11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 17,99 €
Alte weiße Frau - hast Du den Blues? Melanies Fünfzigster ist ein rauschendes Fest. Sie lässt sich feiern, der Champagner fließt in Strömen, ein Flirt liegt in der Luft. Doch dann wendet sich das Blatt. Ihre Mutter, zu der sie nie ein gutes Verhältnis hatte, braucht ihre Hilfe, sie ist alt geworden. Ihre erwachsene Tochter, die nie so werden wollte wie Mel selbst, ist gerne Hausfrau und will auf keinen Fall Karriere machen. Ja, und die Männer. Der Flirt, ein Kollege, redet im Büro schlecht über sie. Mels Chef fördert eine jüngere Kollegin. Ihr Exmann wird Vater, bekommt mit seiner neuen Frau ein Kind. Das Kind, das er mit ihr nie wollte. Mel hat in ihrem Leben alles richtig gemacht. Bis auf die Dinge, die kolossal schiefgelaufen sind. Und heute ist sie nur noch wütend. Ein Buch über die Fallstricke der Emanzipation und den Fluch, alles zum ersten Mal zu machen. "Das Leben keiner Frau" ist direkt, manchmal laut und auch hart, ein Roman, dem man sich nicht entziehen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Leben keiner Frau
CAROLINE ROSALES, geboren 1982 in Bonn, ist Autorin mehrerer Bücher und Kolumnistin bei der ZEIT. Im Jahr 2019 erschien ihr feministisches Memoir Sexuell verfügbar, das sie für die ARD als Serie verfilmt hat, im Jahr 2021 ihr literarisches Debüt Das Leben keiner Frau. Caroline Rosales lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Von der Autorin ist in unserem Hause außerdem erschienen:Sexuell verfügbar
Melanies Fünfzigster ist ein rauschendes Fest. Sie lässt sich feiern, der Champagner fließt in Strömen, ein Flirt liegt in der Luft. Doch dann wendet sich das Blatt. Ihre Mutter, zu der sie nie ein gutes Verhältnis hatte, braucht ihre Hilfe, sie ist alt geworden. Ihre erwachsene Tochter, die nie so werden wollte wie Mel selbst, ist gerne Hausfrau und will auf keinen Fall Karriere machen. Ja, und die Männer. Der Flirt, ein Kollege, redet im Büro schlecht über sie. Mels Chef fördert eine jüngere Kollegin. Ihr Exmann wird Vater, bekommt mit seiner neuen Frau ein Kind. Das Kind, das er mit ihr nie wollte. Mel hat in ihrem Leben alles richtig gemacht. Bis auf die Dinge, die kolossal schiefgelaufen sind. Und heute ist sie nur noch wütend. Ein Buch über die Fallstricke der Emanzipation und den Fluch, alles zum ersten Mal zu machen.»Endlich ein wirklich fundiertes Buch darüber, dass man besser keine Frau sein sollte, die im Medienbereich arbeitet.« JOSEF HADER»Gefälligkeit ist ein Gefängnis aus dem wir Frauen uns befreien müssen. Melanie ist nicht gefällig. Sie ist unbequem. Wir brauchen mehr unbequeme Frauen.« MARIA FURTWÄNGLER
Caroline Rosales
Roman
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin Umschlagmotiv: Seta Manoukian »The North Wind or Composition«, Sursock Museum, BeirutAutorenfoto: © Scarlett WerthE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2561-3
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog Early Check-out
Kapitel 1 Golden Girl
Kapitel 2 Morgenröte
Kapitel 3 Führungsschwäche
Kapitel 4 Starnberger Wives
Kapitel 5 Muttermilch
Kapitel 6 Kleine Bratze
Kapitel 7 Oskar
Kapitel 8 Frakturen
Kapitel 9 Grauen
Kapitel 10 Martini Monaco
Kapitel 11 Frakturen II
Kapitel 12 Rosaland
Kapitel 13 Kreislauf
Kapitel 14 Raumtemperatur
Kapitel 15 Auftauchen
Epilog Si, Maman si (France Gall)
Dank
Quellenverzeichnis
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog Early Check-out
Ich kann nicht einfach in einen Shakespeare-Monolog wechseln, der jede Stimmung, jedes Motiv erklärt. So läuft das einfach nicht. Ein letzter Blick durchs Schlafzimmerfenster, ich versuche, ein Gefühl zu finden. Aber da ist nur Leere. Die Ironie eines Lebens als Autorin – im letzten Moment habe ich Ladehemmungen, ich werde ohne Schlüsselsatz gehen. Das Wasser in der Badewanne ist dampfend heiß, die Luft ist schwer, die Fenster beschlagen. Zwanzig Dikaliumclorazepat, in Folie gepackt, die Pillen mit einem Glasboden zerstoßen, in einen Joghurt gerührt. Dazu fünf Tavor, drei von den gelben. Selbes Prozedere. Dann in die Wanne. Zum Stichwort Freitod spuckt Google kein Wikihow aus. Selbstmord bleibt ein selbstoptimierungsfreier Raum. Deshalb ist wahre Recherche gefragt. Das Ergebnis: Ich nehme Tabletten und lasse elektrische Geräte weg. Mit dem Föhn soll es ein schmerzhafter Tod sein. Längeres Kammerflimmern, heftige Verkrampfungen. Beim Nachbarn springt die Sicherung raus. Deshalb Tabletten, in die Badewanne, langsam einschlafen.
