. Jedes Buch im Regal steht perfekt an der Kante, Stefans Dartpokale befinden sich millimetergenau im gleichen Abstand zueinander auf dem Schrank, und der Glastisch ist streifenfrei. Hübsch, nur etwas unpersönlich. Und ungemütlich. Und so, dass man sich nicht traut, irgendwas anzufassen. Und Heimweh kriegt, ganz schreckliches Heimweh.

»Ich bring meine Sachen kurz ins Gästezimmer, ja?«, sage ich mit einem Kloß im Hals und fliehe ins selbige. Hier werfe ich meinen Rucksack auf den Boden und lasse mich aufs Bett fallen, das sorgfältig und perfekt mit schwarz-weißer Bettwäsche überzogen ist. Ich öffne den Reißverschluss an meinem Rock und ziehe ihn bequem runter. An der Wand steht eine kleine, schwarze Kommode, sonst gibt es außer dem Bett nichts, woran das Auge haltmachen könnte. Keine Bilder, keine Blumen und vor allem kein hastig hingeworfenes Zeug, das irgendwo anders im Weg war.

In Esthers Gästezimmer befinden sich das Bügelbrett, alte Bettwäsche, der Staubsauger, Lukas’ Inliner, Beckys Winterklamotten und manchmal auch noch der verdorrte Weihnachtsbaum vom letzten Jahr. Nicht dass ich jetzt einem Baumgerippe nachtrauern würde, aber so ein winziges bisschen Unordnung oder wenigstens den Hinweis darauf, dass nicht die ganze Wohnung steril ist, fände ich doch sympathisch und beruhigend. »Mia, bist du da? Kann ich reinkommen?« Die Stimme meiner Schwester dringt durch die Tür. Mann, die Frau klopft sogar bei sich zu Hause an.

»Ja, Moment!« Ich ziehe den verrutschten Rock aus und schlüpfe hastig in bequeme Leggings. Dann binde ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz und atme einmal tief durch.

»Hallo, Annette!«, sage ich beim Öffnen der Tür, und meine Schwester nickt mir förmlich zu und gibt mir die Hand.

»Herzlich willkommen, Mia, schön, dich zu sehen. Hattest du eine angenehme Reise?«

Nein, absolut nicht, ich hab eine Hexe getroffen, und die wollte mir meinen Johnny ausreden.

»Äh, ja, vielen Dank«, sage ich, während ich ihr ins Wohnzimmer folge. Ich überlege, ob wir uns jetzt wohl förmlich auf die schwarzen Stühle setzen oder ich es wagen kann, mich aufs Sofa zu werfen, das übrigens tatsächlich dunkelbeige ist.

»Hättest du gern einen Tee?«, fragt Annette. Ein Gin wäre mir lieber, aber ich nicke brav und bedanke mich.

Zu meinem Glück streift Annette ihre High Heels ab und setzt sich vorsichtig und damenhaft aufs Sofa. Ich lasse mich erleichtert neben ihr nieder. Es gibt eine dunkelgraue Decke, die sie sich halb über die Beine zieht, ohne dabei Falten zu produzieren. Mir ist auch kalt, aber ich traue mich nicht, ein Stück der Decke zu mir rüberzuziehen. Wir achten beide darauf, uns nicht zu berühren. Annette ist wahrlich nicht der Kuscheltyp.

»Und, wie läuft es so mit deinem Studium?«, fragt sie und nippt an dem Tee, den Stefan uns in schwarzen Porzellantassen gereicht hat.

»Ganz gut, ich hab alle Kurse gemacht, nach dem Praktikum kommt nur noch das Examen.« Nur noch das Examen ist gut, ich kriege jetzt schon Schnappatmung, wenn ich an die Prüfungen denke, aber vor Frau Dr. Chemieprofi kann ich das schlecht zugeben. Sie wurde vermutlich ins Guinnessbuch der Rekorde fürs schnellste Studium eingetragen und hat nebenbei immer voll gearbeitet, so ungefähr habe ich mir das aus ihren Bemerkungen in den letzten Jahren jedenfalls zusammengereimt.

»Weißt du schon, wo du in deiner Zeit hier trainieren willst? Ich treffe mich dreimal morgens um sechs mit einer Kollegin zum Joggen, da kannst du gern mitkommen. Der örtliche Fitnessklub vergibt auch Monatskarten, oder du kannst dir mein Sommerfahrrad ausleihen.«

»Trainieren? Wieso?«, frage hilflos. Nach acht Stunden Arbeit jeden Tag werde ich mich wahrscheinlich vor den Fernseher knallen und einschlafen.

