Deines Nächsten Haus - Holda Schiller - E-Book
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Holda Schiller

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Beschreibung

Nach mehr als fünf Jahrzehnten wird uns durch diesen sich auf Tatsachen stützenden Roman noch einmal die ganze zwiespältige Situation der Rumänien-Deutschen vor Augen geführt. Zwangsweise 1940/41 in den polnischen Warthegau umgesiedelt, werden ihnen dort polnische Bauernhöfe "zugewiesen". Auch Mutter Rebekka Rebe und deren Tochter Malve erhalten zur Bewirtschaftung des „Nächsten Hauses" - Vieh und Feld. Nicht viele wissen heute noch, welche Tragödien von biblischem Ausmaß sich dort ereigneten. Aber hier erzählt eine Autorin über diese Zeit. Über Glück und Schmerz und sie deckt die Widersprüche auf, die zu einer zweifachen Flucht vor den Russen führte und für die Familie Rebe 1945 an der Havel endet. Hier wird Vergangenheit zwischen Bibel und Hakenkreuz, zwischen mitleidendem Menschsein und anmaßendem Herrentum glaubhaft dargestellt. Von allumfassender Liebe getragen, zweifelnd und stark die geschundenen Menschen, erzählt in einer Prosa allerersten Ranges. Ein großes Buch: schlicht und ergreifend.

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Impressum

Holda Schiller

Deines Nächsten Haus

ISBN 978-3-86394-798-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1999 beim Scheffler-Verlag, Herdecke.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

I. Kapitel

Sie hatten einander nichts getan und waren Feinde. An der Mauer stand der Mann, den Rebekka bereits kannte, hatte er doch schon des Öfteren dort gestanden und in den Hof hereingeschaut. Mitte vierzig mochte er sein, so alt vielleicht wie sie selbst, hager war er, blass und finster, herauszufordern schien er. Auch jetzt blieb er verdächtig stumm, wie jedes Mal, wenn er dort stand, nur seine Augen sprachen, und was sie sagten, war Hass, den Rebekka auf sich gerichtet wusste. Stets überkam sie, wenn sie die dunkel grollende Erscheinung wahrnahm, ein Gefühl von Unruhe und Bangigkeit, denn sie glaubte zu wissen, falls sie ihre Ahnung nicht trog, wer er war. Ihre Blicke trafen sich, Rebekka fuhr zusammen. Eine Weile stand sie unentschlossen vor der Haustür und ging dann eilends hinein, wie stets, wenn er dort verharrte, und sie seine Feindschaft spürte.

Im Wohnzimmer trat sie ans Fenster, überlegte, ob sie nicht etwas unternehmen sollte, den Mann, der sie so verunsicherte, vielleicht ansprechen und fragen, was ihn veranlasse, immer wieder an die Mauer ihres Hofes zu kommen und hereinzuspähen, als gelte es, etwas auszukundschaften. Doch gerade weil sie ahnte, was ihn ständig hertrieb, scheute sie davor zurück, ihn zur Rede zu stellen.

Einen Monat schon bewirtschaftete sie diesen Hof. Man hatte sie mit der Tochter Malve vom Umsiedlungslager in Kalisch hierher gebracht, damit sie endlich angesiedelt würde. Das neue Anwesen schien sich ihr jedoch zu versagen, sich ihr nicht zu eigen geben zu wollen, obgleich sie darum kämpfte, überall auf dem Hof, im Garten, auf dem Feld, in den Ställen und der Scheune Hand mit anlegte, um Nähe zu erringen. Vergeblich, sie empfand weder Stolz auf diesen Besitz noch Freude an ihm, sie war zweifelnd geblieben, und alles erschien ihr fremd wie an dem Morgen, als sie ankam. Sie wusste, die Bauernwirtschaft, die ihr als Ausgleich für die in Bessarabien zurückgelassene übergeben worden war, hatte vordem einem polnischen Bauern gehört. Weder die politischen Zusammenhänge noch die geschäftlichen Transaktionen durchschaute sie, glaubte jedoch, unrechtes Gut angenommen zu haben, das nicht gedeihe, auf dem kein Segen ruhe, und empfand Skrupel und Missbehagen, wenn sie an den polnischen Bauern dachte, der seinen Hof wahrscheinlich durch sie verloren hatte.

In der Wohnstube stand Malve vor dem Spiegel und kämmte sich hingebungsvoll die rotbraunen seidigen Locken. "Er steht wieder an der Mauer, der Mann, der Pole", sagte Rebekka.

"Melde es dem Ortsgruppenleiter, und er wird nie wieder dort stehen", antwortete Malve gleichgültig, offenbar ganz mit der Betrachtung ihrer Schönheit befasst.

Entschlossen, dem fremden Mann nun doch zu zeigen, dass sie ihn nicht scheue, dass es keinen Grund für sie gebe, ihn zu fürchten, ging Rebekka schnellen Schrittes hinaus, doch er war inzwischen fortgegangen. Sie sah sich um, trostlos und eng kam ihr der Hof vor, nirgends ein Baum, ein Strauch, auch im Garten nicht, das traurige Grau ein wenig aufzulösen. Sie seufzte, nahm, wie so oft, seit sie hier lebte, in Gedanken Zuflucht zu Mutter Sophie.

Gut, dass dir das erspart geblieben ist. Du wärst krank geworden. Mit siebzig gingst du im Lager von uns: Verpflanzungsnot - Verpflanzungstod.

Im Pferdestall arbeitete der polnische Knecht, kratzte die Streu zusammen und pfiff leise vor sich hin. Rebekka fragte ihn: "Wazek, wer war der Mann, der an der Mauer stand?"

Ohne die Arbeit zu unterbrechen antwortete Wazek: "Ich nicht gesehen Mann. Keine Mann da."

Rebekka winkte ab. "Ach, was frag ich dich überhaupt, du siehst nie etwas, weil du nichts sehen willst."

Auch wenn es schroff klang, sie mochte den polnischen Jungen. Sein flächiges Gesicht belebten muntere, gutmütige blaue Augen. Seit der Ansiedlung war er ihr Knecht, der Ortsgruppenleiter hatte ihn, zusammen mit Wanda, der Magd, gebracht. Neunzehn Jahre alt war Wazek, so alt wie Rebekkas jüngster Sohn Erwin. Vom Stall ging sie zur Futterkammer, um Wanda nach dem Fremden zu fragen, blieb aber mitten auf dem Weg dorthin stehen. Von ihr, der Magd, würde sie ohnehin nichts erfahren.

Mit fremden Leuten muss ich arbeiten, die eigenen Kinder sind im Krieg. Was geht mich der Krieg an, Mutter Sophie? Es ist Deutschlands Krieg, nicht meiner. Ich will keinen Krieg, keine Feindschaft.