Mein rechter Fuß durchbricht die Oberfläche, ich sinke langsam ins Wasser. Es brennt überall auf meiner Haut, aber das ist mir egal. Ich möchte in einem schönen Bronzeton aus der Welt scheiden, die Haare noch schnell hochgesteckt, meine kostbaren Diamantohrringe angelegt. Meine Unterarme liegen auf dem Rand der Badewanne, mein schlichter goldener Cartier-Armreif passt zu den smaragdgrünen italienischen Fliesen. Langsam lasse ich beide Hände tief ins Wasser gleiten. Instant-Entspannung setzt ein. Ich schließe die Augen. Im Badezimmer schneit es, ich spüre, wie sich Schneeflöckchen auf meine Haare und Lippen legen. Mein Badezimmer ist ebenerdig, ein Reh schaut durch das Fenster – das müssen die Tabletten sein. Ich denke an Mona, an Louis’ rotes Dreirad, das umgekippt im Garten liegt, an Laurent, sein zuversichtliches Lächeln, als er Monas Hand auf dem Standesamt hält. Laurent, Druckerschwärze an den Fingerkuppen, Buchpreise, Tanzen, Jazzmusik. Die Wohnung war nach der Scheidung Zufluchtsort, Garten Eden, Museum, Boudoir, Prinzessinnenbad. Sie bleibt mit meiner Tochter und mir für alle Ewigkeit verbunden. Sie ist die Essenz unseres gemeinsamen Lebens, ihres Aufwachsens. Die Schneckenhäuser, die Mona angemalt hat, die Glasperlenketten, alle Milchzähne, jedes Filzstiftbild, alles habe ich aufgehoben und nach der Trennung aus unserem großen Apartment hierhergebracht. Aber das alte Wohnen war zu überdimensioniert, vollgefrachtet von Ansprüchen, die es nun abzulegen galt. Die Eckcouch fand keine Nische, die Waschmaschine steht wie ein riesiger Fremdkörper in diesem kleinen Bad, bis heute schließt die Tür nicht richtig. Anfangs lag ich auf einer aufblasbaren Matratze zwischen Küche und Wohnzimmer im Flur und sah in der Dämmerung der Basilikumtopfpflanze beim Vertrocknen zu. Irgendwann kaufte ich mir dann ein Pressholzbett bei Ikea. Das Bild, wie Laurent noch die letzte Kiste Brunello di Montalcino auf den Vordersitz seines Smarts stellt, verfolgt mich bis heute. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass ich nie wieder richtig glücklich sein würde. Seitdem durfte sich jeder in mein Nichts stürzen, sie wussten, dass ich es zulassen würde. Aber das ist jetzt unwichtig. Ich spüre bleierne Müdigkeit. Die Synästhesie setzt ein. Aus Monas altem babyblauem Sony-Gettoblaster, der direkt neben der Badewanne auf einem kleinen Hocker steht, schallt »Goodbye Yellow Brick Road«. Aber bald wird es still sein.
