5,99 €
Dies ist die Geschichte von Ted, der mit seiner Tochter Lauren und der Katze Olivia in einem gewöhnlichen Haus am Ende einer gewöhnlichen Straße lebt. Lulu, die kleine Schwester von Dee, ist vor Jahren auf mysteriöse Weise verschwunden. Man glaubt, dass sie ermordet wurde. Als Hauptverdächtiger galt damals der Einzelgänger Ted – ein eigenartiger Mann, der an einer Entwicklungsstörung leidet. Die Anschuldigung eines solch abscheulichen Verbrechens haben sich zudem äußerst nachteilig auf sein Leben ausgewirkt. Dee ist inzwischen erwachsen, aber immer noch fest entschlossen herauszufinden, was Lulu angetan wurde. Deshalb mietet sie ein Haus in der Needless Street und beobachtet das merkwürdige Treiben des Mannes aus der Sicherheit ihres neuen Zuhauses. Als ein Nachbar verschwindet und sich weitere seltsame Dinge ereignen, fällt der Verdacht erneut auf Ted … Kann Dee das Monster endlich demaskieren? Ein höllisch gut geschriebenes Psycho-Puzzle. Du glaubst du weißt, was im letzten Haus in der Needless Street passiert? Tja, du liegst auf jeden Fall falsch. Stephen King: »Das ganze Lob über THE LAST HOUSE ON NEEDLESS STREET ist nicht übertrieben. Der Roman hat mich umgehauen. Ein wahrer Nervenzerfetzer, der seine grandiosen Geheimnisse bis zum Ende bewahrt. Seit GONE GIRL habe ich so was Aufregendes nicht mehr gelesen.« Alex North: »Ein Meisterwerk. Faszinierend und herzzerreißend. Einer der stärksten und am besten geschriebenen Romane der letzten Jahre.« Joanne Harris: »Bücher wie diese erscheinen nicht allzu oft. Ein raffinierter, gut geschriebener, stilsicherer Psychothriller ... mit einer perfekt strukturierten Handlung und einem perfekt befriedigenden WAAAS am Ende. Ich würde gern sagen, ich habe das Buch in einem Zug eingeatmet, aber ich glaube, ich war zu beschäftigt damit, den Atem anzuhalten.« Joe Hill: »Ein kaltes, wunderschönes Meisterwerk. Ich bin absolut begeistert.« Der Verlag: Liebe Rezensenten, Spoiler müssen bitte vermieden werden!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2021
Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper
Impressum
Die englische OriginalausgabeThe Last House on Needless Street
erschien 2021 im Verlag Viper.
Copyright © 2021 by Catriona Ward
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Joern Rauser
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-951-0
www.Festa-Verlag.de
Für meinen Neffen
River Emanuel Ward Enoch,
der am 14. August 2020 geboren wurde
Ted Bannerman
Heute ist der Jahrestag von Kleines Mädchen mit Eis am Stiel. Es passierte am See, vor zehn Jahren – erst war sie da und dann nicht mehr. Es ist also ein schlimmer Tag, an dem ich entdecken muss, dass ein Mörder unter uns ist.
Gleich als Erstes landet Olivia schwer auf meinem Bauch. Wie gewohnt gibt sie schrille Laute von sich. Falls es etwas Besseres gibt als eine Katze auf dem Bett, weiß ich es nicht. Ich beschäftige mich mit ihr, denn wenn Lauren nachher kommt, wird sie verschwinden. Meine Tochter und meine Katze können nicht zusammen im gleichen Raum sein.
»Ich bin wach!«, sage ich. »Du bist dran mit Frühstückmachen.« Mit diesen gelbgrünen Augen blickt mich Olivia an, dann trottet sie davon. Sie findet einen kreisrunden Flecken Sonne, wirft sich hinein und blinzelt in meine Richtung. Katzen verstehen keine Witze.
Ich hole die Zeitung von der Treppe. Ich mag die Lokalausgabe, sie hat nämlich einen Meldeservice für seltene Vögel – man kann hinschreiben, wenn man einen besonderen sichtet, z. B. einen Goldspecht oder eine Bergbraunelle. Selbst so früh ist die dämmrige Luft schon so warm wie Suppe. Die Straße scheint noch ruhiger als sonst. Gedämpft, als würde sie sich erinnern.
Als ich auf die erste Seite schaue, krampft sich mir der Magen zusammen. Da ist sie. Ich hatte vergessen, dass es heute war. Ich achte nicht besonders auf die Zeit.
Sie verwenden immer das gleiche Foto. Ihre Augen sind groß im Schatten ihrer Hutkrempe, die Finger umklammern den Stiel, als glaubte sie, jemand könnte ihr das Eis wegnehmen. Ihr Haar klebt nass und glänzend an ihrem Schädel, so kurz wie das eines Jungen. Sie war gerade schwimmen, aber niemand hat sie in ein flauschiges Handtuch gewickelt, um sie zu trocknen. Das gefällt mir nicht. Sie hätte sich erkälten können. Das andere Foto drucken sie nicht, das von mir. Dafür haben sie eine Menge Ärger bekommen. Aber nicht genug, wenn Sie mich fragen.
Sie war sechs. Alle waren entsetzt. Damit haben wir ein Problem hier bei uns in der Gegend, vor allem am See, deswegen ist alles ganz schnell gegangen. Die Polizei durchsuchte das Haus von jedem hier im County, der Kindern vielleicht schon mal wehgetan hat.
Mir wurde nicht erlaubt, drinnen zu bleiben, während sie das Haus durchsuchten, also stand ich draußen auf der Treppe. Es war Sommer, hell und heiß wie die Oberfläche eines Sterns. Meine Haut verbrannte langsam, während der Nachmittag verging. Ich hörte, wie sie den hässlichen blauen Teppich im Wohnzimmer zurückschoben, die Dielen aufrissen und ein Loch in die Wand hinter meinem Schrank schlugen, weil sie fanden, sie klang hohl. Hunde machten sich in meinem Garten zu schaffen, in meinem Schlafzimmer, einfach überall. Ich wusste, was für Hunde das waren. Sie hatten die weißen Bäume des Todes in ihren Augen. Ein dünner Mann mit einer Kamera kam und machte Fotos, während ich dastand. Mir kam gar nicht in den Sinn, ihn aufzuhalten.
»Keine Bilder, keine Story«, sagte er, als er ging. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber er winkte mir freundlich zum Abschied, also winkte ich zurück.
»Was ist denn, Mr. Bannerman?« Die Polizistin sah wie ein Opossum aus. Sehr, sehr müde.
»Nichts.« Ich zitterte. Musst ruhig bleiben, Little Teddy. Meine Zähne klapperten leise, als wäre mir kalt, dabei war mir so heiß.
»Sie haben meinen Namen gerufen. Und das Wort ›grün‹, glaube ich.«
»Ich muss an diese Geschichte gedacht haben, die ich mir ausgedacht habe, als ich klein war, über die verschwundenen Jungen, die sich in grüne Dinge verwandelt haben, am See.« Sie bedachte mich mit einem Blick. Ich kannte ihn gut. Ich bekomme diesen Blick andauernd zu sehen. Ich hielt mich am Stamm der kleinen Eiche in meinem Vorgarten fest. Der Baum hat mir seine Kraft geliehen. Gab es etwas zu erzählen? Falls ja, so musste es gerade so über dem Rand meiner Gedanken geschwebt haben.
»Mr. Bannerman, ist dies Ihr einziger Wohnsitz? Kein anderes Eigentum hier in der Gegend? Keine Jagdhütte, nichts in der Art?« Sie wischte sich Schweiß von der Oberlippe. Kummer lastete auf ihr wie ein Amboss auf dem Rücken.
»Nein«, sagte ich. »Nein, nein, nein.« Sie würde das mit dem Nest am Wochenende sowieso nicht verstehen.
Die Polizei ist dann schließlich wieder gegangen. Sie mussten auch, denn ich war den ganzen Nachmittag am 7-Eleven gewesen, und das konnte jeder bestätigen. Das Band der Überwachungskamera zeigte es. Was ich da früher gemacht habe, war: Ich saß draußen auf dem Gehweg neben den Schiebetüren. Wenn sie sich mit einem Zischen öffneten und Leute mit einem Stoß kalter Luft entließen, bat ich um Süßigkeiten. Manchmal, wenn sie welche hatten, gaben sie mir davon ab, und manchmal kauften sie mir auch welche. Mommy hätte sich geschämt, hätte sie davon gewusst, aber ich liebte Süßigkeiten so sehr. Ich war nie in die Nähe des Sees oder von Kleines Mädchen mit Eis am Stiel gegangen.
Als sie endlich fertig waren und mich wieder ins Haus ließen, konnte ich sie überall riechen. Spuren von Kölnischwasser, Schweiß, Gummi und Chemikalien. Mich ärgerte, dass sie meine wertvollen Sachen gesehen hatten, wie das Bild von Mommy und Daddy. Das Foto verblasste schon damals, ihre Züge verblichen. Sie verließen mich, entschwanden ins Weiße. Dann war da die kaputte Spieluhr auf dem Kaminsims – Mommy hatte sie aus ihrer fernen Heimat mitgebracht. Die Spieluhr spielte nicht. Ich machte sie am gleichen Tag kaputt, an dem ich auch die Matroschkas zerdepperte, das war an dem Tag mit der Sache mit der Maus. Die kleine Ballerina war von ihrer Stange abgebrochen, umgehauen und tot. Vielleicht tat mir das am meisten leid. (Ich nenne sie Eloise. Ich weiß nicht, warum; sie sieht einfach wie eine Eloise aus.) Ich hörte Mommys schöne Stimme in meinem Ohr. Du nimmst mir alles, Theodore. Du nimmst und nimmst und nimmst.
