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Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ihr Freund macht mit Josefine auf offener Straße Schluss und braust im Auto davon - angeblich kann er ihr Chaos nicht mehr ertragen. Nun gut, Fine war tatsächlich spät dran und vielleicht war ihr Outfit für die Hochzeitsfeier seiner Schwester noch nicht ganz perfekt. Und so etwas passiert ihr leider auch nicht gelegentlich, sondern eigentlich immer. Aber diese Reaktion ist nun wirklich völlig übertrieben. Vor lauter Ärger und Verzweiflung stellt sie einen bitterbösen Artikel über Ordnungsliebe online - und wird komplett missverstanden. Plötzlich gilt sie als Expertin fürs konsequente Aufräumen und soll sogar eine Kolumne in einem hippen Lifestyle-Magazin schreiben. Der Job ist ein Traum, und das Geld kann sie ziemlich gut gebrauchen. Jetzt muss sie nur noch die perfekt organisierte Fassade aufrechterhalten. Als unerwartete Hilfe entpuppt sich ausgerechnet Patrick, Fines Nachbar und seines Zeichens ein echter Ordnungsfanatiker. Nur seltsam, dass ausgerechnet sein Lächeln Fine und ihr Chaos ordentlich durcheinanderbringt … Der wichtigste Ordnungstipp in diesem Jahr? Unbedingt den neuen Feelgood-Roman von Ella Lindberg lesen - denn der bringt garantiert mehr Gelassenheit ins Leben.
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Seitenzahl: 471
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ella Lindberg
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ihr Freund macht mit Josefine auf offener Straße Schluss und braust im Auto davon – angeblich kann er ihr Chaos nicht mehr ertragen. Nun gut, Fine war tatsächlich spät dran, und vielleicht war ihr Outfit für die Hochzeitsfeier seiner Schwester noch nicht ganz perfekt. Und so etwas passiert ihr leider auch nicht gelegentlich, sondern eigentlich immer. Aber diese Reaktion ist nun wirklich völlig übertrieben. Vor lauter Ärger und Verzweiflung stellt sie einen bitterbösen Artikel über Ordnungsliebe online – und wird komplett missverstanden. Plötzlich gilt sie als Expertin fürs konsequente Aufräumen und soll sogar eine Kolumne in einem hippen Lifestyle-Magazin schreiben. Der Job ist ein Traum, und das Geld kann sie ziemlich gut gebrauchen. Jetzt muss sie nur noch die perfekt organisierte Fassade aufrechterhalten. Als unerwartete Hilfe entpuppt sich ausgerechnet Patrick, Fines Nachbar und seines Zeichens ein echter Ordnungsfanatiker. Nur seltsam, dass ausgerechnet sein Lächeln Fine und ihr Chaos ordentlich durcheinanderbringt …
Der wichtigste Ordnungstipp in diesem Jahr? Unbedingt den neuen Feelgood-Roman von Ella Lindberg lesen – denn der bringt garantiert mehr Gelassenheit ins Leben.
Zitat
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Danksagung
Quellenverzeichnis
Ich hasse das Chaos, aber das Chaos liebt mich.
(Graf Fito)
Meiner Mama, in Liebe
Okay, einmal tief durchatmen. Kein Grund zur Panik. Ich habe noch knapp zehn Minuten und bin schon fast fertig. Ich stecke in dem einzigen grünen Kleid, in dem ich beim Anprobieren nicht furchtbar aussah, auch wenn es das teuerste in der Boutique war – danke für die Farbvorgaben, Sarah! –, und der Reißverschluss ist schon beinahe ganz zu. Meine Haare sind geföhnt und zur Hälfte gelockt, und die zweite Hälfte steckt sicher verstaut in den Lockenwicklern, die ich jeden Moment herausnehmen kann. Oder notfalls nachher im Auto. Die Foundation ist aufgetragen, Lidstrich und Lidschatten sitzen, und die künstlichen Wimpern halten schon beinahe … na gut, die gehen dauernd wieder ab, bis auf das eine Büschel links außen, das klebt bombenfest. Den rosa Lippenstift habe ich abgepudert, den werde ich fünf Minuten vor der Kirche noch mal auffrischen. Jetzt muss ich nur noch die Ohrringe anlegen, die Kette, und dann können wir auch schon los. Ist doch super, alles im Plan.
»Fine!«, ruft mein Freund Oliver quer durch die Wohnung. Vermutlich schon zum fünfzehnten Mal, aber richtig ernst wird es eigentlich immer erst ab zwanzig.
»Ich hab’s gleich! Kannst du mal bitte ins Bad kommen und mir den Reißverschluss zumachen?«
»Nein! Ich hab schon meine Schuhe an!« Oliver klingt genervt und kein bisschen nach Feierlaune. Na ja, ist ja nicht meine Schwester, die da heiratet.
»Gleich!«, rufe ich zurück und sprühe großzügig Desinfektionsmittel auf meine Ohrläppchen. Entschlossen steche ich den ersten silbernen Ohrring durch das Loch in der rechten Seite. Es ziept ein wenig, weil meine Ohrlöcher sich sofort verschließen, sobald ich zwei Tage keine Ohrringe getragen habe, aber es geht. Einmal drehen, Clip draufsetzen, fertig. Sieht hübsch aus mit den drei baumelnden Silberperlen. Das linke Ohr macht allerdings Zicken, als wäre das Loch komplett zugewachsen. Ich drücke und bohre, aber ich kriege den Stecker einfach nicht rein. Kann doch gar nicht sein.
»Fine! Es ist fünf vor halb!«, ruft Oliver. Warum klingt er so genervt? Ich hab doch noch fünf Minuten. Die reichen locker, um dieses verdammte winzige Loch von hinten mit dem Stecker aufzustechen, so! Jetzt ist der Ohrring durch, es hat fast nicht wehgetan, und der Blutstropfen ist so klein, dass einmal wegwischen reicht. Wieder raus mit dem Stecker, noch mal desinfizieren – aua, das brennt! – und den Stecker von vorn reinstechen, jetzt geht es problemlos, Verschluss drauf, fertig. Erleichtert wasche ich mir die Hände, schnappe mir das silberne Kettchen von Marie und …
»Josefine! Es ist drei vor halb zehn!«, schreit Olli wieder. Meine Güte, was stresst der mich! Okay, dann kommt die Kette in meine Tasche, die kann ich im Auto anlegen.
Die verdammten künstlichen Wimpern halten immer noch nicht, dann müssen es eben meine Naturwimpern tun. Nur muss dieses eine lange Büschel am Rand wieder ab, sonst sieht es komisch aus. Ich ziehe und zerre an den paar verklebten Dingern an meinem äußersten Augenlid, aber sie lösen sich einfach nicht. Also abschneiden … Mit der Nagelschere geht das ganz gut … shit. Das waren zu viele, jetzt hab ich links oben überhaupt keine Wimpern mehr, dann muss ich da wohl doch wieder welche ankleben, nur kürzere.
»Josefine!«, schreit Oliver, »wir müssen JETZT los!«
»Ich bin gleich so weit!«, brülle ich zurück. Okay, jetzt ganz ruhig. Da hätte ich gleich drauf kommen können, die einfach auf die Länge der natürlichen zu kürzen, aber jetzt ist es zu spät. Verflixt. Wo ist der Kleber? Okay, dann mach ich das auch im Auto und ziehe vorläufig meine Sonnenbrille an.
»Josefine, ich gehe jetzt runter. Du hast es mir versprochen! Dieses eine Mal kriegst du es hin, hast du gesagt! Wenn du in zwei Minuten nicht da bist, fahre ich ohne dich!«
»Ist ja gut, ich komme!« Hektisch grabsche ich nach dem kompletten Wimpernset und lasse es in meine Kosmetiktasche fallen. Und die anderen Lippenstifte und das Deo, man weiß ja nie. Und das Kästchen mit den glitzernden Haarklammern. Dann nehme ich den kompletten Kulturbeutel eben mit und mache die Frisur im Auto fertig, ist ja kein Problem, die Fahrt dauert mindestens eine halbe Stunde. Ich stolpere in den Flur, greife nach dem geliehenen grünen Mantel, meiner Handtasche und der Geschenktüte und sehe mich eine Sekunde lang um. Habe ich was vergessen? Hoffentlich nicht.
Unten vor der Haustür lässt Oliver bereits den Motor aufheulen. Also ziehe ich die Wohnungstür ins Schloss und haste die Treppe hinunter. Zum Glück ist es nur ein Stockwerk, und Olivers BMW steht direkt vor der Haustür, mit laufendem Motor und geöffneter Beifahrertür. Ich kraxele auf den Beifahrersitz und lasse die Tür zufallen.
»Es ist vier nach halb. Wir kommen zu spät!«, presst Oliver wütend hervor.
»Nein, das schaffen wir locker. Die Trauung beginnt doch erst um elf Uhr.« Ich muss erst ein paarmal tief durchatmen, damit sich meine Lunge von dem ungewohnten Rennen erholen kann. Oliver drückt aufs Gas, und wir preschen los.
»Hast du das Geschenk?«, fragt er streng.