»Herr Gottwald, es wird heute Abend laut. Sehr laut. Und wenn es Sie stört, müssen Sie runterkommen und mitfeiern.«
»Nein, Melanie. Das ist was für die jungen Leute. Ich höre von oben zu. Wie alt werden Sie denn?«
»Fünfzig.«
»Erstaunlich. Als Sie eingezogen sind, waren Sie …?«
»Vierzig. Ich hatte mich gerade getrennt.«
»Eines muss man Ihnen lassen, obwohl Sie sich offensichtlich nur von diesen exotischen Zigaretten, Hüttenkäse und unserem Gartenobst ernähren, haben Sie immer noch diese Haferflockengesundheit … was macht Mona?«
»Es geht ihr gut. Sie kommt auch.«
Wir lächeln uns an. Am Türspalt überreiche ich ihm schließlich die Flasche Bourbon, für die sich mein greiser Hauseigentümer aus nachvollziehbaren Gründen mehr interessiert als für mich.
Dann schnell anziehen. Mein langes blumiges Cacharel-Kleid, darunter kein BH. Brillantohrringe, meine blonden Locken hochgesteckt. Einige Strähnen fallen aus der Frisur. Die Vintage-Rolex, die mir Laurent zum dritten Hochzeitstag schenkte, offene flache Sandalen mit goldenen Riemchen, die Fußnägel kirschrot lackiert.
Die Klingel. Es geht los. Und dann noch mal – die Klingel. Und wieder.
An diesem Abend bin ich das Geburtstagskind und die Trägerin der Champagnerflasche.
Jedes Mal, wenn ich mich jemandem von der Seite nähere, frage ich mich, ob derjenige sich über mein Dazustoßen zum Gespräch oder den phallusartigen Flaschenhals freut, der sein Glas auffüllen soll. Aber beides ist mir heute recht. »Golden Girl« steht auf einem metallisch-glänzenden Heliumballon, den einer der vielen Gäste mitgebracht hat und der über allen Köpfen schwebt.
Ein Haufen Freunde, Kollegen, Verflossene, die sich in Absatzsandalen und Sneakers in meine Siebzig-Quadratmeter-Wohnung mit kleinem Garten und Froschteich drängen. Nach einer Stunde klingelt es alle fünf Minuten an der Tür. Von meinem Treppengeländer aus sehe ich nur noch Köpfe. Einige Gäste nehmen Bücher aus den Regalen und blättern darin. Auf ein paar steht mein Name. Es ist ein Julitag, früher Abend, aber noch zweiunddreißig Grad heiß, alle fächern sich in der Enge mit den Einladungskarten oder mitgebrachten Fächern Luft zu, egal, ob drinnen oder draußen.
Ich habe sogar einen Kellner organisiert, Hans, ein junger Mann vom Käfer-Catering. Er serviert Rostbratwurst-Baiser mit Preiselbeeren an Friséesalat, doch der Champagner interessiert mehr. Der flaschengrüne Hals, mit dem ich mir den Weg durch die Stehgrüppchen bahne, dient mir intuitiv wie ein Kompass.
Zunächst steuere ich zu den Kolleginnen von den Kunstmarkt-Seiten im Feuilleton. Sie tragen asketische Balenciaga-Kleider. Ihre Religion besteht aus Trennkost, Eiweiß, Crossfit und Wodka pur auf Partys, ihr zentrales Gesprächsthema sind vornehmlich Affären und die Ästhetik femininer zeitgenössischer Pornos.
»Komm, Melanie, du schönes Kind«, sagt Christine, genannt Chérie, die Dorfälteste unter ihnen.
Chérie.
Sie ist in ihren frühen Sechzigern, ihre Stirn ist dafür zu glatt, nur ihr Hals ist altersgerecht der eines Truthahns. Die anderen beiden lächeln großzügig und halten mir ihre Champagnergläser hin. »Das muss man dir lassen, Mel, du siehst fantastisch aus, a real beauty as usual.« Ich verdrehe spielerisch die Augen. Es braucht immer zwei für eine Personalityshow – den Claqueur, der den anderen auf ein Podest hebt, und den, der bescheiden abwiegelt. Feinste Floskeln. Chérie und ich beherrschen dieses Spiel perfekt. »Du wirst immer Falbala sein, Mel, das weißt du.« Chérie hebt ihr Glas in die Höhe, weil sich Julian aus dem Politikressort in diesem Moment etwas forsch an ihr vorbeidrängt. Nicht schnell genug, die teure Flüssigkeit schwappt auf unsere Köpfe. »Champagner!«, ruft Chérie.
