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Über die Macht der Väter und das Schweigen der Töchter Die dreifache Mutter Jennifer Boyard hat die Leitung des Familienunternehmens übernommen. Ihr Vater Bernd war über Jahrzehnte einer der großen Produzenten in der Schlagerbranche und ist nach wie vor sehr präsent. Da droht eine Sängerin mit einer Klage wegen Vergewaltigung. Bernd reagiert routiniert auf die Vorwürfe, doch Jennifer beginnt zu begreifen, dass ihre Geschichte als Bernds Tochter unwiderruflich mit dem Schicksal der Betroffenen Lorelei verknüpft ist. »Unbestechlicher Rosales-Blick auf die Zwänge der Gesellschaft und eine Heldin, die sich darin verliert.« BRIGITTE
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Ungelebten
CAROLINE ROSALES, geboren 1982 in Bonn, ist Autorin mehrerer Bücher und Kolumnistin bei der ZEIT. Im Jahr 2019 erschien ihr feministisches Memoir Sexuell verfügbar, das sie für die ARD als Serie verfilmt hat, im Jahr 2021 ihr literarisches Debüt Das Leben keiner Frau. Rosales lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Im alltäglichen Ausbalancieren zwischen ihrem Mann, den drei Kindern und der Leitung des Familienunternehmens hat Jennifer sich verloren. In ihrem Musiklabel ist ihr Vater Bernd immer noch sehr präsent, er war jahrzehntelang einer der großen Musikproduzenten des Landes. Da droht eine Sängerin mit einer Klage wegen Vergewaltigung. Bernd reagiert routiniert auf die Vorwürfe, doch Jennifer beginnt zu begreifen, dass ihre Geschichte als Bernds Tochter unwiderruflich mit dem Schicksal der Betroffenen Lorelei verknüpft ist.
Caroline Rosales
Ullstein
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© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagmotiv: Seta Manoukian »You Even Live Here«, 1992Autorinnenfoto: © Scarlett WerthE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3170-6
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog Nullpunkt
Kapitel 1 Für mich soll’s rote Rosen regnen
Kapitel 2 Wer Liebe lebt
Kapitel 3 Du bist nicht allein
Kapitel 4 S.O.S. – Mein Herz ertrinkt
Kapitel 5 Der Papa wird’s schon richten
Kapitel 6 Das bleibt immer ein Geheimnis
Kapitel 7 Er gehört zu mir
Kapitel 8 Schöner fremder Mann
Kapitel 9 Liebe ohne Leiden
Kapitel 10 Was ich Dir sagen will
Kapitel 11 Schwimmen lernt man im See
Kapitel 12 Es ist verrückt, wie schön du schweigst
Kapitel 13 Sag’ mir die Wahrheit
Kapitel 14 Du sollst nicht weinen
Kapitel 15 Ich liebe das Leben
Kapitel 16 Grüße gehen raus
Kapitel 17 Ich war noch niemals in New York
Dank
Quellenverzeichnis Überschriften
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog Nullpunkt
IN TEICH EINGRBROCHEN:Vierzehnjähriger Junge von Passanten gerettet
Rosenberg v. d. H. (ch) In Rosenberg spricht man von der mutigen Rettungstat von zwei Einwohnern, die am vergangenen Donnerstag einem vierzehnjährigen Jungen das Leben gerettet haben. Auf dem Heimweg von der Schule kam Paul Schliemann zusammen mit einer Freundin auch am zugefrorenen Rosenberger Teich vorbei, wo die beiden herumtollten. Dabei geriet Paul plötzlich in eine offene Stelle und fiel ins eiskalte Wasser. Zum Glück kam gerade Frau Regina Kirchler, die Mutter des Mädchens, hinzu (sie suchte nach ihrem Sprössling) und sah das Unglück. Sie lief sofort zur Unfallstelle. Eduard Regel, ein anderer Rosenberger Einwohner, hatte von seinem Auto aus ebenfalls den Vorfall beobachtet, sprang aus seinem Wagen und barg mit Frau Kirchler den Vierzehnjährigen aus dem eiskalten Teich. Der Junge wurde vor dem sicheren Tod gerettet.
Wetterauer Kreiszeitung, Dezember 19961
»I know who I was when I got up
this morning, but I think I must have
changed several times since then.«
Lewis Carroll,
Alice’s Adventures in Wonderland
2
Es gibt Eltern, die sind so hungrig, so leer, dass sie ihre eigenen Kinder essen. Jennifer Boyard dachte eines Morgens an diesen Satz, den sie irgendwo gelesen hatte, wollte ihn aber lieber gleich wieder vergessen, weil sie ihn zynisch fand. Meine würden schmecken, dachte sie dann doch noch weiter. Und wunderte sich über ihre eigenen Gedanken. Meine wären süß wie Popcorn, hätten vielleicht sogar eine Vanillenote. Ihre, ja, ihre Kleinen hatten immer saubere Fingernägel, duftende Haare, und wenn sie aus dem Kindergarten oder der Schule kamen, brachte sie alle drei sofort in die Badewanne, sodass sie weniger nach der Welt da draußen, sondern wieder nach ihr, nach Zuhause, nach Shampoo und Nichts rochen. Selma rutschte auf einem froschgrünen Töpfchen sitzend vor ihr auf dem Badezimmerboden herum. Sonnenlicht wurde grell von den Kacheln reflektiert und ließ Jennifer fast erblinden.