Sie hörte, wie Wanda in der Futterkammer, wo der Dämpfer zum Kochen von Schweinekartoffeln und die Holztonnen mit Kleie und Körnern für das Vieh standen, wirtschaftete, die gekochten Kartoffeln voller Ingrimm zerstampfte, in Eimer füllte, Kleie hineinmischte, dann das Futter zu den Schweinen trug und mit leeren Eimern zurückkam. An Rebekka sah sie erhobenen Hauptes vorbei, als sei die nicht vorhanden. Bei Wanda verbot sich jede Annäherung, Freundlichkeiten wies sie wie etwas Ungehöriges zurück. Tochter eines Lehrers, ausgebildet als kaufmännische Angestellte, durfte sie unter deutscher Besatzung ihren Beruf nicht ausüben, durfte nur Magd bei einem deutschen Bauern sein. Während Wazek gerne redete, von seinen Brüdern erzählte, die weit fort ins Innere Deutschlands transportiert worden waren, um in Fabriken zu arbeiten, blieb Wanda verschlossen.

"So weit fort sind Deine Brüder, haben sie das gewollt?", hatte Rebekka einmal gefragt. Er hatte sie verwundert angesehen, energisch den Kopf geschüttelt und geantwortet: "Nein, nein, nicht gewollt. Gemüsst. Geschickt per Order. Wie Wanda und ich zu Pani."

Zwangsweise. Geschickt per Order! dachte Rebekka erbost, als Wanda an ihr vorbeigegangen war, ohne sie zu beachten. Angestrengt schien sie nachzudenken, als wisse sie plötzlich nicht mehr, was sie vorgehabt hatte. Stattlich von Wuchs, ebenso beherzt, sah sie, wie sie so mitten auf dem ihr fremden Hof stand, eher hilflos aus.

Im Jahr 1940 war die deutschstämmige Bevölkerung aus Bessarabien nach Deutschland umgesiedelt worden, und Rebekka hatte im Oktober 1942 im Warthegau diesen Hof bekommen. Das aber brachte sie völlig durcheinander und bereitete ihr täglichen Ärger und tägliche Sorgen. Wer ihr Weltverständnis hatte, Mensch ist Mensch und Recht muss Recht bleiben, konnte ermessen, wie sehr sie gerade dieses für sie so undurchschaubare Angesiedeltsein beschäftigte und verwirrte: Wir sollten doch nach Deutschland umgesiedelt werden. Ist das hier nun Deutschland? Ist es nicht Deutschland? Wenn ja, was machen dann die vielen Polen hier, wenn nicht, warum sind wir dann hier? Warum hat der Pole die so gut gehaltene Wirtschaft abgegeben?

Das Wohnhaus lag an der Ecke, die Längsseite zur Straße, die Giebelfront zu einer schmalen Gasse hin. Quer zum Wohnhaus, im Hintergrund, befanden sich die Scheune und der Geräteschuppen und parallel, dem Wohnhaus gegenüber, die Stallungen. Zur Gasse hin begrenzte die Steinmauer den Hof. Wollte man in den Garten, musste man zur Pforte hinaus und die Gasse überqueren, denn der Garten lag eingezäunt jenseits der Gasse. Rebekka sah sich um. Es schien ihr, als sei selbst der Himmel hier ein anderer als daheim, und als schauten sie das Gemäuer der Gebäude, das Vieh und selbst der Dunghaufen mit Wandas und des fremden Mannes Augen an: feindselig. Auch vier Wochen nach der Ansiedlung hatte sie das Gefühl des Provisoriums nicht überwunden und lebte in dem Wunsch und in der Zuversicht, das Angesiedeltsein möge etwas Vorübergehendes bleiben, so, wie es das Umsiedlungslager gewesen war.

Vor der Futterkammer stand ein weißes Huhn mit schmutzigem Gefieder. Das linke Bein hochgezogen, den Kopf schief ausgereckt, gackerte es lang gezogen. Die stillen gacksigen Töne klangen Rebekka vertraut, so urvertraut, dass sie Wehmut erweckten und einen Schwall von Erinnerungen wachriefen, die sie für Augenblicke entrückten: Sie war mit den Kindern und der Mutter zu Hause im lieblichen Bessarabien, nicht umgesiedelt, nicht angesiedelt, nicht verbannt in diesen Warthegau.

Wazek rief Wanda etwas auf Polnisch zu, Rebekkas Gedanken kehrten zurück in den Warthegau, und sie eilte ins Haus, blieb an diesem Tag aufgebracht und traurig zugleich, trauerte um ihr Bessarabien, wo die Familie noch beisammen war. Hier nun kämpften die drei Söhne an der Front, eine kleine Tochter und die Mutter waren verstorben.

Warum haben sie das Kind sterben lassen in Deutschland, Mutter Sophie? Was ist passiert auf dem Krankentransport und danach? Es ist einsam ohne meine Kinder und ohne dich.

Die überstürzte Umsiedlung nach sich überstürzenden Ereignissen war einer Flucht gleichgekommen. Fast plötzlich hatten sie sich auf die große Reise begeben müssen. Wie ein Regenguss aus heiterem Himmel traf sie der Einmarsch der Roten Armee in Bessarabien im Juni 1940. Hitler und Stalin hatten ihren Pakt geschlossen, wonach Stalin Bessarabien, die Bukowina und Dobrudscha bekam und Hitler die deutschen Bauern, einstmals Siedler aus Deutschland zu Katharinas der Großen und Alexanders I. Zeiten. "Feine Brüder sind mir Stalin und Hitler, teilen die Welt unter sich auf. Stalin bekommt Provinzen im Osten und Hitler bekommt Deutsche, damit er Polen germanisieren kann", sagte Felix Schwabe, der Wasserschöpfer, damals zu Rebekka. Doch sie hatte wenig davon verstanden, es hatten sie auch nicht Hitler und Stalin interessiert, sondern das Los der Familie, wenn sie erst dort, in Deutschland, angekommen sein würden.

Aus Deutschland war die Umsiedlungskommission nach Bessarabien gekommen, hatte mit der russischen Kommission verhandelt, und schon im Oktober waren die Umsiedler aufgebrochen: Auf nach Deutschland! Heim ins Reich, so hieß es.

Ohne sich zu besinnen, hatten die deutschen Bauern in Bessarabien ihre blühenden Wirtschaften aufgegeben und sich umsiedeln lassen. Wo Angst die Gemüter beherrscht, schwinden Bedenken, und Angst vor Sibirien, Angst vor der Kolchose, Angst vor Verschleppung hatte sie um- und fortgetrieben. Zu groß war die Ungewissheit gewesen, als dass sie an ein Bleiben gedacht hätten. Nur eins, fort aus Bessarabien wollten sie.