»Ja.« In der Tüte auf meinem Schoß.
»Die Wegbeschreibung?«
»Ja.« Ist in meiner Handtasche.
»Die Karte?«
»Ja.« Ich bin total erleichtert, dass ich trotz der wahnsinnigen Hektik an alles gedacht habe, und bücke mich nach meinem Kosmetiktäschchen. Dabei fällt mein Blick auf meine klobigen Birkenstocksandalen. Verdammt, ich hab meine schönen Schuhe nicht mit!
»Oliver, es tut mir leid, aber wir müssen noch mal zurück. Ich hab meine High Heels vergessen.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, zischt er mich an.
»Doch, tut mir leid.«
»Lass die an, die du jetzt anhast!«
»Aber das sind Birkenstocks, die passen überhaupt nicht dazu!«
»Ist mir egal! Ich bin da der Trauzeuge, wenn ich nicht rechtzeitig komme, ruiniere ich Sarah den schönsten Tag ihres Lebens!« So wütend habe ich ihn noch nie gesehen. Vielleicht gehen die Birkenstocks doch? Ich ziehe meinen Rock hoch und sehe die eingerissenen, schmutzig-weißen Laschen über dem ausgetretenen Fußbett. Nein, das ist superpeinlich.
»Bitte, Olli, ich brauche nur eine Minute.«
Oliver bremst scharf und lässt das Auto quietschend wenden, sodass wir fast ins Schleudern kommen.
»Fahr doch nicht so schnell!«, sage ich ängstlich.
»Nicht so schnell? Das kann echt nicht wahr sein!«
»Es dauert doch nur um eine Minute.«
»Nur eine Minute? Du weißt doch gar nicht, wie lange eine Minute ist! Bei dir dauert eine Minute eine Stunde!«
O nein, wir streiten schon wieder, dabei sollte das heute doch ein ganz besonderer Tag sein.
»Bitte sei nicht so böse.« Ich schlucke und versuche, ihn zu beschwichtigen.
»Das ist ein Albtraum vor dem Herrn!«
»Wie bitte?«
Dann merke ich, dass er gar nicht mit mir redet, sondern vor sich hin flucht. »Gott, womit habe ich eine solche Freundin verdient?«
Ich verbeiße mir die Tränen. Das ist richtig gemein.
Oliver hält mit quietschenden Reifen vor meinem Haus. »Du hast eine Minute. Das sind sechzig Sekunden! Eine Sekunde dauert so lang: Ein-und-zwan-zig. Kapiert?«
»Ja.« Ich öffne die Tür, stolpere hinaus und verheddere mich dabei im Gurt, falle beinahe hin, laufe dann aber weiter. Die Haustür ist, wie tagsüber immer, nur angelehnt, und ich haste die Treppe hinauf.
»Was ist denn das für ein Lärm im Treppenhaus?«, ruft mein Nachbar Patrick aus dem Erdgeschoss.
»Notfall!«, brülle ich und stecke zitternd meinen Schlüssel ins Schloss. Vor Aufregung bekomme ich ihn nicht richtig hinein.
»Geht das auch etwas leiser?«
»Nein!«, schreie ich zurück. Patrick mit seinem Ordnungsfimmel ist der Letzte, den ich jetzt gebrauchen kann. Ich muss nur endlich diesen Schlüssel in die vermaledeite Öffnung … fast als wäre das Schloss auch zugewachsen … okay, das war der falsche Schlüssel, deshalb. Erleichtert stecke ich den passenden hinein und schließe auf. Ich reiße den Schuhschrank auf, dessen Inhalt mir entgegenquillt, oh, hier ist das Buch, das ich neulich gesucht habe, aber ich weiß zum Glück ganz genau, in welchem Karton die silbernen Riemchensandalen sind, ups, das sind die roten. Aber hier, klar, ich hab sie dahin geräumt, ähm, nee, das sind Stiefeletten. Fuck. Aber hier … Ach, das sind die grauen Pumps, eigentlich wollte ich ja andere anziehen, aber die Minute ist läääängst um, dann nehme ich eben die … Ich packe sie und lasse die Tür krachend wieder ins Schloss fallen.
»Denkst du auch mal an deine Nachbarn? Hier wohnen alte Leute!«, höre ich Patrick schon wieder. Es hilft nichts, ich muss an ihm vorbei, er steht anklagend in seiner geöffneten Wohnungstür. Er ist höchstens dreißig, aber seine Seele muss uralt sein, so wie er sich aufführt.
»Sorry, bin spät dran!«, rufe ich ihm zu und stürze zur Haustür hinaus.
Aber da ist niemand. Olivers Auto ist weg.
»Olli?« Ist er um die Ecke gefahren? Will er mir eine Lehre erteilen? Ich hetze dorthin und wieder zurück. Kein Oliver weit und breit.
»Suchst du deinen Freund in dem BMW?« Patrick beugt sich jetzt in seinem Wollpullunder aus dem geöffneten Küchenfenster. »Der ist schon weg. Mit quietschenden Reifen.«
Panisch greife ich nach meinem Handy und drücke die Kurzwahltaste für Olli.
»Ja bitte?«, sagt er schneidend. Am Hall erkenne ich, dass er mich auf Lautsprecher geschaltet hat.
»Olli, wo bist du? Ich stehe vor dem Haus!« Mein Ohr, an das ich das Handy halte, tut weh.
»Gleich auf der Autobahn.«
»Das meinst du nicht ernst, oder? Du kannst doch nicht ohne mich fahren!«
»Doch, das kann ich allerdings. Josefine, es reicht mir mit deinem ewigen Chaos. Es geht um Sarahs Hochzeit! Ich werde nicht zu spät zur Hochzeit meiner Schwester kommen, nur weil meine Freundin die Uhr nicht lesen kann und überhaupt nichts im Griff hat!«
»Dein Ohr blutet«, informiert mich Patrick von seinem Fensterposten aus. Ich taste nach der schmerzenden Stelle an meinem Ohrläppchen und habe tatsächlich klebriges Blut an der Hand. Das muss vom Ohrring kommen. Egal jetzt.
»Olli, bitte komm zurück!« Meine Stimme bricht, und ich heule beinahe los, als mir klar wird, wie grotesk mein Aufzug hier ist. Ich stehe in einem dünnen, grünen Kleid mit Hausschuhen und Lockenwicklern auf der rechten Seite meines Kopfes auf dem Gehsteig. In der Hand halte ich einen Herrenmantel, eine Stofftasche und meine Pumps, mir fehlen am linken Auge die oberen Wimpern, und mein Ohr blutet.
»Ich komme nicht zurück. Nie mehr. Josefine, mir reicht es endgültig! Es ist vorbei mit uns!«, sagt Oliver böse aus dem Handy.
»Waas?«
Ich höre seine Worte, aber ich verstehe sie nicht. Ich habe mich doch nur ein bisschen verspätet. Na gut, bei einem wichtigen Ereignis, aber ich bin sicher, dass wir noch rechtzeitig …
»Olli, bitte dreh wieder um, ich bin fertig, ich hab jetzt alles!«
»Nein!«
»Bitte! Ich mach es auch wieder gut!«, stammele ich beschwörend ins Telefon und schalte den Lautsprecher an, damit ich ihn besser verstehen kann.
»Das kannst du nicht mehr gutmachen. Ich bin doch nicht dein Hampelmann! Das war das letzte Mal, dass du mir etwas versaut hast!«
»Aber dann fehlt Sarah eine Farbe im Regenbogen …«
Die Brautjungfernkleider wurden nämlich nach den Regenbogenfarben ausgesucht, weshalb sie nicht die kleinste Farbabweichung gestattet hat.
»Sarah hat dir extra Hellgrün gegeben, das fällt nicht auf zwischen Türkis und Dunkelgrün.«
»Habt ihr etwa damit gerechnet, dass ich …«
»Bei dir muss man ja mit so was rechnen!«, sagt er hart und klickt mich weg. Aufgelegt. Er hat einfach aufgelegt. Durch meinen Körper zuckt eine Welle kalter Übelkeit. Soll ich ihm hinterherfahren? Aber ich habe keine Wegbeschreibung und bin viel zu spät dran, und er hat so eiskalt geklungen …
»Was ist denn los?«, fragt Patrick.
»Mein Freund hat mich gerade verlassen!«
»Und daran musst du die Nachbarschaft teilhaben lassen?«
»Ja, muss ich! Verstehst du nicht, er hat mit mir Schluss gemacht!« Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie fließen heiß und schnell aus meinen Augen, und ich lasse mich auf den Gehsteig sinken.
»Nur weil ich meine Schuhe vergessen habe. Das kann er nicht ernst meinen. Er ist nur wütend, oder?«, frage ich zitternd.
»Na, ich weiß nicht. Er klang schon ziemlich sauer«, sagt Patrick sachlich mit seiner blöden Roboterstimme, die er immer benutzt, wenn er mich kritisiert. Was oft vorkommt.
