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Auf einem Neulehrerkurs lernen sie sich kennen, 1947 - Liebe, Heirat und dann die Anstellung in einer märkischen Kleinstadt. Sie, Ermina, Tochter eines Wasserschöpfers aus Bessarabien, sehr naturverbunden, als „Umsiedlerin" mit bitterer Lebenserfahrung, ist eine begeisterte Lehrerin. Sie fühlt sich mit den Schulkindern und allen Menschen guten Willens im Ort eng verbunden, will sesshaft werden - und möchte selbst ein Kind haben. Ihr Mann nicht. Er, Arno, Arztsohn, philosophisch interessiert, ihn langweilen der Unterricht, Weiterbildung und die außerschulischen Aufgaben der Neulehrer. Ganz gegen den Wunsch seiner Frau setzt er es durch, nach Berlin zu wechseln. Als Verlagslektor, als Redner in Versammlungen, in Einsätzen gegen das Schieberunwesen findet er hier eine ihn mehr befriedigende neue Betätigung. Ermina, warum liebt sie Arno weiterhin? Nach Überwindung vieler Vorbehalte folgt sie ihm sogar nach Berlin, sieht sich aber sehr bald zwischen den Ruinen verkümmern und flieht zurück in die ihr vertraute Arbeits- und Erlebniswelt der Kleinstadt. So wird beider Ehe mit der unterschiedlichen beruflichen Zielstellung einer fortdauernden Belastung unterzogen. Auf zwei Handlungsebenen holt der Roman weit aus: Zum einen der sich trotz tiefer gegenseitiger Zuneigung aufbauende und als unüberbrückbar ausweitende, für Ermina und Arno schmerzhafte Ehekonflikt und zum anderen das Zusammenleben der kleinstädtischen Alteingesessenen mit den „Flüchtlingen" unter den Nachkriegsbedingungen der neuen Ordnung in der sowjetischen Besatzungszone; Schul- und Bodenreform, beginnende demokratische Selbstverwaltung, Währungsreform und nicht zuletzt die Querelen der Unverbesserlichen, Verhaftungen. Aber stärker als alles zunächst Unvorstellbare doch der Optimismus der Aufbauwilligen. In den Romantext floss ein gut Teil Autobiografisches der bessarabien-deutschen Autorin mit ein; sie beschönigt und verklärt nichts. Das zeittypische Leben damals gleicht einem Geschichtsbild, wie es vom Thema her bislang kaum so überzeugend gestaltet wurde.
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2013
Holda Schiller
Das Leben scheidet, nicht der Tod
ISBN 978-3-86394-801-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1990 im Buchverlag Der Morgen, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Sie trafen am Vormittag in der Kleinstadt ein, hier sollten sie als Neulehrer anfangen. Es war das Jahr neunzehnhundertsiebenundvierzig, ein Jahr, in dem überall so viele neu anfingen, nicht nur in der Schule.
„Pauker in einer Kleinstadt, das letzte, was ich werden wollte", sagte Arno. Er trug einen abgestoßenen alten Koffer, der wegen seiner schadhaften Schlösser mit Riemen zugehalten wurde. Ermina hängte sich bei ihm ein, sie gingen durch die Bahnhofstraße auf den Markt zu. Die ein- und zweistöckigen Häuser und die Linden, deren Blätter schon vergilbten, wurden von warmem Licht überflutet. Weit offen standen die Ladentüren, davor schwatzende Frauen mit Einkaufstaschen, ein Bild, das auch einen fremden Ort vertraut erscheinen lässt. Die Frauen verstummten, betrachteten die Ankömmlinge interessiert, auch ein wenig misstrauisch.
Auf dem Marktplatz hatten sich vor dem Bürgermeisteramt Männer und Frauen mit Kindern angesammelt, sie warteten anscheinend auf etwas. Die jungen Frauen trugen weite Röcke und helle Blusen, die älteren Kittelschürzen. Von der Menge ging Spannung aus, obwohl keiner etwas anderes tat, als dazustehen und auf das Tor zu starren. Arno wollte weitergehen, Ermina hielt ihn zurück. „Ach bitte, nur einen Augenblick, ich will sehen, was hier los ist." Er gab nach, sie gesellten sich dazu.
Eine Frau krampfte die Finger um den Henkel einer Zweiliterkanne. Die Kanne war voll, doch ohne Deckel. Ermina sah in das Gesicht der Unbekannten und zuckte leicht zusammen. Die Frau hatte eine glatte Stirn, zarte Haut, sichelförmige Brauen, wäre schön gewesen, hätte sie nicht ein harter, verkniffener Mund entstellt. Jung war sie und doch gegen irgendjemand voller Hass.
Ermina wollte Arno auf die Frau aufmerksam machen, sah aber plötzlich ein Paar, das vom Standesamt kam. Zwei kleine weiß gekleidete Mädchen gingen mit kurzen, steifen Schritten voraus und streuten Blumen. Es entstand Bewegung, von hinten drängelte man nach vorn. Manche kicherten, andere riefen dem Paar Glückwünsche zu.
Eine Hochzeit, dachte Ermina enttäuscht. Sie fand das Brautpaar nicht schön genug. Es störten sie die Glatze des älteren Mannes - ein Bräutigam durfte so etwas nicht haben -und das gewöhnliche Lächeln der Frau, doch sie sagte sich: Hochzeit ist Hochzeit, für uns ein gutes Omen. Sie wollte mit Arno ihren Weg fortsetzen, als sie ein Murmeln, derbes Lachen, erregte Stimmen hörte und zurückblickte. Erschrocken starrte sie auf das Brautpaar. Die Frau wischte Hals und Ausschnitt mit dem Taschentuch ab, das Gesicht des Mannes war so bleich geworden wie seine Glatze. Am dunklen Anzug hingen Reste von Sauermilch, Molke tropfte zu Boden.
Ermina begriff nichts. Wer tut so etwas und warum? fragte sie sich und war unfähig weiterzugehen.
Das Brautpaar und die Trauzeugen verließen eilig den Schauplatz. Die Blumenmädchen hatten einen Schwaps dicker Milch abbekommen und weinten. Ihre Mütter eilten heran, sie zu trösten. Langsam gingen alle auseinander. „Das ist doch nicht etwa ein Hochzeitsbrauch bei euch?"
Arno lachte, beugte den Kopf zu Ermina hinunter. „Nein, du, das ist bei uns die Rache des kleinen Mannes. Da, guck!"
Beschwingten Schrittes bog die Frau, die sie vorhin beobachtet hatte, in eine Gasse ein und schwenkte die leere Kanne.
Arno hob den Koffer auf, sie gingen ein Stück. Doch Ermina blieb von Neuem stehen und hielt Ausschau nach einer Bank. „Ich muss erst ein bisschen sitzen. So kann ich nicht vor unserer Wirtin erscheinen."
Zwei Frauen kamen vorbei und sprachen laut. „Den beiden gönn ich das. Jetzt hat er die vierte, in ein paar Wochen guckt er bestimmt der fünften hinterher."
„Tja, bei der Männerknappheit, jetzt nach dem Krieg, wo jede froh ist, wenn sie mal einen hat ..."
Vom Markt führte eine Kastanienallee zur Klosterkirche und Klosterruine. Arno und Ermina setzten sich auf einen Mauervorsprung. Er betrachtete sie von der Seite. „Du siehst so mitgenommen aus. Doch nicht etwa wegen des Unfugs vorhin?"
Ermina reagierte erst nicht, schien wie so oft alte Erfahrung mit der neuen Wirklichkeit zu vergleichen, einer ihr noch fremden Welt.
Sie stammte aus Bessarabien, das früher mal zu Rumänien und mal zu Russland gehört hatte. Von dort 1940 ins Reich heimgeholt, war sie durch Umsiedlung, Ansiedlung, Flucht über Jahre wer weiß wo herumgetrieben worden, ohne zu wissen, wo sie einmal zu Hause sein würde. Der Ort hier hatte ihr gleich gefallen, sie hatte an Sesshaftigkeit gedacht, schon am Bahnhof, als sie ankamen und eine Kreissäge vom Sägewerk aus der Ferne wie ein Begrüßungsruf zu ihnen herüberklang.
Durch das Gras unter den Bäumen lief eine Haubenlerche. Ermina, die Augen auf den Vogel geheftet, sagte: „Schon vergessen die Posse mit der dicken Milch. Es ist schön hier. Von mir aus können wir für immer bleiben."
Er sagte weder ja noch nein, mahnte nur, sie müssten gehen, stand auf und nahm den Koffer.