Beim Antritt der Reise zählte Rebekkas Familie sieben Personen, sie selbst, drei Söhne, zwei Töchter und die Mutter, nach knapp zwei Jahren kam sie nur mit der Tochter Malve in den Warthegau zur Ansiedlung.

II. Kapitel

Rebekka schnitt Brot. Bedächtig. Im linken Arm hielt sie den großen runden Laib, schnitt dicke Scheiben ab und legte jedem eine neben den Teller. Den Blick ein wenig abwesend, wies sie Malve, die alberte, ruhigen Tones zurecht: "Hör auf mit den Kindereien, Malve."

Abendbrot in der Küche. Sie nahmen die Mahlzeiten mit Wanda und Wazek gemeinsam ein, saßen an einem Tisch mit der polnischen Magd und dem polnischen Knecht, was verboten war. An den Kopfenden des für vier Personen zu großen Tisches saßen Rebekka und Malve, an den Seiten Wanda und Wazek. Schweigend aßen sie, nur Malve trieb Unfug, neckte Wazek: "Hast du schon eine Frau?"

Er hatte keine, sie wusste es, sah er doch aus wie ein Milchbart, doch sie stach der Hafer, sie wollte ein wenig Spaß haben: "Nun, hast du eine?"

Wazeks Gesicht lief rot an, von den Augen abwärts, an Kinn und Oberlippe glänzte über der rötlichen Haut der silbrige Flaumbart. Vor lauter Verlegenheit räusperte und verschluckte er sich, kam aber um eine Antwort herum, denn es klopfte an die Tür und Johannes, Malves früherer Vormund, Freund der Familie, der Rebekka in vielen Dingen beistand, trat ein. Er kam aus Claustal, dem Nachbardorf, etwa drei Kilometer von Schöndorf, so hieß Rebekkas neues Dorf, entfernt. Jeden Tag kam er nach Schöndorf herüber, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, je nach Stimmung. Seine Frau war noch vor der Umsiedlung gestorben, seitdem sah er in Rebekka und Malve seine Familie, war er doch nach ihres Mannes Tod der Vormund der Kinder gewesen. Er liebte die Kinder, vor allem Malve, zumal er selbst kinderlos geblieben war.

Mit der Hand auf den Platz neben Wanda weisend, lud Rebekka ihn zum Abendbrot ein, zu Bratkartoffeln, Spiegeleiern und sauren Gurken. Auch Johannes, er konnte ebenso übermütig lustig wie todtraurig sein, begann zu witzeln, als habe er sich mit Malve abgesprochen. Schalkhaft blickte er zu Wanda hin, zog die rechte Schulter hoch, wie stets, wenn er zum Scherzen aufgelegt war und sagte: "O nein, o nein, vor Wanda hab ich Angst, ich setze mich lieber zu Wazek."

Wazek lachte glucksend, Wanda blickte ernst auf ihren Teller und Malve fand zu ihrem Mutwillen zurück: "Nun sag schon, Wazek, hast du eine Frau?"

"Nix Frau, müssen erst werden alte Mann."

Malve lachte laut, zu laut, fand Rebekka, doch das Mädchen hatte Lust, das Abendbrot auf ihre Weise zu beleben: "Ja, erst musst du werden alter Mann, dann kannst du nehmen junge Frau."

Zwischen Johannes, Malve und Wazek herrschte heitere Stimmung, Rebekka ließ sie gewähren und Wandas allzu strenger Ernst schien sich ein wenig zu lockern. Plötzlich hob Rebekka den Kopf und lauschte. Sie hörte Schritte im Flur. Gleich darauf pochte es derb an die Küchentür, die halboffen stand, und noch bevor Rebekka "bitte!" rufen konnte, kam der Ortsgruppenleiter Schulz herein, wünschte laut einen guten Abend und guten Appetit, ließ den Blick über die am Abendbrottisch versammelte kleine Gesellschaft schweifen und sagte mit einer Miene, als habe er sie alle ertappt: "Ja, sieh doch einer an. Die reinste Fraternisierung!"

In SA-Uniform, wie stets, wandte er sich amtlichen Tones an Rebekka, ob er sie sprechen könne, er sei in einer besonderen Angelegenheit hier. Johannes möge sich ruhig mit anhören, was es mitzuteilen gäbe, sagte er, und deutete dann auf Malve mit den Worten: "Die kleine Madam dort kommt auch gleich mit."

Im Wohnzimmer bat Rebekka den Ortsgruppenleiter Platz zu nehmen, indem sie ihm einen Stuhl hinschob. Sie selbst stand an den Türstock gelehnt, als sei sie fremd in diesem Haus, Johannes und Malve blieben betreten in ihrer Nähe stehen. Der Ortsgruppenleiter saß, die Beine weit ausgestreckt, den linken Ellbogen auf den Tisch gestützt. Rebekka fielen die großen klobigen Stiefel auf und der Dolch, der ihm an der Seite am Gürtel hing. "Es ist schade, es ist schade", sagte Schulz bedauernd, "ich wollte Ihnen das Schönste sagen, was man einer deutschen Frau, einer deutschen Mutter, sagen kann, doch nun muss ich Sie tadeln, Frau Rebe."

Gekommen war er, um Rebekka zum Empfang des Mutterkreuzes ins Gemeindehaus einzuladen und musste nun, bedauerlicherweise, wie er betonte, noch einmal über den Umgang der Deutschen mit Polen im Allgemeinen und im Besonderen über den Umgang mit dem polnischen Personal aufklären. "Sie sind die einzige Umsiedlerin, Frau Rebe, die diese Anweisungen vergessen hat", schloss er gekränkt.

"Ich weiß, Herr Ortsgruppenleiter, wir sollen die Mahlzeiten nicht gemeinsam einnehmen. Aber Mensch ist doch Mensch. Und Recht muss Recht bleiben, Wazek und Wanda sind fleißige und ordentliche Leute, wir arbeiten zusammen, da können wir doch auch zusammen..."

Er unterbrach sie: "Sie irren, Frau Rebe, Mensch ist noch lange nicht Mensch, und mit Recht und Pflicht ist es auch nicht so, wie Sie denken, dass es sei. Wir sind Deutsche und haben das Recht, zu befehlen, Ihr Knecht und Ihre Magd sind Polen und haben die Pflicht zu gehorchen. Und Mahlzeit zusammen ist verboten."

Rebekka schwieg, Johannes und Malve schwiegen. Der Ortsgruppenleiter stand auf: "Ich hatte vor, Ihnen Angenehmeres zu sagen, Sie haben mir eine große Freude genommen, Frau Rebe, die Freude, Ihnen schon im Voraus zum Mutterkreuz zu gratulieren. Stattdessen musste ich... nun Sie wissen es ja." Er verabschiedete sich mit Heil Hitler!