»Aber wir lieben uns doch. Wir sind seit fast drei Jahren zusammen. Man macht doch nicht Schluss, nur weil jemand sich um ein paar Minuten verspätet …«
»Geht es denn um ein wichtiges Ereignis?«
»Die Hochzeit seiner Schwester.«
»Dann ist es wichtig«, stellt Patrick fest. »Da kann ich ihn durchaus verstehen.«
Jetzt überkommt mich eine Woge von Wut, auf Oliver, auf Patrick und die ganze Welt. Am liebsten würde ich gegen Ollis Auto treten, nur ist das nicht mehr da.
»Ach ja, du kannst ihn verstehen? Schön für dich!«, brülle ich Patrick an. »Dreihundert Euro hat mich das blöde Kleid gekostet, und es steht mir nicht mal!«
»Ja. Grün ist nicht deine Farbe«, stimmt Patrick mir ungerührt zu. Als ob der das beurteilen könnte, mit seinem hässlichen Wollpullunder.
»Und dafür habe ich heute stundenlang im Bad gestanden und mir eine Frisur gemacht!«
»Das nennst du eine Frisur? So mit Lockenwicklern auf dem Kopf geht meine Oma ins Bett.«
Besitzt er nicht einen Funken Feingefühl? »Ist mir egal, wie deine Oma ins Bett geht! Mein Leben geht hier gerade den Bach runter, und du sagst mir, dass ich blöd aussehe? Was bist du nur für ein Arsch!«
»Du hast mich doch nach meiner Meinung gefragt«, sagt er und hebt verteidigend die Hände. »Außerdem finde ich diese Ausdrucksweise unangemessen.«
»Schon mal was von rhetorischen Fragen gehört? Und ich finde gerade auch so manches unangemessen! Zum Beispiel, dass mein Freund mich hier einfach am Straßenrand stehen lässt und ausgerechnet der nervigste Nachbar der Welt Zeuge ist. Das ist der beschissenste Scheißtag meines Lebens!«
»Das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht valide beurteilen, erst an deinem Todestag kann man das mit Sicherheit sagen.«
Er ist offenbar verrückt.
»Ich geh jetzt rein! Mit dir kann man ja nicht normal reden!«, fahre ich ihn an. Ich stehe auf und laufe zurück zur Haustür.
»Da irrst du dich. Ich hatte eine Eins in schriftlichem Ausdruck und Kommunikation, soll ich dir mein Zeugnis zeigen?«
»Nein danke!« Ich reiße mich stark zusammen, um im Hausflur nicht gegen seine Wohnungstür zu boxen. Dann stapfe ich hoch zu meiner Wohnung – und merke, dass ich den Schlüssel drinnen vergessen habe. Nein, nicht das auch noch. Ich habe mich ausgesperrt. Das kann doch alles nicht wahr sein!
Mutlos lasse ich mich auf den Treppenabsatz sinken und beginne zu weinen. Die ganze Hektik, die Wut, die Enttäuschung, die Scham, alles entlädt sich, und ich kann gar nicht mehr aufhören zu schluchzen.
»Was ist denn jetzt wieder los? Ich dachte, du wolltest in deine Wohnung gehen?«, erklingt Patricks Stimme ein paar Minuten später aus dem Treppenhaus.
»Ich kann nicht. Hab mich ausgesperrt!«, schluchze ich.
»Warum?« Mit einem Einkaufsnetz in der Hand kommt er die Treppe zu mir heraufgestiegen.
»Aus Versehen!«, schreie ich. »Warum sollte man sich wohl sonst aussperren? Wohl kaum zum Vergnügen!«
»Ich weiß ja nicht, was du unter Vergnügen verstehst, so wie du dich zurechtgemacht hast, mit abgerissenen Wimpern und blutendem Ohr, aber willst du vielleicht bei mir auf den Schlüsseldienst warten?«
Ich schüttle trotzig den Kopf. Warum ist meine Nachbarin Annabel ausgerechnet dieses Wochenende mit ihrem Sohn bei ihren Eltern? Sonst hätte ich nebenan bei ihr warten können. Ich habe ja sogar einen Schlüssel für ihre Wohnung, aber der befindet sich ebenso wie mein eigener sicher hinter der Wohnungstür, Luftlinie zehn Meter von hier entfernt.
»Vielleicht könnten wir ja heute aufgrund besonderer Umstände mal einen kleinen Waffenstillstand einlegen? Ich könnte dir einen Kaffee anbieten, und ich habe gerade Kekse gekauft.« Er wedelt mit seinem blöden Netz vor meiner Nase herum, aber ich schüttle weiterhin den Kopf. Niemals gehe ich zu meinem Feind in die Wohnung.
»Und Desinfektionsmittel und ein Pflaster vielleicht auch.«
Andererseits hat er vermutlich ein Sofa und eine Toilette. Es ist schon kalt hier, und ausgerechnet jetzt drückt mich auch meine Blase.
»Na gut«, sage ich vorsichtig. »Ich muss nämlich dringend mal aufs Klo. Aber ich bleibe nur so lange, wie es absolut nötig ist.«
»Das ist ganz in meinem Interesse«, erwidert er mit einem charmanten Lächeln.
Langsam stehe ich auf und folge ihm. Jetzt drängt die Zeit ja nicht mehr. Ich habe keinen Termin, muss nur zu meinem ordnungsverrückten Nachbarn, mit dem ich seit Monaten einen Kleinkrieg über die fachgerechte Entsorgung von Pappkartons führe und der mir mein nicht fachmännisch zusammengefaltetes Altpapier schon mehrmals wieder vor die Wohnungstür gelegt hat. Eigentlich beschwert er sich seit seinem Einzug grundlos unentwegt über irgendetwas.
»Wann bist du noch mal hier eingezogen?«
»Am 27. Januar. Seit diesem Tag liegt meine geliebte Stereoanlage auf dem Schrottplatz, weil meine liebe Nachbarin Josefine Geiger ihre Kräfte überschätzt und den Karton fallen gelassen hat. Danke noch mal für die freundliche Hilfe beim Umzug!«
Ach so, richtig, damit hat es wohl angefangen. Okay, das war meine Schuld, aber ich wollte ihm wirklich nur beim Tragen helfen und keine Nachbarschaftsfehde auslösen. Hoffentlich will er mir tatsächlich bloß Kaffee anbieten und mich nicht in seinem geheimen Verlies einsperren. Am Ende würde er mich da noch zwingen, seine Pullunder nach dem Grad der Hässlichkeit zu sortieren.
Patrick bittet mich mit einer übertriebenen Geste herein.
Na gut, hier drinnen ist es warm. Und sauber und ordentlich, wenn auch ziemlich spartanisch eingerichtet.
»Zieh bitte deine Schuhe aus!«
Ja, mache ich, auch wenn kein Dreck der Welt dieses graubraune Linoleum noch hässlicher machen könnte.
Immerhin nimmt er mir den Mantel ab und hängt ihn ordentlich an einen Garderobenhaken. »Da geht’s zum stillen Örtchen.« Logisch, schließlich herrscht die gleiche Zimmeraufteilung wie oben bei mir. Nachdem ich auf der Toilette war, bittet er mich in sein Wohnzimmer.
Das ist jetzt eine Überraschung. Früher wohnte hier die Schwester unserer Vermieterin, mit plüschigem Blümchensofa, Eiche rustikal und einem röhrenden Hirsch an der Wand. Großmutters Gruselkabinett. Aber jetzt ist es recht spartanisch eingerichtet, in Weiß, Grau oder aus Metall.
»Ähm, sehr hübsch«, sage ich höflich.
»Ja, ich habe die Wohnung von Tante Käthe übernommen, aber die Einrichtung nicht. Die konnte man nicht vernünftig sauber halten. Was in den Polstermöbeln alles gelebt hat, will ich mir gar nicht ausmalen. Jetzt ist alles abwischbar und wird regelmäßig desinfiziert.«
»Was muss denn dauernd desinfiziert werden?«, frage ich und denke an diesen Film mit Christian Bale … American Psycho, genau.
Patrick sagt mit einer weiträumigen Geste: »Na, alles. Ich bin da vielleicht ein wenig übervorsichtig, seit ich mal Kleidermotten hatte. Nimm doch bitte Platz.«
Schicksalsergeben lasse ich mich auf das graue Sofa sinken. Oh, es ist unerwartet bequem. Ich ziehe die Beine hoch und setze mich im Schneidersitz auf meine Füße. Jetzt merke ich erst, wie erschöpft ich bin und dass mir kalt ist. Hier gibt es aber weder Kissen noch Decken oder sonst irgendetwas, was die Seele oder die Füße wärmen könnte.
»Du hast ja gar keine Bücher.«
»Doch, die stehen im Schlafzimmer.«
»Aber ein Wohnzimmer ohne Bücher hat keine Seele.«
»Wie viele Bücher besitzt du denn?«
»Mindestens zweihundert, im Regal. Pro Zimmer.«
»Und wann liest du die bitte schön alle?«
»Eins pro Tag im Urlaub, drei pro Woche im Alltag. Ich lese echt schnell.« Bücher haben mich schon als Kind getröstet, wenn die anderen gemein zu mir waren. Sobald ich lesen konnte, wurden sie zu meiner Zuflucht und Rettung – und sind es bis heute geblieben.