Sie überquerten den Marktplatz und bogen ein in die Krummholzstraße. Frau Dohle, die Wirtin, empfing sie mit gekünstelter Freundlichkeit. Sie mochte Mitte Fünfzig sein, war alleinstehend und prinzipienreich. Zu vermieten, das habe sie überhaupt nicht nötig, gezwungenermaßen tue sie es, sagte sie, und führte die beiden über eine enge steile Treppe zum Dachboden in eine ausgebaute Wohnung. Während sie ihnen die Räume zeigte, zwei winzige Zimmer mit Schrägwänden und eine Küche, winzig auch die, zählte sie auf, was sie alles zu beachten hätten - Besuch nur bis zweiundzwanzig Uhr, beim Betreten des Hauses Schuhe wechseln, keinen Lärm verursachen, die Ziege Hanna nicht erschrecken, sonst setze sie über den Zaun -, und schloss sehr ernst: „Es gibt noch eine Bedingung."
„Die wäre?", fragte Arno.
„Es handelt sich um Pietät." Frau Dohle erklärte, sie dürften keine Möbel verrücken oder umstellen. Das sei sie ihrem Bruder schuldig, dem die Wohnung einst gehörte, der schon mit vierzig, leider Gottes, habe heimgehen müssen. Sie versprachen es.
Auf einmal redete Frau Dohle beinahe vertraulich, mehr an Arno als an Ermina gewandt: „Was meinen Sie, was bei uns hier los ist! Der ganze Abhub aus dem Osten. Jede Mansarde, jedes Kellerloch ist vollgestopft. Flüchtlinge. An was für Leute Sie da geraten können! Bei meiner Schwester sind welche einquartiert, die sprechen manchmal Türkisch."
Der Abhub aus dem Osten hatte Ermina tief getroffen. Schützend legte Arno den Arm um sie. „Türkisch klingt gut, meine Frau spricht es auch."
Mit einem flüchtigen Blick auf Ermina gab die Wirtin Arno die Schlüssel, sagte wie abschließend „So" und ging. Allein geblieben, fielen Ermina und Arno einander in die Arme. Eine ganze Wohnung! Nicht nur ein Zimmer mit Küchenbenutzung.
Im Schlafraum stand nur ein Bett, es hätte auch kein zweites hineingepasst, doch dieses war für beide breit genug. „Das ist ja ein richtiger Heuboden", sagte Ermina.
Als sie am Nachmittag die Umgebung mit den Seen und Wäldern durchstreiften, das stille Hinüberdämmern der Natur vom Sommer zum Herbst erlebten und am Ende auf ein weites Feld mit Maulbeerbüschen stießen, rief Ermina begeistert: „Arno, Maulbeeren! Maulbeeren, hier bleiben wir.
Maulbeeren sagten ihm nichts, er kannte sie weder als Busch noch als Baum, und so vermochte er Erminas überschwängliche Freude auch nicht mitzuempfinden. Um etwas zu sagen, fragte er: „Wann kommt Alma, deine Freundin?"
„Morgen früh, ich freue mich schon."
Die Kollegen trafen sich nach den Sommerferien zur Konferenz vor Schulbeginn. Das Lehrerzimmer war lang und schmal. Ermina fiel ein Bild auf, das fast die ganze Kopfwand einnahm. In einen schweren Goldrahmen gefasst, stellte es eine Herbstlandschaft dar. Sie betrachtete es lange, mühte sich, es schön oder hässlich zu finden, doch vergeblich. Entmutigt wandte sie sich ab.
Alma kam zur Tür herein und sagte, als sie nebeneinanderstanden und jede die gebräunte Haut der anderen bewundert hatte: „Du hast ja keine Ahnung von meinem Kohldampf! Ein Stuhlbein könnte ich anknabbern."
Es war Almas Art, so zu übertreiben: Du hast ja keine Ahnung! Meist folgte dann etwas völlig Belangloses. Ihren ewigen Hunger kannte Ermina von Wittenberge her, wo sie zusammen am Kursus zur Ausbildung von Neulehrern teilgenommen hatten, aber auch vom Umsiedlungslager, denn auch Alma stammte aus Bessarabien, schon viele Jahre waren sie befreundet.
Im Lehrerzimmer stand man in kleinen Gruppen beieinander, das Stimmengewirr wuchs an. Ermina erzählte Alma von der Wohnung.
„Wo bleibt unsere Leitung, es ist Zeit", meinte eine ältere Lehrerin. Ihre Bernsteinkette leuchtete, gelbes Licht schien in den Perlen eingeschlossen zu sein. Eine jüngere entgegnete: „Es fehlt noch unser lieber Kollege Birnbaum." Arno horchte auf, der Name klang ihm vertraut.
Stühle wurden gerückt, man setzte sich, kramte Schreibzeug hervor. Alma, Ermina und Arno nahmen gerade an der Fensterfront Platz, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und ein hochgewachsener Mann, etwa in Arnos Alter, wie im Theater auftrat: „Ich grüße euch, ihr edlen Geist- und Seelenbildner!"
Er sprach zum Kollegium, als stehe er mit allen auf du und du, was ihm, wie es schien, keiner übel nahm. Auf einmal stutzte er, beschirmte die Augen mit der Hand wie vor einfallendem Sonnenlicht. „Ich träume wohl?! Ja, wie ist das nur möglich!"
Mit großen Schritten ging er auf Arno zu, begrüßte ihn laut mit „alter Schwede", „schiefes Haus" und ähnlichem. Beide konnten es kaum fassen, dass sie sich nach vielen Jahren in einer so ehrwürdigen Runde, wie Birnbaum sagte, trafen und Kollegen sein sollten. „Das ist Ermina, meine Frau", machte Arno bekannt. Volker Birnbaum beugte sich, nicht ohne zeremonienhaftes Getue, zu ihr hinunter, betrachtete sie mit unverhohlenem Wohlgefallen und sagte, an Arno gewandt: „Apart, apart, du alter Schlingel."
Ermina fühlte sich durch den fast anzüglichen Ton verletzt. Sie lächelte gezwungen, entzog ihm die Hand und sprach wieder mit Alma. Die beiden Frauen kämpften, jede für sich, gegen Erregung an. Alles war neu und fremd für sie. Ermina wollte nicht zu Arno hinsehen, der mit Birnbaum redete, sie blickte auf ihre Hände und überlegte, woher die Männer sich kennen mochten. Der burschikosen Herzlichkeit nach, mit der sie einander begrüßt hatten, mussten sie Freunde sein. Arno hatte ihr nie etwas davon erzählt. Sie wusste ohnehin nur wenig über ihn, über sein Leben vor ihrer Ehe.
Die Tür zum Sekretariat wurde einen Spalt breit geöffnet. Man sah eine Hand auf der Klinke und hörte gedämpftes Sprechen im Nebenraum. Dann zog jemand die Tür von Neuem zu, ohne dass einer ins Lehrerzimmer getreten wäre.
Am Tisch der Leitung, seitlich, saß ein etwa vierzigjähriger Mann. Blass, mager wie fast alle, hatte er die tief liegenden Augen aufs Fenster gerichtet und schien an dem, was um ihn her vorging, nicht interessiert zu sein. Alles an ihm vermittelte den Eindruck von Länge, das Kinn, die Nase, die Finger. Auf ihn machte Alma aufmerksam. „Den dort habe ich schon gesehen. Er wohnt bei den Nachbarn meiner Wirtsleute, ist wie ein Kuckuck so allein, heißt Schumann. Er soll schwer in Ordnung sein. Hier ist er einziges Parteimitglied, außer dem Schulleiter. Eine schwache Vorhut in der Schule. Findest du nicht auch?"
„Woher weißt du das alles?"
„Meine Wirtin hat es mir erzählt." Ein zweites Mal wurde die Tür zum Sekretariat geöffnet, die Leitung trat ins Lehrerzimmer. Den stellvertretenden Schulleiter, Benno Kurich, kannte Ermina. Ihm hatten sie sich vor ein paar Tagen vorgestellt. Beim Anblick des Schulleiters erlitt sie jedoch einen leichten Schock. Arno sah sie an, auch er schien überrascht zu sein, Alma flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie verstand nichts, hatte das Gefühl, aus Sand gebaut zu sein und auseinanderzurieseln. In den Augen ihrer Kollegen glaubte sie ein spöttisches Lächeln zu sehen, und wem es nicht in den Augen saß, dem strich es um den Mund. So schien es ihr. Natürlich waren alle im Bilde. Noch einmal erlebte sie in Gedanken die peinliche Szene vor dem Gemeindeamt. Dass sie dem Paar irgendwann begegnen würde, hatte sie gewusst. In dem kleinen Ort konnte das nicht ausbleiben. Überall, so fand sie, hätte das sein dürfen, nur nicht hier. Dieser Mann, der ihr schon als Bräutigam der jungen blonden Frau - sie saß jetzt neben ihm als Sekretärin - unsympathisch gewesen war, der war also ihr Schulleiter.