»Fertig«, schrie Selma und hob ihr Töpfchen in die Höhe.
Die Flüssigkeit in dem Plastikbehälter bewegte sich gefährlich nach links und rechts an die Ränder. Jennifer reagierte blitzschnell und lobte ihre Tochter überschwänglich – zu laut.
»Das hast du so toll gemacht, meine Große. So super.«
Sie kippte den Urin aus dem Töpfchen ins Klo aus und stellte es in die Badewanne, wickelte Baby Selma mit extra viel weißer Wickelcreme, rief zu Laura und ihrer Freundin Peppa ins Wohnzimmer, dass sie den Fernseher doch bitte, bitte leiser machen sollten.
Ihre Neunjährige brüllte zurück: »Nö.«
Es war alles so zwecklos. Dabei war man doch mal vielleicht jemand gewesen. Jennifer bekam kaum die Augen auf. Sie zwang sich dazu, etwas mehr Positivität zuzulassen. Sie atmete ein und aus, aber ihr Brustkorb fühlte sich an, als wäre er aus Blei. Wie aus einem schweren Metall, das es ihr unmöglich machte zu atmen. Sonntagmorgens war sie oft melancholisch, ohne den richtigen Grund dafür zu kennen. Sie schaute in den Spiegel. Langes hellblaues Baumwollnachthemd von Maison Margiela, die blonden Haare fielen ihr über die Schultern. Sie sah nicht übel aus. Nicht übel für vier Stunden Schlaf. Sie würde sich bitten, sich selbst schön zu finden, etwas Menschlichkeit für sich selbst zuzulassen. Denn darauf kam es doch an. Dass man sich liebte und akzeptierte. Auch wenn die Welt einen nur noch als Mutter wahrnahm. Der eigene Mann nicht mehr hinschaute, außer wenn er sehr explizit Sex brauchte. Die eigene Familie, außer es war etwas zu Bruch gegangen oder jemand blutete. Der eigene Vater, außer es ging um die Firma. Sie musste sich selbst lieben, sagte sie sich immer wieder laut und deutlich in Gedanken vor, denn damit fing ja schließlich alles an.
Jennifer nahm ihr Smartphone mit der bunten Kordel, setzte sich aufs Klo. Durchfall platzte aus ihr heraus. Sie versuchte, selbst darin das Gute zu erkennen. Wenigstens funktionierte ihre Verdauung. Ihre Darmflora war im Gleichgewicht, und das ist doch immerhin etwas, dachte sie. Ihr Magen krampfte sich zusammen, aber das musste nichts heißen. Sie schaute auf ihr Telefon.
Eine Nachricht von ihrem Vater Bernd blinkte auf. Sonntags um 7.23 Uhr.
»Ich brauche Betreuung.«
»Oh nein. Zwanzig Minuten, Papi. Hab Dich lieb, Bussi«, textete sie zurück.
»Jetzt, sofort«, schrieb er wieder.
Er soll nicht warten, dachte sie. Er soll nicht warten, denn das ist nicht gut für Papis Nerven. Er war doch ein älterer Mann. Aber sie brauchte einen Moment. Diesen einen Moment für sich.
Jennifer riss an der Klopapierrolle, doch ihre Finger erwischten nur winzige Fetzen. Dann musste es eben ein Windelfeuchttuch tun. Danach bürstete sie das Klo aus. Und spülte nach. Andere Leute hatten eine WhatsApp-Gruppe für die ganze Familie. Texteten und schickten sich Witze und Fotos von Nudelsalat-Nachmittagen und Babys auf Krabbeldecken. Mit dem Opa und der Tante. Papi mochte keinen Small Talk. Keine lustigen Grüße aus dem Schwarzwald oder aus Italien von der Familie. Es erinnerte ihn daran, dass seine Kinder zu wenig arbeiteten und zu viel von seinem Geld lebten. Bernd war leider oft unbeherrscht und nie zufriedenzustellen. Er liebte es, laut zu werden. Und das Schweigen der anderen, wenn er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. Wenn er dann einlenken konnte, um wieder den gut gelaunten Daddy zu spielen, mit dem halt auch mal die Pferde durchgingen. Man musste Verständnis für ihn haben. Man musste Verständnis für ihn haben, weil die ältere Generation nicht ewig präsent sein würde, und dann würde man alles bereuen, was man jemals in einem Anfall der Unbeherrschtheit oder aus bloßer Ungeduld zu ihm gesagt hätte, und weil sein Lebenswerk Respekt verdiente. Papi hatte sein Leben gegeben, damit Jennifer ein gutes Auskommen hatte. Papi hatte auf viel verzichtet. Das würde sie ihm nicht vergessen. Und dafür war sie immer die Frau in seinem Leben gewesen. Seine Prinzessin. Und er der weltbeste Papi.