In der Küche räumte Wanda das Geschirr zusammen, hantierte mit gezierten Bewegungen, denn sie war, wer sie war: Die Tochter eines Lehrers und kaufmännische Angestellte.

"Geh nach Hause, Wanda, Malve und ich waschen ab."

Die Magd stellte den Teller, den sie gerade in der Hand hielt, auf den Tisch zurück und schritt aufrecht zur Tür, ohne jemanden anzusehen. Kühl wünschte sie einen guten Abend.

"Danke hätte sie wenigstens sagen können", meinte Malve aufgebracht.

"Das musst du verstehen, als Lehrerstochter hat sie Bildung, und sie wird gezwungen, bei uns als Stallmagd zu dienen. Soll sie da nicht verbittert sein?"

Als Rebekka dem Hund an der Kette das Futter brachte, stand Wazek an der Haustür und drückte die Schiffermütze mit beiden Händen. Er habe den Mann an der Mauer schon oft gesehen. Nein, gewiss kein böser Mann... "Is doch Pan Rybarczek!"

Pan Rybarczek sorge sich vor allem um das Pferd Liberté. Das habe dem Sohn gehört und sei nur zum Reiten genutzt worden, Adam, der Sohn, sei im September 1939 in Warschau gefallen und Liberté darum wie... na, wie heilig. Pan Rybarczek fürchte, das Pferd könne zu viel angespannt werden, denn es sei kein Pferd für grobe Arbeiten, nicht für schwere Lasten, eben zum Reiten, nur zum Reiten, Reiten so wie Fliegen, ja, nur für so was. Und Pan Rybarczek, ihm habe alles hier früher gehört, fürchte, das Pferd könne später einmal nicht mehr zum Reiten gut sein...

"Wann später?", fragte Malve herausfordernd.

Wazek errötete, sagte nichts mehr.

Rebekka schüttelte den Kopf. "Das verstehe ich nicht, Wazek. Erst gibt Pan Rybarczek Land, Hof, Vieh und auch dieses Pferd ab, und jetzt sorgt er sich plötzlich darum."

Wazek schwieg eine Weile, sah Rebekka dann offen an und sagte ruhig und fest: "Pan Rybarczek nicht gegeben ab." Er setzte die Mütze auf und folgte Johannes in den Kuhstall.

Beim Geschirrspülen kam Rebekka ins Grübeln: Pan Rybarbarczek nicht gegeben ab. Komisch. Wieso? Was heißt, nicht gegeben ab? Was der Junge daherredete: Pferd zum Reiten wie Fliegen. Ja, Theodor, ihr Mann, der hatte Reiten wie Fliegen gekonnt... Plötzlich überkam sie eine sonderbare Erregung. Sie wollte das "Pferd zum Fliegen" genauer betrachten, warf das Spültuch hin und lief in den Stall. Im Dunkeln den Pferden zuredend, näherte sie sich der Fuchsstute, um die sich Pan Rybarczek angeblich so sorgte, strich ihr über das glatte Fell, spürte das Zittern in den Flanken des Tieres und erschauerte vor Freude. Was für ein Pferd! Eigentlich hatte sie das seit dem ersten Tag gewusst. Die grazile und doch kräftige Gestalt der Stute musste ja ins Auge springen.

Aber dafür interessiert hatte sie sich nicht, ging ihr doch alles auf diesem Hof gegen den Strich. Wohl darum war sie der Stute gegenüber gleichgültig geblieben, auch nachdem Johannes sie darauf aufmerksam gemacht hatte.

Aus dem Kuhstall kamen Johannes und Wazek: "Wenn es vorher geritten wurde, dann müsste auch jetzt jemand reiten, damit es in Übung bleibt", sagte Johannes. "Aber wer soll es tun, die Burschen sind doch im Krieg."

Bei der Erwähnung ihrer Söhne hatte Rebekka einen abenteuerlichen Einfall: Es könne doch nicht schaden, das Pferd in Übung zu halten. Wenn ihre Jungs, Pferdenarren alle drei, so Gott wollte, nach dem Krieg heimkamen, würden sie es leichter haben, hier Fuß zu fassen. Was für eine Freude würde es für sie sein! Plötzlich hatte sie Lust, zuzusehen, wie das Pferd geritten wurde, wollte sie wissen, wie es läuft.

Als ihr Mann, ein begeisterter Reiter, noch lebte, hatte sie oft zugesehen. Damals, wenn er aus reinem Vergnügen abends ausritt, setzte sie sich vor die Haustür und wartete, dass er zurückkäme. Mit erregender Freude lauschte sie den Hufschlägen in der Ferne, wie sie immer näher kamen. Sie kannte den Rhythmus der Hufschläge wie ein Lied, und wusste auch, wie weit Theodor noch entfernt war, und wie lange es noch dauern würde, bis er zum Hof hereingaloppiert kam.

"Ich kann reiten", sagte Wazek strahlend, Rebekka sah ihm an, wie gerne er es tun würde.

"Hol die Stute aus dem Stall, reit durchs Dorf, ums Dorf herum, ich will sehen, wie sie läuft", sagte Rebekka.

"Sehen kannst du ja nun nichts mehr, es dunkelt bereits", wendete Johannes ein.

"Mach lieber das Tor auf, Johannes, wie ein Pferd läuft, kann ich auch hören."

Liberté, längere Zeit nicht aus dem Stall gekommen, wieherte kurz auf, stellte die Ohren hoch, begann unruhig zu tänzeln. Ohne Sattel ritt Wazek zum Tor hinaus, brachte das Pferd draußen in Trab und sprengte davon. Malve hatte sich zu Rebekka und Johannes gesellt, ganz still standen die drei, und lauschten. Erst schallte das Hufegetrappel aus der Nähe zu ihnen, dann wurde es schwächer und verstummte nach und nach. Es dauerte eine Weile, schon wurde Rebekka ungeduldig, da vernahmen sie es von neuem. Wie von einem plötzlichen Zauber berührt, horchte Malve in sich hinein, als höre sie von weither die Stimme des Vaters: Jetzt reiten wir zu den Wolken, galoppieren über die Milchstraße und pflücken einen Stern für Ares, den heften wir ihm an die Stirn, dann hat er eine silberne Blesse. Das sagte er der fünfjährigen Malve, wenn sie vor ihm auf dem Pferd saß und mit ihm in der Dämmerung durch die Steppe ritt.