Zuerst wie üblich: Begrüßung. Man wünschte Gesundheit und Kraft für das bevorstehende Schuljahr. Die Neuen wurden vorgestellt, fünf Kollegen, die beim Nennen ihres Namens kurz aufstanden. Dann die Tagesordnung.
Von den schulpraktischen Dingen, die erörtert wurden, hatten sie im Kursus nichts gehört. Auch wenn Ermina Wörter wie Klassenstärke oder Überalterte - Kinder, die durch das Kriegsgeschehen am regelmäßigen Schulbesuch gehindert worden waren - verstand, so sagten sie ihr doch nur wenig. Gerade darüber aber wollte die Diskussion kein Ende nehmen, bis Weidmann, der Schulleiter, abschließend sagte: „Kollegen, wir haben keine Klassen mehr mit über fünfundvierzig Schülern. Das ist ein Fortschritt."
„Ich hab sechsundvierzig!", rief die Frau mit der Bernsteinkette dazwischen.
„Nur noch dieses Jahr, Frau Kronen. Soviel ich weiß, gehen bei Ihnen im nächsten Jahr zwei ab."
„Und drei Sitzenbleiber rücken nach!"
Damit war man bei den Überalterten angelangt. Kurich sprach zu diesem Thema. Er wusste genau, wie viel Überalterte jede Klasse hatte, und bat die Kollegen, diese außerhalb des Unterrichts zu fördern. „Kollegen, wir müssen diesen Kindern helfen!"
Hellwach hörte Ermina zu, notierte, bekam vor Eifer rote Wangen. Weidmann störte sie nicht mehr. Kurichs Sätze glichen Losungen, prägten sich ihr ein. Auch hier Zwischenrufe: „Wann außerhalb des Unterrichts? Bei den vielen Vertretungsstunden!" Kurich gab keine Antwort darauf, ging zum nächsten Punkt über und wandte sich jetzt nur an die Neulehrer: „Meine lieben jungen Kollegen, ich weiß, wie schwer es ist, neben dem Unterrichten selbst noch zu lernen. Vorstellen kann ich mir es zumindest", sagte er und meinte weiter, sie müssten in den sauren Apfel beißen. Neun Monate, die ein Kursus dauere, das sei eben zu wenig, um einen Lehrer voll auszubilden. Man könne aber auch nicht, wie es normal wäre, Jahre darauf verwenden. Vorläufig nicht. Sie würden jetzt gebraucht, dringend, und nicht erst in ein paar Jahren.
Kurich erinnerte an die große Zahl der in der sowjetischen Besatzungszone wegen ihrer Zugehörigkeit zur Nazipartei entlassenen Lehrer. Sie, die Neulehrer, hätten diese Plätze einzunehmen und die Schüler im Geiste der antifaschistischdemokratischen Ordnung zu erziehen.
Erminas Gedanken begannen abzuschweifen. Als habe sich etwas verknotet in ihrem Gehirn. Sie konnte nicht mehr folgen: Also was? ... Was ist? Was sollen wir? dachte sie angestrengt. Wahrscheinlich wäre sie eher verängstigt als ermutigt von der Konferenz nach Hause gegangen, hätte sie nicht plötzlich eine ruhige, wohltuende Stimme vernommen. Werner Schumann sprach. Nicht viel, und er sagte auch nichts Besonderes, aber die Art, wie er redete, besänftigte, stimmte zuversichtlich. Er kam auf die Überalterten zurück und übertraf Kurich, indem er nicht nur wusste, wie viel es in den einzelnen Klassen davon gab, sondern auch, woher die meisten stammten und warum sie zurückgeblieben waren.
„Sie brauchen unsere Zuwendung. Nicht alles lässt sich ihnen wiedergeben, was eine unglückselige Zeit ihnen genommen hat. Tun wir, was möglich ist, fördern wir sie auch außerhalb des Unterrichts."
Ermina, die den Stift aus der Hand gelegt hatte, wieder hellwach, nahm ihn, schrieb das Wort Zuwendung auf und unterstrich es. Alma guckte auf das Blatt vor Ermina, griff ebenfalls zum Bleistift und tat das gleiche.
Nachdem sie den Stundenplan erhalten hatten, wurden den Neuen ihre Mentoren genannt. Vertrauensvoll sah Ermina Frau Kronen an, meinte das sanfte Licht der Bernsteinperlen auch in den Augen der Frau wahrzunehmen, die sie und Alma in schulpraktischen Dingen künftig beraten sollte. Arno wurde Schumann und ein junges Paar, Hans und Regina Wellborn, einem Fräulein Ziehbrett anempfohlen.
Draußen holte Ermina tief Luft, ging mit Alma auf die andere Straßenseite hinüber, betrachtete das Schulgebäude von dort. Wie eine Sphinx hockte der massive Bau hinter der Mauer und dem steinernen Tor. Alma klagte über Kohldampf, den größten des Jahrhunderts. Sie gingen. Arno war von Schumann gebeten worden, noch ein paar Minuten zu bleiben.
Als Ermina zu Hause die Tür zur Veranda öffnete, stand Frau Dohle mit einem Staubtuch in der Hand am runden Tisch. Ermina grüßte und wollte hinaufgehen, doch die Wirtin fragte, spöttisch lächelnd: „Nun, wie fühlt sich denn Ihr Schulleiter so mit der neuen Gattin?"
Verlegen meinte Ermina: „Das ..., ja, das hat er uns nicht gesagt."
Frau Dohle drückte das Staubtuch aus einer Hand in die andere. Redete. Ließ keinen guten Faden an dem Mann. „Ich wundere mich, wie Frauen auf so einen hereinfallen können. Er muss doch etwas an sich haben, etwas, das sie abhängig macht - wenn Sie wissen, was ich meine", sagte sie und faltete das Staubtuch zusammen.
Ermina wusste nicht, was sie meinte, doch sie nutzte die Pause, wünschte einen schönen Abend und stieg zur Wohnung hinauf. Dort sank sie auf einen Küchenstuhl und machte nur „Buh".
Ein Vierteljahr war seit dem ersten Schultag vergangen. Ermina saß im Lehrerzimmer und dachte an die nächste Stunde. Zeichnen, was sie nicht konnte. In den anderen Fächern unterrichtete sie gern. Kurich kam herein und legte die Tägliche Rundschau auf den Tisch. Er sah Ermina niedergeschlagen und fragte: „Was gibt's, Frau Brunn?"
„Meine Kummerstunde, Herr Kurich. Zeichnen."
Anfangs hatte er sie für ein zartes Hälmchen gehalten, das von jedem Säuselwind umgeknickt werden könnte, doch inzwischen wusste er, dass er ihr etwas zutrauen durfte. „Aber Frau Brunn, das macht Ihnen doch nichts aus. Sie packen doch alles. Es gibt halt keine Fachlehrer für die Unterstufe, und schon gar nicht für Zeichnen. Die Musen sind noch im Exil, leider, vorläufig." Er begleitete seine Worte mit großen Gesten. Außerhalb der Konferenzen sprach er nicht in Losungen, sondern ganz normal, und sein vorläufig hatte für sie etwas Aufmunterndes. Sie sah ihn an und lächelte.
Als er gegangen war, fiel sie in die alte Stimmung zurück. Die Zeichenstunde allein machte sie nicht mutlos, es gab da noch etwas anderes, das sie Kurich nicht hatte sagen können: Weidmann. Nie ging er an ihr vorbei, ohne sie absichtlich zu streifen. Er umfasste ihren Arm oder nahm ihre Hand, wenn er mit ihr sprach, was ihren Unwillen erregte. Schon seine Gegenwart verletzte manchmal ihr Gefühl. Sie grübelte, wollte sich keinem anvertrauen, weil es nichts Fassbares gab, am Ende verdächtigte sie ihn grundlos.
Weidmann bestellte sie ins Schulleiterzimmer, wann immer es ihm einfiel. Hatte sie eine Springstunde oder wollte sie gerade nach Hause gehen, kam er durch das Sekretariat und sagte: „Frau Brunn, kommen Sie doch bitte mit Ihren Vorbereitungen zu mir."
Die Aufforderung verdross sie, denn Frau Kronen, die Mentorin, sah ihre Vorbereitungen regelmäßig durch.
Warum bestellte er sie? Ließ er doch die anderen Neulinge in Ruhe. Legte sie ihm dann das Heft vor, sah er kaum hinein, sondern sprach mit ihr über dieses und jenes, fragte, ob sie mit der Wirtin auskämen, ob ihr Mann auch artig sei, scherzhaft, gewiss, und sagte ihr jedes Mal, sie solle nicht so schüchtern sein.