Diese Leute hatten mit ihren Blicken und Gedanken all meine Sachen betrachtet, und das Haus fühlte sich schon nicht mehr an wie meins.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Als ich sie wieder öffnete, lächelte die Matroschka feist zurück. Neben ihr stand die Spieluhr. Eloise, die Ballerina, stand stolz und aufrecht, die Arme wunderbar und über ihren Kopf erhoben. Mommy und Daddy lächelten von ihrem Foto herab. Mein schöner orangefarbener Teppich war wie weiche Pillen unter meinen Füßen.
Ich fühlte mich gleich besser. Alles in Ordnung. Ich war zu Hause.
Olivias Kopf stieß gegen meine Hand. Ich lachte und hob sie auf. Davon ging es mir noch besser. Aber oben auf dem Dachboden regten sich die grünen Jungen.
Am nächsten Tag war ich in der Zeitung. Die Schlagzeile lautete HAUS EINES VERDÄCHTIGEN DURCHSUCHT. Und da war ich, stand vor meinem Haus. Sie hatten noch andere Häuser durchsucht, aber in dem Artikel klang es so, als wäre es nur meins gewesen, und ich nehme an, die anderen Leute waren schlau genug, ihre Gesichter zu verbergen. Kein Bild, keine Story. Sie brachten mein Foto direkt neben dem von Kleines Mädchen mit Eis am Stiel, was eine Story für sich war.
Das Bild zeigte nicht den Namen der Straße, aber ich glaube, die Leute haben sie erkannt. Steine und Ziegel kamen durch die Fenster geflogen. So viele. Sobald ich eine Scheibe ersetzt hatte, kam schon der nächste Stein. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Es ist so oft passiert, dass ich aufgab und Sperrholz über die Fenster nagelte. Danach wurde es weniger. Macht nicht so viel Spaß, Steine zu werfen, wenn es nichts zu zerbrechen gibt. Ich hörte auf, tagsüber das Haus zu verlassen. Das war eine schlimme Zeit.
Ich lege Kleines Mädchen mit Eis am Stiel – die Zeitung mit ihrem Bild darin, meine ich – in den Wandschrank unter der Treppe. Ich bücke mich, um sie ganz unten im Stapel abzulegen. In dem Moment sehe ich ihn, halb versteckt hinter dem Turm aus Zeitungen – den Kassettenrekorder.
Ich erkenne ihn sofort. Es ist Mommys. Ich nehme das Gerät aus dem Regal. Es zu berühren gibt mir ein seltsames Gefühl, als würde jemand in der Nähe flüstern, gerade so, dass ich es nicht hören kann.
Es ist schon eine Kassette im Rekorder, zum Teil bespielt – ungefähr die Hälfte einer Seite ist aufgenommen worden. Sie ist alt, mit einem gestreiften gelb-schwarzen Aufkleber drauf. Ihre verblasste, förmliche Handschrift. Notizen.
Ich höre mir das Band nicht an. Ich weiß ja, was drauf ist. Sie hat ihre Notizen immer laut hineingesprochen. Ihre Stimme hatte ein leichtes Stocken um die Konsonanten; sie konnte es nie ganz loswerden. Man hörte das Meer in ihrer Stimme. Sie wurde weit entfernt geboren, Mommy, unter einem dunklen Stern.
Ich denke: Lass es einfach da, vergiss, dass du es gesehen hast.
Ich habe eine Gurke gegessen und fühle mich jetzt viel besser. Schließlich ist das alles vor langer Zeit passiert. Das Licht wird heller und es könnte ein schöner Tag werden. Die Vögel werden kommen. Jeden Morgen strömen sie aus dem Wald und lassen sich in meinem Garten nieder. Weiden-Gelbkehlchen, Goldhähnchen, Ammer, Fichtenkreuzschnäbel, Sperlinge, Amseln, Stadttauben. Es ist voll und schön. Ich liebe es, das zu beobachten. Ich habe das Guckloch in genau der richtigen Größe an genau der richtigen Stelle im Sperrholz gemacht – ich kann den ganzen Garten überblicken. Ich achte darauf, dass die Futterspender immer voll sind und es Wasser gibt. Vögel können bei solcher Hitze leiden.
Ich will gerade hinausschauen, wie ich es jeden Tag tue, als sich mir der Magen umdreht. Manchmal wissen meine Innereien Dinge, bevor mein Verstand es tut. Etwas stimmt nicht. Der Morgen ist zu ruhig. Ich ermahne mich, nicht seltsam zu sein, tief durchzuatmen und mein Auge ans Loch zu legen.
Zuerst sehe ich den Häher. Er liegt mitten auf dem Rasen. Sein leuchtendes Gewirr aus Federn glänzt wie ein Ölfleck. Zuckend. Ein langer Flügel streicht die Luft, will verzweifelt fliegen. Sie sehen komisch aus, wenn sie auf dem Boden sind, Vögel. Sie sind nicht dafür geschaffen, lange an einem Platz zu bleiben.
Meine Hände zittern, als ich die Schlüssel in den drei großen Schlössern an der Hintertür drehe. Klack, klack, klack. Sogar jetzt nehme ich mir die Zeit, sie hinter mir abzuschließen. Die Vögel liegen überall im Garten, über das verdorrte Gras verstreut. Sie zucken, haben sich hilflos verfangen in etwas, das wie Fetzen hellbraunen Papiers aussieht. Viele sind tot, vielleicht 20. Manche sind es auch nicht. Ich zähle sieben Herzen, die noch schlagen. Sie ringen nach Luft, ihre schmalen schwarzen Zungen sind starr vor Schmerz.
Meine Gedanken laufen wie Ameisen umher, überallhin. Ich brauche drei Atemzüge, um zu begreifen, was ich sehe. In der Nacht ist jemand an die Futterspender gegangen und hat Leimruten ausgelegt, sie um die Drahtkäfige gewickelt, sie an den Knödeln befestigt, die an Schnüren hängen. Als die Vögel im Morgengrauen zum Fressen kamen, blieben sie mit ihren Krallen und Schnäbeln am Leim kleben.
Alles, was ich denken kann, ist Mord, Mord, Mord … Wer würde den Vögeln das antun? Dann denke ich: Ich muss sauber machen, Lauren darf das nicht sehen.
Die streunende Tabbykatze kauert im Efeu neben dem Drahtzaun, die gelben Augen wirken aufmerksam.
»Hau ab!«, rufe ich. Ich werfe mit dem Nächstbesten, dessen ich habhaft werden kann, einer leeren Bierdose. Die Dose fliegt vorbei und trifft den Zaunpfahl mit einem Geräusch wie donggg. Mit ihrem schiefen krallenlosen Humpeln trottet sie langsam davon, als wäre es ihre eigene Idee.
Ich sammle die lebenden Vögel ein. Sie kleben in meinen Händen zusammen, zu einer zuckenden Masse verbunden. Sie sehen wie ein Monster aus meinen schlimmen Träumen aus, überall Beine und Augen, Federn lösen sich vom Fleisch. Die Vögel geben keinen Laut von sich. Das ist vielleicht das Schlimmste überhaupt. Vögel sind nicht wie Menschen. Schmerz lässt sie verstummen.
Ich bringe sie hinein und versuche alles, was mir einfällt, um den Leim zu lösen. Aber es sind nur wenige Versuche mit dem Lösemittel nötig, um einzusehen, dass ich es nur schlimmer mache. Die Vögel schließen ihre Augen und hecheln die Dämpfe ein. Ich weiß nun nicht, was ich tun soll. Auf diese Art verklebt, hält es für immer. Die Vögel können nicht leben, aber sie sind auch nicht tot. Ich überlege, sie zu ertränken, und dann, ihnen mit einem Hammer auf den Kopf zu schlagen. Ich komme mir mit jeder Idee merkwürdiger vor. Ich überlege, den Laptop-Schrank aufzuschließen. Vielleicht hat das Internet eine Idee. Aber ich weiß nicht, wo ich die Vögel ablegen soll. Sie kleben an allem, was sie berühren.
Dann fällt mir die Sache ein, die ich im Fernsehen gesehen habe. Es ist einen Versuch wert, und Essig haben wir da. Mit einer Hand arbeitend, schneide ich ein Stück Schlauch ab. Ich hole eine große Tupperdose, Backpulver und den weißen Essig von unter der Spüle. Ich lege die Vögel vorsichtig in die Dose, verschließe sie und führe das Stück Schlauch durch das Loch, das ich in den Plastikdeckel bohre. Ich vermische das Backpulver und den Essig im Beutel und befestige ihn mit einem Gummiband am Schlauch. Jetzt ist es eine Gaskammer. Die Luft in der Dose beginnt sich zu verändern, und das gefiederte Zucken lässt nach. Ich schaue dem Ganzen zu, denn der Tod verdient einen Zeugen. Selbst ein Vogel sollte einen haben. Es dauert nicht lange. Sie hatten schon halb aufgegeben, wegen der Hitze und der Angst. Eine Taube stirbt als Letztes; das Heben und Senken ihrer rundlichen Brust wird schwächer, dann hört es auf.