Die anderen beiden Frauen lächeln mit der Oberlippe, sie haben keinen Geschmack. Sie finden jede Ausstellung in den Pinakotheken aufregend und den dezent servierten Sous-vide-Heilbutt im Tantris à point. Mir ist plötzlich mehr nach rotem Fleisch als nach totem Fisch, also ändert mein Flaschenhals die Richtung zum Webergrill im Garten. Es ist mittlerweile halb zehn, Musik und Gespräche sind laut und dröhnend. Meine Playlist spielt Ladies and Gentlemen von George Michael.
Ich steuere nach draußen Richtung Werner, meinem Chefredakteur.
Werner.
Es war so klar, dass er wieder einmal mallorquinischen Proll-Charme mit Boheme verwechseln würde. Sein hellrosafarbenes Camp-David-Poloshirt und die hellen Slipper (für ein Arschloch obligat!) sind geschmacklos. Werner, das sind fünfundfünfzig Jahre, dreißig Jahre Karriere im Qualitätsjournalismus (dazu zählt er übrigens auch unsere Zeitung), drei wohlgenährte Kinder im Internat, eine zufriedene, überhebliche Frau. Das fette Leben. Und der vermeintlich gute Stil dazu. Drei Wochen Südfrankreich-Urlaub im Sommer auf einer kleinen Jacht, immer dasselbe kleine Hotel in Saint-Tropez, wo die Geliebte tagsüber, während des Familienprogramms, am Pool ausharrt. Mit gebräunten Unterarmen und dicker Uhr stiefelt er in die Redaktions- und Vorstandssitzungen. Als Chefredakteur der Münchner Zeitung jagt er den Politik-Funktionären qua Auflage die nötige Furcht ein, so sieht er das – und auch den gewünschten Respekt. Wenn er im Neuen Rathaus bei einem Empfang aufläuft, dann nicht als Chefredakteur, sondern als Werner Peiner, darauf besteht er. Er möchte persönlich eingeladen werden, bitte schön. Wenn ein Referent das nicht veranlassen kann, wird er zu ihm durchgestellt.
Werner steht in einer homogenen Vierergruppe von ihm unterstellten Kollegen, alle mit leichtem Bauchansatz, zurückgegelten Haaren, angedeutetem Vokuhila und beigen Hosen, ein Weizenglas haltend. Sie lachen intervallartig synchron auf, wenn sie meinen, die nächste Pointe sei erreicht. Weil es hier nichts nachzuschenken gibt, stelle ich mich einfach neben Werner, für ihn bin ich, was Merkel für Kohl war – sein Mädchen.
Gerade erzählt er zum 4 563. Mal die Story von Sotschi, als ein erlesener Kreis deutscher Chefredakteure Präsident Putin an der sonnigen Schwarzmeerküste zum Interview treffen durfte. Die leicht trashige Anekdote handelt von Konferenzräumen in einer Ferienanlage der Gazprom, von Jetskis, die sie mit dem russischen Präsidenten befeuern durften, von Teetassen mit goldenen Rändern und schwer bewaffneten Personenschützern. Vor allem aber von der Illusion, sich für eine Nacht am Allmachtsanspruch der global herrschenden weißen Despotenklasse berauschen zu können, unsicher, wie unanständig das jetzt ist. Werner liebt die Geschichte. In den ICE-Bordrestaurants, Kempinski-Hotelbars und Lufthansa-Lounges mittelgroßer europäischer Städte war sie ein Selbstläufer, am Lagerfeuer der Semiprofessionellen, des journalistischen Urgesteins, die von der digitalen Wende ausgelöscht wurden wie die Dinos von dem Meteoriten. Werner zählt zu den wenigen Überlebenden unter den Wolfgangs, Jürgens und Rüdigers, die aus Artenschutzgründen noch in ihrer eigenen untergehenden Sonne herumstehen.
»Melanie.«
Als Werner endlich seine Ausführungen unter schallendem Lachen der Gruppe beendet hat, gilt mir für zehn Sekunden seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er schlingt seinen braun gebrannten Arm, der mit der Patek Philippe seines Großvaters dekoriert ist, um meinen Hals, hält mich in einer Art Schwitzkasten. Sein Atem riecht säuerlich. Ich knicke feminin-vornehm ein. Es lässt mich filigran erscheinen.