Jetzt saß sie allein im Lehrerzimmer und wartete auf das Klingelzeichen zur Stunde. Während sie allerlei Figuren auf den Zeitungsrand malte, Zeichnen übte, wurde ihr schwarz vor Augen. Alles schien sich zu entfernen, das Licht und die Töne, Dunkelheit und Kühle hüllten sie ein. Dieser Zustand dauerte aber nicht lange. Zuerst kehrte das Licht zurück, in dem unzählige dunkle Kullern tanzten, dann der Ton. Sie sah die Zeitung auf dem Tisch und hörte Bradtke, den Hausmeister, Lerge brüllen, sein Fluch-, Schimpf- und Kosewort. Anscheinend lief ein Schüler auf dem Kohlenhaufen herum. „Lerge, du, ich hau dir'n Arsch voll!"
Auf dem Weg zur Klasse dann wurde ihr ganz warm ums Herz, sodass sie ein paar Mal auf der Treppe stehen blieb, sich ans Geländer lehnte, um den inneren Aufruhr zu besänftigen, bevor sie vor die Schüler trat.
Arno, du, wir bekommen was Kleines, dachte sie bewegt.
Die Brunns saßen am Küchentisch und aßen. Margarineschnitten, ein Streifen roher Kohl und Gerstenkaffee waren das Abendbrot. Ermina kaute geistesabwesend. Sie fühlte sich nicht recht wohl in ihrer Haut, denn es gab zwei Dinge, die sie Arno verschwieg. Wegen des einen machte sie sich keine Gewissensbisse. Es war ihr Zustand; mit Absicht verriet sie ihn Arno im Augenblick nicht. Bald hatte er Geburtstag, sie wollte ihn überraschen damit. Fast täglich spielte sie in Gedanken die Szene durch: Arno, mein Schatz, ich gratuliere dir und schenke dir zu deinem Ehrentag eine kleine Grasmücke. Im Juli kommt sie zur Welt. Wenn sie daran dachte, glaubte sie jetzt schon zu spüren, wie er sie umarmte, hochhob, sich freute darüber, außer Rand und Band geriet. Das andere hing mit Weidmann zusammen, bedrückte sie.
Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, ob sie es Arno sagen sollte, beschloss aber, es nicht zu tun.
Was kann herauskommen dabei? Arno stellt Weidmann zur Rede, der wirft mir eine blühende Fantasie vor, streitet natürlich alles ab, und ich stehe da und geniere mich.
Außerdem fürchtete sie, es könnte einen Riesenkrach mit viel Aufregung geben. Der kleinen Grasmücke wegen wollte sie das unbedingt vermeiden. Dabei hatte sie den ganzen Tag Aufregung und Ärger hinuntergeschluckt. „Was wollte Weidmann schon wieder von dir?", fragte Arno.
Sie goss ihm Gerstenkaffee ein und sagte leichthin: „Och, das Übliche. Vorbereitungsheft. Warum fragst du überhaupt? Du weißt es doch", fügte sie gereizt hinzu.
„Mit dem werde ich mich mal unterhalten müssen."
Gerade das wollte sie ja nicht.
In der Schule war es inzwischen kein Geheimnis mehr, dass der Schulleiter Ermina bevorzugte. In den Konferenzen lobte er ihren Fleiß, das Geschick, mit Kindern umzugehen, und ihre Bereitwilligkeit, Aufgaben zu übernehmen und auszuführen. Keiner der Kollegen zweifelte daran. Da aber die Loblieder von Weidmann kamen, schien den meisten etwas nicht geheuer zu sein. Ermina litt darunter. Sie fühlte jedes Mal brennende Scham, errötete und rückte wie Schutz suchend näher an Arno oder Alma heran, wer gerade neben ihr saß. Seit heute nun glaubte sie alles zu begreifen, verstand aber trotzdem nichts und suchte nach eigener Schuld.
Am Morgen stand sie an der Tür zum Sekretariat und hielt Ausschau nach der Sekretärin, der sie einen Meldezettel abgeben musste. Weidmann trat auf die Tür zu. Sie wollte zurückgehen und ihn durchlassen, doch er fasste sie bei den Schultern, schob sie gegen den Türstock und flüsterte, ihr in die Augen blickend: „Nicht so aufgeregt, ich komme schon durch." Einen Augenblick spürte sie seinen ganzen Körper, die Knöpfe seiner Jacke drückten gegen ihre Brust. Er roch nach Tabak und Schweiß. Vor Widerwillen hätte sie vergehen mögen. Mittags dann, als sie im Begriff war, nach Hause zu gehen, kam er ins Lehrerzimmer und sagte freundlich, sie solle mit dem Vorbereitungsheft zu ihm kommen. Am Tor wartete Arno. Sie eilte hinaus, ihm Bescheid zu sagen, traf aber Birnbaum im Flur und bat ihn, er möge Arno ausrichten, sie müsse zu Weidmann.
Mit dem Heft in der Hand, betrat sie zögernd das Schulleiterzimmer.
„Nicht so zaghaft, kleine Frau", ermunterte er sie.
Die Luft schien ihr aufgeladen, die Atmosphäre schwül zu sein. Er schloss die Tür hinter ihr, und die Art, wie er ihren Arm streifte, verwirrte sie noch mehr. Sie bekam Herzklopfen und errötete. Erst als er ihr gegenübersaß, der Schreibtisch zwischen ihnen, wurde sie ruhiger. Sie legte das Heft hin, doch er sah wieder nicht hinein. Dagegen erklärte er, sie von nun an unter seine Fittiche nehmen zu wollen. Es lohne sich, sie zu fördern, sie sei jung und begabt. In Zukunft wolle er auf sie achten, ein zweiter Mentor für sie sein, es brauche das ja nicht gleich jeder zu wissen. „Arno ist begabt", stotterte Ermina hilflos. Weidmann lachte nur und meinte: „Das ist kein Kunststück!" Dann stand er unvermittelt auf, ging hin und her und redete. Sie verstand ihn nicht recht, der Puls pochte hart, in den Ohren sauste es. „Frau Schulte hat frei", hörte sie.
Frau Schulte war die neue Sekretärin, denn seine Frau, Ilse Weidmann, hatte nach ihrer Heirat aufgehört zu arbeiten. Im Kollegium erzählte man, er habe darauf bestanden, nur um Frau Schulte, eine junge Kriegswitwe, einstellen zu können.
Er hielt im Aufundabgehen inne und griff mit zitternder Hand in ihr Haar. Sie bemerkte es nicht gleich, hatte nur das Empfinden, etwas ungeheuer Schweres baue sich hinter ihr auf und drohe, auf sie niederzufallen. Erst als er eine Strähne zwischen den Fingern rieb und flüsterte: „Wie das knistert! Oh, das ist schönschönschön" - da fuhr sie auf, nahm das Heft vom Schreibtisch, murmelte eine Entschuldigung und lief hinaus.
„Was fällt Ihnen ein! Einfach davonzurennen", rief er ihr nach.
„Du bist heute nicht sehr gesprächig, mein Hegel wird unterhaltsamer sein", sagte Arno und ging aus der Küche.
Ermina wusch das Geschirr ab, räumte es weg, nahm die Häkeldecke und wollte sie auf den Tisch legen, drückte sie aber mit beiden Händen zusammen. Ein noch größeres Unbehagen als vorhin bemächtigte sich ihrer. Sie saß auf dem Stuhl und dachte: Ich habe ihn angelogen, und Lüge bleibt Lüge.
Durch die Fensterritzen drang Kälte herein, es zog. Sie bekam kalte Füße, fröstelte während ihre Wangen glühten. Immer wieder dachte sie: Ich hätte doch die Wahrheit sagen können. Dann löste sie die verkrampften Finger, breitete die Decke auf dem Schoß aus und strich versonnen darüber. Der Gedanke, dass Frau Döhles Zierstück mehr Loch als Decke sei, belustigte sie. Sie hob es hoch und guckte hindurch. Eine klamme Herbstfliege setzte sich darauf. Ermina hauchte sie an, die Fliege flog zur Lampe hinauf.