Der Mörder hat auch mich zum Mörder gemacht.
Ich bringe die Leichen nach hinten in den Abfall. Schlaffe, noch warme Körper, die sich weich anfühlen. Irgendwo weiter entfernt in der Straße springt ein Rasenmäher an. Der Duft von geschnittenem Gras breitet sich aus. Leute wachen auf.
»Alles in Ordnung, Ted?« Es ist der Mann mit dem Haar, das wie Orangensaft gefärbt ist. Jeden Tag geht er mit seinem großen Hund in den Wald.
Ich sage: »Oh, klar, mir geht’s gut.« Der Mann schaut auf meine Füße. Mir wird klar, dass ich weder Socken noch Schuhe trage. Meine Füße sind weiß und haarig. Ich bedecke den einen Fuß mit dem anderen, aber dadurch fühle ich mich nicht besser. Der Hund hechelt und grinst mich an. Haustiere sind im Allgemeinen besser als ihre Besitzer. Mir tun all die Hunde und Katzen und Hasen und Mäuse leid. Sie müssen mit Menschen zusammenleben, aber, noch schlimmer, sie müssen sie auch lieben. Also, Olivia ist kein Haustier. Sie ist viel mehr als das. (Ich nehme an, so denkt jeder über seine Katze.)
Wenn ich daran denke, dass ein Mörder in der kalten Dunkelheit um mein Haus herumschleicht, Fallen in meinem Garten auslegt, vielleicht sogar hineinspäht und mich, Lauren und Olivia mit seinen toten Käferaugen beobachtet, dann stockt mir das Herz.
Ich komme zurück. Die Chihuahualady steht ganz in meiner Nähe. Ihre Hand liegt auf meiner Schulter. Das ist ungewöhnlich. Menschen mögen es normalerweise nicht, mich anzufassen. Der Hund unter ihrem Arm zittert und glotzt mit hervortretenden Augen um sich.
Ich stehe vor dem Haus der Chihuahualady, das gelb ist, mit grün abgesetzten Kanten. Ich habe das Gefühl, gerade etwas vergessen zu haben oder gleich davon zu erfahren. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Sei nicht komisch. Die Leute bemerken, wenn jemand komisch ist. Sie erinnern sich daran.
»… dein armer Fuß«, sagt die Frau. »Wo sind deine Schuhe?« Ich kenne diesen Ton. Kleine Frauen wollen sich um große Männer kümmern. Es ist ein Mysterium. »Du musst auf dich aufpassen, Ted«, sagt sie. »Deine Mutter wäre krank vor Sorge um dich.«
Ich sehe, dass mein Fuß nässt – ein dunkelrotes Rinnsal sickert über den Beton. Ich muss auf etwas getreten sein. »Ich jage diese streunende Katze«, sage ich. »Ich meine, ich habe sie gejagt. Ich will nicht, dass sie die Vögel in meinem Garten erwischt.« (Ich kriege die Zeitformen nicht immer richtig hin. Alles fühlt sich dauernd an, als würde es jetzt passieren, und manchmal vergesse ich dann, dass es eigentlich damals passiert ist.)
»Sie ist wirklich eine Schande, diese Katze«, sagt sie. Ihre Augen leuchten interessiert auf. Ich habe ihr etwas anderes gegeben, das sie fühlen kann. »Das Vieh ist eine Plage. Die Stadt sollte sich um streunende Katzen ebenso kümmern wie um anderes Ungeziefer.«
»Oh, finde ich auch«, sage ich. »Klar.«
(Ich kann mir keine Namen merken, aber ich habe meine Methoden, Menschen zu beurteilen und mich an sie zu erinnern. Die erste ist: Wären sie nett zu meiner Katze? Diese Frau würde ich nicht in Olivias Nähe lassen.)
»Jedenfalls danke«, sage ich. »Mir geht es schon besser.«
»Gern geschehen«, sagt sie. »Komm morgen auf einen Eistee vorbei. Ich backe Kekse.«
»Morgen kann ich nicht.«
»Na, dann jederzeit gern. Wir sind Nachbarn. Wir müssen aufeinander aufpassen.«
»Das sage ich auch immer.« Ich bin höflich.
»Du hast ein hübsches Lächeln, Ted, weißt du das? Du solltest es häufiger einsetzen.«
Ich winke und grinse und humple davon, einen Schmerz mimend, den ich nicht fühle, belaste den blutenden Fuß, bis ich sicher bin, dass sie um die Ecke verschwunden ist.
Die Chihuahualady hatte nicht bemerkt, dass ich weg war, was gut ist. Ich habe Zeit verloren, aber nicht zu viel, glaube ich. Der Gehweg ist noch warm unter meinen Füßen, aber nicht heiß. Der Rasenmäher dröhnt immer noch irgendwo in der Straße, der Geruch geschnittenen Grases liegt stickig und grün in der Luft. Ein paar Minuten vielleicht. Aber es hätte nicht auf der Straße passieren dürfen. Und ich hätte Schuhe anziehen sollen, bevor ich das Haus verließ.
Das war ein Fehler.
Ich reinige meinen Fuß mit Desinfektionsmittel aus einer grünen Plastikflasche. Ich glaube, es ist für Böden und Arbeitsflächen gedacht, nicht für Haut. Danach sieht der Fuß viel schlimmer aus; die Haut ist gerötet und gereizt. Macht den Eindruck, als würde es echt wehtun, wenn ich es fühlen könnte. Aber wenigstens ist der Schnitt jetzt sauber. Ich wickle meinen Fuß in Verbandszeug. Ich habe jede Menge Verbandszeug und Bandagen herumliegen. Unfälle passieren nun mal in unserem Haus.
Danach sind meine Hände immer noch so klebrig, als würde etwas an ihnen haften, wie Gummi oder Tod. Ich erinnere mich, irgendwo darüber gelesen zu haben, dass Vögel Läuse haben. Oder waren es Fische? Ich reinige auch meine Hände mit dem Zeug für den Boden. Ich bin zittrig. Ich nehme die Pille, die ich schon vor ein paar Stunden hätte nehmen sollen.
Heute vor elf Jahren verschwand Kleines Mädchen mit Eis am Stiel. Heute Morgen hat jemand meine Vögel getötet. Vielleicht haben diese beiden Dinge nichts miteinander zu tun. Die Welt ist voller Dinge, die keinen Sinn ergeben. Aber vielleicht hängen sie doch zusammen. Woher wusste der Mörder, dass morgens so viele Vögel zum Fressen in meinen Garten kommen? Kennt er sich im Viertel aus? Diese Gedanken bereiten mir Kummer.
Ich mache eine Liste. Obendrüber schreibe ich: Der Mörder. Es ist keine besonders lange Liste.
Orangensafthaarmann
Chihuahualady
Ein Fremder
Ich lutsche am Ende meines Bleistifts. Das Problem ist, ich kenne die Nachbarn nicht so gut. Mommy schon. Das war ihr Ding, Menschen umgarnen. Aber sie gehen schon in die andere Richtung, wenn sie mich kommen sehen. Ich habe sie sogar mal kehrtmachen und davonlaufen sehen. Der Mörder könnte also gerade jetzt da draußen sein, ein paar Häuser weiter, Pizza essen oder so was und über mich lachen. Ich ergänze die Liste:
Der Ottermann oder seine Frau oder ihre Kinder
Männer, die im blauen Haus zusammenwohnen
Lady, die nach Donuts riecht
Das sind fast alle Leute in der Straße.
Ich glaube eigentlich nicht, dass einer von ihnen der Mörder ist. Manche, wie die Otterfamilie, sind gerade verreist.
Unsere Straße hat einen komischen Namen. Manchmal halten Leute an und machen Fotos von dem verbeulten Straßenschild draußen. Dann verschwinden sie wieder, denn dahinter ist nichts als der Wald.
Bedächtig schreibe ich einen weiteren Namen auf die Liste. Ted Bannerman. Man weiß ja nie.
Ich schließe den Schrank auf, in dem ich die Bastelsachen aufbewahre, und verstecke die Liste sorgsam unter einer alten Schachtel Kreiden, die Lauren nie benutzt.
Ich beurteile Menschen auf zwei Arten: danach, wie sie Tiere behandeln, und danach, was sie gern essen. Falls ihr Lieblingsessen irgendeine Art Salat ist, sind sie definitiv schlechte Menschen. Irgendwas mit Käse – und wahrscheinlich sind sie okay.
Es ist noch nicht zehn Uhr – ich erkenne es daran, wie die Sonne durch die Gucklöcher im Sperrholz scheint und Münzen aus Licht über den Boden wirft –, und es ist schon jetzt ein besonders schlimmer Tag gewesen. Also beschließe ich, mir ein frühes Mittagessen zu machen. Es ist mein Lieblingsmittagessen, das beste auf der Welt. Okay, dafür sollte ich das Aufnahmedings holen.