»Du arbeitest ja nur bis vier, danach hast du eine Menge Freizeit, bis Stefan und ich heimkommen«, erklärt sie. »Und irgendwie rostet man ja schon ein, wenn man längere Zeit nicht zum Sport geht, oder?«

Aus diesem Satz schließe ich, dass sie vermutet, ich würde daheim regelmäßig Sport machen. Ha! Da kennt sie mich aber schlecht. Sehr schlecht. Ich habe schon mal ein Fitnessstudio betreten, aber das mache ich nie wieder, weil man da gegen seinen Willen dazu gebracht wird, einen Jahresvertrag abzuschließen. Man kann sich nicht mal auf Unzurechnungsfähigkeit rausreden, weil die Mindestlaufzeit auf jeden Fall zwölf Monate beträgt und man so was nicht einfach annullieren kann wie eine nicht vollzogene Ehe. Auch wenn ich die Vereinigung mit den Sportgeräten also nie vollzogen hatte, der Vertrag zählte trotzdem. Kein Wunder, dass mich der Gedanke an Sport nicht gerade aufmuntert.

»Und sonst? Wie läuft es so allgemein?«

»Ich hab einen Freund, willst du mal sehen?« Eigentlich wollte ich das mit Johnny für mich behalten, aber irgendwie sprudelt es ständig aus mir heraus. Annette schaut sich höflich unsere Bilder auf meinem Handy an und sagt mit keinem Wort, dass Johnny ein Hallodri ist, mit dem ich noch viel Spaß haben werde. Aber sie ist ja auch keine Hexe, nicht so eine zumindest.

»Nett«, stellt sie schließlich fest. Nett? Und was ist mit charmant, wunderschön, umwerfend? Aber gut, sie hat ihn ja noch nicht live gesehen.

»Er ist der Cousin meiner besten Freundin.«

»Du meinst Becky, bei der du gewohnt hast?«

»Ja, als ich damals zu ihr gezogen bin, hat er nebenan gewohnt, und wir haben uns jeden Tag gesehen. Beckys Mutter Esther und ihre Schwester Lilo haben keinen Zaun zwischen den Gärten, und wir Kinder haben immer alle zusammen draußen gespielt. Ich war schrecklich in ihn verliebt und konnte es nicht fassen, dass er sich irgendwann auch für mich interessiert hat.«

»Und dann?«, fragt sie gespannt. Diesen Teil der Geschichte erzähle ich wiederum nicht so gern.

»Es hat dann ein paar … Variationen gegeben«, räume ich ein. »Wir waren noch nicht so weit. Wir waren jung und wollten uns ausprobieren. Wir waren eben Teenies. Aber jetzt …«

»Jetzt ist alles wieder super?«, fragt sie und klingt irgendwie spöttisch, oder bilde ich mir das ein?

»Ja.«

»Und was sagt Becky dazu?« Tja, genau da liegt der Hund begraben. »Die findet das toll«, behaupte ich, weil die Erklärung endlos würde, und wechsle lieber das Thema. »Sag mal, hast du vielleicht so eine Art Mappe, also ich meine, so mit Hüllen, für einen Lebenslauf und so?«

»Für morgen? Du bist ja früh dran.« Bäm, da ist er, dieser Mamaton, nur dass meine Mama ganz anders war, aber das tut jetzt nichts zur Sache, weil ich mich dummerweise trotzdem schon tief im Rechtfertigungsmodus befinde. »Ähm, ja, meine Hülle ist verlor… kaputt… weggegangen.« Weggegangen? Ich seufze innerlich. Na klar, die wollte heute mal ohne mich ausgehen.

»Du hast dich vermutlich auch noch nicht richtig auf das Gespräch mit Herrn Schröter vorbereitet?«

»Nicht so richtig«, gestehe ich. Die Menschen, die einen gern kritisieren, beruhigen sich erfahrungsgemäß am schnellsten, wenn man ihnen zustimmt.

»Stefan, kommst du mal bitte? Wir brauchen einmal Zuckermann im Schnelldurchlauf, aber bitte nur die Grundlagen.«

O Mann. Wieso musste ich nur hierherkommen, wo man mich für eine Trotteline hält? Stefan, der eine Platte mit belegten Broten hereinträgt, scheint sich sehr zu freuen, dass er mich belehren darf. Wir setzen uns zu dritt an den klinisch sauberen Tisch, und Stefan beginnt mit seinen Ausführungen.

»Also, angefangen hat alles mit einer Konditorei, die Alfred Zuckermann in den Sechzigerjahren eröffnet hat. Im Lauf der Zeit haben sie sich immer mehr auf Schokolade spezialisiert, und er wollte seinen Sohn Mark als Nachfolger einsetzen«, erzählt er. »Der hatte aber keine Lust dazu.«

Ich nehme mir eins der makellosen Sandwiches mit Käse, einem perfekt zugeschnittenen eckigen Salatblatt und zwei halben Gürkchen. Sie sehen aus wie aus einer Bäckerei oder einem Museum. »Alfred hat mit seiner Frau Elisabeth zusammen die Firma erweitert und Ende der Siebzigerjahre zu einer reinen Schokoladenmanufaktur umgebaut. Geholfen hat ihm nach Feierabend und an den Wochenenden sein bester Freund Jo Schröter mit dessen Sohn Urs. Mark hat sich, sobald er volljährig war, nach Neuseeland abgesetzt und dort eine Familie gegründet. Nach Alfreds Tod 2001 ist er mit Frau und zwei kleinen Kindern nach Deutschland zurückgekehrt. Elisabeth wollte ihm einen Job geben, aber das Familienunternehmen hat ihn weiterhin nicht interessiert.« Mich in den Details auch nicht, ehrlich gesagt.