Ermina strahlte. Die Spitzendecke über den Kopf gehängt, ging sie zum Spiegel hinter dem Kanapee. Ihre dunkelblauen Augen und die geröteten Wangen leuchteten durch die Häkellöcher. Ein starkes Verlangen, aus der eigenen Haut hinaus- und in eine andere hineinzuschlüpfen, sich zu verkleiden, überkam sie. Die weinrote Plüschdecke vom Sofa im Wohnzimmer umgehängt und vorn mit einer Fibel zusammengesteckt, befestigte sie die weiße Häkeldecke mit Haarklemmen wie einen Schleier am Hinterkopf und setzte den Nähkorb aus gelbem Bast als Krone auf. Sie fand, sie sehe schön aus, Arno müsse sie unbedingt so sehen. Auf dem Wandbrett lag ein halb niedergebranntes Talglicht, sie zündete es an und ging zu ihm. Er lag auf dem Heuboden, las seinen Hegel und sah sie nicht, bis sie mit verstellter dünner Kinderstimme zu singen begann: „Es waren zwei Königskinder, die hatt'n in jedem Zimmer nur ein Bett; dazwischen aber lag der Ozean, sie kamen nicht darüber hinweg."
Als Arno Ermina so aufgeputzt und aufgekratzt sah, legte er das Buch auf den Nachttisch und spielte mit. Im Bett kniend, sang er, die Arme theatralisch ausgebreitet: „Mein Liebstes, ich kann doch schwimmen, was ist mir der O-o-ze-an, was ist mir das große Wasser, wenn ich dich drüben lieben kann."
Begeistert, dass er auf ihren Spaß einging, ließ sie die Kerze in die Schüssel auf der Waschkommode fallen und sprang auf den Heuboden. Sie fiel über ihn her, gab ihm einen Schubs, dass er umkippte, und biss ihn ins Ohr. „Ich schmeiß dich vom Heuboden!", drohte er. Sie warf ihm das Kissen an den Kopf. Ein Handgemenge begann, sie balgten und lachten, wie es alberner nicht sein konnte. Anscheinend brauchte Ermina das, um den Kummer zu entladen, der sie eben noch bedrückt hatte. „Ermina, gib Ruhe, du hast mich an einer ganz wichtigen Stelle gestört." Er griff nach dem Buch, sie legte sich ihm quer über den Bauch und hinderte ihn, es zu nehmen. Es wurde finster. Stromsperre. Auf einmal ganz zahm geworden, kroch sie unter die Decke und schmiegte sich an Arno. Küsse. Liebe. Wohliges Entspannen. Voller Zärtlichkeit führte sie seine Hand an ihren Mund, schlang den Arm um seine Brust, wollte ihn auch im Schlaf nicht loslassen, spürte, wie sie langsam hinüberschlummerte.
In Gedanken schon wieder bei Hegel, streichelte Arno ihren Arm und tastete dabei vorsichtig nach der Streichholzschachtel. Dann zündete er die Kerze an, blätterte und suchte nach der wichtigen Stelle von vorhin. Es ärgerte ihn seine Nachlässigkeit, das Buch ohne Lesezeichen zugeklappt zu haben. Ermina schlug die Augen noch einmal auf, müde, schloss sie gleich wieder und murmelte: „Was bist du doch töricht, mein Schatz."
Die Lüge, der sie sich bezichtigt hatte, war vergessen.
Nach zwei Stunden gab es wieder Licht. Ermina blinzelte zu Arno hinüber. Er las immer noch, blies aber die Kerze aus und wollte schlafen.
Sie räumte die herumliegenden Sachen weg. Es war kalt in der Wohnung, sie heizten noch nicht. Die paar Kohlen mussten für kältere Tage aufgespart werden. Eine Strickjacke über das Nachthemd gezogen, setzte sie sich ins Bett neben Arno und schrieb die Vorbereitungen für den nächsten Tag, Es ging fließend, sie hatte die zu haltenden Stunden schon im Kopf und verfuhr nach dem erlernten Schema: Wiederholung, Einführung, Darbietung, Zusammenfassung. Ein Vers oder eine kleine Geschichte, mit dem sie die Lernlust der Kinder anregte, fiel ihr immer dazu ein. Die lästige Schreiberei, dachte sie. Arno braucht das nicht, setzt sich darüber hinweg, kann das eben.
Nachdem sie die Hefte in die Schultasche gesteckt hatte, löschte sie das Licht, schlief ein, wachte aber wieder auf, von einem hässlichen Traum gestört: Barfuß hatte sie in der Klasse gestanden, und damit die Schüler es nicht merkten, ständig versucht, einen nackten Fuß unter dem anderen zu verstecken.
So was Dummes, dachte sie, ging in die Küche und trank Wasser. Dann rückte sie ganz nahe an Arno heran und sank in den Schlaf. Diesmal träumte sie von der Obstplantage, wo sie, vor dem Kursus in Wittenberge, zusammen mit Alma gearbeitet hatte. Die Plantage gehörte Frau Lämmerbrodt, die in Werder wohnte und nur ein- oder zweimal in der Woche aufkreuzte, um nachzusehen, ob die Mädchen zurechtkämen. Sie kamen zurecht. Jetzt im Traum pflückten sie Pfirsiche. Alma brach ganze Zweige ab. Sie lachten und freuten sich über die rotwangigen Früchte mit dem zarten Flaum.
Beim Aufstehen dachte Ermina an den Traum und beschloss, am Nachmittag ins Dorf an der Havel zu fahren. Arno hatte später Unterricht, sie ging ohne ihn zur Schule.
Ermina liebte es zu schlendern, zu bummeln wie eine Schülerin, besonders am Morgen, wenn auf den Gesichtern der Menschen und auf den Dingen noch ein Hauch vom Traum der Nacht lag. Das milde Wetter - noch war kein Frost - trieb nicht zur Eile.
Oft, wenn sie so dahinging, allein, stiegen ihre Gedanken wie bunte Drachen hoch. Auf ihrem Weg kam sie kurz vor dem Markt an einem Haus vorbei, wo hinter dem alten Lattenzaun zu beiden Seiten des Tores je eine Pyramidenpappel mit knotigem Stamm und aufwärtsstrebenden Ästen stand. Daran konnte sie nicht vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und hinaufzuschauen. Jedes Mal empfand sie Ehrfurcht vor der ruhigen Kraft der Bäume.
Auch jetzt sah sie zu den Wipfeln hoch, die Wolken hingen tief und kündigten Regen oder Schnee an. Wo der Zaun endete, wurde das Grundstück von einer Steinmauer eingegrenzt. Dort saßen zwei Krähen nebeneinander. Die eine rückte ein Stückchen beiseite und flog fort. Die andere hatte schon die Flügel gespreizt, um zu folgen, blieb aber dann sitzen. Erheitert suchte Ermina den Himmel nach der Krähe ab, die die Flucht ergriffen hatte. Ihr Blick glitt auf der anderen Straßenseite hinunter und traf auf einen Mann, der sie beobachtete. Auf ihrem Gesicht lag noch die ganze Vergnügtheit, mit der sie den Vögeln zugesehen hatte. Als sie den Mann wahrnahm, ging sie schnell weiter. Sie war ihm noch nie begegnet. Ob er hierher gehörte? Der Kleidung und Haltung nach passte er nicht so recht in den Ort und noch weniger in die Zeit.
Von der anderen Seite des Marktes winkte Alma. Herangekommen, hängte sie sich bei Ermina ein. „Du, ich möchte heute Nachmittag ins Dorf an der Havel fahren. Machst du mit?"
„Das wollte ich dich eben fragen ... Ja! Ich hab von unserer Plantage geträumt, da kam mir der Gedanke."
Von Zeit zu Zeit überkam die beiden heftige Sehnsucht nach Tante Maria und Onkel David, nach ihrem früheren Lehrer Albert Wiesner und Frau Lämmerbrodts Obstplantage, an der sie vorbei mussten, weil sie am Weg lag. Dann ließen sie alles stehen und liegen und fuhren hin. Arno wollte nie mitkommen. Er verstehe zu wenig von Kühen und Rüben, meinte er.
Am steinernen Tor der Schule fiel Ermina die Geschichte mit Weidmann wieder ein, sie bekam Herzklopfen. Zum Glück hatte sie Aufsicht heute und würde kaum im Lehrerzimmer sein. Schnell legte sie den Mantel ab und ging in den ersten Stock zur Fluraufsicht. In der folgenden Stunde waren die Schüler besonders eifrig. Heimatkunde. Die Geschichte des Klosters. Davon hörten sie gern. Sie meldeten sich fleißig, arbeiteten so rege mit, dass Ermina ein paar Minuten über das Klingelzeichen hinaus erzählte. Dann erinnerte sie sich der Hofaufsicht, machte Schluss und eilte ins Lehrerzimmer nach dem Mantel. Weidmann kam gerade aus dem Sekretariat und fuhr sie schroff an: „Seit wann vernachlässigen Sie Ihre Aufsichtspflicht, Frau Brunn? Sie müssten längst draußen sein!"