»Mel, kennst du denn schon August, deinen neuen Kollegen aus der Politik? August, das ist Melanie Moosburger, meine Vize, my vice president. Sie schmeißt die Party hier.«
August und ich lächeln uns an. Er sieht nicht schlecht aus. Mitte vierzig, blass, hellblonde Haare bis zu den Ohren, riesig groß, Männerbrust und eine Spur von kreisrundem Haarausfall, aber das ist in diesem Alter ja fast unvermeidlich.
»Du bleibst noch etwas, August«, werfe ich ihm zu und meine, das kleine Leuchten in seinen Augen zu sehen.
Auf einmal kneift mir jemand in den Po. Ich löse mich aus Werners Wrestler-Griff und drehe mich um.
Chérie.
»Deine Tochter ist da«, sagt sie und verschwindet wieder zu den Gazellen. »Ich bin gleich zurück«, sage ich zu Werner und versuche es erst einmal in der Küche. Ich finde sie sofort.
Mona.
Sie steht an meinem Küchenblock vor einem Klarsichtfolien-Paket und entblättert mit spitzen Fingern den normannischen Apfelkuchen (immer viel zu trocken). Es scheint ein komplizierter Prozess zu sein, die weiße Kuchenspitze hat sich in den Rand gefressen. Sie sieht mich und legt ihren Arm zärtlich um meinen Hals.
»Happy Birthday, Mami«, sagt sie und küsst meine Wange. Ich schiebe sie ein Stück von mir weg, ihr blaues Sommerkleid mit den Punkten, die vom falschen Waschen mehr grau als weiß sind, provoziert mich. Mit der Strickjacke und ihrem schwangeren Bauch sieht sie aus wie eine Figur aus Les Misérables.
Mona ist die älteste fünfundzwanzigjährige Frau der Welt. Verheiratet, zum zweiten Mal schwanger, Helikoptermutter, Anhängerin der Lebensschützer (das sind Abtreibungsgegner). Der Neokonservatismus hat sie fest im Griff, und so träumt sie von karierten Picknickdecken unweit des Spielplatzes am Glockenbach und selbst gemachter Limonade. Sie kann nicht meine Tochter sein. Ich mustere sie und glaube, erste graue Strähnen in ihren dünnen dunkelbraunen Haaren zu erkennen. Braun wie ihr Vater, mein Haar dagegen ist blond, voluminös und makellos.
»Ach, Moni, warum denn Kuchen? Ich hab doch gesagt, es gibt Catering. Stell ihn in den Kühlschrank.« Wenn sie mich aufregt, werde ich hektisch. Mona schaut mich ratlos an, mit ihrem typisch bescheuerten Blick. Ihr fehlt einfach, wovon ich als junge Frau zu viel hatte – der nötige Biss, der Führungsanspruch und der Wille, immer gewinnen zu wollen. Ich hätte mich nie zur Hausfrau machen lassen. Warum hat Mona keinen Zugang zu ihren Träumen? Und backt stattdessen Süßkartoffelchips für ihren Zweijährigen? Kaum jemand weiß, dass sie einen Master in Business Administration hat. Vielleicht ist sie deshalb so gut darin, zu berechnen, wie viel Mehl, Wolle oder Streu sie für Waffeln, Mützen und Katzenexkremente braucht.
»Ist das deine Tochter? Das ist doch einfach das Schönste. Kinder sind einfach das Schönste«, sagt Akif, unser Redaktionsfotograf, und zerquetscht mir fast den Oberarm. Mona lächelt ihn höflich an. Ich nehme Akif als Chance, die Tochter stehen zu lassen, greife nach der Champagnerflasche und dränge in den Garten. Zurück zu August und den Werners. Doch das Grüppchen hat sich aufgelöst. Nun stehen Werner und August neben einer dunkelblonden Pissnelke, sie ist in den Zwanzigern, trägt einen schwarzen Hosenanzug und knallroten Lippenstift. Die Haare sind mehr zufällig out of bed, aber mit einem Diffuser geföhnt. Sie hat sich Mühe gegeben. Als ich näher komme, fällt mir auf, dass sich an ihrem Spaghetti-Top unter den Achseln kleine Haare kringeln. Ich habe gelesen, dass man das jetzt so trägt, bei etwas schlampigerem Hinsehen könnte man es aber auch für lokale Akne halten.