»Möchtest du jetzt einen Kaffee?«
»Ja, bitte.« Vielleicht ist er doch gar nicht so übel, wie ich gedacht habe.
»Arabica oder Robusta?«
»Wie bitte?«
»Willst du Coffea arabica oder Coffea canephora?«, fragt er langsam und deutlich, als wäre ich zurückgeblieben.
»Was ist denn besser?«
»Das kann man überhaupt nicht vergleichen.«
Weil ich ihn immer noch mustere wie eine Spezies von einem anderen Stern, fragt er leicht genervt: »Helle oder dunkle Röstung?«
»Ähm, egal. Wo ist denn der Unterschied?« Ich will einfach nur einen Kaffee.
»Magst du deinen Kaffee lieber fruchtig, süß, schokoladig oder röstig?«
Okay, jetzt bin ich überfordert.
»Es sollte nach Kaffee schmecken …«
Patrick verdreht die Augen.
»Filterkaffee oder French Press?«
»Weißt du was? Entscheide du, ich bin sicher, du machst das richtig. Ich muss jetzt den Schlüsseldienst anrufen. Das wird sicher furchtbar teuer.«
»Sollen wir es nicht zuerst bei der Hausverwaltung versuchen? Vielleicht haben die einen Ersatzschlüssel?«
Das ist echt eine gute Idee, und ich stimme ihm zu. Aber mein positiver Eindruck gerät schon wieder ins Wanken, als Patrick die Nummer der Hausverwaltung in sein Festnetztelefon eintippt. Er weiß sie auswendig!
»Du rufst wohl oft bei der Hausverwaltung an?«
»Tja, ich muss mich schließlich täglich über dich beschweren.«
»Ach so.« Na dann.
»Geht keiner ran. Wahrscheinlich weil Wochenende ist.«
Ich bin erleichtert, als Patrick in der Küche verschwindet, um den Kaffee zu machen. Mit Herzklopfen hole ich mein Handy aus der Tasche. Vielleicht hat Oliver es sich inzwischen anders überlegt und mich um Verzeihung gebeten? Nein. Falls er seine Meinung geändert hat, hat er davon zumindest nichts kundgetan. Wahrscheinlich ist er schon bei der blöden Hochzeit und lässt sich von seiner blöden Familie umarmen. Ich muss zugeben, dass ich mich auf den Tag nicht uneingeschränkt gefreut hatte. Sarah ist sehr nett, aber irgendwie einfach nicht mein Typ. Sie hat nie was Böses gesagt, aber wenn ich einen Witz mache, sieht sie mich grundsätzlich ratlos an. Und lacht dafür über Sachen, die ich nicht lustig finde. Sie nennt ihren Verlobten »mein Männe«, steht auf Diddl-Mäuse, von denen ich nicht einmal wusste, dass es die überhaupt noch gibt, und Helene Fischer. Wir leben einfach nicht in derselben Welt. Und ihre Eltern sind nicht viel anders. Sie schunkeln zu Hits von DJ Ötzi, erzählen sich die ältesten Schenkelklopfer und lesen niemals irgendein Buch. Es wäre wahrscheinlich anstrengend geworden, einen ganzen Tag lang mit ihnen zu verbringen. Aber Familienfeiern sind wichtig, wenn man dazugehören will. Und ich dachte, ich hätte meinen Platz in Olivers Leben sicher. Tja, so kann man sich täuschen.
Olli ist nur sporadisch auf Facebook aktiv, aber es gibt eine geheime Facebook-Gruppe, die der Organisation von Sarahs Hochzeit gedient hat und in die ich vor Wochen von der mir unbekannten Trauzeugin eingeladen worden bin. Zitternd rufe ich die Gruppe auf – vielleicht wurde ja schon vor der Trauung was gepostet – und sehe sofort das glückliche Brautpaar vor mir. Beinahe hätte ich Sarah nicht erkannt, sie hat mindestens zehn Kilo abgenommen und ist unnatürlich hell erblondet. Dünn und zufrieden posiert sie in ihrem Designerkleid mit Spitze und hält ihren Sven dabei fest in den manikürten Krallen. Er wird dir schon nicht weglaufen, zukünftige Ex-Schwägerin oder besser, ehemalige Schwägerin in spe. Was mich am meisten interessiert, ist natürlich, wie Olli aussieht. Ich klicke mich von Bild zu Bild – wer hat da jede einzelne Stufe zum Rathaus hoch fotografiert? – und entdecke ihn schließlich neben einer unbekannten Frau in Gelb. Sie trägt ein zitronengelbes Kleid, einen sonnenblumenfarbenen Hut und allen Ernstes einen aufgespannten weißen Sonnenschirm mit Butterblumen drauf. Drinnen, im Rathaus. Das muss Viktoria-der-Lenz-ist-da, die Trauzeugin, sein, die mich in die Hochzeitsgruppe eingefügt hat, so nennt sie sich zumindest online. Sie steht verdächtig nahe neben meinem Freund und strahlt ihn auf jedem Foto an. Olli lächelt schleimig zurück und scheint mich kein bisschen zu vermissen. In der Brusttasche seines Jacketts steckt ein leuchtend gelbes Stofftaschentuch. Wo hat er das bitte schön aufbewahrt? Die Farbe passt exakt zum Kleid der Trauzeugin, und mir dämmert, dass das kein Zufall sein kann. Sarah hat sich doch wochenlang den Kopf über das Farbkonzept zerbrochen. Hinter Olli und Viktoria steht eine rothaarige kleine Frau in einem orangefarbenen, langen Gewand. Offenbar hat Sarah sie gezwungen, ein Kleid in der Farbe ihrer Haare zu tragen.
»Bitte sehr!« Patrick trägt ein silbernes Tablett mit zwei winzigen Espressotassen, zwei Löffeln und einem Unterteller mit drei Keksen herein.
»Hast du vielleicht auch Milch?«
»Ja, schon, aber doch nicht zum Espresso.«
»Ich mag aber keinen Kaffee ohne Milch.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich hab dich doch gefragt, was du möchtest.« Aber in einer komischen Kaffee-Nerd-Sprache, die ich nicht verstehe.
»Können wir nicht einfach ein bisschen Milch dazugießen, dann wird es halt ein Latte macchiato?«
»Doch nicht mit San-Sebaldo-Bohnen! Das ist ein brasilianischer Kaffee mit achtzig Prozent gewaschenem indischen Robusta, leicht fermentiert! Den zerstört man mit Milch. Das geht gar nicht.«
Na schön. Dann kippe ich den Espresso eben so runter, auch wenn ich ihn schwarz nicht mag. Dazu stopfe ich mir einen Keks in den Mund. Fürs Frühstück war schließlich keine Zeit, und ich hatte mich auf ein üppiges Festmahl eingestellt, außerdem schmecke ich so weniger vom bitteren Espresso. Für wen ist wohl der dritte Keks gedacht? Für mich, weil ich zu Besuch bin? Oder hat Patrick vor, ihn exakt in der Mitte durchzuschneiden, vielleicht mithilfe eines Cutters oder einer Küchenwaage?
»Kann ich den letzten Keks haben?«
Er sieht mich freundlich an und fragt: »Würdest du es denn schaffen, ihn nicht zu essen?«
Hab ich schon erwähnt, dass der Typ unmöglich ist?
Schnell stecke ich mir den Keks in den Mund und lehne mich zurück. Aua, das piekst. Die blöden Lockenwickler kann ich jetzt wohl auch mal rausnehmen. Ich habe keinen Freund mehr, der sich für meine Frisur interessieren könnte, und mein doofer Nachbar hat mich eh schon an meinem absoluten Tiefpunkt gesehen. Also wickle ich Strähne um Strähne auf und lasse die Lockenwickler in meine Handtasche fallen.
»Warum hast du eigentlich nur die Hälfte deiner Haare eingedreht?«
»Weil die Lockenwickler nur für den halben Kopf gereicht haben. Also musste ich beide Hälften nacheinander machen.«
»Sind da standardmäßig zu wenige in einer Packung, oder hast du eine unüblich große Haarmenge?«
»Die Hälfte der Lockenwickler ist mir neulich geschmolzen«, gebe ich zu.
»Geschmolzen?«
»Man macht sie in einem Topf mit Wasser heiß, und ich hatte sie vergessen. Der Kunststoff ist dann teilweise geschmolzen, und die Hälfte war kaputt.« Ich fahre mir mit den Fingern wie mit einem grobzinkigen Kamm durch die Haare.
»Das hat bestimmt schrecklich gestunken.«
»Ja, ich musste sogar den Topf wegwerfen.«
»Hat dein Freund das mitbekommen?«
Direkt werde ich hellhörig. »Ja, schon«, sage ich lauernd, bereit zum Gegenangriff.
»Ah«, macht er nur. Dann Schweigen.