Denn ich habe mir überlegt – warum sollte ich nicht den Kassettenrekorder für meine Rezepte benutzen? (Mommy würde das nicht mögen, ich weiß. Ich habe dieses heiße Gefühl im Nacken, das mir sagt, dass ich im Begriff bin, das zu sein, was sie gern einen Plagegeist nannte.)
Ich packe einen weiteren Stapel Kassetten aus. Sie riechen gut. Ich lege eine neue in das Gerät ein. Damit wollte ich immer spielen, als ich klein war. Der Rekorder hat einen großen roten Knopf wie eine Klaviertaste, der laut klick macht, wenn ich ihn drücke. Jetzt weiß ich nicht, was ich mit Mommys alter Kassette machen soll, und das regt mich auf. Ich kann sie nicht wegschmeißen oder zerstören – das kommt nicht infrage –, aber ich mag sie auch nicht bei meinen schönen neuen Kassetten aufbewahren. Also lege ich sie zurück in den Schrank unter der Treppe, schiebe sie unter die Zeitungen, unter Kleines Mädchen mit Eis am Stiel. Okay, fertig!
Rezept für Käse-Honig-Sandwich, von Ted Bannerman. Öl in einer Pfanne erhitzen, bis es raucht. Zwei Scheiben Brot auf beiden Seiten mit Butter bestreichen. Nehmen Sie etwas Cheddar, ich bevorzuge den in Scheiben, aber nehmen Sie den, den Sie am liebsten mögen. Es ist ja Ihr Mittagessen. Nun bestreichen Sie beide Scheiben Brot auf je einer Seite mit etwas Honig. Legen Sie den Cheddar auf den Honig. Danach legen Sie Bananenscheiben auf den Cheddar. Dann kommt die zweite Brotscheibe obendrauf, und Sie braten das Ganze in der Pfanne, bis es auf beiden Seiten goldbraun ist. Wenn das Sandwich fertig ist, geben Sie ordentlich Salz, Pfeffer und Chilisoße drauf. Schneiden Sie es in zwei Hälften. Schauen Sie, wie der Käse und der Honig heraustriefen. Es ist fast zu schade zum Essen. Haha – aber nur fast.
Meine Stimme ist schrecklich! Wie ein komisches Kind mit einem Frosch im Bauch. Na ja, ich nehme die Rezepte auf, aber ich werde sie mir definitiv nicht noch mal anhören, wenn es nicht sein muss.
Sachen aufzunehmen ist die Idee des Käfermanns. Er hat mir geraten, ein »Gefühlstagebuch« zu führen. Schon das Wort beunruhigt mich. Bei ihm klang es so simpel. Sprechen Sie darüber, was passiert und welche Wirkung es auf Sie hat. Na ja, das kommt nicht infrage. Aber es ist gut, die Rezepte aufzunehmen, für den Fall, dass ich eines Tages verschwinde und niemand mehr da ist, der sich an sie erinnert. Morgen mache ich das Essig-Erdbeer-Sandwich.
Mommy hatte gewisse Ansichten über Essen, aber ich liebe es. Ich dachte mal, ich könnte Koch werden, ein Mittagslokal führen vielleicht, Ted’s – eine großartige Vorstellung! Oder Kochbücher schreiben. Ich kann nichts davon machen, wegen Lauren und Olivia. Ich kann sie nicht allein lassen.
Es wäre schön, mit jemandem über diese Dinge zu sprechen. (Nicht mit dem Käfermann, klar. Es ist ganz wichtig, dass ich dem Käfermann nicht zeige, wer ich bin.) Ich würde meine Rezepte gern mit einem Freund teilen, aber ich habe keinen.
Ich setze mich mit meinem Sandwich auf die Couch und gucke Monster Trucks. Monster Trucks sind toll. Sie sind laut und sie fahren über Sachen hinweg und durch Sachen hindurch. Nichts kann sie aufhalten. Käse und Trucks. Ich sollte froh sein. Aber meine Gedanken sind voller Federn und Schnäbel. Was, wenn ich an einer Leimrute kleben bleibe? Was, wenn ich einfach verschwinde? Es ist niemand da, um mein Zeuge zu sein.
Ich spüre eine sanfte Berührung an meiner Seite. Olivia drückt ihren Kopf in meine Hand, dann klettert sie mit ihren schweren kleinen Samtfüßen auf meinen Schoß. Sie dreht sich und dreht sich noch einmal, bevor sie sich auf meinem Knie niederlässt. Immer merkt sie, wenn ich aufgeregt bin. Ihr Schnurren lässt die Couch erbeben.
»Na komm, Kätzchen«, sage ich. »Zeit, in deine Kiste zu gehen. Lauren kommt.« Sie schließt die Augen, und vor Entspannung wird ihr Körper schlaff. Sie rutscht mir fast durch die Hände, als ich sie, schnurrend, in die Küche trage. Ich hebe den Deckel der alten, kaputten Gefriertruhe. Ich hätte sie vor Jahren schon entsorgen sollen, aber Olivia liebt dieses Ding, weiß Gott, warum. Wie immer vergewissere ich mich, dass sie ausgestöpselt ist, obwohl sie bereits seit Jahren nicht mehr funktioniert. Letzte Woche habe ich noch ein paar Löcher mehr in den Deckel gebohrt – ich habe Angst, dass sie nicht genug Luft kriegen. Dinge zu töten ist schwierig, klar, aber sie zu beschützen und am Leben zu erhalten, ist noch viel schwieriger. O Mann, davon kann ich ein Lied singen.
Lauren und ich spielen ihr Lieblingsspiel. Es gibt eine Menge Regeln, und alles dreht sich darum, in rasendem Tempo auf dem rosafarbenen Fahrrad durchs Haus zu fahren und dabei die Namen von Hauptstädten zu rufen. Lauren klingelt zweimal für die richtige Antwort und viermal für die falsche. Es ist ein lautes Spiel, aber ziemlich lehrreich, also mache ich mit. Als es an der Tür klopft, lege ich meine Hand auf die Klingel.
»Sei ruhig, wenn ich an der Tür bin«, sage ich. »Ich meine: wirklich still. Keinen Laut.«
Lauren nickt.
Es ist die Chihuahualady. Der Kopf des Hundes lugt nervös aus ihrer Tasche hervor. Seine Augen sind glänzend und wild.
»Klingt, als würde da jemand ausgelassen spielen«, sagt sie. »Kinder sollten laut sein, sage ich immer.«
»Meine Tochter ist zu Besuch«, sage ich. »Passt gerade nicht gut.«
»Ich habe schon vor ein paar Jahren gehört, dass du eine Tochter hast«, sagt die Chihuahualady. »Wer hat mir das erzählt? Also, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich, gehört zu haben, dass du eine Tochter hast. Ich würde sie gern kennenlernen. Nachbarn sollten freundlich zueinander sein. Ich habe dir ein paar Trauben gebracht. Sie sind gesund, aber auch süß, deswegen mag sie jeder. Sogar Kinder mögen Trauben. Sie sind die Süßigkeiten der Natur.«
»Danke«, sage ich. »Aber ich muss jetzt wieder … Sie und ich, wir haben nicht viel Zeit miteinander. Und wissen Sie, das Haus ist auch ganz unordentlich.«
»Wie geht es dir, Ted?«, fragt sie. »Wirklich, wie geht es dir?«
»Es geht mir gut.«
»Wie geht es deiner Mutter? Ich wünschte, sie würde mal schreiben.«
»Es geht ihr gut.«
»Okay«, sagt sie nach ungefähr einer Minute. »Ich hoffe, wir sehen uns.«
»Hey, Dad!«, ruft Lauren, als die Tür hinter der Chihuahualady sicher verschlossen ist. »Chile!«
»Santiago!«, brülle ich.
Lauren schreit und fährt davon, um die Möbel flitzend und kurvend. Dabei singt sie laut ein Lied, das sie sich selbst ausgedacht hat, eines über Asseln, und wäre ich nicht ein Vater, ich hätte nie geglaubt, dass mir ein Lied über Asseln solche Freude bereiten könnte. Aber das ist es, was die Liebe fertigbringt, sie greift wie eine Hand direkt in einen hinein.
Plötzlich hält sie an, die Reifen quietschen auf den Holzdielen.
»Hör auf, mir hinterherzulaufen, Ted«, sagt sie.
»Aber wir spielen ja ein Spiel.« Mir wird schwer ums Herz. Jetzt geht es los.
»Ich will nicht mehr spielen. Geh weg, du nervst mich.«
»Tut mir leid, Kätzchen«, sage ich. »Das kann ich nicht. Vielleicht brauchst du mich.«
»Ich brauch dich aber nicht«, sagt sie. »Und ich will allein fahren.«
Ihre Stimme wird lauter. »Ich will allein in einem Haus leben und allein essen und allein fernsehen und nie wieder irgendjemanden sehen. Ich will nach Santiago in Chile fahren.«
»Ich weiß«, sage ich. »Aber Kinder können das nicht allein tun. Ein Erwachsener muss auf sie aufpassen.«
»Eines Tages werde ich es machen.«
»Also, Kätzchen«, sage ich, so sanft ich kann. »Du weißt, dass das nicht sein darf.« Ich versuche, so ehrlich wie möglich zu ihr zu sein.