»Die größte Unterstützung war Elisabeth dabei die ganze Zeit über Urs. Der hatte zwar weder eine betriebswirtschaftliche noch eine Konditor-Ausbildung, aber er kannte das Unternehmen auf dem Effeff und war sich für keine Arbeit zu schade. Also war es logisch, dass die Chefin irgendwann Urs als zweiten Geschäftsführer eingesetzt hat.«

»Und ihr Sohn Mark?«

»Ach, der.« Stefan winkt ab. »Als Mark erneut die Reiselust packte, ist seine Frau mit den Kindern in der Schweiz geblieben und hat ihnen normale Namen gegeben: Fabian und Kirsten.«

»Wieso, wie hießen sie denn?«, will ich jetzt doch wissen.

»Tikki-takki oder so ähnlich, irgendwas Neuseeländisches«, sagt Stefan. Das finde ich ganz amüsant.

»Und dann hat Elisabeth ihre Enkel quasi mit aufgezogen, und so kam es, dass Fabian jetzt der Juniorchef ist. Der hat Betriebswirtschaft studiert und kennt sich theoretisch mit allem besser aus, aber Urs versteht mehr von der Praxis. Das führt gelegentlich zu … Reibereien. Sie haben recht unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man ein Unternehmen führt.«

»Und auf wen hört die Belegschaft?«

»Auf den, der gerade im Raum ist«, wirft Annette ein.

»Und das gibt dann meistens ein Durcheinander«, sagt Stefan bekümmert.

»Außerdem ist im Hintergrund eben noch die alte Frau Zuckermann, die die Firma zwar offiziell an Fabian übergeben hat, sich aber verhält, als wäre sie weiterhin der Boss. Wenn sie vorbeikommt, behandeln sie auch alle so, und Fabian versucht meistens, alle Neuerungen vor ihr zu verheimlichen«, ergänzt meine Schwester.

»Klingt schwierig«, sage ich vorsichtig. »Es gibt also drei Chefs, die sich untereinander nicht absprechen, ja?«

»So ungefähr. Im Prinzip hat Fabian letztendlich das Sagen, aber er ist auch oft weg, und die alte Belegschaft hört eigentlich nur auf Urs Schröter. Schwer zu erklären, du wirst das dann schon erleben.«

»Und auf wen soll ich hören?«

»Du hörst bloß auf Frau Rosenthal, eine langjährige Mitarbeiterin, die zeigt dir dann morgen alles.« Also gut. Stefan gähnt, und das nehme ich zum Anlass, mich auch zu erheben. Stefan trägt unser Geschirr in die Küche, und ich überlege kurz, ob ich ihm helfen soll, aber er hat schon alles aufgeräumt und fährt bereits mit einem Lappen über den glänzenden Esstisch.

»Denk dran, Mia, morgen um zwanzig nach sieben müssen wir los, dann gehören wir zu den ersten, und mit etwas Glück kann ich sogar noch das Hauptgebäude aufsperren.«

Wer verlässt denn vor halb acht Uhr morgens freiwillig das Haus, nur um Erster an seinem Arbeitsplatz zu sein? Mein Schwager offensichtlich, und weil ich mit ihm zur Arbeit fahren muss, eben auch ich. Bei dem Gedanken werde ich unendlich müde und beschließe, sofort ins Bett zu gehen und sämtliche Waschungen und jegliche Schönheitspflege auf morgen früh zu verschieben.

»Gute Nacht«, sagt Annette und verschwindet in ihrem durchgestylten Schlafzimmer.

»Nacht!«, sage ich so freundlich, wie ich kann, und schlurfe ins Bad. Ich putze mir hastig die Zähne und verschanze mich dann in meinem Zimmer. Die schwarze Bettdecke ist flauschiger und kuscheliger, als sie aussieht, und ich mache mir ein Nestchen und checke dann im Bett noch mal alle meine Profile. Eine SMS oder WhatsApp-Nachricht hätte mir mein Handy ja sofort angezeigt, aber den Facebook-Messenger muss man manchmal aktualisieren. Aber heute hat er einwandfrei gearbeitet, blödes Ding. Auf Instagram ist Johnny nicht sehr aktiv, aber sicherheitshalber schaue ich trotzdem, ob er mein Bild aus dem Flugzeug gelikt hat. Hat er aber nicht. Meine letzte Chance ist Skype. Das nutzt ja eigentlich fast niemand mehr, aber er ist da aus Nostalgie immer noch angemeldet mit seinem Profilbild von 2006, und gelegentlich hat er mir darüber in den letzten Jahren nachts kryptische Nachrichten geschickt. Sehr spät nachts und sehr kryptisch, sodass ich bei den meisten nicht verstehen konnte, was er meinte, aber es ist schließlich der Gedanke, der zählt.