Wie jetzt, ah? Was will er mir damit sagen? Dieser Typ ist einfach die Pest. Und wieso sitze ich tatenlos bei meinem wahnsinnigen Nachbarn herum und lasse mich beleidigen, anstatt den Schlüsseldienst anzurufen? Das sollte ich schleunigst tun. Ich google nach der Nummer und murmele Patrick zu, dass ich telefonieren muss. Dann drehe ich mich zur Seite, um wenigstens gefühlt ein wenig Privatsphäre zu haben. Der Typ vom Schlüsseldienst verspricht, innerhalb einer Stunde zu kommen. Für schlappe 150 Euro, aber was soll ich machen.
»Willst du schon gehen?«, fragt Patrick überrascht, als ich das Handy einstecke und aufstehe.
»Ja.«
»Wir haben uns doch gerade so nett unterhalten. Du kannst gern hier warten«, bietet er an.
»Nein danke. Ich glaube, ich hab von dir genug Kommentare zu meiner Situation gehört.« Ich stelle meine Tasse aufs Tablett, exakt an die Stelle, wo sie vorher stand. Dann picke ich drei Kekskrümel vom Tisch auf und lege sie in einem gleichmäßigen Abstand auf das Tellerchen, sodass sie ein gleichseitiges Dreieck bilden. Oder ein gleichschenkliges? Ach, was weiß ich. Hauptsache, er merkt, wie albern ich seinen Ordnungszwang finde.
»Weißt du, wie hoch die statistische Chance ist, dass ein getrenntes Paar in den Zwanzigern nach einer Trennung wieder zusammenkommt?«, fragt er jetzt allen Ernstes.
Ich weiß nur, dass seine Chancen steigen, heute noch ermordet zu werden. Ganz ruhig, Finchen, durchatmen, innerlich bis zehn zählen. Oder besser bis zehntausend. Kopfschüttelnd und mit zusammengebissenen Zähnen gehe ich durch den Flur, schlüpfe in meine Birkenstocks und nehme den Mantel vom Haken.
»Danke für den Kaffee«, sage ich so freundlich, wie ich es fertigbringe, und verlasse seine Wohnung. Ich ziehe die Tür mit Schwung zu, und es knallt befriedigend.
»Hey, das geht auch leiser!«, ruft Patrick mir von drinnen hinterher.
»Du mich auch!«, schreie ich und schlage unwillkürlich mit der Faust gegen die Tür. Die Außenverkleidung scheint aus demselben dünnen Material zu bestehen wie bei mir, und ich habe das ungute Gefühl, dass sie sich nach meinem Schlag jederzeit von der Innentür ablösen könnte.
Dann stapfe ich die Treppe hinauf und lege vor meiner Wohnung den geliehenen grünen Mantel auf den Boden. Ich lasse mich daraufsinken. Weil er meinem Bruder gehört, ist er zwar etwas zu groß, aber er passt farblich exakt zu meinem neuen Kleid. Für einen einzigen Anlass wollte ich mir keinen Mantel in einer Farbe kaufen, die mir nicht gefällt. Vor allem nicht für eine Sommerhochzeit, bei der ich ihn eh nur als Back-up für den Abend gebraucht hätte. Den Mantel habe ich mir schon letzte Woche ausgeliehen – von wegen, ich würde nie irgendetwas vorausschauend planen! Meinen Handy-Akku habe ich auch extra nachts aufgeladen. So kann ich mich jetzt ausgiebig mit weiteren Fotos vom großen Festtag ohne Finchen quälen.
Mittlerweile sieht man die glücklichen Brautleute beim Sektempfang vor dem Rathaus. Ist nicht gerade die allerschönste Kulisse mit der Baustelle im Hintergrund, aber das war wohl nicht abzusehen. Ich bemerke eine leise Schadenfreude und schäme mich, allerdings nur ein wenig. Sarah lächelt auch eher gequält. Ist sie genervt, weil sie nicht alles unter Kontrolle hat, oder zweifelt sie etwa bereits an den Qualitäten ihres frischgebackenen Ehemannes?
»Na, wer sitzt denn hier so ganz allein auf dem Boden?«, ertönt plötzlich eine laute Stimme. Ich schrecke hoch und sehe einen fremden Mann vor mir. Er hat einen schwarzen Pferdeschwanz, ist überall tätowiert und hält mir einen klimpernden Schlüsselbund vors Gesicht. Ach, der Typ vom Schlüsseldienst, Gott sei Dank.
Ich rappele mich hoch und ignoriere seine Hand, die er mir übertrieben hilfsbereit entgegenstreckt. Das schaffe ich gerade noch allein.
»Na, Sie schauen ja drein, junge Dame … Was ist denn passiert?«
»Ach, ich wollte eigentlich nur noch schnell meine Schuhe holen, und dann hab ich länger gebraucht, und er ist einfach weggefahren und hat mit mir Schluss gemacht. Und mein Nachbar, bei dem ich gewartet habe, wollte mir keine Milch zum Kaffee geben, und ich hasse dieses Grün!« Ich deute hilflos auf mein Kleid und spüre, wie mir schon wieder die Tränen in die Augen steigen. Meine Güte, bin ich neben der Spur. Der Mann klopft gegen die Tür, sein Gesicht ein großes Fragezeichen.
»Haben Sie von außen abgesperrt und den Schlüssel verloren oder den Schlüssel innen stecken lassen?«
Ach so, er meinte die Sache mit dem Aussperren, wie peinlich. Innerhalb von Sekunden färben sich meine Wangen tiefrot.
»Nein, er muss drinnen auf der Kommode liegen. Ich meine, ich habe nicht abgeschlossen.«
»Okay. Das ist schon mal gut. Dann können wir es zunächst mit dem Dietrich probieren. Oder wollen Sie es gleich offiziell, mit Aufbohren und neuem Schloss?«
»Was ist denn günstiger?«
»Offiziell und mit Rechnung ist immer teurer.«
Er sieht mich augenzwinkernd an, und ich komme mir vor wie eine Kriminelle. Ich möchte einfach nur endlich in meine Wohnung.
»Probieren Sie es ruhig mit dem Dietrich. Ich meine, das ist doch nicht illegal, oder?«
»Sie sind ja süß. Nee, das ist schließlich Ihre eigene Wohnung. Oder nicht?«
»Ja, sicher«, murmele ich und schaue mich um, ob Patrick irgendwo lauert. Der zeigt mich noch höchstpersönlich an, dieser Blockwart von einem Nachbarn.
»Denn wenn das die Wohnung von Ihrem Ex ist und Sie nur noch mal kurz reinmüssen, um etwas zu erledigen, dann ist das eine Straftat. Klar, oder?«
»Völlig klar«, murmele ich. Das ist meine Wohnung, meine ganz allein, aber ich komme mir trotzdem wie eine Lügnerin vor.
»Na, dann wollen wir mal.«
Er braucht keine zehn Sekunden, um mit einem Dietrich das Schloss zu öffnen. »So, jetzt brauchen Sie kein neues, und es kostet nur die Hälfte, aber ich würde dringend eine Kette oder einen Riegel empfehlen. Ist nicht gerade einbruchssicher.«
Ganz offensichtlich. Ich bedanke mich für die schnelle Hilfe und will gern allein sein, mein Ohr desinfizieren und in meine Kissen weinen, aber er steht im Flur herum und schaut mich erwartungsvoll an.
»Ich hole schnell das Geld.« Hoffentlich habe ich noch genügend Bargeld da, und hoffentlich wartet er an der Haustür und folgt mir nicht in das Chaos. Aber leider latscht er mir schon hinterher in den Flur, also lasse ich höflichkeitshalber die Tür offen, als ich im Wohnzimmer nach Bargeld suche.
»Was hältst du davon: Ich schreib keine Rechnung, aber dafür lädtst du mich auf einen Kaffee ein?«
Oh, duzen wir uns jetzt? In meiner Schreibtischschublade sind nur noch fünfzig Euro, aber das goldene Sparkätzchen von meiner Omi ist randvoll, nur wo ist der verdammte Schlüssel? Bevor ich das aufbrechen muss, könnte ich vielleicht doch das mit dem Kaffee …?
»Meinten Sie, in einem Café, oder soll ich Ihnen schnell in der Küche einen Kaffee machen?«, frage ich vorsichtig.
»Hier bei dir ist es doch viel gemütlicher.« Oh Mann.
»Mit Milch und Zucker?«, frage ich schwach und gehe an ihm vorbei in die Küche.
»Ja, blond und süß, so wie du.«
Scheiße, das wird mir jetzt zu aufdringlich. Am Ende stellt er sich noch ein paar süße Extras dazu vor, die nichts mit Keksen zu tun haben.
Ich starre in den Kühlschrank und versuche, zu improvisieren. »Tut mir total leid, aber mir ist leider die Milch ausgegangen. Und das Kaffeepulver. Und ich hab ganz schlimme … Kopfschmerzen.« Letzteres stimmt sogar.
»Tja, dann. Das macht also 150 Euro inklusive Wochenendaufschlag von fünfzig Prozent.«
Ich sehe ihm zu, wie er alles auf seinen Block schmiert und mir die Rechnung auf die Kommode knallt. Dann ist die Sparkatze wohl fällig.