»Ich hasse dich, Ted.« Die Worte fühlen sich immer gleich an, egal wie oft sie sie sagt: als würde man schwer getroffen werden, mit großer Wucht, von hinten.
»Dad, nicht Ted«, sage ich. »Und du meinst das nicht so.«
»Ich meine es so«, sagt sie, ihre Stimme ist dünn und leise wie eine Spinne. »Ich hasse dich.«
»Wollen wir Eis essen?« Ich klinge, als hätte ich ein schlechtes Gewissen, auch für mich.
»Ich wünschte, ich wäre nie geboren«, sagt sie und fährt davon, mit schellender Klingel, direkt über die Zeichnung hinweg, die sie vorhin gemacht hat, die von einer schwarzen Katze mit juwelengrünen Augen. Olivia.
Ich hatte vorhin nicht gelogen: Das Haus ist tatsächlich das reinste Chaos. Lauren hat in der Küche etwas Marmelade verkleckert und ist dann direkt drübergefahren und hat eine klebrige Zickzackspur im Haus hinterlassen. Zerbrochene Kreide liegt auf der ganzen Couch verteilt und überall steht dreckiges Geschirr. Eins von Laurens Lieblingsspielen ist, sämtliche Teller einen nach dem anderen aus dem Schrank zu nehmen und an ihnen zu lecken. Dann brüllt sie: »Dad, alle Teller sind dreckig.« Jetzt lässt sie sich vom Rad hinunter auf den Boden rollen und tut knurrend und kriechend so, als wäre sie ein Traktor. »Solange sie glücklich ist«, murmele ich zu mir selbst. Kinder.
Ich nehme meine Nachmittagspille mit einem Glas Wasser, als Lauren in mich hineinkracht. Das Wasser schwappt aus dem Glas auf den blauen Teppich und die Pille fällt mir aus den Fingern, springt auf, ein winziger, gelber, fliegender Punkt, und ist weg. Ich gehe auf die Knie und luge unter die Couch. Ich kann sie nirgendwo entdecken. Ich habe auch nicht mehr viele davon.
»Verdammt«, sage ich, ohne nachzudenken. »Gottverdammt.«
Lauren fängt an zu schreien. Ihre Stimme wird zu einer Sirene, wird immer lauter, bis mein Kopf zu zerspringen droht. »Du fluchst«, heult sie. »Du dickes fettes Scheusal, du sollst nicht fluchen!«
Und ich verliere einfach die Fassung. Ich will es nicht, aber es passiert. Ich würde gern behaupten, dass der Auslöser nicht das dickes fettes war, aber ich kann nicht. »Das war’s«, brülle ich. »Auszeit, jetzt sofort.«
»Nein.« Sie fasst nach meinem Gesicht, ihre scharfen Finger suchen meine Augen.
»Du kannst hier drin nicht spielen, wenn du dich nicht benehmen kannst.« Es gelingt mir, sie im Zaum zu halten, und schließlich hört sie auf, sich zu wehren.
»Ich glaube, du solltest ein bisschen schlafen, Kätzchen«, sage ich. Ich setze sie ab und lege die Platte auf. Das Flüstern des Plattenspielers ist beruhigend. Die schöne Stimme der Frau kommt durch die Luft. Es ist ein Winterabend, und niemand hat ein Bett übrig, niemand hat irgendwelche Süßigkeiten … Ich kann mich gerade nicht an den Namen der Sängerin erinnern. Ihre Augen sind voller Mitgefühl. Sie ist wie eine Mutter, aber wie eine, vor der man keine Angst haben muss.
Ich lese die Kreiden und Filzstifte auf und zähle sie. Alle sind da, das ist gut.
Ich habe Lauren mit dieser Musik das Schlafen antrainiert. Sie war ein heikles Kind und wächst nun zu einem schwierigen jungen Mädchen heran. Wie nennt man das? Ein Tween. An manchen Tagen, wie heute, wirkt sie ausgesprochen jung, und alles, was sie will, ist, ihr rosafarbenes Fahrrad zu fahren. Ich mache mir Sorgen wegen dem, was heute passiert ist. Es gibt vieles, worüber ich mir Sorgen mache.
Die erste und auch die größte Sorge: Ich bin in letzter Zeit häufiger weg gewesen. Es passiert, wenn ich gestresst bin. Was, wenn ich eines Tages fortgehe und nicht wiederkomme? Lauren und Olivia wären allein. Ich brauche stärkere Pillen. Ich werde mit dem Käfermann reden. Das Bier ist kalt in meiner Hand und zischt wie eine Schlange, als ich die Lasche aufreiße. Ich nehme drei Gurken aus dem Glas, schneide sie längs durch und streiche Erdnussbutter drauf. Mit Stückchen. Es ist der beste Snack überhaupt und passt richtig gut zum Bier, aber ich kann ihn nicht genießen.
Zweite Sorge: Lärm. Unser Haus liegt am Ende der Sackgasse; dahinter ist nur Wald. Und das Haus auf der linken Seite steht schon ewig leer; die Zeitung, die von innen auf dem Fenster klebt, ist vergilbt und kräuselt sich. Im Laufe der Jahre hat meine Wachsamkeit nachgelassen. Ich lasse Lauren schreien und singen. Darüber muss man sich Gedanken machen. Die Chihuahualady hat sie gehört.
Unter dem Küchentisch liegen schwarze Köttel verstreut. Die Maus ist wieder da. Lauren weint noch leise, aber sie wird allmählich ruhiger. Was gut ist. Die Musik macht ihre Arbeit. Hoffentlich schläft sie eine Weile und ich kann sie zum Abendessen wecken. Ich werde ihr Lieblingsessen machen, Hotdogs mit Spaghetti.
Dritte Sorge: Wie lange wird sie noch Hotdogs und Spaghetti mögen? Wie lange kann ich sie beschützen? Kinder sind wie eine Kette um das Herz oder den Hals und ziehen einen in jede Richtung. Sie wird zu schnell groß; ich weiß, dass alle Eltern das sagen, aber es stimmt.
Beruhige dich, ermahne ich mich. Immerhin hat Olivia zu guter Letzt gelernt, mit der Situation zu leben. Als sie klein war, rannte sie zur Tür, wann immer ich sie öffnete. Sie hätte da draußen niemals überlebt, aber trotzdem ist sie gerannt. Inzwischen weiß sie es besser. Was wir wollen, ist nicht immer das Beste für uns. Wenn die Katze das lernen kann, kann Lauren es auch. Hoffe ich.
Der Tag neigt sich dem Ende zu, und nach dem Abendessen ist es Zeit für Lauren zu gehen.
»Tschüs, Kätzchen.«
»Tschüs, Dad«, sagt sie.
»Bis nächste Woche.«
»Jep.« Sie spielt mit dem Riemen ihres Rucksacks. Ihr scheint es egal zu sein, aber ich kann diesen Teil nicht leiden. Ich habe es mir zur Regel gemacht, nicht zu zeigen, wie aufgebracht ich bin. Ich lege die Platte wieder auf. Die Stimme der Frau windet sich durch die heiße Dämmerung.
Wenn ich einen schlechten Tag habe, geraten heute und damals durcheinander. Ich schnappe Mommys und Daddys Stimmen an bestimmten Orten im Haus auf. Manchmal streiten sie darüber, wer in den Laden geht. Manchmal ist es das Klingeln und Surren des alten Wählscheibentelefons im Flur, und dann spricht Mommy mit der Schule und sagt ihnen, ich sei wieder krank. Manchmal wache ich davon auf, dass sie mich zum Frühstück ruft. So klar wie eine Glocke. Dann senkt sich die Stille wieder, und ich erinnere mich, dass beide fort sind. Nur die Götter wissen, wohin.
Die Götter sind näher, als man meint. Sie leben inmitten der Bäume, hinter einer Haut, die so dünn ist, dass man sie mit einem Fingernagel aufkratzen könnte.
Olivia
Ich war dabei, mit der Zunge den juckenden Teil meines Beins zu bearbeiten, als Ted nach mir rief. Ich dachte, verflixt, das passt jetzt gar nicht. Aber ich habe diesen Tonfall in seiner Stimme gehört, also ließ ich es sein und ging ihn suchen. Ich musste nur der Schnur folgen, die heute aus einem satt glänzenden Gold ist.
Er stand im Wohnzimmer. Seine Augen waren sehr fern. »Kätzchen«, sagte er wieder und wieder. Seine Erinnerungen bewegten sich in ihm wie Würmer unter der Haut. Ein Gewitter lag in der Luft. Diesmal war es schlimm.
Ich schmiegte mich mit der Flanke an ihn. Er hob mich mit zitternden Händen auf. Sein Atem machte Schneisen in meinem Fell. Ich schnurrte an seiner Wange.
Die Luft beruhigte sich allmählich, die Elektrizität ließ nach. Teds Atmung wurde langsamer. Ich rieb mein Gesicht an seinem. Seine Gefühle strömten in mich hinein. Es war schmerzhaft, aber ich konnte es ertragen. Katzen klammern sich nicht an Dinge.
»Danke, Kätzchen«, flüsterte er.
Verstehen Sie? Ich war beschäftigt, als er mich rief, aber ich ging trotzdem zu ihm. Der HERR hat mir diese Aufgabe auferlegt, und ich mach sie gern. Eine Beziehung ist eine ausgesprochen empfindliche Angelegenheit. Man muss jeden Tag daran arbeiten.