Auf Tinas Account sind auch keine neuen Bilder, weder von den letzten Tagen in Barcelona noch von der Rückkehr. Sie postet sonst ziemlich regelmäßig Updates. Vielleicht ist sie noch zu aufgewühlt von dem Gespräch mit Johnny, sodass sie keine Nerven für Social-Media-Aktivitäten hat? Bei dem Gedanken bekomme ich wieder ein schlechtes Gewissen, aber gegen die Liebe ist man halt machtlos, oder? Und habe ich nicht auch das Recht auf Glück? Solche Fragen sind nicht so einfach zu beantworten. In einer Serie wäre ich wohl auf den ersten Blick die Böse, die der armen Tina den Typen ausspannt, aber ich habe Johnny klargemacht, dass er sich zuerst entscheiden muss, ehe ich mich auf ihn einlasse. Wir haben uns nicht mal geküsst, bevor er das mit ihr geklärt hatte. Also fast nicht, es gab einen einzigen halben Kuss, den ich aber mittendrin vor lauter schlechtem Gewissen abgebrochen habe, also zählt der nicht. Und sie hat die telefonische Trennung dann wohl recht ruhig aufgenommen und ist weder spontan nach Hamburg geflogen, um ihre Beziehung zu retten, noch hat sie ihn angefleht, bei ihr zu bleiben. Es wäre mir natürlich am liebsten gewesen, wenn sie sich einen hübschen Spanier geangelt hätte und ihn am besten noch dieses Jahr heiraten würde, romantisch am Strand und hochschwanger, zur Sicherheit, damit sie auch keinen Rückzieher mehr machen kann, aber Hauptsache, die Verhältnisse sind geklärt. Ich möchte niemals in die Lage meiner Mutter kommen, die sich jahrelang einen Mann mit einer anderen Frau geteilt hat.

Um mich nicht gänzlich in einem hypothetischen Wenn-aber-falls-Universum zu verlieren, schalte ich mein Handy auf stumm und lösche das Licht.

Der Morgen ist genauso grässlich, wie ich es erwartet habe. Um sechs Uhr aufzustehen tut beinahe körperlich weh. Ich tappe ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Zum Glück gibt es bei Annette immer sofort heißes Wasser. Ich reibe an dem schwarzen Fleck herum, aber er lässt sich nicht entfernen, obwohl ich schrubbe, bis es wehtut. Dann shampooniere ich mir den Haaransatz flüchtig und gebe ein bisschen Spülung in die Spitzen. Auf diese Weise muss ich alles nur einmal komplett auswaschen und spare mir einen Durchgang. Abbrausen, Handtuch, abtrocknen, Bademantel, Föhn. Knapp zwanzig Minuten später bin ich wieder in meinem Zimmer und zwänge mich in die dunkle Strumpfhose und mein Praktikums-Outfit.

»Wer möchte einen Good-morning-Smoothie?«, trällert meine Schwester und stellt eine grünbraune Flüssigkeit in drei Gläsern auf den Tisch.

»Danke, nur Kaffee«, murmle ich und versuche, die Augen offen zu halten.

»Der ist mit Grünkohl, Sellerie, grünen Äpfeln und Chiasamen. Da kann man nichts falsch machen«, behauptet Annette.

»Bis auf die Farbe, den Geschmack und die Bezeichnung«, sage ich und kassiere einen strengen Blick.

»Wie willst du dir eigentlich die Haare machen?«, wechselt Annette dann elegant das Thema.

»Ähm, die hab ich eigentlich schon gemacht …« Sogar nach einem Youtube-Tutorial, das den perfekten Haarknoten versprochen hat, zusammengehalten von meinem geliebten goldenen Haargummi.

»Ach, ich dachte, die hättest du dir so zum Duschen zusammengewuschelt. Darf ich mal?«

Ich nicke leicht beleidigt, und Annette löst vorsichtig eine Strähne aus meinem Dutt, der daraufhin sofort in sich zusammenfällt.

»Komm mal mit!« Im Bad nimmt sie ein seltsames, kleines Haarteilschwämmchennetzdingsbums aus dem Schrank und zaubert mir damit die schickste Hochsteckfrisur, die ich je gehabt habe. Das goldene Haargummi stecke ich in meine Rocktasche.

»Ich glaube, jetzt geht es einigermaßen«, sagt sie mit zusammengekniffenen Augenbrauen. »Ab mit dir!« Sie gibt mir einen leichten Klaps und scheucht mich in die Garderobe. Als wäre sie meine Mutter oder als hätte sie mir irgendwas zu sagen. Aber ich hab keine Zeit, mich zu beschweren, denn Stefan steht schon im Treppenhaus und klimpert laut und bedrohlich mit seinem Schlüsselbund.