Jennifer ging mit Selma im Arm nach unten in die Küche ihres Hauses. Sie setzte ihre Tochter in die Babywippe. Gobi bellte. Gobi war ein guter Hund. Er machte das nicht, um sie zu ärgern. Er wollte nur zeigen, dass er noch da war. Sie brachte ihn in den Garten und fütterte ihm wenig später halb Pute, halb Rind, wie er es mochte. Draußen war es winterlich kalt. Auf dem Natursteinboden auf der Terrasse hatten sich über Nacht winzige Schneekristalle gebildet. Während Jennifer Matchbox-Autos im Flur aufsammelte, rief sie ihren Vater zurück. Es klingelte. Er ließ sie warten. Er zog immer nur sie ins Vertrauen, hatte sie vor zwei Jahren in die Firma geholt. Ihre Familie war ein Clan, wie es ihn in dieser Konstellation heute oft gab, in Berlin, im Taunus, in Bogenhausen, auf Sylt oder in Potsdam. Der Vater war ein begabter Aufsteiger, der sein Leben lang hart gearbeitet hatte und erfolgreich gewesen war, die Fußstapfen, die er einmal hinterlassen würde, zu groß für die Kinder. Seine Söhne musterte Bernd manchmal, als wären sie Verlierer. Steinreiche Verlierer. Als Bernd nach dem zehnten Klingeln dranging, war sie erleichtert. Es war ein Machtspiel. Das Warten. Aber so war es nun mal. Niemand wusste das besser als sie.
»Hör mal, Jenni, die Mia Pralala, die geht mir auf die Nerven. Einen Tag ruft sie mich an und sagt: Bernd, lass uns die Welt einreißen. Am nächsten Tag klingelt sie mich vor ihrem Konzert heulend aus ihrem Hotel an. Krieg das doch bitte hin mit der.«
Jennifer atmete langsam ein und aus, wie es Sven, der Yogalehrer in ihrer Morning Class, immer teachte.
»Vater, sie will doch eh nur mit dir sprechen.«
»Das stimmt nicht. Hast du gesehen, Mia Pralala auf der Eins? Schön, gell?«
»Ja, habe ich dir aber auch schon am Freitag gesagt, dass es mit der Eins klappt.«
»Gut. Klärst du das?«
»Ja, Papa.«
Jennifer legte auf.
Sie kannte ihren Vater. Jetzt, nach einem Blick auf die Zahlen und Quoten, würde Bernd aufstehen und Beruhigungstabletten nehmen, sich aber dann so in Rage denken, dass er sich bereits am Mittag übergeben musste. Er würde alle möglichen Leute anrufen und natürlich doch mit Mia telefonieren, er würde versuchen, sie zu überzeugen, ohne im Geringsten zu verstehen, was eigentlich ihr Problem war. Bernd, Sohn eines aufrechten Schreiners und Soldaten mit Parteibuch, hatte sich gegen den Willen seines alten Herren ins Musikgeschäft gekämpft. Eine Branche, die aus Nazi-Opas Sicht nur aus Nutten und Tagelöhnern bestand. Doch der Sohn setzte sich durch. Baute ein Imperium aus Schlager-Schallplatten und -CDs auf. Er war sich nie zu fein gewesen, im Büro das Geld der Handkasse selbst zu zählen. Auf Tour zu gehen, in Mehrzweckhallen mit schmutzigen WCs. Den Ablaufplan von Schlager-Fernsehshows selbst auf der Schreibmaschine zu tippen und dann für alle aufs Fax zu legen. Mit den Beleuchtern nach den Auftritten auf dem Lkw Bier zu trinken. Bei den ewigen Abendessen mit Musikproduzenten in Dresden oder im Bierzelt an der Donau immer neue Deals zu verhandeln. Wie sollte so jemand verstehen, worum es den Mias, den Sängerinnen, denen alles vorgekaut wurde, in dieser Branche ging?
Um kurz nach halb neun saß Jennifer an der Marmortheke in der Küche und las ihre Mails. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Ihre Vitaminwerte waren alle top, hatte die Ärztin gesagt. Nur der Körper sei erschöpft. Deshalb der Schwindel. Deshalb die Stimmungsschwankungen. Konnte aber auch hormonell bedingt sein. Während Jennifer eine Mail zur neuen Hallentournee von Marie Schiffer öffnete, fuhr Jonah mit seinem Bobbycar ihr über die nackten Füße.