Die Ladyted singt, traurig. Ich kenne jedes Lied auswendig, die kleinen Verzögerungen in ihrer Stimme, der winzige falsche Ton in dem Lied über Prärien. Ihre Lieder laufen in Dauerschleife, Tag und Nacht, wenn Lauren nicht hier ist. Ted scheint die Gesellschaft zu brauchen. Er denkt, eine Katze zählt nicht, glaube ich. Wär ich so veranlagt, würde ich das als beleidigend empfinden. Aber Teds sind alle hilfsbedürftig, und man darf es nicht persönlich nehmen. Allgemein gesagt. Ich kenne ja keine Teds außer Ted. Und Lauren, nehme ich an.
Ich erzähle es von Anfang an. Davon, wie er mich gefunden hat, im Sturm, an dem Tag, als uns die Schnur aneinandergebunden hat.
Ich erinnere mich, geboren zu werden. Ich war nicht da, und dann war ich es doch, einfach so. Aus der Wärme in die Kälte gestoßen, mit schwachen Pfoten strampelnd, verfangen in Fäden klebriger Membran. Ich spürte zum ersten Mal Luft auf meinem Fell, mein Maul öffnete sich das erste Mal zum Schreien. Sie beugte sich über mich, groß wie der Himmel. Warme Zunge, warmes Maul in meinem Nacken. Komm, kleines Kätzchen, wir sind hier nicht sicher. Mamakatze. Die anderen blieben im Schmutz zurück. Sie hatten den Übergang nicht überlebt. Die weichen Formen, mit denen ich während all der Monate die Dunkelheit geteilt hatte, lagen nun reglos und nass im Regen. Komm. Sie hatte Angst. Ich bemerkte es, auch wenn ich noch klein war.
Der Sturm muss Tage gedauert haben. Ich weiß nicht, wie viele. Auf der Suche nach Wärme, Obdach, bewegten wir uns von Ort zu Ort. Meine Augen waren noch nicht geöffnet, die Erinnerungen sind daher die an Geruch und Berührung: der weiche, erdige Ort, an dem wir schliefen, der beißende Gestank nach Ratte. Ihr Fell in meiner Nase, wenn sie sich eng um mich rollte, der feuchte Geruch von Stechpalmenblättern.
Als sich meine Augen langsam öffneten, konnte ich undeutlich sehen. Regen ging nieder wie glänzende Messer. Die Welt krachte und erzitterte. Ich hatte nie etwas anderes gehört und dachte also, dass es immer stürmte.
Ich lernte zu stehen und dann zu laufen, ein bisschen. Ich begann zu verstehen, dass etwas nicht in Ordnung war mit Mamakatze, in ihrem Körper. Ihre Bewegungen wurden immer langsamer. Weniger Milch kam.
Eines Nachts suchten wir Schutz in einem Graben. Über uns zitterten und peitschten dornige Sträucher im Wind. Sie wärmte und fütterte mich. Sie schnurrte. Das Geräusch wurde schwächer, ihre Wärme schwand. Dann war sie still. Kälte kroch in mich hinein.
Es gab dröhnenden Lärm und dann einen blendenden Lichtstrahl, nicht das zitternde Licht des Himmels, sondern einen gelben Kreis. Ein Ding wie eine Spinne aus Fleisch, glänzend vor Regen. Ich kannte das Wort für Hand nicht, damals. Es umschloss mich, hob mich von meiner Mama herunter.
»Was haben wir denn da?« Der Geruch nasser Erde war stark an ihm. Seine Ärmel waren glitschig von Matsch. Ein Biest summte in der Nähe. Er legte mich in das Biest hinein. Regen traf auf das Metalldach wie kleine Steine. Er packte mich warm ein. Die Decke war gelb, mit einem Muster aus blauen Schmetterlingen. An ihr war der Geruch von jemandem, den ich kannte oder gern kennenlernen wollte. Wie war das möglich? Ich kannte doch noch niemanden.
»Armes kleines Kätzchen«, sagte er. »Ich bin auch ganz allein.« Ich leckte seinen Daumen.
Da geschah es. Ein sanftes weißes Glühen sammelte sich auf seiner Brust, über der Stelle, wo sein Herz sein musste. Das Glühen wurde zu einer Schnur, die sich durch die Luft nach mir ausstreckte. Die Schnur näherte sich. Ich raunzte und strampelte. Aber er hielt mich fest. Ich fühlte, wie das Licht meinen Nacken umschloss, mich an sein Herz kettete. Es tat nicht weh. Es band uns aneinander. Ich weiß nicht, ob er es auch fühlte – ich glaube aber, er tat es.
Dann brachte er mich in sein schönes warmes Haus, wo ich die ganze Zeit schlafen und mich streicheln lassen kann. Ich muss mir nicht mal die Welt draußen ansehen, wenn ich nicht will! Die Fenster sind alle mit Brettern vernagelt. Ted machte eine Hauskatze aus mir, und seitdem muss ich mich um nichts mehr kümmern. Dies ist unser Haus, es ist nur für uns da, und niemand darf herein. Außer Night-time natürlich, und die grünen Jungen und Lauren. Auf ein paar von denen könnte ich verzichten, ehrlich gesagt.
Ich nehme an, jetzt sollte ich uns beschreiben. So wird es doch in Geschichten gemacht. Das ist aber schwierig. Ich kann die Teds im Fernsehen nie auseinanderhalten. Ich weiß nicht, welche Einzelheiten wichtig sind. Ich meine, mein Ted ist irgendwie sandfarben, oder? Und er hat Flecken von rotem Fell im Gesicht und dickeres Fell auf dem Kopf, das etwas dunkler ist, wie lackiertes Holz.
Was mich betrifft, Ted nennt mich immer »du« oder »Kätzchen«. Aber mein Name ist Olivia. Ich habe einen schmalen weißen Streifen auf der Brust, der sich von meinem kohlschwarzen Pelz absetzt. Mein Schwanz ist so lang und dünn wie ein Zauberstab. Meine Ohren sind sehr beweglich und haben feine Spitzen. Sie sind äußerst empfindlich. Meine Augen haben die Form von Mandeln und sind grün wie Cocktailoliven. Ich glaube, es ist okay, wenn ich sage, dass ich schön bin.
Manchmal sind wir ein tolles Team, aber manchmal streiten wir auch. So ist es nun mal. Der Fernseher sagt, man muss jeden so akzeptieren, wie er ist, egal ob Katze oder Ted. Aber man muss auch Grenzen haben. Grenzen sind wichtig.
Das reicht fürs Erste. Gefühle sind sehr ermüdend.
Ich schrecke aus meinem Schlummer hoch, zum Klang ferner Glocken oder einer hohen Stimme, die mich ruft.
Ich schüttle den Kopf, um den Traum loszuwerden. Aber das Geräusch hört nicht auf. Ist da irgendjemand Winziges, der irgendwo singt? Ich mag es nicht. IiiiiIIIIiiiii.
Der orangefarbene Teppich fühlt sich unter den Ballen meiner Pfoten herrlich an, so als würde ich auf kleinen weichen Pillen laufen. Es ist die Farbe der Sonne, die über dem Meer untergeht. Licht tüpfelt die Wände durch die Gucklöcher. Die Wände hier drin sind von einem beruhigenden Dunkelrot. Ted und ich finden, dass es eine schöne Farbe ist. Wir sind uns in manchen Dingen einig! Da ist Teds Fernsehsessel, das Leder am Kopf und an den Armlehnen glänzt verschlissen. Silbernes Klebeband verdeckt das Loch, das er während eines Dirtbike-Rennens mit einem Steakmesser hineingestochen hat. Ich mag alles an diesem Raum, bis auf zwei Dinge, die auf dem Kaminsims stehen, neben seiner Spieluhr.
Das erste Ding, das ich hasse, heißt Matroschka. Es enthält eine kleinere Version seiner selbst in sich und darin wiederum eine noch kleinere und so weiter. Wie schrecklich. Sie sind Gefangene. Ich stelle mir vor, wie sie alle im Dunkeln schreien, außerstande, sich zu bewegen oder zu sprechen. Das Gesicht der Puppe ist breit, sie lächelt ausdruckslos. Sie sieht aus, als wäre sie sehr glücklich, ihre Kinder gefangen zu halten.
Das zweite Ding, das ich hasse, ist das Bild über dem Kamin. Die Eltern, die hinter Glas glotzen. Ich hasse alles daran. Der Rahmen ist groß und silbern und hat ein Muster aus Trauben und Blumen und Eichhörnchen. Es ist ekelhaft. Die Gesichter der Eichhörnchen sehen geschmolzen und verkohlt aus. Es ist, als hätte jemand flüssiges Silber über lebendige Dinge ausgegossen und dann abkühlen lassen. Aber das Bild im Rahmen ist das Schlimmste daran. Ein See, schwarz und gläsern im Hintergrund. Zwei Menschen stehen an einem Sandstrand. Ihre Gesichter sind bloß Löcher ins Nichts. Die Eltern waren nicht nett zu Ted. Wann immer ich mich dem Bild nähere, spüre ich den leblosen Zug ihrer Seelen.