»Abfahrt um sieben Uhr zwanzig!«, ruft er, als befehligte er einen Einsatz des Technischen Hilfswerks. »Es ist sieben Uhr neunzehn! Schwägerin hat erst einen Stiefel an, und ihre Jacke ist noch offen. Zeit bis zur Abfahrt: siebenunddreißig Sekunden!«

Ist er irre? Hat er keine Angst vor dem Zorn der Nachbarn?

»Zeit bis zur Abfahrt: vierunddreißig Sekunden!« Er poltert die Stufen hinunter.

»Er meint das ernst. An deiner Stelle würde ich laufen!«, sagt Annette und schlägt die Wohnungstür hinter mir zu. Als ich keuchend aus der Haustür trete, sitzt Stefan bereits im laufenden Jeep und lässt den Motor aufheulen. O Gott, wie peinlich, sogar wenn uns niemand beobachtet. Wenigstens macht er ungefragt die Sitzheizung an. Dafür verzeihe ich ihm sein Kommandantengehabe. Und jetzt fahren wir nach Oberrügeri oder so ähnlich, und tatsächlich stellt sich langsam doch wieder so etwas wie Vorfreude ein.

Während ich Becky kurz eine Nachricht schreibe, kurven wir auf einer hügeligen Straße durch kleine Dörfer, eins malerischer als das andere. Im Hintergrund sieht man rechts und links die Berge, und davor erstrecken sich sattgrüne Weiden mit freundlich glotzenden Kühen. Oberrügeri ist der letzte und größte Ort; mit Supermarkt, Tankstelle und einer überschaubaren Fußgängerzone wirkt er beinahe wie eine kleine Stadt. Am Ortsende fahren wir um eine Kurve – und vor uns liegen mitten in der Wiese ein Parkplatz und ein großes, hässliches Gebäude mit mehreren Anbauten.

»Da wären wir!«, sagt Stefan und parkt.

»Hier?«, frage ich ungläubig und schnalle mich ab. Wo ist das bezaubernde Fachwerkhaus aus dem Prospekt?

»Der Eingang ist um die Ecke.« Skeptisch folge ich meinem Schwager aus dem Auto und auf einem kleinen Schotterweg an einer verwitterten Mauer entlang. An deren Ende biegen wir nach links ab und haben nun die Frontansicht der Manufaktur vor uns. Okay, hier sieht es schon besser aus. Rechts und links rahmen zwei tiefe Schaufenster die zweiflüglige Eingangspforte ein. Im linken sind diverse Schokoladenfiguren und -tafeln aufgetürmt, im rechten sieht man zwei kleine Sofas vor einem Tischchen stehen. »Das sind der SchokoLaden und das Café«, erklärt Stefan und drückt gegen die Tür. »Schon offen, schade. Nun, dann kann ich dir auch erst mal noch das ganze Gelände zeigen.« Ich würde ja lieber gleich reingehen und mich irgendwo hinsetzen, aber Stefan scheint wild entschlossen, mich um das komplette Gebäude herumzuführen. Brav folge ich ihm an der Seite des Cafés entlang, an einer kleinen Terrasse vorbei und zu einer schmiedeeisernen Bank, die inmitten einiger bepflanzter Blechtöpfe steht. Die Wand dahinter ist bis zur Hälfte ordentlich gestrichen, danach blättert die gelbe Farbe um die kleinen Fenster herum in Fetzen ab.

»Das ist die alte Backstube, die nutzen wir nicht mehr, aber gleich dahinter befindet sich der Aufenthaltsraum für die Belegschaft samt dem Hintereingang zum Café.«

Neugierig biege ich mit ihm um die Ecke und erstarre. Wir befinden uns in einem U-förmigen Innenhof. Zu unserer Rechten liegen malerische Wiesen und Weiden mit den Bergen im Hintergrund, zu meiner Linken tut sich eine Scheußlichkeit nach der anderen auf. Vor dem Hintereingang stehen ein halbvoller Aschenkübel, zwei wacklige Metalltische und ein großes »Zutritt verboten«-Schild. An einer Wand lehnen von Plastikplanen nur halb verdeckte Autoteile, Traktorräder und Ziegelsteine, und dahinter liegt ein grauer Steinklotz mit löchrigen Ziegeln auf dem schrägen Dach. »Das war ursprünglich ein Bauernhof, den Alfred erst später dazugekauft hat«, sagt Stefan leicht entschuldigend. »Wir nutzen ihn nur als Abstellraum. Links ist der Bürotrakt, der wurde nachträglich an das Vordergebäude angebaut und hinten mit dem Bauernhaus verbunden.« Ja, das sieht man, weder Farbe noch Höhe passen zum vorderen oder hinteren Gebäude. Es sieht einfach nur bescheuert aus. Mutlos folge ich Stefan aus dem Hof hinaus und weiter um die nächste Ecke. Okay, hier befindet sich endlich das Fachwerkhaus vom Foto auf dem Prospekt. Doch die Fachwerkbalken mit dem schmutzigen Weiß wirken weder retroschick noch heimelig, sondern einfach nur alt und heruntergekommen. Da nutzen auch die Blumenkästen nichts, die zwischen dem Fachwerkteil und der verbindenden Mauer hängen. »Das ist die ehemalige Scheune, hier drin wird produziert und verpackt.« Durch eins der trüben Fenster winkt Stefan einem Kollegen. »Nett«, presse ich hervor. Das Bild auf dem Prospekt muss geschickt von dieser Ecke aus aufgenommen und digital aufgehübscht worden sein. Diesen Fotografen sollte ich mal für Porträtaufnahmen engagieren, denke ich. Warum haben die Besitzer das Gebäude an diesem wunderschönen Ort dermaßen verkommen lassen?