Auch Rebekka glaubte in den rhythmischen Hufschlägen urvertraute Laute aus einer anderen, lange schon entschwundenen Zeit zu hören, Laute, untergegangen im Trubel der Umsiedlung, des Lagerlebens und der Ansiedlung. "Sag Pan Rybarczek, er braucht sich nicht zu sorgen, er kann auch reiten, wenn er will. Ich habe nichts dagegen, sag ihm das, Wazek. Doch nein, warte, das wird nicht erlaubt sein", besann sie sich. "Dann reitest eben du, Wazek, ja, du kannst jeden Tag reiten", schlug sie vor. Malve, aus ihren Träumen auffahrend, sagte entschlossen: "Nein, ich. Ich werde reiten. Wazek kann mir beibringen, was ich nicht weiß."

Wie ein kleines Feuer begann Rebekkas Unternehmungsgeist zu flackern. Die Lust, etwas zu wollen, wie lange hatte sie das nicht mehr gehabt. Im Umsiedlungslager hatte sich jedes Wollen von selbst verboten, es wurde bestimmt, was zu tun war. "Sie werden in ein anderes Lager verlegt." "Warum?" "Wissen wir auch nicht. Kommt von oben. Befehl ist Befehl." Hoffen. Warten. Warten. Hoffen. Wie ein versandeter Fluss war sie sich oft vorgekommen. Dieser entsetzlich lange Weg von Bessarabien nach Deutschland, fast zwei Jahre! All die Prozeduren. Untersuchung auf Krätze, auf Geschlechtskrankheit, auf Tuberkulose auf Trachom. Entlausung. Quarantäne. Befragung: Haben Sie nichtarische Vorfahren? Sie wusste es nicht, kannte nicht einmal das Wort. Und nun, unerwartet, am späten Tag spürte sie Aufwind durch ein Pferd, verband sie alle Hoffnung mit dessen Existenz. Sie streichelte Libertés weißen Stirnfleck, sprach laut und aufgeregt: "Wazek, sag Pan Rybarczek, er braucht sich nicht zu sorgen um Liberté, es geht ihr gut, sag ihm das..."

Endlich durfte das Pferd zurück in den Stall.

In der Stube legte sich Rebekkas Euphorie. Es fiel ihr der Ortsgruppenleiter Schulz wieder ein, die groben Stiefel und der Dolch, wie konnte er so herumlaufen. Und wieso bestimmte er, mit wem sie bei Tisch saß? Wazek und Wanda arbeiteten gut, benahmen sich anständig, warum sollte sie nicht die Mahlzeiten mit ihnen einnehmen dürfen? Gleich fiel ihr auch Wazeks Satz wieder ein: Pan Rybarczek nicht gegeben ab? Ja, was dann?

Johannes saß am Tisch, Rebekka stand, die Arme verschränkt, mit dem Rücken an den Ofen gelehnt. "Weißt du, Johannes, was hier am meisten an mir nagt? Dass ich nichts durchschaue, nichts so recht begreife. Der Ortsgruppenleiter Schulz, dann dieser Pan Rybarczek, nichts passt zusammen. Sie haben ihm die Wirtschaft doch gewiss nicht weggenommen. Wazek und Wanda 'gemüsst', geschickt per Order. Bei uns lebten viele Nationen, und die Gesetze waren für alle gleich."

Vom Ofen aus guckte sie durchs Fenster auf das Haus jenseits der Straße. Der Mond erhellte das Zimmer, ein unwirkliches, sanftes und doch beinahe geisterhaftes Licht fiel auf die Dinge im Raum. "Die da drüben heißen Kupecki, sind Polen", sagte sie nach einer Weile.

Das Haus der Kupeckis stand mit dem Giebel zur Straße und zur hinteren Längsfront ihres, Rebekkas, Hauses. Wäre nicht die hier übliche hohe Steinmauer gewesen, sie hätte durchs Fenster weit in den Hof der Kupeckis hineinsehen können. Es musste eine gut gehende Wirtschaft sein. Der Mann, die Frau und zwei Töchter rumorten und arbeiteten oft bis in die Nacht hinein.

In der ersten Woche ihrer Ansiedlung backte Rebekka einen Kuchen und ging damit hinüber zu Kupeckis. Dein Nachbar ist dir so wert wie dein Bruder, du brauchst ihn, er braucht dich. Machen wir uns bekannt, dachte sie. Als sie im Flur der Leute stand, Malve hatte nicht mitkommen wollen, was Rebekka bedauerte, sie glaubte, sie entschuldigen zu müssen, als sie im Flur der Kupeckis stand und die Hoffnung auf eine gute Nachbarschaft aussprach, zeigten die sich verwirrt. Das Verbot, mit Polen zu verkehren, hatte Rebekka bis dahin nicht ernst genommen, es auch in der Schärfe, in der es bei Nichtbeachtung manchmal geahndet wurde, nicht gekannt. Der Rede des Ortsgruppenleiters am Morgen ihrer Ansiedlung, als sie vom Umsiedlungslager in Kalisch hier ankamen, hatte sie vor Übermüdung, vor Trauer nicht recht folgen können, war es doch ein Trommelfeuer patriotischer Belehrung gewesen. So kam es, dass sie mit Kuchen zu Kupeckis gegangen war, um für gute Nachbarschaft zu werben. Die Kupeckis wussten anscheinend nicht, wie sie sich verhalten sollen, zeigten sich eher bestürzt. Kannte die Frau die eigenen Gesetze nicht? Was wollte sie? Sie versuchten, ihr zu erklären, dass sie wahrscheinlich bald andere Nachbarn haben werde. "Nicht mehr lange gehören unsere Land und die Haus unser. Müssen gehen wie Pan Rybarczek..."

Rebekka spürte die Unruhe der polnischen Nachbarn, legte den Kuchen, sich verneigend, in Frau Kupezkis Hände, grüßte und ging.

Inzwischen waren drei weitere Wochen vergangen. "Ich kenne mich hier nicht aus, Johannes."

"Ich auch nicht", sagte Johannes.

Rebekka dachte an das Heimatdorf, wo sie eine geachtete Frau gewesen war, die ihre Wirtschaft in Ordnung hielt, die Kinder gut erzog und in Gemeindeangelegenheiten mitreden konnte, auch wenn Johannes, als der Vormund ihrer Kinder, ihre Interessen vertrat, denn Gemeindesache war Männersache gewesen. Dort hatte das Leben ein Maß gehabt, das sie gekannt und akzeptiert hatte, und hier begriff sie nichts.

Im Dämmerschein der Stube, diesem irrealen Licht, ging sie jetzt auf und ab, dachte an Jakob, ihren Schwager, diesen seltsamen Kauz mit seinem Standardsatz: Die Welt ist voller Ohnmacht, und alles wiederholt sich in der Menschheit.

Manchmal kehrte er den Satz um, setzte Ursache für Wirkung: Alles wiederholt sich in der Menschheit, und die Welt ist voller Ohnmacht. Krieg, Umsiedlung, Auswanderung, Einwanderung, Flucht und Vertreibung ganzer Völkerschaften von biblischen Zeiten an bis auf den heutigen Tag gaben ihm Recht.