»Kleinen Moment bitte, ich bin sofort wieder da.« Diesmal mache ich die Tür zum Wohnzimmer hinter mir zu, denn bei diesem zerstörerischen Akt will ich keine Zuschauer haben. Irgendwas Schweres brauche ich … oder soll ich das Sparkätzchen einfach mit der Kante gegen den Schreibtisch schlagen? Aua, verdammt! Es zerbricht leicht wie Glas und schneidet leider auch genauso scharf. Ein dicker Blutstropfen rollt über meine Finger, als ich vorsichtig die Scherben beiseitelege und die Scheine herausziehe. Immerhin dreihundert Euro und eine Menge kleiner Münzen, sogar noch ein paar Markstücke aus meiner Kindheit. Das räume ich später auf. Jetzt will ich nur endlich den Schlüsseltyp loswerden. Ich wickele ein Taschentuch um den Finger mit der Schnittwunde und öffne die Tür mit der sauberen Hand.
»Hier, bitte schön!«
»Oh, du zahlst bar? Du hättest es auch überweisen können.«
Wie bitte? Warum hat er das nicht gleich gesagt?
»Dann tschüssikowski!« Er dreht sich auf dem Absatz um und öffnet endlich die Haustür.
»Danke und tschüss!«, presse ich heraus und fixiere die Tür, bis das Schloss eingerastet ist. Okay, er ist weg. Erst mal ausatmen. Ein Teil von mir ist einfach nur erleichtert, dass er die Wohnung verlassen hat, aber ein anderer Teil fängt an, mit mir zu schimpfen. Zehn Minuten Konversation, die mir 150 Euro erspart hätten. War das echt zu viel verlangt, Prinzessin? Ja, sage ich trotzig, wer weiß, was Mr Tschüssikowski sonst noch vorgehabt hätte. Aber für mein Seelenheil habe ich das Andenken an Omi zerschlagen. Es war zwar uralt und voll bis oben hin, trotzdem überkommt mich plötzlich der Drang, zu weinen. Es war ein Andenken an die vielen Ferien, die wir bei Omi auf dem Land verbracht haben, an meine unbeschwerten, glücklichen Kindersommer, die dann viel zu abrupt endeten … Schnell in den Müll mit den goldenen Scherben.
Vielleicht sollte ich trotzdem lieber das Schloss austauschen lassen, jetzt, wo ich weiß, wie schnell man die Tür öffnen kann? Olli kann das sicher – oh, verdammt. Nichts mehr mit »Olli kann das sicher«. Olli setzt seine Talente jetzt wahrscheinlich bei Viktoria ein. Sie hat ihn schon so hilflos und bambimäßig angesehen mit ihrem albernen Sonnenschirm.
Ich steige aus dem teuren Kleid, schlüpfe in meinen ältesten Pyjama und mache mir einen Kaffee mit extra viel Milch – das Letzte, was mir ausgehen würde, Mister Dietrichkowski –, knalle mich aufs Sofa und aktualisiere die Gruppenseite. Lädt und lädt und dann … nichts. Hab ich kein Netz? Ich versuche es mit dem Laptop, dasselbe Spiel. Ich komme nicht mehr in die Gruppe rein. Man hat mich gekickt. Tja, Finchen war eineinhalb Minuten zu spät, Finchen hat nicht ins Farbkonzept gepasst. Weg mit dem Chaos-Finchen. Irritiert suche ich das Profil von Viktoria-der-Lenz-ist-da, aber auch das ist verschwunden. Das hast du schlau angestellt, quietschgelbe Frühlingszeugin. Jetzt kannst du dir den Mann mit dem gelben Taschentuch krallen. Aber freu dich nicht zu früh, das Modell Oliver Schmidt hat auch ein paar nicht gleich sichtbare Mängel: keine Nachsicht bei Fehlern, keine Geduld. Zwei Stunden Vorspiel beim Fußballschauen, zwei Minuten Vorspiel beim Sex. Der äußere Schein ist ihm immer wichtiger als das Innere. Bei seiner Examensfeier hat eine seiner Kommilitoninnen mit verschwollenen Augen die Abschlussrede gehalten. Während ich überlegte, ob sie kurz vor der Rede eine schlimme Nachricht bekommen hat, und beeindruckt war, wie professionell sie dennoch alles vorgetragen hat, hat Olli sich darüber mokiert, dass ihr Kostüm nicht perfekt saß und sie »nichts gegen ihren Heuschnupfen« unternommen hat. Sein Perfektionismus mag ja nach außen hin wie Erfolg und Disziplin wirken, aber wenn man es recht bedenkt, deutet er doch eher auf eine Zwangsstörung hin. Ich meine, welcher Mann hat denn bitte Marie Kondo zum Idol und seine Unterhosen nicht nur farblich sortiert, sondern auch noch aufrecht stehend, damit er sie alle mit einem Blick erfassen kann?
»Was machst du gerade, Josefine?«, fragt Facebook. Tja, was mache ich gerade? Ich schäume vor Wut und hacke in die Tastatur.
Was ist wichtiger: pünktlich zu einem wichtigen Ereignis einzutreffen oder die passende Begleitung dabeizuhaben?
Richtig, Pünktlichkeit ist immer und unter allen Umständen wichtiger. Wen interessiert es in zwanzig Jahren noch, wen man damals dabeihatte? Aber wenn der Trauzeuge erst kurz vor knapp eintrifft, ruiniert das den ganzen Tag. Und auf eine verdorbene Hochzeit kann nur eine schreckliche Ehe folgen, Scheidung garantiert.
Geraten Sie öfter in peinliche Situationen wie diese? Bevor Sie die Schuld bei sich suchen, sollten Sie sich fragen, ob Ihr Umfeld Sie vielleicht davon abhält, sich optimal zu entfalten. Man sollte sich bei jedem Angehörigen regelmäßig fragen: Bringt diese Person Unordnung in mein Leben? Falls ja: Weg damit! Streichen Sie ihn oder sie aus Ihrem Leben.
Und wenn Sie beim Aussortieren den Gedanken haben, eine chaotische, aber liebenswerte Freundin könnte vielleicht irgendwann in ferner Zukunft doch noch mal nützlich sein, ist das meistens ein Trugschluss. Also weg damit!
Sie hat ihre Aufgabe in Ihrem Leben bereits erfüllt, denn sie hat Ihnen gezeigt, wie sehr Sie Unordnung hassen und wie stark das Chaos Sie in Ihrem innersten Wesen beeinträchtigt. Danken Sie ihr für diese Lektion, und verabschieden Sie sich von ihr. Sie muss ja nicht direkt auf den Müll wandern. Vielleicht kann jemand anders sie ja noch gebrauchen, jemand, der andere Wertmaßstäbe ansetzt oder bereit ist, Zeit und Nerven in ihre Optimierung zu investieren. Sie jedoch sollten sich von dem Ballast befreien, mit dem diese Person Ihr Leben vollgemüllt und Sie davon abgehalten hat, die strahlendste Version Ihrer selbst zu sein.
Dann sind Sie bereit für Ihr neues, cleanes Leben in Hochglanz und Wohlgefallen! Amen.
So, abgeschickt. Das war wohl der längste Statusbericht, den ich je verfasst habe. Aber warum nicht? Hoffentlich liest Olli das und begreift, wie oberflächlich und hartherzig er ist. Vielleicht bereut er dann, dass er mich so herzlos behandelt hat.
Ich versuche, meine Freundinnen Lena und Marie zu erreichen, aber sie gehen nicht ran. Lena hat wahrscheinlich immer noch ihr Prüfungsvorbereitungs-Seminar.
Ich merke, dass ich schrecklichen Hunger habe. Im Kühlschrank ist aber nur noch eine halbe Packung Lasagne, die schon bessere Tage gesehen hat. Angeekelt lasse ich sie in den Mülleimer fallen, aus dem sich eine Wolke von Fruchtfliegen erhebt. Igitt! Am besten gehe ich jetzt sofort einkaufen und bringe dabei den Müll raus. Ich ziehe an den Laschen der Mülltüte, aber sie sitzen fest. Mit zugehaltener Nase ziehe ich fester, bis die Tüte nachgibt und sich nach oben zerren lässt, aber als ich sie gerade aus dem Eimer gehoben habe, platzt der Boden auf, und aller Abfall inklusive einer abgelaufenen Tüte Mehl ergießt sich auf den Küchenboden.
»Kann heute nicht mal irgendetwas funktionieren?« Ich brülle so laut, dass ich selbst erschrecke, und schlucke dabei mehligen Staub.
In diesem Moment klingelt es an der Tür, und ich werde schlagartig nervös. Ist Olli doch zurückgekommen? Tut es ihm leid, und er will mich um Verzeihung bitten? Aber so kann ich doch nicht öffnen, im Pyjama und über und über mit Mehl bestäubt.
»Moment!«, schreie ich. »Ich komme sofort!« Die Bescherung am Küchenboden ignoriere ich, dafür ist keine Zeit. Hände waschen, Küchentür fest verschließen, ins Bad und wenigstens einmal die Haare durchkämmen. Immerhin habe ich perfekte Locken, auch wenn mein Make-up mit Mehlstaub überdeckt ist. Es klingelt erneut, und ich stürze mit klopfendem Herzen zur Tür. Patrick aus dem Erdgeschoss sieht mich vorwurfsvoll an.