Endlich biegen wir um die letzte Ecke und gelangen zurück zum Parkplatz. Am liebsten würde ich gleich wieder in Stefans Jeep einsteigen, zurückfahren und mich wieder ins Bett legen. Aber die Bettdecke über den Kopf zu ziehen ist leider keine Option. Also trotte ich weiter hinter meinem Schwager her und trete ein paar Minuten später endlich mit ihm durch den Vordereingang. Wir betreten das überraschend elegante Foyer mit einer kleinen Sitzgruppe aus Ledersesseln an der Seite.

»Links geht es zum SchokoLaden, rechts zum Café. Links hinter dem Laden liegt die Ausstellungshalle, sozusagen das Schokoladenmuseum. Geradeaus kommt man zum Empfang und zur Garderobe. Dahinter führt ein Gang zu den Büros und zur Produktionshalle, der für Besucher gesperrt ist«, erklärt Stefan weiter. Ist auch besser so, wenn der Gang so hässlich ist, wie das Gebäude von außen wirkt. Ich folge ihm am Empfangstresen vorbei bis zur Garderobe. An der Wand hängen vergilbte Werbeplakate, die wenig Lust auf Schokolade wecken.

»Hier kannst du deine Jacke aufhängen!« Er kommentiert meine verschlissene lila Cordjacke mit dem bunten Futter zwar nicht, aber sein Blick sagt: Versteck das hässliche Ding ganz hinten unter den normalen Mänteln!

Ich hänge meine Lieblingsjacke an einem Haken in der hinteren Reihe auf und drapiere meinen schwarzen Wollschal davor. Dann zupfe ich meinen Pulli zurecht und betrachte mich im Garderobenspiegel. Mit der dunklen Strumpfhose, dem grauen Rock und dem schwarzen Pulli sehe ich seriös und achtbar aus. Ich weiß nur nicht, was ich morgen anziehen soll, denn ich habe bloß wenige ordentliche Outfits im Kleiderschrank. Gut, darüber mache ich mir später Gedanken. Ich bin ohnehin aufgeregt genug. Heute werde ich den ganzen Tag lang nicken und lächeln und mir unzählige neue Informationen merken müssen. Und es geht nicht nur um theoretische Auseinandersetzungen mit einer Werbestrategie, sondern um einen echten Betrieb. Wenn ich einen Fehler mache, kann ich ihn nicht mit zwei Sätzen korrigieren. Dabei brummt mir jetzt schon der Kopf.

»Das ist Frau Rosenthal, sie leitet die Produktion und wird sich heute um dich kümmern.«

Eine dürre, hektische Blondine schüttelt mir kurz die Hand und spricht dann weiter in ihr Smartphone.

»Meine Schwägerin Mia. Sie fängt heute bei uns als …« Stefan verstummt angesichts Frau Rosenthals völligem Desinteresse. »Ich muss weiter«, sagt er dann mit Blick auf seine Uhr. »Wenn irgendwas ist, du findest mich hier den Gang entlang und durch die letzte Tür links runter in der Produktion.«

Damit ist er verschwunden, und Frau Rosenthal kümmert sich kein bisschen um mich. Sie deutet flüchtig auf die Uhr an ihrem Handgelenk, verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern. Dann stürzt sie mit dem Handy am Ohr von Raum zu Raum, und ich stolpere hinter ihr her. Ich komme mir sehr blöd vor, weil ich nicht weiß, was ich genau tun soll, und sie nie lange genug zu telefonieren aufhört, damit ich sie fragen kann.

Schließlich landen wir im Café, und sie ordert einen doppelten Espresso für sich und fragt mich, ohne ihr Handy wegzulegen, ob ich auch einen Kaffee will.

»Ja, gern«, sage ich verlegen, und eine missmutige Frau mit blonder Föhnwelle knallt eine hübsch dekorierte Tasse mit perfektem Milchschaum für mich auf den Tresen.

»Bist du auch so eine, die dauernd Kaffee will?«, herrscht sie mich an.

»Ähm, nein. Ich trinke nur ganz wenig«, lüge ich.