Am Tisch neben Johannes blieb Rebekka stehen. "Ich möchte wissen, ob hier Deutschland ist, und wenn ja, warum Deutschland in Polen liegt? Warum sie uns hier angesiedelt haben?"

"Wieso fragst du mich?"

"Siehst du, Johannes, das ist es, wir wissen alle nichts.

Darum können sie uns auch was vormachen: der Ortsgruppenleiter Schulz, der Ortsbauernführer Burghof, der Siedlungshelfer Hiller, die Frau von der NSV, Pan Rybarczek auch, sogar Wanda und Wazek, alle wissen besser Bescheid als wir."

Zwölf größere Bauernwirtschaften gab es in Schöndorf, außerdem das Gut, das jetzt einem Bessarabier gehörte, dem Meyerbeer. Neun Höfe bewirtschafteten Umsiedler aus Bessarabien und anderen Gegenden, zwei Betriebe gehörten einheimischen deutschen Bauern und ein Hof gehörte einer polnischen Familie, den Kupezkis drüben. Vor 1941 besaßen polnische Bauern die Höfe der jetzigen Siedler, so, wie Pan Rybarczek Rebekkas Anwesen besessen hatte.

Sie stand wieder an den Ofen gelehnt, die Handflächen an die Kacheln gepresst. Im Mondlicht schimmerte ihr Gesicht wie ein Oval aus Perlmutt, aus dem ihre Augen dunkel leuchteten. Sie hatte große braune Augen und einen sanften Blick, der, seit dem Tod der kleinen Tochter Mathiola, stets ein wenig in die Ferne gerichtet war. Johannes mochte diese Augen, er mochte diese Frau. Sie litt, und das machte auch ihn leiden. "Hör auf, mich zu plagen. Es geht mir nicht besser als dir. Nachts wach ich auf und weiß nicht, wie ich in das Zimmer geraten bin, in dem ich schlafe, und wenn ich erst dahinter komme, dass ich im Warthegau und nicht zu Hause bin, möcht ich sterben. Oft träume ich von meinen Pferden, von unserem Dorf. So ein Traum von meinen Pferden und unserem Dorf wird mich noch mal umbringen."

Im dämmrigen Gegenlicht wirkte seine Gestalt wie der Schatten eines Berges. Sein Wesen aber war weich, er neigte zu Schwermut, sagte von sich selbst, er funktioniere wie der Mond, habe dunkle und helle Phasen. Allerdings trete der Phasenwechsel bei ihm nicht gesetzmäßig auf, wie beim Mond, sondern plötzlich und oft ohne jeden Grund.

Malve kam herein, schaltete Licht ein, sah Johannes an, dann Rebekka, schüttelte den Kopf: "Wie langweilig, ich gehe wieder."

Nähen zu müssen, gab sie vor, in Wahrheit wollte sie allein sein. Sie hatte mit der Sehnsucht zu ringen, auch hätscheln wollte sie das bittersüße Gefühl. Wo kam es bloß her? Mal raufte sie mit ihm, mal überließ sie sich ihm ganz. Wie die Blüte der Ackerwinde vom Morgenlicht berührt sich öffnet, so hatte sich ihr Herz für Liebe aufgeschlossen, doch es gab keinen, den sie hätte lieben können. Sie träumte. Seit dem Tag, da jener Uwe, der Bruder der Kindergärtnerin Resi, aus Neugierde ins Umsiedlungslager gekommen war, die Kinder zu sehen, die seine Schwester betreute, träumte Malve den Traum vom reichsdeutschen Bräutigam. Während jener Uwe eine Dreijährige neckte und an den Zöpfen zog, hatte er ihr, Malve, in die Augen geschaut und gesagt: "Du bist ein sehr schönes Mädchen."

Malve, mit knapp fünfzehn, erwachsen genug und auch noch Kind genug, sich eine Illusion zu bauen, tat es: Ein Reichsdeutscher wird kommen... Eines Tages würde er kommen, der reichsdeutsche Bräutigam, würde aussehen wie jener Uwe oder auch wie Herr Engelmann von der Umsiedlungskommission. Sie hatten so blonde Haare, so blaue Augen, so weiße Zähne, dass man ihnen vertrauensvoll folgte, wie Mathiola dem Herrn Engelmann gefolgt war. Er würde also ein schöner Mann sein, der reichsdeutsche Bräutigam und ein guter. Er würde sie, Malve, in eine Stadt mit hohen Türmen bringen, wo er Tauben züchtete, wie Onkel Johannes früher.

III. Kapitel

Johannes war gegangen, Malve schlief. Sie, Rebekka, wanderte auf und ab im dunklen Zimmer, spürte kein zuversichtliches Hoffen wie früher. Ein taubes Gefühl im Kopf und ein Druck darin hinderten sie, die Gedanken zu sammeln. Beide Hände aufs Fensterbrett gestützt, guckte sie hinaus in die dunkle Nacht, die sich wie eine schwarze Wand hinter den Scheiben aufbaute.

Wie mich das grämt, Mutter Sophie, dass ich kein Zuhause finde hier, für mich nicht und für meine Kinder nicht. Ich sitze auf einem fremden Hof! Oder nicht? Warum sagt Wazek, dieser Grünschnabel: 'Pan Rybarczek nicht gegeben ab?' Was heißt das? Wir sind nicht glücklich in Deutschland, Mutter Sophie?

In den fünf geräumigen Zimmern des Hauses wohnte Rebekka mit Malve allein und wurde nicht fertig mit der Leere, mit der Fremde im Haus. Wo gingen Wanda und Wazek nach Feierabend hin? Schon immer hatte sie Wazek das fragen wollen, es aber stets wieder vergessen.

Das Fenster stand halboffen. Rebekka schlief im Eckzimmer, wo ein Fenster zur Gasse, das andere zur Straße ging. Durch das eine konnte sie in den Garten, durch das andere zu Kupeckis hinüber schauen. Ein frischer Luftstrom von draußen wehte ihr den Duft von Winterastern zu, vielleicht auch bildete sie sich das nur ein. Eilends schloss sie das Fenster zur Gasse. Nicht den Duft von Winterastern, nicht jetzt!