»Mensch, Jonah, das tut doch weh.«
Jennifer versuchte, sich den Schmerz aus dem Fuß herauszumassieren.
Ihr stiegen unvermittelt Tränen in die Augen. Das war sicher nur ein kurzer emotionaler Schub, der gleich wieder vorbei sein würde. Ihr Dreijähriger im Dino-Pyjama kletterte ungelenk auf ihren Schoß. Seine Knochen auf ihren Knochen. Eines Tages sind wir alle tot, dachte Jennifer. Und dass an ihrem Sohn Jonah nichts dran war. In seinen zarten Brustkorb eingeschlossen, wie ein kleiner Ballon, seine aufgeblasene Lunge. Frühkindliches Asthma. In der 33. Woche geboren. Intensivmedizin. Atemaussetzer. Wärmebettchen. In der Neonatologie trugen die Babys farbenfrohe, von älteren, alleinstehenden Frauen gestrickte Schlafsäckchen. Manche nahmen sie mit nach Hause, andere für die Bestattung. Sie setzte ihren Sohn auf dem Boden ab und holte den Pari Boy aus dem Bulthaup-Küchenschrank und ließ ihn inhalieren, während sie weiter ihre Mails las. Das blaue, blubbernde Gerät mit Atemmaske versteckte sie wie die meisten Eltern vor den Augen anderer, denn das Kind, das eigene Kind, war doch gesund. Jonah hielt still, weil Jennifer im unteren Bildschirmfenster Feuerwehrmann Sam laufen ließ. Sie sah sich selbst von außen und dachte, dass Jonah und sie wohl ein zeitgenössisches Mutter-Sohn-Porträt ergaben.
Jonah röchelte auf Jennifers Schoß. Die Kaffeemaschine drohte überzulaufen. Selma weinte, weil sie aus der Babyschaukel wollte. Sie würde gleich aufhören, wie sie es immer tat. Sie würde aufhören, auch das hatte Jennifer irgendwo gelesen, weil Selma das dritte Kind war und von Geburt an gelernt hatte, dass ihr Weinen oft unbeantwortet blieb, weil alle, wirklich alle Besseres zu tun hatten, als das Baby zu bespaßen. Beim dritten Kind wusste eine Mutter, was ein Baby dringend brauchte. Beim dritten Kind wusste eine Mutter, dass es nicht gleich sterben würde, wenn es nicht seinen Willen bekam. Diese Gleichzeitigkeit aller Dinge brachte Jennifer manchmal um den Verstand. Die Geschäfte, Mia Pralala und dieser YouTuber Paluten, den die Mädchen gerade in der ersten Etage, der Wohnetage, auf dem großen Fernseher schauten und der sie latent aggressiv machte. Seine Clips waren für Jugendliche und Laura gerade erst mal neun Jahre alt, niemals las sie Bücher, sondern war ihrem Handy verfallen.
Jennifer schaltete das Inhalationsgerät aus.
»Alles gut, Schatz?«
Das kleine dünne Wesen mit dem großen Kopf und den blonden Haaren nickte ihr zu. Jetzt wollte Jonah Coco Pops essen. Müde ging sie zum Regal und holte eine XXL-Packung der Cerealien aus dem Schrank. Max kaufte diesen Müll, der keine Nährstoffe und nur Zucker enthielt. Er kaufte ihn, weil er seine ganze Kindheit über Coco Pops gegessen hatte und diese Angewohnheit, ohne nachzudenken, auf seine Kinder übertrug. Hatte es ihm geschadet? Nö. Und Jonah liebte die gezuckerten Pops. Jennifer hatte aufgegeben. Ohne hinzusehen, schüttete sie die Schokobällchen in eine Schale. Laura und ihre Freundin Peppa kamen gelangweilt die Treppe herunter. Laura stieß ihren Bruder, der gerade seine Müslischale mit noch mehr Pops befüllen wollte, in die Seite und schnappte sich die Packung. Jonah schrie wie ein Wahnsinniger, warf sich auf den Boden und schlug seinen Kopf gegen den Terrazzostein. Dann stand er wieder auf und rannte auf seine ältere Schwester zu. Er griff nach der Packung und Lauras Haaren. Laura schrie hysterisch auf, wie sie das neuerdings immer tat, als imitiere sie eine Serienfigur. Als imitiere sie eine dieser Tussis aus einer ihrer Teenie-Serien, die sich vor Spinnen, Dreck und kaltem Wasser fürchteten.
»Ich bringe dich um, Jonah«, schrie Laura. »Das war mindestens eine ganze Strähne.«
Bevor die Packung explodierte, riss Jennifer sie den streitenden Geschwistern aus der Hand.
Laura schluchzte einen kurzen Moment über ihre ausgerissenen Haare, aber dann überlegte sie es sich anders.