»Ja klar, so wie du den runterschüttest! Du bist ein absoluter Kaffee-Junkie, das sehe ich. Noch einen?«

»Ja, bitte, wenn es keine Umstände macht«, flüstere ich.

»Natürlich macht es Umstände. Extra Milchschaum?«

Ich nicke und frage mich, warum die Frau so furchtbar schlechte Laune hat. Mit den Tattoos auf den Armen und im Dekolleté und der seltsamen aufgetürmten Frisur wirkt sie auf jeden Fall Furcht einflößend. Gerade als ich überlege, ob ich beängstigend oder desinteressiert schlimmer finde, weist Frau Rosenthal mich an, an Ort und Stelle zu bleiben. »Ich warte noch auf eine Neue«, sagt sie knapp, schüttet dann ihren Espresso auf einen Satz hinunter und eilt aus dem Raum. Ich nehme meinen zweiten Cappuccino und setze mich damit zögerlich auf ein kleines Sofa. Da kaum Gäste anwesend sind, nehme ich niemandem den Platz weg, nur am Tisch vor dem Fenster sitzt ein Mann und liest Zeitung.

Außer meinem gibt es noch vier andere Minisofas, die gut zu den Tischchen mit den schmiedeeisernen Beinen passen. Allerdings stehen sie in einem seltsamen Kontrast zu den modernen Barhockern an der Theke, die eher in eine Szenekneipe passen würden. Die Wände sind in einem hässlichen Dunkelgrün gehalten, und irgendetwas stört mich, auch wenn ich es nicht genau benennen kann.

Der Kaffee schmeckt allerdings super, noch besser als der bei Stefan und Annette, und der Blick aus dem bodentiefen Fenster auf die verschneiten, hohen Berggipfel ist so unwirklich schön, dass ich erst nach mehreren Minuten mein Handy checke. Noch immer keine Nachricht von Johnny. Heute Morgen habe ich das noch damit abgetan, dass außer mir niemand freiwillig um diese Uhrzeit wach ist, aber jetzt macht es mich langsam nervös. Hat er das Gespräch immer noch nicht hinter sich gebracht? Oder ist ihm gar etwas passiert? Sicherheitshalber schreibe ich Becky kurz, ob zu Hause alles in Ordnung ist. Dann trinke ich meinen Kaffee langsam Schluck für Schluck und esse zum Schluss den beiliegenden Keks. Und jetzt? Keine Frau Rosenthal weit und breit zu sehen. Ob sie von mir erwartet, dass ich mich allein umsehe? Zeugt das von Interesse, oder wäre es unhöflich und neugierig? Am liebsten würde ich Stefan fragen, aber ich kann ihn schlecht anrufen, weil ich nicht weiß, ob ich aufstehen oder doch an meinem Platz bleiben soll. Und die Bedienung an der Theke werde ich auf keinen Fall ansprechen, wenn es nicht sein muss.

Was würde Becky tun? Sie würde das machen, wozu sie wirklich Lust hat, also vermutlich, sich etwas umsehen. Also stelle ich meine Tasse samt Untertasse auf dem Tresen ab und bedanke mich höflich beim Rücken der grimmigen Frau, die gerade irgendetwas im Regal ordnet. Sie ignoriert mich.

»Ich gehe nur mal rasch … auf die Toilette«, murmele ich und verschwinde. Im Gang riecht es nach Staub und Desinfektionsmittel, und auf einmal weiß ich, was mich stört. Wieso riecht es hier eigentlich nirgends nach Schokolade? Ich beschließe, mir den SchokoLaden ganz vorn anzusehen, und sobald ich die Tür öffne, kommt mir endlich der süße Duft von Kakao entgegen. Okay, jetzt bin ich offiziell verzaubert! Auf allen Regalen liegt, steht und hängt Schokolade in unzähligen Varianten. Schokoladenbruch mit Goldschrift, ganze Nüsse in Schokolade, 60-prozentige, 85-prozentige und sogar 90-prozentige Schokolade und Schokoladenwürfel am Stiel, die man in heißer Milch auflösen kann.

Eine Theke präsentiert kleine bunte Pralinen in den Geschmackssorten Pannacotta, Pistazie, Blaubeer, Rosenwasser, Mango und Safran. Die mit Safran sind vergoldet. Es gibt Zitronenschokolade mit Pfeffer, Schokolade mit Alkohol gefüllt, Williams Birne, Cognac, Weinbrandbohnen. Schokobonbons, die mit Nougat oder Kaffeelikör gefüllt sind. Einen Stöckelschuh aus weißer und rosafarbener Schokolade und die komplette Stadtfassade von Luzern in weißer, Milch- und Zartbitterschokolade. Wow. Ich würde mir am liebsten ein Körbchen schnappen und loslegen. Oder mir einfach die ganze Pracht nach und nach in den Mund stecken. So ungefähr hatte ich mir das ausgemalt. Für Schokolade könnte ich mich wirklich ins Zeug legen, und verzaubert von dem Geruch, verspreche ich mir selbst, aus diesem Praktikum das Beste zu machen. Trotz des seltsamen Starts. Weil ich mittlerweile tatsächlich auf die Toilette muss, gehe ich ins Foyer zurück. Und plötzlich laufe ich Frau Rosenthal in die Arme.