Weil sie fror, holte sie eine Strickjacke aus dem Schrank, zog sie aber nicht an, warf sie auf den Stuhl. Auf dem Bett sitzend, die Hände im Schoß zusammengelegt, sah sie in Gedanken die noch warme Grude, den Graupeneintopf auf dem Herd, die Sauermilch im Tonkrug. So verlässt keiner sein Haus, wenn er auszieht, wenn er freiwillig geht. Alles hat seine Richtigkeit, hatte Schulz versichert. Warum dann, wenn es sich so verhielt, kam dieser Pan Rybarczek, der frühere Besitzer, ständig an die Mauer und guckte wie ein Spion in den Hof? Pan Rybarczek nicht gegeben ab. Das Angesiedeltsein, sie hatte es sich erlösender vorgestellt, doch es erwies sich als verworren und nicht besser als das Umgesiedeltsein. Im Umsiedlungslager war ihr größter Wunsch gewesen, endlich wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Jetzt, wo sie angesiedelt war, eine gute Wirtschaft bekommen hatte, ertappte sie sich immer wieder bei Fluchtgedanken: Könnte ich doch fort von diesem Warthegau.

Vor vier Wochen war sie mit Malve im Morgengrauen hier angekommen - von Kalisch her aus dem Umsiedlungslager mit dem Lastwagen. Jener Tag, der Tag der Ansiedlung, war für sie denkwürdig gewesen, sie durfte, sie wollte ihn nicht vergessen: Ankunft auf dem neuen Hof ohne Mutter Sophie, die war im Umsiedlungslager gestorben; ohne Mathiola, die war mit dem Krankentransport nach Deutschland gekommen und in einem Krüppelheim verschieden; ohne die drei Söhne, alle drei standen im Feld, an der Front. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, zu ihrem, Rebekkas, Kummer, doch wie auch immer: Die armen Teufel hatten sich auf Deutschland gefreut, jetzt waren sie in Russland.

Als Rebekka und Malve mit dem Lastwagen von Kalisch her im Morgengrauen auf dem neuen Hof ankamen, waren beide erschöpft von der anstrengenden Fahrt in der Nacht. Vor Aufregung benommen, kämpfte Rebekka an gegen ein Gefühl des Gespaltenseins, das Empfinden, doppelt vorhanden zu sein, sich selber zuzuschauen, wie sie mit Malve Bündel und Kisten ablädt und in den Flur des Hauses trägt. Dann standen sie im Flur zwischen den paar Habseligkeiten, die Hände vor dem Bauch gefaltet, wie in der Kirche, und der Mann, der sie in Empfang genommen hatte, der Ortsgruppenleiter, redete. Erst mühte sich Rebekka, seinen Worten zu folgen, langsam aber erlahmte die Aufmerksamkeit. Über Führerliebe und Führertreue, über Pflicht und Opferbereitschaft hatte sie den Lagerführer bei der Verabschiedung aus dem Lager dasselbe sagen hören, sie wollte und konnte nicht mehr. Sich verweigern, wenn man sich nicht wehren kann, Rebekka tat es, dachte an ihre Kinder. Der Winter kommt, die Jungs an der Front brauchen warme Sachen, Handschuhe und Socken, vielleicht gibt es Bezugscheine für Wolle...

Nachdem der Ortsgruppenleiter seine Rede beendet hatte, überreichte er ein Geschenk: das Führerbild. "Willkommen daheim!" Es folgten die praktischen Hinweise im Umgang mit dem polnischen Gesinde: Keine gemeinsamen Mahlzeiten.

Nervös trat Malve von einem Bein aufs andere, ihre Gedanken wirbelten hoch wie aufgescheuchte Sperlinge: Hier bleib ich nicht! Hier bleib ich nicht!

Rebekka aber, das Führerbild in der Hand, dachte langsam und schwer: Nun sind wir also endlich angesiedelt.

Zunächst hatten sie Scheu gehabt, in die Zimmer zu schauen. Eine Tür stand offen und der Ortsgruppenleiter ging darauf zu, seine Stiefel polterten. Etwas unschlüssig folgte Rebekka, hinter ihr Malve. Sie kamen in die Küche, wo ihnen die wohlige Wärme der Grude entgegenschlug. Auf dem Herd stand ein Gusskessel mit dem Rest eines Eintopfs, auf der Herdplatte ein Tonkrug voll Sauermilch, zugedeckt mit einer Untertasse. Der Ortsgruppenleiter guckte in den Krug und den Kessel und sagte angewidert: "Diese Schweine haben das Fressen einfach auf dem Herd stehen lassen."

Eilig verließ Rebekka die Küche, Malve blickte gereizt um sich, fragte: "Was ist denn nun los?"

"Falls Sie nicht zurechtkommen mit irgendwas, geben Sie Bescheid, ich bin auf dem Hof", sagte der Ortsgruppenleiter.

Im krassen Gegensatz zur Ordnung in der Küche, herrschte in den übrigen Räumen ein wüstes Durcheinander. In dem noch trüben Licht des neuen Tages sahen sie umgekippte Stühle, herumgeworfene Decken und Kissen, aufgerissene Schränke, herausgezogene Schubladen. Sie traten auf Scherben einer zerschlagenen Vase, auf weiße Briefpapierblätter, auf die Glasperlen einer zerrissenen Kette. Und unter all dem Chaos leuchtete neben dem Fenster auf der Blumenbank ein üppig blühender Christusdorn. Die Zartheit der rot schimmernden Blüten mitten im Durcheinander traf Rebekka unverhofft. Sie fuhr zurück, überlegte kurz, lief dann hinaus zum Ortsgruppenleiter Schulz, erklärte, es müsse ein Missverständnis vorliegen, so viele fremde Sachen lägen noch herum, das Haus sei nicht geräumt.

Der Ortsgruppenleiter, ein Bein auf die Schubkarre gesetzt, rauchte, guckte zur Haustür hin und blies blaue Ringe in die Luft. Rebekkas Aufgeregtheit schien ihn zu belustigen. Vertraulich klopfte er ihr auf die Schulter, lachte und meinte: "Aber, aber, eine deutsche Frau ist doch nicht so schreckhaft."

Sie wartete, dass er noch etwas sage, vielleicht, dass er sich geirrt habe, dass dies gar nicht die freie Wirtschaft sei, auf der sie angesiedelt werden sollte, oder dass die Leute es nicht geschafft hätten, ihre Sachen mitzunehmen. Doch es blieb dabei. Der Ortsgruppenleiter warf den Zigarettenstummel in hohem Bogen fort, straffte sich und erklärte: "Es ist alles in Ordnung, Frau Rebe. Ab heute ist das Ihr Hof mit allem, was sie darauf vorfinden. Gehen wir noch zum Vieh."

Rebekka folgte ihm durch die Ställe, vier Kühe, drei Pferde, Schafe, Geflügel, Bienen, alles verzeichnet und dokumentiert in den Überschreibungspapieren, ausgefertigt auf ihren Namen, sie, Rebekka, nahm es nur flüchtig, ohne Empfindung hin.

In der schlaflosen Nacht, wo Dunkelheit und Stille durcheinander dröhnten, hatte Rebekka jeden Augenblick ihrer unheilvollen Ansiedlung wieder vor Augen.