Auf dem Schulhof meinte Alma: „Was ist in den Krauter gefahren? Ich hätte doch auch draußen sein müssen, und zu mir hat er nichts gesagt."
Es erschien Ermina sonderbar, aber sie empfand eine Art Freude, dachte erleichtert: Soll er doch wütend auf mich sein, besser als die hintergründigen Lobgesänge.
Nach der fünften Stunde gingen sie gleich zum Bahnhof, schwenkten die leeren Aktentaschen, deren Inhalt sie im Regalfach des Lehrerzimmers verstaut hatten. Arno wusste, dass Ermina mit Alma wegfuhr.
Die Kleinbahn bimmelte, beide fühlten sich frei und großartig. Noch besser als die Fahrt gefiel ihnen dann der Weg zu Fuß. In der Ferne grünte die Wintersaat, sie spürten den Atem der ruhenden Erde, sprachen halblaut, als fürchteten sie, den Herbstschlaf der Natur zu stören. Schon wollte Ermina vom Baby erzählen, das sie erwartete, als sie sich einer Redensart ihrer Tante erinnerte: Wer sein Geheimnis nicht selber hüten kann, verlange nicht von einem anderen, dass er es für ihn hüte. Sie sagte nichts davon, denn ein Geheimnis war es, vor seinem Geburtstag durfte Arno es nicht erfahren: Ein nicht zu übertreffendes Geburtstagsgeschenk habe ich für ihn!
„Weißt du noch, wie wir uns zum Französischlernen bei Wiesner angemeldet haben?", fragte Alma.
„Ja. Am ersten Abend kamen viele in die Schule. Wir fragten uns, ob wir würden mithalten können. Dann wurden es jeden Abend weniger, bis wir allein in der Klasse saßen." Fünfundvierzig hatten sie hier, im Dorf an der Havel, zu lernen begonnen. Damals arbeiteten sie in Frau Lämmerbrodts Obstplantage, und abends gingen sie zu Albert Wiesner. Dreimal in der Woche. Ihm verdankten sie ihr erstes Wissen über vieles, auch über Marx und über Homer.
Frauen mit vollen Rucksäcken begegneten ihnen, wahrscheinlich kamen sie vom Hamstern. Ein Radfahrer grüßte höflich, und Alma fragte, als er vorbeigefahren war: „Kennst du den noch?"
Es war der ehemalige Gutsinspektor, vierundvierzig frisch vom Studium ins Dorf gekommen und sechsundvierzig durch die Bodenreform arbeitslos geworden. Man hatte ihm eine Neubauernwirtschaft angeboten. Doch das war ihm dem Gutsbesitzer gegenüber als Verrat erschienen; Brockmann musste nach der Enteignung fünfzig Kilometer weit vom Dorf wegziehen.
„Ob der Herr Inspektor inzwischen verheiratet ist?" Ermina hob gleichgültig die Schultern. Im Frühjahr fünfundvierzig, einige Zeit nach ihrem Eintreffen im Dorf, hatte er ihr sagen lassen, wenn sie kein Flüchtling wäre, würde er sie ihrer schönen Haare wegen heiraten. Sie ließ ihm antworten, wenn er kein Flegel wäre, würde sie sich geehrt fühlen.
Im Dorf schien alles vertraut und anheimelnd. Am Anschlagbrett hing immer noch das alte Plakat: Junkerland in Bauernhand. Das eine Ende hatte sich gelöst und flatterte wie eine Fahne. Ein mit Zuckerrüben beladener Wagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster. „Onkel David!", rief Ermina, und sie rannte, das Fuhrwerk einzuholen.
Der Mann auf dem Kutschbock drehte sich nach ihnen um, lachte über das ganze von Runzeln durchfurchte Gesicht. „Sieht man euch auch mal wieder." Er gab dem Mützenschirm einen leichten Schubs. „Tante Maria fragt jeden Tag, was mit euch los ist. Ich sage ihr immer dasselbe: Woher soll ich es wissen?"
Ermina setzte den Fuß auf die Radnabe, fasste ihren Onkel am Jackenärmel. „Wie geht es?"
„Gut", antwortete er. „Hier reden sie wieder einmal von Brockmann: Brockmann kommt zurück! Ja. Wenn der Tag lang ist, reden die Leute viel. Bei uns zu Hause war es auch so. Als die Rumänen einundzwanzig die Bodenreform gemacht hatten, hieß es ständig: Sabotkin kommt wieder! Er ist nie gekommen. Siehst du, das hier ist mein Wagen, das sind meine Pferde, und dort ist mein Obdach." Er zeigte mit dem Daumen nach hinten. „Die Rumänen gaben dir sechs Hektar, und du standst da ohne Pflug, ohne Vieh und ohne Dach über dem Kopf. Es dauerte ja dann auch nicht lange, und die Gutsbesitzer, denen sie ein bisschen was abgezwackt hatten, bekamen ihr Land auf Umwegen wieder. Also Mädels, bis dann! Tante Maria hat Sirup gekocht. Vergesst nicht, a Häfele voll mitzunehmen."
Der Onkel straffte die Zügel. „Wie steht es mit dem Soll?", wollte Alma noch wissen.
„Wie soll's stehn damit? Es isch gschafft."
„Onkel David, Ihr berlinert ja noch gar nicht", sagte Ermina.
Er sah sie verschmitzt von der Seite an. „Ha, warum soll i denn? Die verstehet doch alle Schwäbisch hier."
Auch Inge Wiesner kochte Sirup. „So eine Überraschung! Wir haben schon oft von euch gesprochen. Ach, und Albert ist gar nicht hier. Ich weiß nie, wo er gerade steckt. Er denkt, wenn er mal zu Haus bleibt, schläft gleich das ganze Dorf ein. Setzt euch!"
Es roch wie nach gebranntem Zucker. Die dunkelbraune, zähflüssige Sirupmasse brodelte im Topf. Was für ein Duft! „Eigentlich ist er fertig. Ich lasse das Feuer jetzt ausgehen", sagte Inge. Sie nahm zwei Untertassen aus dem Küchenschrank, schöpfte mit dem Rührlöffel auf jede etwas Sirup und legte eine Scheibe Brot dazu. Ermina und Alma wollten zuerst nicht essen, doch Inge redete ihnen zu, meinte, sie könnten es ruhig annehmen.
Alber Wiesner kam nach Haus, begrüßte seine ehemaligen Schülerinnen mit lautem Hallo und fragte, wie man als Lehrer so lebe in der Stadt. Auf sein Zureden hin hatten sie sich damals um Teilnahme an einem Kursus zur Ausbildung von Neulehrern beworben. „Macht es euch Spaß, zu unterrichten?"
Nachdem er wusste, was er hatte wissen wollen, erzählte er von sich. Es kam ihnen so vor, als sei er nicht nur Lehrer hier, sondern auch Bürgermeister, auch Parteisekretär, auch Neubauer ...
Der Mann, der die unterste Hölle gesehen hatte, wie Inge einmal sagte, ging mit dem Dorf, in das es ihn nach dem Krieg verschlagen hatte. Das KZ hatte er überlebt. Eine tiefe Narbe schräg über der Stirn, die Ermina in Gedanken Mahnmal nannte, zeugte von jener Zeit. Eigentlich war sie, Ermina, mit dem heimlichen Wunsch - nicht einmal Alma wusste davon - hergekommen, Wiesner zu fragen, wie sie im Falle Weidmann ... Verstohlen blickte sie auf die Narbe, schämte sich ihrer Ratlosigkeit und sagte nichts. „Eure Leute aus Bessarabien sind mir ein richtiges Vergnügen", meinte Wiesner. „Sie haben weniger Angst als die ehemaligen Gutsarbeiter. Im Augenblick wird von Brockmanns Rückkehr wie von der Wiederkunft Christi gesprochen. Gerüchte! Ich glaube, der frühere Gutsinspektor streut sie aus."
„Na endlich!", sagte die Tante, als sie bei ihr in die Küche traten. Ihre von unzähligen Fältchen eingesponnenen Augen leuchteten dunkel und warm. Aus dem grauen Dutt guckte das Zopfende wie ein kleiner Mauseschwanz hervor. Zierlich und flink, huschte sie wie ein Wiesel hin und her. Sie stellte die Bratkartoffeln auf den Tisch, und die ausgehungerten Nichten - eine echte und eine Wahlnichte - fielen nur so darüber her.
Am Tisch saß die Tante aufrecht und hantierte mit sanften Bewegungen. Auch sie sprach von den Gerüchten im Dorf und meinte im Tonfall ihres Mannes: „Soll er doch kommen, der Brockmann." Dann folgte ein Satz, der ganz ihr gehörte: „Wo eine Tür sich schließt, tut sich eine andere wieder auf. Man muss nur immer gefasst sein."