»Ach, da sind Sie ja, ich hatte doch gesagt, Sie sollen im Café auf mich warten! Können Sie gleich die chinesische Touristengruppe übernehmen?«, fragt sie hektisch.

»Eh, nein, das kann ich nicht, so was habe ich noch nie gemacht«, protestiere ich, aber habe das Gefühl, dass sie mich gar nicht richtig hört. Also schüttle ich vorsichtshalber noch den Kopf.

»Hier ist der Zettel, da steht alles drauf, Sie müssen sie einfach nur durch die Ausstellung führen und ihnen an jeder Station die Tafel vorlesen. Sie können doch Englisch, oder nicht?«

»Das schon, aber …« Englisch ist nicht wirklich meine Stärke.

»Und das Schokoladengießen fällt heute aus, die Werkstatt ist unbesetzt.« Zaghaft nicke ich.

»Wunderbar, dann lasse ich Sie jetzt allein. Und denken Sie daran, je mehr Schokolade sie am Schluss verkaufen, desto höher fällt Ihre Provision aus. Grüezi!«

Weg ist sie, und ich bin schockiert und überfordert. Was soll das Gerede von Provision? Ich kriege doch ein festes Gehalt, wobei der Begriff Taschengeld passender wäre. Aber wie soll ich ohne jede Einarbeitung eine Führung übernehmen? Doch es hilft nichts, ich kann mich schlecht am ersten Tag der ersten Anweisung meiner Vorgesetzten widersetzen. Also schleiche ich zurück zum Empfang und lese mir zitternd den Zettel durch.

 

Erlebnisrundgang mit fachkundigem Guide.

 

Ich schnaube kurz auf.

 

Begrüßung/Garderobe/Überprüfung Anmeldung (Vanessa: bezahlt?) Pro Person 1 Schoggitaler verzieren / 25 Minuten gesamt / Ladenverkauf: Spitzhügeli Nr. 16!

 

Ich drehe den Zettel um, aber da steht nichts weiter. Ist das ihr Ernst? Das sind die kompletten Anweisungen? Ich habe noch nie in meinem Leben eine Führung geleitet, nur eine Schatzsuche am Kindergeburtstag von Beckys kleinem Bruder, und die ist total danebengegangen. Die Kinder sind von Station zu Station gerast und waren am Ziel, bevor Becky den Schatz überhaupt richtig versteckt hatte. Sie haben ihr die Kiste aus den Händen gerissen und die Süßigkeiten eigenmächtig unter sich verteilt.

Wahrscheinlich ist eine Gruppe chinesischer Touristen leichter zu bändigen als zehn Kindergartenkinder, aber sicher bin ich mir nicht. Noch immer zitternd gehe ich aufs Klo, wasche mir dann die Hände mit der rosafarbenen Blumenseife und ziehe meinen Lippenstift noch einmal nach. Dann wage ich mich ins Foyer zurück, gerade rechtzeitig, denn die Tür öffnet sich mit einem leisen Läuten und spült eine Gruppe chinesischer Männer in Anzügen herein. Ich lächle sie so souverän an, wie ich kann, und weise ihnen dann mit Handzeichen den Weg zur Garderobe. Das ist der einzige Vorgang, den ich mir heute von Stefan abgucken konnte, und er funktioniert auch. Die Männer stellen sich wortlos an und hängen ihre Jacken und Mäntel ordentlich der Reihe nach auf. Offenbar sind sie besser trainiert als deutsche Kindergartenkinder. Dann schauen sie mich erwartungsvoll an.

»Ähm, do you have an … Anmeldeformular?«, frage ich blöd.

Einer streckt mir ein Schriftstück entgegen, und ich nehme es, gebe vor, es zu lesen, und nicke dann. »Yes, very good, thank you.« Ich hoffe einfach mal, dass sie ordnungsgemäß bezahlt haben oder was auch immer sie nach der Anmeldung erledigen mussten.

»Halt, die Herrschaften bekommen noch ihre Schoggitaler!« Eine dünne Rothaarige in Pelzweste, die mir noch niemand vorgestellt hat, hält mich am Ärmel fest und zählt mir vierzehn Plastikschokotaler in die Hand. »Das sind die Gutscheine fürs Schokoladegießen.«

»Ähm, ich glaube, das fällt heute aus«, sage ich.

»Okay, von mir aus.« Sie streckt die Hände aus, und ich gebe ihr die Taler wieder zurück.

»Viel Spaß!«, ruft sie, und ich frage mich, wen von uns sie meint und ob das hier nicht doch ein grausamer Erstlings-Scherz ist. Irgendjemand wird heute sicher noch Spaß haben, wenn auch nicht unbedingt ich.