»Darf ich nachschenken«, sage ich etwas zu devot, und die Maus hält mir gleich ihr leeres Weizenglas hin. Angewidert fülle ich es zu einem Drittel mit Champagner auf. August lächelt mich an. Unsere Blicke treffen sich. »Melanie, Eilika, unsere neue Mitarbeiterin im Feuilleton, frisch von der Journalistenschule«, sagt Werner. Diesmal legt er, etwas zu forsch, kurz den Arm um Eilika.
»Freut mich«, sagt sie.
Ihre Bäckchen sind noch wie wattiert und frisch; so, wie sie mit offenem Mund lächelt, sieht sie aus wie ein niedliches Monchichi.
»Eilika soll uns eine moderne Frauenkolumne schreiben, nächste Woche geht es schon los.«
Ich versuche, den Mund beim Nicken zu schließen. Die Hierarchien unter Werner sind straff, und sein Praktikantinnenkarussell dreht sich schnell; nur dass die Hasen ohne Festanstellung plötzlich Kolumnen bekommen, bevor sie überhaupt angefangen haben, ist neu. Aber was soll’s? Werner wird vermutlich sowieso eines Tages im Alkohol versinken, und wenn ihm der nicht mehr reicht, wird er mit Tabletten aufstocken, Serotonin, Xanax, Happy Pills. Dann wird er sich keinen mehr wichsen können, und es wäre auch mit den jungen Dingern vorbei. Paula hätte ihn längst verlassen, die Hunde mitgenommen, die Kinder sind ja schon fast aus dem Haus. Eines Tages wird man ihn in seinem Erbrochenen in seiner Zweizimmerwohnung in der Maxvorstadt finden, und nur fünf alte Weggefährten, die befürchteten, das Karma würde sie auf die gleiche Art erschlagen, erscheinen bei seiner Gedenkfeier auf dem Bogenhausener Friedhof.
Der Gedanke lässt mich wieder lächeln.
»Worum soll es denn gehen?«, frage ich.
»Um Feminismus im zeitgenössischen Kontext, Pornografie, Auseinandersetzung mit Körperbildern.«
Ich nicke. Am liebsten hätte ich hier und jetzt meinen guten Anstand verloren und die Champagnerflasche angesetzt. Zu meiner Verwunderung und weil ich langsam den nötigen Pegel erreicht habe – tue ich es.
»Melli, nicht so hastig«, ruft Werner. Eilika juchzt. Aus den Sonos-Boxen plätschert »Easy« von Son Lux zu uns nach draußen.
»Vorsichtig«, sagt August, als ich den Flaschenhals wieder senke, und greift mir dabei auf eine bayerisch-beherzte Art an die Hüfte. Menschen drängeln sich an uns vorbei, Werner unterhält sich verschwörerisch mit Eilika, für die anderen unsichtbar halte ich Augusts Hand. Ich lasse ihn wieder los und gehe durch die Menge in die Küche. Er folgt mir mit einem Meter Abstand.
Wie einfach.
Ich ziehe ihn in meine enge Vorratskammer, wo in den Seitenregalen die Gläser mit dem Apfelmus und der selbst gemachten Marmelade stehen, eins fällt raus, knallt auf den Boden, roter Obstmatsch klebt an meinen Unterschenkeln. Er drückt die Tür hinter sich zu, zieht mich an sich ran. Wir knutschen, mein Herz schlägt bis in meinen Kopf, zwischen meinen Beinen wird es sofort nass. Es funktioniert richtig. Wir spielen uns gegenseitig gut was vor. August schiebt mein Sommerkleid hoch, reißt an meinem LaPerla-Slip. Da ist hinten dieses kleine Loch auf Höhe meiner Rosette, schmutziges französisches Design, ich könnte mich jetzt einfach umdrehen, ihm meinen Po hinhalten. Richtig was erleben. Aber da hat er meinen Slip schon runtergerissen, er hängt zwischen meinen Knöcheln und ist voller Erdbeermatsch. Seine Wurstfinger nesteln an meinen Schamlippen herum, es wird mir zu rustikal. Ich packe seine Hand, ziehe sie aus dem Zwischenraum meiner Schenkel hervor, lecke seinen Zeigefinger ab, wie ich es als junges Mädchen gelernt habe.