„Och, hier ist es gut", erklärte der Onkel. „In Polen, da hatte man ein verdammt schlechtes Gewissen."
Damals, nach der Umsiedlung aus Bessarabien, fuhr man sie vom Lager, wo sie fast zwei Jahre vom Versprechen, im Reich angesiedelt zu werden, gelebt hatten, geradenwegs auf den Hof eines polnischen Bauern im Warthegau, der nur Stunden zuvor vertrieben worden war. Auf manch einem lastete das heute noch. Die ehemaligen polnischen Bauern arbeiteten bei den Angesiedelten als Knechte und Tagelöhner. „Landräuber" hatte ihm ein Pole einmal ins Gesicht gezischt ..., ein Mann, den er niemals wiedersah. „Wie geht es Arno? Warum ist er nicht mitgekommen?"
Noch ehe Ermina etwas erwidern konnte, sagte die Tante: „Dem Arno sind wir nicht vornehm genug. Das habe ich mitbekommen, als er bei uns war."
Ermina versuchte es ihr auszureden, doch sie blieb dabei: „Sei still, mein Schäfchen, es ist richtig, dass du ihn in Schutz nimmst, er ist dein Mann. Doch was ich weiß, das weiß ich." Sie umarmte die Nichte. „Wir bleiben deshalb doch alle ganz die alten."
Ermina kam während der Stromsperre nach Haus und erzählte, bis Arno sie unterbrach: „Was war in der Schule los? Der alte Knaster soll dich angebrüllt haben."
„Angebrüllt, das ist übertrieben", entgegnete sie beschwichtigend. Sie war in bester Stimmung nach Haus gekommen, hatte mit dem kleinen Ausflug von allem Abstand gewonnen und überlegte, ob es nicht gut sei, Arno die Wahrheit zu sagen. Der Gedanke, ihm nicht alles gesagt zu haben, würde sie schon morgen wieder verunsichern. „Ich erzähle es dir unter einer Bedingung: Du darfst dich nicht einmischen."
Er versprach es. Sie setzte sich neben ihn aufs Kanapee, blies die Kerze aus und berichtete von der Szene im Schulleiterzimmer.
Eine Weile sagte Arno gar nichts. Dann lachte er belustigt. Er stellte sich Weidmann vor, ein nicht ansehnlicher, schon älterer Mann, der Arnos Meinung nach vor sich selbst den Herzensbrecher spielte, nur um zu kompensieren, und fragte: „Hat er wirklich gedacht, dich verführen zu können?"
„Was er gedacht hat, weiß ich nicht, vielleicht, dass ich zu dumm bin, mich zu wehren."
„Er ist ein Schubiak", sagte Arno. Damit war die Sache für beide geklärt.
Seit fünf Monaten etwa waren Arno und Ermina verheiratet, ohne dass der Ehe ein längeres Kennenlernen vorangegangen wäre. Es überraschte die meisten, Anfang Juli siebenundvierzig, und versetzte alle in ausgelassene Freude: Der Kursus endete mit ihrer Hochzeit.
Die Lehrgangsteilnehmer enttrümmerten, wühlten im Schutt, klopften Mörtel von unbeschädigten Ziegeln und warfen sie zu Haufen zusammen. Die Frauen und Männer, die hier Ruinen abtrugen, mochten zwischen siebzehn und dreißig Jahre alt sein. Vorher hatten sie die verschiedensten Berufe - oder gar keinen - ausgeübt, künftig sollten sie alle denselben haben: Lehrer.
Über dem Trümmerplatz hing eine dichte Staubwolke, darüber flimmerte silbriges Licht. Sonne rötete die Gesichter, verbrannte die nackten Rücken der Männer. Von Zeit zu Zeit blies ein matter Wind um noch stehende Mauerecken und brachte Kühlung. Sie packten energisch zu, arbeiteten angestrengt, wortlos: Weg mit dem Schutt!
„Pause!", rief Dr. Eismann, Hamburger, scherzhaft s-pitzer S-tein genannt, der die Aufsicht führte. „Wer ein Viertelstündchen weggehen möchte, kann den S-paten bei mir ablegen."
Das Klopfen und Schürfen hörte auf. Die einen blieben in der Sonne, andere suchten den Schatten einer Linde. Ermina und Alma setzten sich auf einen Stapel Ziegelsteine. „Einen Runken Brot müsste man haben", sagte Alma.
Ermina kannte das. Es war eine alte Geschichte. Vor Jahren, im Umsiedlungslager, saß Alma oft stumm vor dem Teller, wenn es Kartoffelsuppe ohne Brot gab. Den Aluminiumlöffel in der Hand, starrte sie dann zur Decke, ein Versuch, mutig zu sein. Kullerten doch ein paar Tropfen über die Wangen, legte sie den Löffel auf den Tisch, verwischte die feuchten Spuren mit den Handflächen und begann hastig zu essen. Damals waren sie Kinder. Das sehnsüchtige Verlangen nach einem Runken Brot, gerade jetzt, in der Hungerzeit, war geblieben.
Ganz in der Nähe standen drei Männer an einem Ziegelhaufen. Erminas besonderes Interesse galt dem langen, dünnen, dessen Haare, Wimpern und Brauen gelb wie Weizenstroh glänzten. Das schmale Gesicht, die Nase mit dem feinen Höcker, die hellblauen Augen, alles an ihm erschien ihr vornehm, kühl. Im Gegensatz zu ihm die beiden anderen, Eberhardt und Wolfgang. Von Beruf Maurer und Zimmermann, hatten sie sich entschlossen, Lehrer zu werden, weil es derzeit trotz größter Wohnungsnot nur wenig zu mauern und zu zimmern gab. Sie stammten aus einem Dorf bei Brandenburg. Ihr Bürgermeister hatte sie geworben und ihnen auf einem Papier bescheinigt, dass sie voll ehrlichen und guten Willens seien. Neben Arno, dem Arztsohn, wirkten sie robust. Ihre gebräunten, etwas gedrungenen Körper strotzten vor Kraft, der Blick war fidel.
„Was treiben die denn da?", fragte Alma. Eigentlich interessierte es sie gar nicht, sie brauchte jedoch Ablenkung, musste vom Runken Brot wegkommen.
„Sie üben", antwortete Ermina träge.
Arno, der einzige Lehrgangsteilnehmer der Gruppe mit Abitur, hatte eine Art Patenschaft übernommen, er half Eberhardt und Wolfgang. Auch wenn er es eher aus Langeweile als aus Sorge um ihr Weiterkommen tat, hatten doch sie den Nutzen und fragten, wann immer sie etwas nicht durchschauten. Bei den meisten hießen sie Arnos Jünger, denn er erklärte geduldig, und sie hörten aufmerksam zu, als spräche ein Prediger. Mit Kalkbrocken kratzte Arno Formeln auf Ziegelsteine, Wolfgang und Eberhardt deuteten sie um die Wette.
Ermina sah zu und erzählte Alma, wie der Platz hier einmal aussehen würde. Sie liebte es, sich in Träume einzuspinnen. Über die wüste Fläche blickend, sah sie die Trümmer beseitigt, das Haus gebaut, den Vorgarten bepflanzt, eingegrenzt von einem Lattenzaun. „Keine Mauer, da können Kinder nicht durchgucken, ein Lattenzaun, ein grüner Lattenzaun wird es sein."
„Kleinbürger!", rief Arno herüber, der der Beschreibung einer Idylle zugehört hatte.
„Wegen des Hauses oder Gartens?", fragte Ermina unsicher.
„Nein, Baby, wegen des Zaunes. Schon mal was von der historischen Rolle des Zaunes gehört?" Arno fuhr fort, Formeln zu schreiben.
Ermina errötete. Nie hatte sie eine passende Antwort bereit, stets musste sie sie erst aus der Tiefe zutage fördern.
Wie Eberhardt und Wolfgang gehörten auch sie und Alma zu denen voll ehrlichen und guten Willens. Ihnen hatte es Albert Wiesner bescheinigt. Das Wissen des Lehrers mussten sie sich erst erwerben. Wie viel es sein würde, wussten sie nicht. Hätten sie sonst so mutig angefangen?
„Was der sich einbildet", sagte Alma. Auch Ermina ärgerte Arnos überheblicher Ton. Gern hätte sie etwas erwidert, doch es stimmte, von der geschichtlichen Rolle des Zaunes als Eigentumsmarkierung hatte sie nie etwas gehört.