Als der Ortsgruppenleiter gegangen war, beruhigte sie sich und dachte: Es wird stimmen, dass es seine Ordnung hat, er lügt mich doch nicht an. Doch zu zweifeln hatte sie nie aufgehört, und heute nun hatte sich ihr Argwohn bestätigt, wie sie fast triumphierend feststellte: Pan Rybarczek nicht gegeben ab! Na also, das hatte sie doch geahnt, daher das Misstrauen, ihr Desinteresse. Wie aber verhielt es sich wirklich? War der Pole zum Verkauf gezwungen worden?

Am Morgen der Ansiedlung hatten Rebekka und Malve erst keine Lust, etwas anzusehen oder anzufassen. Im Flur saßen sie im Mantel auf dem Gepäck und schwiegen, das Führerbild stand in der Ecke. Sie brauchten die Sammlung, um zu ordnen, was bisher auf sie eingestürmt war. Ein zweites Mal kam der Ortsgruppenleiter und brachte Wanda, die stolze und schöne Wanda, und Wazek, diesen freundlichen Jungen. Mit dem Pferdewagen fuhren sie aufs Feld, damit Rebekka ihre Äcker in Augenschein nähme. Wazek solle sich die Feldgrenzen merken, sagte Schulz, worauf Wazek souverän antwortete: "Ich das alles wissen."

Das Winterkorn ruhte schon im Saatbett, Kartoffeln, Zucker- und Futterrüben waren noch zu ernten. Frisch und üppig grünten die Rübenblätter, ein dunkles Leuchten ging von ihnen aus, während die vor kurzem bestellten Felder schwarz daneben lagen, wie in herbstlicher Trauer.

Vom Feld heimgekehrt, klagte Malve wütend, sie könne nun nicht mehr vor Hunger und Durst und Müdigkeit und Kälte und vor übler Laune, sie wolle zurück ins Lager.

Rebekka schickte Wanda und Wazek nach Hause, sie sollten Tags darauf wiederkommen. Sie schob Malve in die warme Küche, holte die Wegzehrung hervor, die sie in Kalisch bekommen hatten, legte die Schnitten auf den Tisch und griff nach dem Eimer. Im Stall hatten die Kühe pralle Euter. Wie oft hatte sie sich im Lager gewünscht: Einmal nur wieder eine Kuh melken, hören, wie die Milch in den Eimer rauscht. Jetzt saß sie auf dem Melkschemel, drückte die Stirn an den warmen weichen Leib der Kuh, hörte, wie die Milch in den Eimer rauschte, spürte den feuchtwarmen Dampf im Gesicht, der dem Gefäß entstieg und dachte: Ach, wie gut das ist.

Jetzt, in der Nacht, wo Rebekka nicht schlafen konnte und wieder einmal die Ansiedlung nacherlebte, wie stets, wenn der Schlaf sie mied, fielen ihr ständig neue Einzelheiten dieses ersten Tages ein.

Sie öffnete das Fenster zur Straße, schloss es aber gleich wieder. Plötzlich störte sie die Stille der Nacht.

Die ersten vier Wochen auf dem neuen Hof waren vergangen. Malve, obwohl jung, hatte nicht die zartesten Wurzeln geschlagen, wollte immer noch lieber ins Lager zurück als hier versauern, und sie, Rebekka, wusste selbst nicht recht, was sie wollte. Sie gab zu, es war besser als im Umsiedlungslager, sie hatten wieder ein Zuhause, aber die vielen Unwägbarkeiten nahmen ihr die Seelenruhe. Die Tage reihten sich aneinander, sie arbeitete, erntete Kartoffeln und Rüben, lieferte ab, was abzuliefern war an Getreide, Milch und Fleisch sowie Hackfrüchten, erfüllte das Soll. Doch es fehlte die Hingabe. Sie entdeckte, dass sich nicht etwa nur die neue Wirtschaft gegen Inbesitznahme durch sie, Rebekka, sperrte, sondern dass auch sie selbst sich widersetzte, dass sie nur mit innerer Abwehr an den Hof, die Felder, das Vieh herantrat, dass sie sich einerseits anstrengte, mit der neuen Umgebung eine Art Familiarität herzustellen, andererseits aber alles in ihr dagegen rebellierte.

Die NSV-Schwester brachte Bezugscheine für Bettwäsche, der Ortsbauernführer Burghof suchte sie auf, um sie zu beraten, wie Kunstdünger anzuwenden sei, was sie von zu Hause, wo die Felder nicht gedüngt wurden, nicht kannte, der Siedlungshelfer wollte sich einmal umsehen. Wenn die Leute kamen, steckte Rebekka irgendwo, im Stall, in der Scheune, auf dem Boden, so dass Malve sie stets erst suchen musste. Fragten sie, ob sie zufrieden sei, antwortete sie trocken: "Ja, ich bin zufrieden."

In Wahrheit war sie höchst unzufrieden und voller Zweifel, mal räsonierte, mal nörgelte sie, gab dem Tag jedoch, was des Tages ist, lenkte Arbeit doch am besten ab. Dagegen fehlte ihr in den Nächten jeder Schutz, quälten sie nicht nur Heimweh und Sehnsucht nach den Kindern, sondern auch der Gedanke, sie habe einen Hof angenommen, der einem anderen gehörte.

Selbst wenn Rebekka einschlief, war sie von quälenden Gedanken nicht befreit, träumte sie vom aufrührerischen Chaos der Ansiedlung. Wie sie auf schneeweiße Papierblätter tritt, sie beschmutzt, wie die Glasperlen unter ihren Sohlen knirschen, die Schubladen herausgezogen, die Stühle umgeworfen sind. Am Ende dann doch jedes Mal eine Art Erlösung: Aus dem Durcheinander wächst der Christusdorn, seine leuchtenden roten Blüten strahlen warmes Licht aus. Die Taube bringt den Ölzweig, denkt Rebekka im Traum, und sie findet einen Weg, der ins Licht führt. Mit Malve an der Hand, die im Traum Kind ist, schlägt sie diesen Weg ein, ohne jedoch auch die Ankunft an einem Ziel zu träumen.

Während sich Rebekka in dieser für sie langen Nacht im Dunkeln den Kopf zerbrach, ob es rechtmäßig sei, dass sie die ihr übergebene Wirtschaft besitze, wurde ihr bewusst: Freiwillig hatte Pan Rybarczek den Deutschen seinen Hof nicht überlassen. Warum aber hat er die Möbel, das Geschirr, den Hausrat nicht mitgenommen? Wie im Märchen vom Schneewittchen kam sie sich vor. Der Stuhl, auf dem sie saß, der Teller, von dem sie aß, das Bett in dem sie schlief, gehörten Pan Rybarczek.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.