»Mama, dürfen Peppa und ich auf der Straße rollerbladen?«
Jennifer spürte wieder diesen Schwindel. Diese Traurigkeit, dass ihre älteste Tochter alle diese Möglichkeiten hatte, für die sie keine Kraft aufbringen konnte. Sie würde niemals Rollschuhfahren lernen, denn dafür war es mit einundvierzig Jahren einfach zu spät. Und das war auch gar nicht schlimm. Denn es war normal, dass die Kraft einer Frau irgendwann nur noch in das Leben der anderen floss. Dass es da ein Baby, ein Kind, einen Vater, einen Mann oder einen alten Hund gab, der es notwendig machte, jede Selbstbezogenheit aufzugeben und etwas weicher zu werden.
»Aber ihr müsst Jacken anziehen.«
»Nein.«
»Dann geht es nicht.«
»Doch.«
»Ihr geht nicht ohne Jacken raus.«
»Tschüss, Mama.«
Mit einem Knall fiel die Haustür zum Vorgarten zu.
Jennifer wischte die heruntergefallenen Coco Pops vom Boden auf. Jonah stand mit hängenden Armen neben ihr und weinte leise. Sie wischte, und es nahm kein Ende. Sie wischte so gründlich, so lange, als würde der Fortbestand ihrer Familie davon abhängen. Zunächst trocken. Dann mit angefeuchtetem Küchenpapier, dann wieder trocken. Die klebrige Pampe aus Zucker, Weizen, Hundehaaren und Kuhproteinen wurde langsam kleiner. Wenn sie sich anstrengte, wenn sie ihren Körper fühlte, konnte Jennifer oft nicht begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert war. Dass ihr Körper eine wahnsinnige Metamorphose durchgemacht hatte, die jeder vernünftige Mensch, und sie zählte zu den vernünftigen Menschen, nicht allen Ernstes ohne Beschädigungen, ohne lange Erholung verkraften würde. Sie hatte drei Kinder aus sich herausgepresst und mit Muttermilch aufgezogen, und nun war es an ihr, zumindest den optischen Schaden zu beseitigen.
Abgerissene, vertrocknete Haarspitzen, hängende Brüste, der Bauch weich wie Quark, da half allerdings kein Crossfit mehr. Da musste der Chirurg ran. Bauchdeckenplastik, Brustvergrößerung, ein Mommy-Makeover, für rund fünfzehntausend Euro am Ku’damm zu haben. Nach sechs Wochen konnte man wieder laufen und die kleinen Kinder hochheben. Das hatte ihr Ariane, eine Mutter aus dem Kindergarten, erzählt. Jennifer hatte aber keine Zeit und keinen unbedingten Willen für den Ku’damm. Sie hatte zwar einen siebenstelligen Kontostand und das dringende Bedürfnis, in dieser oberflächlichen Branche sehr gut auszusehen, aber sie hatte auch Bernd als Vater, der das Leistungsprinzip auf Lebenszeit gepredigt hatte, seitdem sie drei Jahre alt war, und nicht gewollt hätte, dass sich seine Tochter operierte, weil die Operierten und Gebotoxten die Schlagersängerinnen waren und völlig stillos. Ein reich geborener, aber bescheidener Mensch fastete, trieb Sport, nahm kalte Duschen.
Mit einer zweiten Rolle Küchenpapier putzte Jennifer noch mal trocken nach.
»Du wischst immer mit zu viel Wasser«, sagte ihr Mann Max. Wenn sie wischte, hatte sie immer Max im Ohr. Sein Sauberkeitsfetisch stand ihm leider auch beim Sex im Weg. Seine Frau oral zu befriedigen, kam ihm auch deshalb nur etwa alle sechs Monate in den Sinn. Es war ihm im Allgemeinen zu viel Feuchtigkeit. Er machte es dann eben nur selten, aber auch nur, damit er sagen konnte, dass er es machte. Also ganz grundsätzlich.
Jetzt hörte Jennifer Max auch, wie er eine Etage höher am Waschbeckenrand seinen Rasierer ausklopfte. Das alltägliche Geräusch seiner Morgenroutine aus dem Badezimmer gab ihr das Gefühl, als Ehefrau nicht zu genügen, also legte sie Selma zum Vormittagsschlaf in ihr Gitterbett und ging barfuß und im Nachthemd an Jonah vorbei wieder hoch. Wenn sie die Kinder versorgte, damit er ausschlafen konnte, dann war sie nicht bei ihm im Bett, um seinen Rücken zu massieren. Wie damals, als sie noch dateten. Wie damals, als sie noch nicht schon am frühen Morgen die wilde Lust verspürt hatte, Ordnung zu schaffen. Eine imaginäre Ordnung natürlich, und sei es nur, dass die Kinder gefrühstückt hatten und die Wäsche nicht im Trockner anfing zu stinken. Irgendwann, sagte sie sich immer wieder, irgendwann würde sie wieder cool sein, die Gelassenheit und so viel unbändige Lust auf ihren Mann haben, dass sie ihre Leidenschaft wieder entdecken würden. Denn das ging doch, das war doch überall in Magazinen zu lesen. Das stand doch überall, dass es sie wirklich gab, diese wahnsinnig energetisierende Lebensphase, sobald die Kinder Teenager waren, keine Windel mehr trugen und nicht alleine auf die Straße rannten. Dass dann vielleicht sogar die Liebe zurückkam oder aufblühte.