Arno malte einen zerfransten Kreis und sah seine Jünger an. Sie schwiegen. Er warf den Kalkbrocken weg und erklärte, das sei das Loch, das der Hunger ihm in den Magen gefressen habe. Nun wolle er lieber still sein, sonst ziehe noch der Wind durch ihn hindurch wie durch eine alte Burg an der Saale - so heiße es doch im Lied. *
Dr. Eismann kam hinter der Mauerecke hervor, wo er im Schatten gesessen hatte, und rief zum Weitermachen auf. Ermina, die sich eine vage Antwort auf Arnos Bemerkung hin zurechtgelegt hatte, konnte sie nicht mehr anbringen. Die Lehrgangsteilnehmer griffen zu Spaten, Schaufel und Putzhammer, Eberhardt und Wolfgang hackten schon kräftig drauflos. Man sah, dass sie mit Werkzeugen besser umzugehen verstanden als mit der deutschen Grammatik. Arno dagegen stocherte, als gelte es, vorgeschichtliche Funde bloß zu legen und ja keine Scherbe zu beschädigen. Plötzlich stand Ermina vor ihm. Sie wusste selbst nicht, woher so unvermittelt der Entschluss rührte. Arno richtete sich langsam auf und betrachtete sie wie eine Erscheinung. In schief getretenen Holzpantoffeln stand sie da, blickte ihm aber nicht ins Gesicht. Das machte ihre Scheu. Zum Himmel hinaufschauend, sagte sie mit leicht belegter Stimme, bemüht, ihre Erregung zu verbergen: „Kleinbürger ist nicht wahr! Wenn du willst, sprechen wir mal darüber, was du vom Zaun gesagt hast. Könntest du mir und Alma das erklären?"
Im Allgemeinen sprach sie langsam, mit melodischer Stimme und rollendem R. Zum ersten Mal, seit sie im Kursus zusammen lernten, sah Arno sie richtig an. Sie machte ihn verlegen, was ihn selbst verwunderte.
Ermina hatte ihren Blick zurückgeholt. Für Sekunden verfing er sich in Arnos strohgelben Haaren, erfasste den schmalen Nasenrücken, die hohe Stirn und floh dann wieder in die Ferne.
Auf einmal gefiel Arno an ihr alles. Die Fremdartigkeit ihres Wesens, wie sie sprach, die in der Sonne funkelnde Haarflut. Er fand die Furche zwischen ihren Brauen interessant und hätte sie gern mit dem Finger berührt. Befangen sagte er: „Ich wollte dich nicht kränken. Du ..., du scheinst hier ja ein richtiges Kuckucksei zu sein."
„Wollen Sie warten, bis Ihr S-paten Rost ansetzt, Herr Brunn?", hörten sie Dr. Eismann. Ermina lief schnell zu Alma. Immer wieder sah sie zu Arno hinüber - und er zu ihr. Beide hatten das Gefühl, es sei etwas sehr Wichtiges geschehen.
Als Beleidigung hatte Ermina das ihr zugeworfene Wort „Kleinbürger" nicht empfunden. Solche Bemerkungen waren bei ihnen nie ernst gemeint. Als Streitgegenstand blieb das Thema jedoch unerschöpflich. Keiner wollte kleinbürgerlich sein. Manche dachten dabei an das Bibelwort: Wer von euch ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein. Ganz ohne Fehl fühlten sie sich alle nicht, wussten aber auch nicht, wo das anfing und wo es aufhörte mit dem Kleinbürger.
„Mir tut alles weh vom Schippen", klagte Alma. An diesem Abend hatte sie keine Lust zum Lernen. Ermina sah sie verständnislos an. „Wie kann dich so ein bisschen Wehtun vom Lernen abhalten? Du sitzt doch dabei."
Alma löste das aufgesteckte Haar. „Heute will ich kein Heft mehr sehen. Hunger habe ich. Was bist du bloß für ein Mensch, du hast keinen Hunger, dir tut nichts weh. Bist du aus Luft gemacht?" Sie stand im Gegenlicht, die Gesichtszüge flossen ineinander. Beide Arme nach oben gereckt, versuchte sie, eine in einer Klemme verknotete Haarsträhne aufzunesteln. Sie stöhnte. In ihrem Unmut hatte sie sich mit der Klemme ein paar Haare ausgerissen.
Beide schwiegen. Ermina betrachtete die schmutzige Pappe, mit der die unteren Flügel des Fensters zugenagelt waren - nur durch die Oberflügel fiel spärliches Licht -, als gebe es daran etwas Besonderes zu entdecken. Im Winter hatte es hereingeweht und -geschneit, bis sie ein paar Nägel aus den Wänden zogen und den Scheibenersatz befestigten. Noch einen Winter hält die Pappe nicht, dachte sie, als sei das im Augenblick ihre Sorge.
Die zwei älteren, unverheirateten Frauen, Schwestern, bei denen sie wohnten, verkehrten nur erhobenen Hauptes mit ihnen und erklärten, weder neue Pappe noch Nägel zu haben. Sie nahmen es Ihren Untermieterinnen übel, dass der Bürgermeister sie bei ihnen einquartiert hatte. Nur selten sprachen sie mit den Mädchen, und wenn, dann nur, um zu fragen: „Woher stammen Sie doch gleich?" Hatten sie die Antwort erhalten, wiederholten sie verdrießlich: "Bess-ara-bien! Noch nie gehört. Es läuft ja auch so viel fremdes Volk bei uns herum."
Alma und Ermina kümmerten sich wenig um die unzugänglichen Frolleins. Sie machten sich höchstens über deren Stocksteifigkeit lustig und nannten sie unter sich verrostete Beißzangen. Die Miete bezahlten sie am Ersten des Monats, jeder zehn Mark. Von den sechzig Mark Stipendium konnten sie das gut erübrigen. Die paar Lebensmittel auf Marken waren billig, und sonst gab es nichts zu kaufen. Im Winter hatten sie einen Zentner Kohlen zugeteilt bekommen. Eine ganze Woche freuten sie sich auf das warme Zimmer, das sie am Sonntag haben würden. Doch der Ofen zog nicht, als sie heizten, aus der Tür quoll dicker Rauch. Da nahmen sie die schwelenden Briketts wieder aus dem Feuerloch und legten sie im Küchenherd auf, die übrigen Kohlen schenkten sie den Frolleins. Dafür durften sie auch schon mal in der Küche lernen. Sonst saßen sie mit dicker Jacke und Kopftuch im Bett und steckten von Zeit zu Zeit die klammen Finger unter die Decke. f
Es war ein langer Winter gewesen mit strengen Frösten, der früh eingesetzt und bis in den März hinein gedauert hatte. Er musste ja wieder gehen, denn, so sagten sie, die Zeit ist noch nie stehen geblieben, stets kam ein Frühling ... Um so mehr verwunderte Ermina Almas Ausbruch. Versöhnlich sagte sie: „Aus Luft bin ich nicht." Hunger habe ich ebenso wie du, und die Schultern tun auch mir weh.
Alma lag inzwischen im Bett. „Vergiss es, es war nicht so gemeint." Nicht lange, und sie atmete ruhig.
Ermina konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Immer von Neuem durchlebte sie die Szene mit Arno auf dem Trümmerplatz. Sie sah ihn groß und schmal gegen den Himmel stehen, fragte sich, warum der stets kühle Arno erregt gewesen war. Warum stand ich auf einmal vor ihm?
Sie drehte sich von der einen Seite auf die andere und fand keine bequeme Stelle. Die Matratze kam ihr viel härter vor als sonst. Bis in den Schlaf hinein verfolgte Arnos Bild sie. Dann träumte sie von einem schillernden Regenbogen. Wie in der Kindheit stand sie neben der Großmutter und fragte: Was ist hinter dem Regenbogen? Und die Großmutter antwortete: Dahinter liegt Deutschland.
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts waren Erminas Vorfahren aus Württemberg ausgewandert. In dem noch unbesiedelten Bessarabien gab ihnen die russische Regierung Land, das sie urbar machten. Drei Jahrzehnte lang kamen ständig neue Trecks mit Siedlern dorthin, manche legten die große Reise mit dem Schiff auf der Donau zurück. Hohe Abgaben und Armut hatten sie aus dem Schwabenland fortgetrieben. So stand es auch in der Chronik von Reutlingen. Die Großmutter hatte Auszüge daraus besessen - mit der Hand abgeschrieben und an andere weitergereicht -, wo es hieß: „1817: Der Mai war wieder so nass, dass Weinberge rutschten ... Viele Leute verkauften Hausrat und Betten, um sich und ihren Kindern Brot zu kaufen. Die Leute kochten sogar Schnecken und Rossfleisch ... Brot aus Habermehl und Kleienbrot wurden gierig gekauft und oft heiß verschlungen ..."