»Josefine, ich glaube, du hast meine Wohnungstür beschädigt. Komm mal mit runter, und schau dir das an!«
»Ganz sicher nicht!«, fauche ich, enttäuscht, dass er nicht Olli ist.
»Hier bitte, da verläuft eindeutig ein Riss!« Er hält mir sein Handy vors Gesicht und zoomt in ein Foto hinein. Gut, da ist ein kleiner Riss, das lässt sich nicht leugnen.
»Der war bestimmt schon vorher da«, sage ich mürrisch.
»Vor was?«
»Bevor ich gegen die Tür geboxt habe.« Verdammt.
»Immerhin, du gibst es also zu. Dann brauchen wir keinen Streitschlichter, ich werde es direkt der Hausverwaltung melden. Unterschreibst du mir bitte das hier?«
»Nein, ich unterschreibe dir gar nichts! War das alles?«
»Wenn wir schon mal dabei sind, der Trockner im Wäscheraum ist verstopft, und laut Liste hast du gestern Abend gewaschen. Wann hast du zum letzten Mal das Flusensieb gereinigt?«
»Was gereinigt?« Ich sehe ihn verständnislos an.
»Das Flusensieb.«
»Äh, ich weiß jetzt nicht genau, was du meinst.«
»Du hast also noch nie das Flusensieb sauber gemacht. Dachte ich mir’s doch! Weißt du, wie schnell die Maschine dabei verschleißt? Rechnen wir es mal grob aus. Es gibt zwei Wäschetrockner und acht Parteien im Haus. Wie oft wäschst du pro Woche?«
»Keine Ahnung.« Wer führt darüber schon Strichlisten?
»Wenn ich mir deine Klamotten so ansehe, wahrscheinlich eher selten. Und die Buntwäsche trennst du auch nicht richtig, sonst wäre dein Pyjama nicht so grau verwaschen.«
»Ich will nicht mit dir über meinen Pyjama reden. Kannst du bitte einfach gehen? Ich hatte echt einen schlimmen Tag.«
»Der Tag ist noch lange nicht vorbei.«
»Für mich schon. Für mich ist die ganze Woche vorbei.« Ich funkele ihn wütend an.
»Die Woche ist für jeden vorbei, morgen ist Sonntag.«
»Ich meinte das metaphorisch. Die neue Woche beginnt außerdem erst übermorgen.«
»Kirchlich betrachtet, beginnt sie am Sonntag«, korrigiert Patrick mich schon wieder. Was für ein grässlicher Korinthenkacker.
»Schön. Und von meinem Standpunkt aus ist sie eben vorbei. Denn ich gehe jetzt ins Bett!«
»Mittags um eins?«
»Mehr von diesem Tag verkrafte ich nicht. Kannst du bitte einen Schritt zurückgehen?«
Patrick tut es und fragt misstrauisch: »Wieso?«
»Weil ich dich nicht aus Versehen erschlagen will!« Das ist eine Lüge, ich würde ihn sogar sehr gern niederstrecken, aber ich will mir gar nicht ausmalen, was er dann ins Protokoll für die Hausverwaltung schreiben würde. Mit Karacho schmettere ich die Tür zu. Falls sich dabei ein Riss bildet, ist es mir egal.
Nachdem ich die Bescherung in der Küche beseitigt und mir gründlich Gesicht und Hände gewaschen habe, krame ich die essbaren Reste in meiner Küche zusammen und brate mir chinesische Nudeln mit einer halben Zwiebel, einem Ei und etwas Sojasoße in der Pfanne. Dazu mache ich mir einen Kakao und schleppe dann meine Beute ins Bett. Ich wüsste nicht, an welchem anderen Ort ich den Tag heute sonst überstehen würde.
Im Bett esse ich von einem alten Blümchentablett und mache mir dazu den Fernseher an. Parallel starre ich alle zwanzig Sekunden auf mein Handy, aber kein Wort von Oliver. Das Fernsehprogramm ist leider gar nicht unterhaltsam, sondern nervig und belehrend. Ich zappe von »Das Chaos hat mich vertrieben« über »Mobbing – wieso Chaoten ausgegrenzt werden« und »Messie trifft Putzteufel« bis hin zu »Minimalismus 2.0: Wie Sie sich vom Chaos befreien und endlich richtig leben«. In einer amerikanischen Sendung wird das Haus einer unordentlichen Familie komplett leer geräumt, dann renoviert, und danach dürfen sie sich von ihrem Besitz in einer Lagerhalle maximal 25 Prozent aussuchen, der wieder zurück ins Haus wandert. Der Rest wird verschrottet. Grausam.
Dabei muss ich an Ollis Worte denken. Das mit der Chaotin ist stark übertrieben. Ich meine, ich bin kein Messie. Ich hebe keinen Müll auf. Nur Sachen, die ich noch brauche. Oder ziemlich wahrscheinlich noch mal brauche. Oder vielleicht noch mal brauchen könnte. Oder die jemand anders eventuell mal brauchen könnte. Das macht man eben so, wenn man kein Minimalist ist. Man bewahrt Dinge auf. Man weiß schließlich nie, ob man sie nicht noch mal ganz dringend benötigt.
Gut, wenn ich mich so umsehe, besitze ich schon eine gewisse Vielzahl an Gegenständen. Tendenziell wohl mehr, als ich unbedingt benötige. Wie beispielsweise die leeren Schmuckrahmen, die auf dem Bücherregal liegen und die ich längst mit Fotos befüllen wollte. Meine aussortierten Winterklamotten vom vorletzten Jahr, die Papprollen mit meinen Kinderpostern in der Ecke, zwei Kisten mit Briefen, die meine Cousine Bea und ich uns als Kinder geschrieben haben. Mit Bea habe ich seit Jahren keinen Kontakt mehr, aber das heißt doch nicht, dass ich alle Spuren unserer Kinderzeit tilgen muss! Der Notenständer – ich hatte nur eine einzige Gitarrenstunde und habe danach abgebrochen. Die kunstvoll verzierte Lederhülle, in der ich zum 18. Geburtstag einen teuren Gin bekommen habe. Die kaputte Spieluhr meiner Omi. Die brauche ich nicht, aber ich könnte sie niemals weggeben, und sie drängt sich im Bücherregal neben Radiergummis, Heftklammern, Stickern, Briefmarken, einem kaputten Füller und mehreren Rechnungen. Na gut, zugegeben, ich bin ein wenig unordentlich.
Die Rechnungen hätte ich bezahlen und abheften sollen. Ordner besitze ich durchaus, nur öffne ich sie nicht regelmäßig, weil sie schon so voll sind, dass ich Angst habe, der Inhalt würde mir entgegenspringen. Die Klamotten hätte ich zum Secondhandladen bringen und den Füller wegwerfen sollen.
Okay. Es ist eine einzige Katastrophe mit mir. Oliver hat recht. Ich bringe es nicht fertig, meine Steuererklärung rechtzeitig zu machen, weil ich die Unterlagen nicht finde. Und ich finde sie nicht, weil ich zu viele Sachen habe. Dabei haben wir vom Keller noch nicht mal gesprochen.
Meine Eltern waren mir auch keine guten Vorbilder. Meine Mutter ist eine Jägerin und Sammlerin. Sie möchte immer auf alles vorbereitet sein, und damit meint sie jede Lebenssituation. Du bist zu einem Geburtstag eingeladen und hast kein Geschenk – meine Mutter öffnet ihren Geschenkeschrank. Dir fehlen am Sonntag die Zutaten zu einem hawaiianischen Barbecue – meine Mutter hat die Zutaten im Keller. Du brauchst kurzfristig einen Elektrokochtopf, einen Bassverstärker oder eine Kreissäge – komm mit in den Keller, Liebes. Das ist praktisch, aber auch gruselig. Nicht auf die Serienmörderart, sondern weil Mama einfach alles hat. Alles. In einem Reihenhauskeller, den sie sich mit einer Sondergenehmigung bis unter den Garten hat ausbauen lassen. Sie hat mir immer eingebläut, dass man auf alles vorbereitet sein muss, und daher traue ich mich nicht, Sachen wegzuwerfen, die vielleicht noch mal wichtig werden könnten.
Und mein Vater hat zwar nur wenige Sachen aus dem Haus seiner Stiefmutter mitgenommen, verschusselt aber dennoch ständig sein weniges Zeug und hängt voller Inbrunst an jedem mottenzerfressenen Stofffetzen, der im letzten Jahrhundert möglicherweise mal ein Kleidungsstück gewesen ist.
Endlich ruft mich Lena zurück. »Du hast fünfmal angerufen, was ist los mit dir?«
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
»Der Tag war ein Albtraum. Mein Nachbar will mich verklagen, weil ich seine Tür kaputt gemacht habe. Der Typ vom Schlüsseldienst wollte Nettigkeiten, um mir die Rechnung zu erlassen, die Mülltüte ist geplatzt und hat mich überall mit Mehl eingesaut, und ich hab mir am linken Auge die Wimpern abgerissen. Ach ja, und Olli hat mit mir Schluss gemacht.«
»Waas? Wieso das denn?«
»Ich bin ihm zu chaotisch.«
»Ja, du bist ein Chaosmädchen, aber dafür lieben wir dich doch.« Das ist wie ein Löffel Zucker durch den Telefonhörer.