Als sie reinkam, stand Max vor dem begehbaren Kleiderschrank im Schlafzimmer. Sie blickte auf seine ganze Biologie. Max lächelte und schmiss sich auf das Boxspringbett mitten ins meterhohe Duvet.
»Jetzt mach doch nicht immer so einen Stress am Sonntagmorgen.«
Ob er sich für unwiderstehlich hielt oder doch eher für pflichtbewusst, im Sinne von ehelichen Pflichten, konnte Jennifer nicht genau sagen, aber immerhin wusste sie, was zu tun war. Sie legte sich zu ihrem Mann unter die Decke und griff nach seiner Erektion. Eine müde Erektion. Sie drückte darauf herum. Mehr Marshmallow als steifer Schwanz. Es war ein bisschen wie mit diesen Ballontieren. Schnürte man eine Stelle ohne zu viel Druck mit den Fingern ab, schob sich die Luft an das Ende – und der Ballon wurde fest. Sie knetete noch ein paar Mal, jetzt mit beiden Händen, bis die Masse einen passablen Härtegrad erreicht hatte.
Dann flog die Tür auf.
»Mama!«
Laura schaute durch ihre Eltern hindurch. Zwei nackte Erwachsene bis zu den Schultern unter einem drei Meter breiten Duvet. Es konnte einer Neunjährigen nichts egaler als Elternsex sein.
»Dürfen wir noch ein bisschen fernsehen?«
»Nur, wenn du mit Peppa zehn Minuten auf die Kleinen aufpasst.«
»Nein.«
»Bitte, Papa und ich wollen noch kurz schlafen.«
»Ich will zehn Euro.«
»Fünf.«
»Zehn.«
»Fünf«, sagte Jennifer.
Laura zuckte gelangweilt mit den Schultern.
»Okay.«
Laura griff ruppig nach ihrem kleinen Bruder Jonah, der selbstvergessen durch das Haus gewandert war und nun vor der Schlafzimmertür seiner Eltern saß. In diesem Moment beneidete Jennifer ihre Tochter wieder einmal um ihre Lässigkeit. Die war ihr als Mädchen völlig abgegangen. Jennifer hatte immer Grusel gehabt, ihren Vater mit einer seiner Frauen im Bett zu erwischen, ihren Vater mit einer anderen Frau zu sehen, allein der kleinste Fleck auf Bernds Hotelbett – und es gab leider viele davon – konnte sie als Kind wochenlang ekeln. Aber Laura ging nur raus und zuckte mit den Schultern. Jennifer schloss die Schlafzimmertür hinter ihr ab. Für ein bisschen Programm war noch Zeit. Jennifer ging in das Badezimmer des Master Bedrooms. Kramte in der Schublade. Auf dem Gleitgel stand Fucking Good. War auf einer Party am Ende als Give-away verteilt worden. Dazu gab es Feuchttücher für besseren Geruch im Genitalbereich, Kondome aus Naturkautschuk und einen Analplug aus Fairtrade-Plastik. Einfach anzuwenden, drehte sich kinderleicht wie ein Korken rein. Das Gefühl war ungewohnt, aber nicht unangenehm. Der Mann fand es gut, das Gleitgel mit TCB-Wirkstoff sorgte für den Rest.
Während Jennifer mit ihrem Mann erwachsen pragmatisch poolte, klingelte es unten an der Tür. Die Mädchen würden bestimmt aufmachen. Jennifer drehte sich um, damit Max ihren Hintern sehen konnte und schneller zum Orgasmus kam. Stellungswechsel. Er drang erneut in sie ein. Sie stützte den Kopf auf die Arme, drückte ihr Gesicht in die Kissen, damit der Winkel stimmte. Minuten der rhythmischen Bewegung vergingen. Max war jetzt achtunddreißig Jahre alt und wollte einer dieser modernen Väter sein, die mit Fahrradhelm Cargo-E-Bike fuhren und Vereinbarkeit auf der Stirn stehen hatten. Jennifer versuchte es mit ein paar schmutzigen Bemerkungen über seinen Schwanz, doch Max schien nicht zu kommen. Sie dachte an die Türklingel, die Mädchen, Jonah, der da alleine im Haus herumlief. Sie dachte an ihre jüngste Tochter Selma, die gleich wieder aufwachen würde. Auf einmal wurde der Druck zu groß. Hektisch drehte sie sich um und schaute ihren Mann an.