»Das machen wir später«, sage ich zu August und streiche ihm mit der Hand durchs Haar, nur so weit, dass ich den porösen Haarkranz nicht zu fassen bekomme. »Komm, schmeiß sie alle raus, oder wir gehen zu mir.« August drückt mir seine Erektion an die Hüfte. Ich lache ihn aus und sage ihm, dass wir warten müssen, bis alle gegangen sind. Er schnaubt. Sein Grunzen hört sich enttäuscht an.
Draußen geht die Party in ihr letztes Drittel. Die Magnolien aus Stahl aus dem Wissenschaftsressort tanzen jetzt in Dreiergrüppchen ungeschickt zu »Maschin«von Bilderbuch. Leon vom Onlineressort wanzt sich von der Seite an die zarte Elenora im Body mit Rollkragen heran. Er ist zu betrunken, sein Chef Marius packt ihn am Kragen und sagt ihm, dass er den Scheiß lassen soll. Nachdem Leon den Scheiß gelassen hat, gehe ich zu meinem iPhone im Flugmodus und lege als Absacker wieder Jazz auf. Anna macht ein Foto von der Hugo-Bowle auf dem Buffet, vermutlich für ihren Instagram-Account. Sie sollen sich alle verpissen. Melanie will Sex.
Mein Verleger Waidhausen legt den Arm um mich. Ich bin das Getatsche leid. Es ist ein nie enden wollender Initiationsritus und unmotiviertes Machtgehabe. Wäre ich ein Kerl, würde er mir mit der flachen Hand in den Nacken schlagen, nein, das würde Werner tun. Waidhausen ist alte Schule. Er fasst meine Schulter nur auf Höhe der Schulterblätter.
»Mel, darf ich dich meiner Frau vorstellen«, sagt Waidhausen. Schnell lege ich die scheue Höflichkeit einer Fünfzehnjährigen an den Tag. Frau Waidhausen ist eine Intellektuelle, sie trägt die grau melierten Haare in einem Kurzhaarschnitt und eine violette Bluse. Sie ist ein ganz anderer Typ, als ich ihn Waidhausen zugetraut hätte.
»Das ist Melanie, Edda, unsere Bestsellerautorin und Redaktionsleiterin. Erstaunlich, Melanie, und mein Fehler, dass sich die vergangenen sieben Jahre keine Gelegenheit ergeben hat.«
»Was schreiben Sie, Melanie?« Edda ist aufrichtig interessiert, das merke ich. Plötzlich bin ich die, die sich schämt. An meiner Wade klebt Erdbeermarmelade, meine Haare sind durcheinander. »Tantra, Mädchen-Erinnerungen, Konsumkritik, viel Kultur.«
Ich kriege keinen Satz zusammen, so angesoffen bin ich. Edda lächelt milde. Ich habe noch das Smartphone in der Hand.
»Vielleicht gehen wir nächste Woche mal mittagessen?«, frage ich.
Edda nickt. »Ja, das würde ich gerne.«
Drei Leute verabschieden sich. Sie küssen mich zu feucht auf die Wange. Ich wische diskret mit der Hand nach.
In der Ecke, an das Bücherregal gelehnt, steht Mona. Ohne Gespräch. Mit einem Glas Apfelsaft. Wie das hässliche Entlein auf einer Party in der Jugenddisko, das darauf wartet, dass der Typ sie und nur sie sieht und anquatscht. Ich versuche, sie zu ignorieren. Doch sie hat mich gesehen, lächelt süß, hebt ihr Glas.
»Wer hat denn die Frau von den Zeugen Jehovas reingelassen?«
August will im Vorbeigehen einen Witz machen.
»Das ist meine Tochter, schon gut.«
August zuckt mit den Schultern, ich winke ab. Es wird Zeit, dass alle gehen. Ich dränge mich zu Mona durch.
»Brauchst du Taxigeld?«
»Nein. Bert kommt in zwanzig Minuten, er holt mich ab.«
»Das ist aber nett von Bert. Unterhältst du dich nicht?«
»Mama, ich …«
»Ich könnte Louis am Dienstag wieder abholen.«
»Okay, aber nicht nach 10 Uhr. Feier schön, Mama.«
Sie will mich umarmen, ich weiche aus.
»Ich will meine Strickjacke wiederhaben.«
Mona nickt, als würde sie verstehen.
Kurz sticht es mir ins Herz. Nicht lange genug. Sie muss es doch mal lernen.
Dann ist Mona weg.
Die Strickjacke hat sie über den Sessel gelegt.
Fuck it!