»Olli nicht«, schniefe ich dennoch. »Nicht mehr. Er will eine Frau, die vorausplant und einen guten Eindruck macht. Eine Viktoria.«
»Eine was?«
Das ist jetzt zu kompliziert. »Erklär ich dir später.«
»Weißt du was? Ich mache früher Schluss und komme jetzt gleich zu dir.«
»Ich dachte, das geht bis acht?«
»Schon, aber ich sage, dass es ein Notfall ist. Ist es doch, oder nicht?«
»Irgendwie schon«, schluchze ich.
»Halte durch, Süße!« Lena schickt mir ein Luftküsschen, und ich fühle mich ein winziges bisschen besser.
Dann gehe ich ins Bad, lasse Wasser ein und wasche mir das Mehl aus den Haaren.
Lena bringt Eis mit Schokostückchen, Prosecco und Chips mit. Es rührt mich, dass sie die letzten Stunden ihres Seminars zur Vorbereitung auf das zweite juristische Staatsexamen für mich geschwänzt hat.
»Wir haben ja nun nicht direkt was zu feiern«, sage ich mit Blick auf die Flasche. Ich bin gerade frisch aus der Wanne, gehüllt in meinen rosa Bademantel und mit Handtuchturban auf dem Kopf.
»Doch, wir feiern, dass du den Langweiler los bist.« Grinsend schlüpft sie aus ihren halbhohen Sandalen und schüttelt ihre dunklen Locken. Sie sieht jetzt schon wie die Anwältin aus, die sie erst in einem Jahr sein wird. »Außerdem gab’s bei der Tanke nicht viel Auswahl. Rosa Kopfwehwein oder braunen Fusel in Plastikflaschen hätte ich noch anbieten können.«
Den Wohnzimmertisch habe ich freigeräumt und alles, was hier am Boden lag, in mein Schlafzimmer geschafft.
»Ich wollte Olli aber gar nicht loswerden.«
»Das Universum wollte, dass du ihn loswirst.« Sie lächelt mich mit ihrem Engelsgesicht an, dem man nicht immer ansieht, wie klug sie ist. Dann breitet sie ihre Schätze auf dem Tisch aus, und wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich. »Glaub mir, es ist zu deinem Besten.« Ich weiß schon, dass Lena nicht Ollis größter Fan ist, aber ihr mangelndes Bedauern irritiert mich trotzdem, als ich ihr Ollis Abgang schildere. Ich muss ihr die Bilder von der Regenbogenhochzeit zeigen. Zum Glück hat Sarah mich noch nicht aus ihrer Freundesliste gekickt und mittlerweile ihr Profil mit Hochzeitsbildern geflutet.
»Schau mal, was sagst du dazu?«
Ich halte meiner besten Freundin anklagend mein Handy vors Gesicht.
»Die beiden sehen aus wie das Brautpaar in einer True-Crime-Serie«, konstatiert Lena. »Walter und Laura bei ihrer Hochzeit 1995. Am schönsten Tag ihres Lebens sollte Laura ihren Mörder ehelichen.«
»Ja, du hast recht, hier sieht er ein bisschen böse aus, aber eigentlich ist Sven total langweilig.« Ich nehme einen Schluck Prosecco. Ups, sauer.
»Das hat Laura auch gedacht. Umso überraschter war sie dann, als Walter mit der Axt nach Hause kam.«
Jetzt muss ich trotz meiner Laune lachen.
»Ich meine die Pärchen in den Regenbogenfarben. Hier steht Olli neben der Trauzeugin Viktoria und trägt ein gelbes Taschentuch, passend zu ihrem Kleid. Nicht etwa ein grünes, passend zu meinem Kleid, das ich auf Sarahs Anweisung hin kaufen sollte.«
»Warum so gehässig, bist du eifersüchtig?«
»Ja, rasend.«
»Auf diese langweilige Trulla mit den Sonnenblumen? Glaubst du wirklich, er würde mit der was anfangen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie ja auch total nett und lustig und dazu noch superordentlich und organisiert und gut im Bett.«
»Tja, dann hättest du natürlich keine Chance gegen sie.«
Ich knuffe Lena in die Seite. »Du bist doof.«
»Willst du ihn wirklich zurück?«
Ich wiege meinen Kopf hin und her.
»Aber Schatz, wenn er jetzt angefahren käme mit seinem gewienerten BMW und seinen peinlichen, spitzen Herrenschuhen, würdest du ihn doch zum Teufel schicken, oder?«
»Klar«, murmle ich wenig überzeugend und stopfe mir eine Handvoll Chips in den Mund.
»Josefine, du denkst doch nicht im Ernst daran, diesen gemeinen Typen wieder zurückzunehmen?«
»Weiß nicht.«
»Er hat dich am Straßenrand stehen lassen wie eine Vollidiotin, mit Lockenwicklern im Haar, einem von dir allein bezahlten, sündteuren Geschenk für seine Schwester und ohne Hausschlüssel, und du erwägst ernsthaft, dich in seine Arme zu werfen, sobald er wieder an der Tür kratzt?«
Weil das exakt das ist, was ich mir gedacht habe, werde ich böse.
»So war das gar nicht. Das mit dem Schlüssel wusste er nicht! Und das Geld für das Geschenk wollte er mir noch geben.«
»Du bist dumm. Du bist auch süß und klug und ein Schatz, aber gerade jetzt bist du richtig dumm. Das hast du doch nicht nötig, Liebes!«
»Doch«, heule ich los und werfe mich in Lenas Arme. Ich weiß, dass ich erbärmlich bin und viel mehr Selbstbewusstsein haben sollte, aber ich will ihn trotzdem zurück. »Ich liebe ihn doch! Das geht doch nicht weg, nur weil er so ein Arsch ist.«
»Nicht jetzt gleich, aber irgendwann geht es weg. Bald. Versprochen.«
Obwohl der Abend überraschend lustig und gemütlich geendet hat, gilt mein erster Blick am Sonntag nach dem Aufwachen meinem Handy, in der Hoffnung, dass Olli es sich anders überlegt hat. So viel zum Thema Selbstbewusstsein und Stolz. Aber weiterhin kein Zeichen von ihm, dafür quillt meine Timeline fast über. So viele Benachrichtigungen bei FB hatte ich noch nie. 17 Personen haben meinen Statusbericht geteilt, und es gibt mehr Kommentare, als auf den Bildschirm passen. Was ist da denn los? Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und tappe in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Während sie warmläuft, überfliege ich Zeile um Zeile.
Vollste Zustimmung! Eine Zumutung sind diese Chaoten! Ich hätte es nicht besser formulieren können! Bravo!
Definitiv! Mein Nachbar ist auch so ein Saubär, der nie die Flusen aus dem Trockner holt. Am liebsten würde ich ihn abknallen. Schade, dass man hier nicht einfach so eine Knarre kaufen kann.
Sie sind genial!
Oh mein gott, genauso ist mein bruder, wegen seiner schuld sind wir zu spät zur beerdigung meiner tante gekommen und dann hat mein onkel uns aus dem testament getsrichen. weggesperrt gehören solche menschen!
Hahaha, das ist zu gut, das musste ich klauen. Gibt’s von dir noch mehr so geniale Ratschläge? Liebgucksmiley <3
Du bist meine Imperation! Wegen dir trage ich jetzt beim Putzen Highheels!
Nicht mit mir. Der Petzibär kommt rechtzeitig oder gar nicht.
Ähm, Leute, Ironie? Ich scrolle bis zum Ende, was ganz schön lange dauert, aber kein Kommentar weist darauf hin, dass irgendjemand verstanden hat, was ich gemeint habe. Ich trinke meinen Kaffee und reagiere erst mal gar nicht. Stattdessen fixiere ich meinen Nachrichteneingang. Als es plingt, schlägt mein Herz einen Takt schneller, aber es ist nur mein Bruder.
Kannst du mich abholen? Hab den Bus verpasst, und es ist schon fast halb zwölf. Bist ein Schatz. Moritz.
Ach je, das sonntägliche Mittagessen bei unseren Eltern. Darauf habe ich jetzt überhaupt keine Lust, aber es ist zu spät, um abzusagen. Es ist typisch für meinen Bruder, dass er mein Einverständnis einfach voraussetzt und gar nicht die Antwort abwartet.
Okay, aber komm um Viertel vor runter, tippe ich und weiß jetzt schon, dass ich erst um zehn vor bei ihm ankommen werde.
Moritz und ich treffen beinahe pünktlich bei meinen Eltern ein und klingeln einmal pro forma, obwohl wir jeder einen Schlüssel haben. Als niemand öffnet, sperre ich auf. Hinter der Tür erwartet uns eine böse Überraschung. Die Garderobe ist leer, die Wände sind kahl. Beinahe alle Sachen sind weg.