Die Spieluhr mag ich aber. Die kleine Frau ist so kerzengerade aufgerichtet, als würde sie sich nach dem Himmel recken.
IiiiIIiii. Das hohe läutende Geräusch kommt nicht von den Eltern. Ich kehre ihnen den Rücken zu, hebe meinen Schwanz und zeige ihnen meinen Hintern.
Das rosafarbene Fahrrad liegt mitten auf dem Wohnzimmerboden, die Stützräder drehen sich kaum merklich. Lauren. Sie ist Teds kleiner Ted. Oder vielleicht gehört sie auch einem anderen Ted, und er passt nur auf sie auf? Habe ich vergessen. Ihr Geruch ist noch am Teppich, an der Stuhllehne, aber es ist ruhig. Sie muss schon weg sein. Gut. Aber sie räumt nie dieses gottverdammte Rad weg. Oje. Ich bemühe mich wirklich, gvd zu sagen, nicht – hüstel, hüstel. Ich möchte seinen Namen nicht missbrauchen.
Wenn Lauren zu Besuch ist, gehe ich in meine Kiste. Dadrin ist Platz für meine Gedanken. Es ist immer dunkel und gut. Ich weiß, der HERR würde nicht gutheißen, was ich gleich sage, aber – kleine Teds sind schrecklich. Man weiß nie, was sie als Nächstes anstellen. Und Lauren hat irgendein psychologisches Problem; ich weiß nicht genau, welches, aber es scheint mit sich zu bringen, sehr ungezogen und laut zu sein. Katzen reagieren besonders empfindlich auf Lärm. Wir sehen mit unseren Ohren und unseren Nasen. Na ja, mit unseren Augen auch, klar.
Meine Kiste steht in der Küche an der Wand. Ich lege mein Ohr an die kühle Seite, um zu lauschen, aber das jaulende Geräusch kommt nicht von dort, glaube ich. Ted hat wieder seine Gewichte darauf gestapelt, sodass ich nicht hineinkann. Ärgerlich. Lauren hat auf der Schreibtafel neben dem Kühlschrank wüste Kritzeleien hinterlassen. Bla bla bla, hat sie geschrieben. Ted ist Ted. Olivia ist eine Katze. Welch SAGENHAFTE Beobachtungen. Sie wird es mal weit bringen. Der Kühlschrank gibt sein Rumpeln von sich, es tropft aus dem Wasserhahn. Aber das leise Läuten in meinen Ohren geht weiter, es passt zu keinem dieser beiden Geräusche.
In dem Raum, in dem alles summt, ist alles, wie es sein soll. Die Schränke sind gesichert. Ich kann die Maschinen hinter verschlossenen Türen leise schnurren hören. Handy, Laptop, Drucker. Sie klingen lebendig, und ich habe immer das Gefühl, dass sie gleich mit mir sprechen werden, aber sie tun es nie.
Es geht weiter, das winzige Geräusch ist wie eine Glocke oder eine hohe Stimme. Die Maschinen machen das Geräusch nicht.
Ich gehe die Treppe hinauf. Ich mag es, Treppen zu steigen. Es fühlt sich immer wie irgendeine Art von Verbesserung an. Ich mag außerdem, auf der Stufe genau in der Mitte zu schlafen. Dann fühle ich mich, als würde ich schweben. Der Läufer ist schwarz und ich hebe mich farblich kaum von ihm ab. Ted stolpert manchmal über mich. Er trinkt zu viel.
Das Geräusch scheint weder lauter noch leiser zu werden, während ich mich durch die Räume bewege, was komisch ist. Ich weiche der Tür zum Dachboden aus, mache einen großen Bogen darum. Schlimmer Ort. Ich stelle mich auf die Hinterbeine, um die Klinke der Schlafzimmertür herunterzudrücken. Sie gibt mit diesem satten klick nach und schwingt auf. (Ich liebe Türen. Himmle sie einfach an.) Auf Teds Bett liegen fünf oder sechs Rollen Klebeband. Er kauft dieses Zeug in Massen. Ich weiß nicht, was in aller Welt er damit anstellt. Ich lecke an dem Klebeband. Es schmeckt klebrig und streng. Das Iiiuuuuiii läutet immer noch leise in meinem Ohr. Ich raunze ungehalten. Bilde ich mir das nur ein oder klingt das Geräusch leicht metallisch, hohl, als käme es aus einem Rohr?
Im Badezimmer springe ich hinauf, um die Hähne zu prüfen. Kein Geräusch kommt von ihnen außer dem innerlichen Hallen von Luft. Ich lecke an dem Metall und beschnuppere den Schmutz, der die Ränder des Beckens überzieht. Ted ist kein besonders sauberer Ted. Sein Badezimmer sieht nicht so wie die Badezimmer im Fernsehen aus.
Die Tür des Badezimmerschranks ist offen. Die Röhrchen stehen in langen braunen Reihen in den Regalen. Ich streife sie mit der Spitze meines Schwanzes, und dann gebe ich ihnen einen kleinen Stupser. Die Röhrchen fallen klappernd hinunter, Pillen regnen aus ihren Öffnungen. Rosa, weiß, blau. Er macht sie nie richtig zu, denn sie haben Sicherheitsverschlüsse, und er bekommt sie nicht auf, wenn er betrunken ist. Die Pillen liegen durcheinander auf den dreckigen Fliesen. Ein paar sind auch in einer Pfütze gelandet, die nach der morgendlichen Dusche zurückgeblieben ist. Sie bluten bereits rosafarben ins Wasser. Ich schlage eine grün-weiße Kapsel quer über den Boden.
IIIIiuuuiiii. Der hohe Gesang. Das ist eine Botschaft, ich weiß es, und es fühlt sich an, als wäre sie nur für mich gedacht. Aber es ist nicht mehr genug Zeit dahinterzukommen, denn es ist Zeit für sie.
Ich bin durch die Schnur an Ted gebunden, und er ist in meiner Obhut, wie der HERR es verfügt hat. Aber ich habe auch ein Leben außerhalb von ihm, wissen Sie? Ich habe Interessen. Na ja, eins. Jetzt ist Zeit für sie, und das ist sehr aufregend.
Ich renne die Treppe hinunter und ans Fenster, weiche dem rosafarbenen Fahrrad aus, nehme einen anderen Weg hinter der Couch entlang, lasse Pfotenabdrücke im Staub zurück. Ich kann nicht anders als zu fürchten, ich wäre zu spät dran, obwohl ich weiß, dass ich es nicht bin. Aber die Kreise aus Licht befinden sich in exakt dem richtigen Winkel an den Wänden. Ich springe auf den kleinen Makrameetisch hinauf. Wenn ich mich auf die Hinterbeine stelle und ein bisschen strecke, kann ich gerade so aus dem Guckloch sehen, das die Straße einfängt, jenseits des kleinen Eichenbaums. Die Schnur zieht sich hinter mir durch die Luft, ein leuchtendes Silber.
Die anderen Gucklöcher sind in Tedhöhe und für mich nicht zu erreichen. Dies ist mein einziger Blick nach draußen. Es ist ein kleines Loch, vielleicht von der Größe einer Vierteldollarmünze. Ich kann nicht viel sehen: ein verdrehtes Stück Eichenstamm, ein paar kahle Winteräste, dahinter ein paar Meter Gehweg. Während ich schaue, gibt der graue Himmel nach und Schnee beginnt in der Stille sanft zu fallen. Nach und nach verschwindet der Gehsteig unter Weiß, jeder Ast trägt eine dünne Linie aus Schnee.
Das ist alles, was ich kenne, diese kleine Münze Welt. Macht es mir was aus? Vermisse ich es hinauszugehen? Überhaupt nicht. Es ist gefährlich da draußen. Dies hier ist mir genug, solange ich sie sehen kann.
Ich hoffe, dass Ted den Makrameetisch nicht verrückt. Das sähe ihm ähnlich. Dann würde ich richtig wütend werden müssen, und ich hasse es, wütend zu sein.
Falls sie nicht kommt, werde ich warten. Denn das ist es, was Liebe ausmacht. Geduld und Beharrlichkeit. Der HERR hat mich dies gelehrt.
Ihr Duft geht ihr voraus, fällt durch die Luft wie Honig, der auf Toast tröpfelt. Mit ihrem anmutigen Gang kommt sie um die Ecke. Wie soll ich sie beschreiben? Sie ist gestreift wie ein kleiner staubiger Tiger. Ihre gelben Augen sind von der gleichen Farbe wie reife goldene Apfelhaut oder Pipi. Sie sind schön, will ich damit sagen. Sie ist schön. Sie bleibt stehen und reckt sich hierhin und dorthin, fährt ihre langen schwarzen Krallen aus. Als sich Schneeflocken auf ihre Nase setzen, blinzelt sie. Etwas Silbernes schaut aus ihrem Maul heraus, vielleicht ein Schwanz. Ein kleiner Fisch, wie eine Sardine oder eine Sardelle. Ich habe mich immer gefragt, wie richtiger Fisch wohl schmeckt. Ich bekomme Schmelzkäse und übrig gebliebene Chicken Nuggets oder altes Fleisch aus der Discountabteilung von 7-Eleven. Und wenn ich wirklich hungrig bin, muss ich Night-time bitten, für mich zu jagen. (Ich verabscheue Gewalt jeglicher Art, aber ich habe die Welt nicht gemacht, und was sein muss, muss sein.)