»Los, spritz mir ins Gesicht.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Jennifer lief ins Bad, klatschte sich mit beiden Händen am Waschbecken Wasser ins Gesicht. Schloss die Schlafzimmertür wieder auf. Rannte die Treppe runter. Sie war für die Flüssigkeiten der ganzen Familie zuständig, dachte sie dabei. Sie zu empfangen, aufzuwischen und verschwinden zu lassen. Bestimmt hatte sie noch etwas davon in den Haaren.
Jennifer öffnete die Tür.
Es war Peppas Mutter Tanja.
»Darf ich reinkommen? Wo sind denn die Mädchen?«
Jonah kam die Treppe heruntergerannt und wollte auf den Arm. Jennifer nahm ihn hoch. Tanja drückte sich an ihr vorbei. Die Spülmaschine piepste. Die Nachbarstochter winkte am Gartenzaun, während Selma oben aus dem Vormittagsschlaf aufwachte und weinte. Tanja stellte sich ans Treppengeländer und rief nach den Mädchen. Erst jetzt bemerkte Jennifer, dass Tanja hochschwanger war.
»Peppa, Liebling!«
Tanja konnte sehr laut rufen. Damit sie nicht die Treppe hochging und oben aus Versehen in den noch ungeduschten Penis von Max hineinlief, machte Jennifer Tanja und sich schnell zwei Cappuccinos. Die beiden Frauen setzten sich an die Küchentheke. Sie war immer noch verklebt.
»Das Haus ist ein Traum. Schön, dass wir uns mal wiedersehen. Aber immer so beim Abholen. Du musst auch mal zu uns kommen.«
»Danke.«
Tanja ließ den Blick durch den Raum schweifen. Als würde sie Ware scannen. Als würde sie versuchen, Jennifers Leben im Schnelldurchlauf zu erfassen.
»Ich weiß nicht, wie du das hinkriegst mit drei Kindern und dem Job, ich bin ja schon mit zweien überfordert. Und bald sind es ja auch drei.«
Tanja streichelte über ihren dicken, runden Bauch. Jennifer zuckte nur mit den Schultern und lächelte.
»Ich würde mich dieses Jahr gerne mehr in der Schule engagieren. Mehr für die Kinder da sein«, sagte Jennifer. »Ich finde es großartig, wie viel du dich neben allem auch noch bei den Festen engagierst. Ich könnte auch mal etwas Größeres backen.«
Tanja musterte Jennifer, verblüfft und dann wieder nicht.
»Hast du gehört, dass wir Eltern am Mittwoch in der Schule über das Gendern im Deutschunterricht abstimmen sollen? Also ich finde das ja lächerlich. Alles mit Sternchen. Das bringt junge Mädchen auch nicht weiter.«
Jennifer versuchte, ein neutrales Gesicht zu machen, denn eigentlich war ihr dieses Thema egal. Hallo, sie arbeitete in der Schlagerbranche, die mit ihren Fans sechzig plus nicht ganz die Zielgruppe für Sprachreformen war. Sie überlegte, wie sie das hier abkürzen konnte, und sagte nichts, aber das triggerte Tanja nur noch mehr. Jonah sprang wieder auf ihren Schoß, klatschte seiner Mutter die kleinen Hände fest ins Gesicht, drehte sich um und popelte dann gedankenverloren in der Nase. Es kostete Jennifer ihre ganze Selbstbeherrschung, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Es war wie ein kleiner Schock. Eine Wange hinhalten und dann die andere, dachte sie. Und sag doch mal was, Jennifer. Zeig doch mal Haltung.
»Frauen haben doch eh schon alles erreicht. Klar ist da noch die Sache mit der Gleichstellung, aber es gibt ja auch Mütter, zum Beispiel mich, die gerne nach der Geburt ein Jahr zu Hause bleiben. Ich meine, warum kriege ich denn sonst ein drittes Kind?«
»Keine Ahnung«, rutschte es Jennifer heraus.
Wie in Trance versuchte sie sofort, den Ausrutscher zu kitten.
»Ich weiß zum Beispiel nicht, warum ich noch ein drittes Kind bekommen habe.«
Tanja lachte laut auf.
»Ach, du bist doch verrückt. Weil Babys toll sind.«
Jonah popelte weiter ungestört vor sich hin.
Jennifer ließ ebenfalls den Blick durch den Raum schweifen. Am liebsten hätte sie mitgepopelt. Tanja schaute für einen kurzen Moment ins Leere.
Sie war eine mittelgroße, stämmige, resolute Frau mit einem merkwürdigen Stil. Sie trug braune Locken, die sie zu einem kaktusähnlichen Dutt stylte, New-Balance-Sneakers zu einer Hüftjeans und einen infantilen bunten Regenbogenschal. Ihr Make-up war schlecht aufgetragen, sodass Partien ihres Gesichts im Sonnenlicht gelb-orange wirkten. Dazu das Rouge, das rosa Flecken auf ihren Wangen hinterlassen hatte. Aber auch in ihrem Sozialverhalten war Tanja kein gutes Chamäleon. Sie zählte zu den Menschen, die sich an einen positiv-optimistischen Kommunikationsknigge hielten, aber sofort beleidigt waren, wenn man ihnen sechs Stunden lang nicht auf ihre SMS antwortete. Um ihren Frust zu vertuschen, sagte Tanja Sachen wie: »Du bist auch so herrlich verpeilt.« Oder: »Ach, ja, das ist typisch für dich, immer ein bisschen all-over-the-place.«
Als Jennifer endlich einfiel, dass sie den Job vorschieben könnte, um das Gespräch zu beenden, war Tanja wieder voll in Fahrt. Sie erzählte betont gut gelaunt von ihren Kindern, von ihrem Golden Lab Snoopy und sagte zu Jennifers Erstaunen in einem Nebensatz, dass ihr Mann total versaut sei. Dabei kannten sie sich sporadisch. Jennifer schüttelte unmerklich den Kopf. Sie hatten sich sieben, acht Mal gesehen, beim Abholen der Töchter vom Hockey. Jennifer verstand Tanjas Hang zum Redeschwall genauso wenig wie ihre ständigen SMS-Einladungen zum Kreisverbandsabend der CDU-Frauen. Woher nahm sie die Energie, überall dabei zu sein?
»Heute Abend gehen mein Mann und ich schön ins Kino. Und danach trinken wir Wein. Danach haben wir dann mal wieder Zeit für uns. Das genieße ich schon sehr, weil er so toll ist.«
Jennifer versuchte, sich zu konzentrieren. Das Gleitgel von eben lief von der Innenseite ihrer Oberschenkel in die Hartplastikschale des Vitra-Stuhls. War es wirklich erst 11.03 Uhr? Am liebsten wäre sie einfach eingeschlafen und hätte drei Wochen ihres Lebens verschlafen. Oder wenigstens, bis das Wochenende herum war. Und auf jeden Fall lange genug, bis die Weihnachtsferien einfach zu Ende sein würden.
»In der Woche arbeiten André und ich immer so lang. Aber am Wochenende kommt dann meine Mutter. Hast du auch eine Mutter, die dich unterstützt?«
Allein die Frage empfand Jennifer als taktlos, wenn auch nicht absichtlich böse. Natürlich hatte sie eine Mutter.
»Ach, ja, aber die wohnt in Hessen auf dem Dorf. Die hat es nicht so mit dem Herfahren.«
»Also, meine Eltern sind da ganz anders. Die nehmen Peppa und Louis auch über Nacht.«
»Das ist fantastisch, freut mich für dich. Wirklich unbezahlbar, solche Großeltern.«
Jennifer nahm einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse.
»Und weißt du, für deinen Papa, also für euer Label, da hätte ich einen ganz tollen Tipp. Meine Nichte Anna. Die kann singen.«
Jennifer nickte. Sie empfand eine tiefe Erleichterung, als sie plötzlich die Mädchen die Treppe herunterkommen hörte. Laura und Peppa hatten sich die Haarspitzen mit Kreide pink gefärbt und die Augen schwarz mit Kajal umrandet. Tanja blickte ihre Tochter entsetzt an, um gleich wieder zu lächeln. Jennifer nutzte den kurzen Moment der Verunsicherung, stand auf und holte die Jacken.
»Oh, alles klar, dann mal los«, sagte Tanja hektisch.
Sie hatte verstanden. Zeit zu gehen.
Tanja und Peppa winkten. Sie gingen winkend zum Auto. Laura und Jennifer winkten an der Tür. Noch ein bisschen winken. Bis zum letzten Moment.
»War doch nett«, sagte Jennifer zu Laura.
Laura dachte nach. Sie warf ihre langen blonden Haare mit den pinken Spitzen nach hinten. Sie schaute Peppa und Tanja hinterher.
»Ich glaube, ich will mich nie wieder mit Peppa verabreden. War eh nur eine Mitleidsfreundschaft.«
»I can’t help it«, said Alice very meekly: »I’m growing.«
»You have no right to grow here,« said the Dormouse.
Lewis Carroll,
Alice’s Adventures in Wonderland
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Jennifer träumte häufig vom Ertrinken, von dem Moment, wenn der Kopf unter Wasser ging und das Bewusstsein langsam aussetzte. Vom Leichtsein, vom Schweben und von einem hauchdünnen Nebel, der wie ein Filter über den Gedanken lag. Wie das Wasser schwer auf ihr lastete und sie nicht auftauchen konnte. Das war dann der Moment, in dem sie hochschreckte und einen Betonklotz im Magen spürte. Die ersten Sekunden nach dem Aufwachen waren noch so unschuldig, so still, dachte sie auch an diesem Morgen. Diese paar wertvollen Sekunden. Die sie gerne festgehalten hätte.