Ich hoffe, dein Fisch ist köstlich, sage ich leise zur Tabby. Mit einer Pfote streiche ich über das Sperrholz. Ich liebe dich. Der Wind steigert sich zu einem Ächzen, vor wirbelndem Schnee ist die Luft ganz dicht, und dann ist sie in einem Blitz aus Schwarz und Gold fort. Die Show ist vorbei. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen.
Nachdem ich sie gesehen habe, sitze ich meistens gern da und denke eine Weile nach. Aber das leise Jaulen ist wieder da, lauter jetzt. Ich rubble mein Ohr mit meiner Pfote, bis es glüht und wehtut. Es nützt nichts. Wo zum Henker kommt das her? UUuuuiiiiuuuuii geht es, weiter und weiter. Wie soll ich damit im Ohr irgendetwas geregelt kriegen? Es ist wie eine kleine Uhr. Schlimmer, denn es ist fast so, als wäre sie in mir drin und will nicht aufhören. Dieser Gedanke macht mich ganz unruhig. Weswegen läutet die kleine Uhr? Welche Stunde hat geschlagen? Ich brauche Führung.
Ich gehe zu meiner Bibel. Nun ja, jetzt ist es meine. Ich glaube, sie hat Teds Mutter gehört. Aber sie ist fortgegangen, und bis sie wieder zurückkehrt, geniere ich mich nicht, sie zu benutzen. Die Seiten sind dünn und rascheln wie getrocknete Blütenblätter. Auf dem Deckel ist Gold, das ins Auge fällt, als wäre es ein Geheimnis. Ted verwahrt sie auf einem hohen Tisch im Wohnzimmer. Ehrlich gesagt ist sie an ihn vergeudet, er schlägt sie nie auf. Das Buch ist allmählich etwas abgenutzt, aber ich muss schließlich meine Andachten verrichten.
Ich springe hinauf und neben das Buch. Dieser Teil macht Spaß, weil ich immer das Gefühl habe, gleich hinunterzufallen. Ich stehe bedrohlich zitternd in der Luft. Dann stupse ich das Buch mit einer Pfote an und stoße es über den Rand.
Es fällt mit einem großen Krachen aufgeschlagen auf den Boden. Ich warte, denn es ist noch nicht vorbei; wenige Augenblicke später erbebt das Haus, und es gibt ein Rumpeln in der Erde. Als dies das erste Mal passiert ist, jaulte ich auf und versteckte mich unter der Couch. Aber schließlich begriff ich, dass dies seine Zeichen sind, dass ich das Richtige tue.
Ich springe hinab, lande geschickt auf allen vier Pfoten, und der HERR lenkt meinen Blick auf den Vers, den er mich sehen lassen will.
Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott.
Angesichts der Richtigkeit dessen erschauere ich. Ich liebe meinen Ted, meine Tabby, mein Haus, mein Leben. Ich bin eine glückliche Katze.
Wenn ich auf einen Vers stoße, den ich mag, versuche ich ihn mir einzuprägen – wie denjenigen, den ich gerade aufgesagt habe. Aber es kann schwerfallen, Sätze im Ganzen im Kopf zu behalten. Es ist, als würde man einen Becher Murmeln auf einen harten Boden umkippen. Sie rollen in alle Richtungen ins Dunkel.
Das Buch ist eigentlich nur eine Anleitung. Ich glaube, der HERR ist zu den Katzen anders. Er zieht es vor, direkt zu uns zu sprechen. Wir sehen die Dinge nicht so, wie Teds es tun.
Ich lasse mich auf der Couch in einer Scheibe Sonnenschein nieder. Ich kehre der gefallenen Bibel bewusst meinen Rücken zu, damit Ted weiß, dass ich nichts damit zu tun habe. Das Jaulen ist etwas leiser geworden.
Warum habe ich dann immer noch ein schlechtes Gefühl? Was könnte verkehrt sein? Der Bibelvers hätte kaum positiver klingen können. Der Trick zu einem angenehmen Leben ist eh dieser: Falls dir nicht gefällt, was passiert, leg dich wieder schlafen, bis es aufhört.
Ted
Ich habe überlegt, dass ich ein paar Erinnerungen an Mommy aufzeichnen sollte. Auf diese Weise verschwinden sie nicht, selbst wenn ich nicht mehr da bin. Ich möchte nicht, dass man sie vergisst. Es ist aber richtig schwer, eine auszuwählen. Die meisten meiner Erinnerungen tragen Geheimnisse in sich und sind nicht geeignet.
Ich habe eine tolle Idee. Wie wäre es mit dem Tag am See? In dieser Geschichte gibt es gar kein Geheimnis. Kann das Aufzeichnungsding erst nicht finden; ich bin sicher, dass ich es zuletzt in der Küche hatte. Schließlich, nach langer Suche, entdecke ich es hinter der Couch im Wohnzimmer. Komisch. Aber so ist das mit meinem Kopf.
Also. So bin ich damals zu meiner Liebe zu den Vögeln gekommen. Es war Sommer und wir machten einen Ausflug an den See. Ich war sechs, ich kann mich an wenig in dem Alter erinnern, aber ich weiß noch, wie es sich anfühlte.
An dem Tag trug Mommy das dunkelblaue Kleid, ihr Lieblingsstück. Es flatterte in der warmen Brise, die durch das geöffnete Fenster wehte. Ihr Haar war hochgesteckt, aber einzelne Strähnen hatten sich aus dem Dutt gelöst. Sie schlugen gegen ihren Hals, der lang und weiß war. Daddy saß am Steuer und sein Hut war eine schwarze Gebirgskette im Gegenlicht. Ich lag mit den Füßen nach oben auf dem Rücksitz und sah den Himmel vorüberziehen.
»Kann ich ein Kätzchen haben?«, fragte ich, wie ich es hin und wieder tat. Vielleicht glaubte ich, sie mithilfe der Überraschung zu einer anderen Antwort bewegen zu können.
»Keine Tiere im Haus, Teddy«, sagte sie. »Du weißt, wie ich über Haustiere denke. Es ist grausam, lebendige Wesen in Gefangenschaft zu halten.« Man merkte, dass sie nicht von hier stammte. In ihrer Stimme war noch eine schwache Spur aus der Heimat ihres Vaters. Ein näselnder Klang rund um jedes »r«. Aber mehr noch war es ihre Körperhaltung, als würde sie einen Schlag von hinten erwarten.
»Daddy«, sagte ich.
»Hör auf deine Mutter.«
Ich machte eine weinerliche Miene, aber nur für mich selbst. Ich wollte kein Plagegeist sein. Dann strich ich mit einer Hand durch die Luft und tat so, als könnte ich seidiges Fell unter meiner Hand spüren, einen robusten Kopf mit forschenden Ohren. Ich wünschte mir eine Katze, seit ich denken konnte. Mommy sagte immer Nein. (Heute kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob sie etwas wusste, das ich nicht wusste, ob sie die Zukunft sah wie einen roten Streifen am Horizont.)
Als wir uns dem See näherten, nahm die Luft den Geruch von tiefem Wasser an.
Wir kamen zwar früh dort an, aber das Ufer war bereits von Familien übersät, Decken waren auf dem weißen Sand ausgebreitet wie Felder auf einem Schachbrett. Eintagsfliegen hingen in Wolken über der schimmernden Oberfläche. Die Morgensonne war stark; sie kribbelte auf meiner Haut wie Essig.
»Lass deinen Pullunder an, Teddy«, sagte Mommy. Es war heiß, aber ich hütete mich zu widersprechen.
Ich spielte mit Daddy im Wasser. Mommy saß in ihrem Stuhl und hielt ihren blauseidenen Sonnenschirm. Der Saum kräuselte sich in der Brise. Sie las nicht. Sie schaute nur hinaus, durch den Wald und das Land und das Wasser hindurch auf etwas, das keiner von uns sehen konnte. Sie wirkte, als würde sie träumen oder nach einem Feind Ausschau halten. Rückblickend tat sie wahrscheinlich beides.
Am Souvenirstand gab es kleine Schlüsselanhänger, die aus örtlichem Kiefernholz geschnitzt waren. Sie waren wunderschön, geformt wie Hunde und Fische und Pferde. Sie schaukelten sanft, sahen mich mit ihren hölzernen Augen an, die silbernen Ringe fingen das Licht. Ich berührte sie mit meinen vom Wasser schrumpeligen Fingern. Ganz hinten im Ständer fand ich schließlich eine wunderbare kleine Katze, aufrecht sitzend, die Pfoten zusammengelegt. Ihr Schwanz war ein Fragezeichen, ihre Ohren zierlich. Der Schnitzer hatte mit den Wirbeln und der Maserung im Holz gearbeitet, um es wie ein seidiges Fell aussehen zu lassen. Ich wollte sie unbedingt haben. Mir schien es, als wären wir füreinander geschaffen.
Mommys Hand legte sich auf meine Schulter. »Leg sie zurück, Teddy.«
»Aber sie ist nicht echt«, sagte ich. »Sie ist nur aus Holz. Ich könnte sie im Haus halten.«
»Es ist Zeit für das Mittagessen«, sagte sie. »Komm.«