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Alles, was die Kinder kennen, ist die graue Insel Altnaharra, die einsam im dunklen Meer vor der Küste Schottlands liegt. Neujahr 1921. Sieben verstümmelte Leichen werden in einem uralten Steinkreis auf einer schottischen Insel entdeckt. Die Opfer sind die Kinder eines Naturkults, der von der Otter regiert wird, einem sadistischen Patriarchen. Und das Wort der Otter ist Gesetz. Vor der Welt verborgen, verehren die Kinder die Große Schlange, die im Ozean wohnt, tanzen im Morgengrauen auf den Felsen und opfern ihr Blut. Die einzige Überlebende des Massakers behauptet, Eve sei die Mörderin. Doch hinter Eves Geschichte verbirgt sich eine dunklere, seltsamere Wahrheit … Sarah Pinborough: »Großartige Gothic-Fiction.« Andrew Cowan: »Brillant, wunderbar geschrieben und voller Überraschungen.« Philip Womack: »Voller dunkler Kraft und eindringlicher, verblüffender Wendungen. Man rätselt und fiebert bis zum Ende mit.« Catriona Ward zählt zu den großen neuen Talenten im Thriller-Genre. Alle ihre Romane wurden mit angesehenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sie schreibt dunkle, ausgeklügelte Psycho-Dramen mit Figuren, deren brutale Schicksale sie für den Leser geradezu lebendig werden lässt.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper
Impressum
Die englische Originalausgabe Little Eve
erschien 2018 im Verlag Weidenfeld & Nicolson.
Copyright © 2018 by Catriona Ward
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: AdobeStock/Bernadett & AdobeStock/Vitaly
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-037-3
www.Festa-Verlag.de
Für meinen Neffen
Wolf Alexander Ward Enoch,
geboren am 17. Mai 2018
A ’nighean mar a máthair:
Wie die Mutter, so die Tochter.
Sprichwort der Highlander
Dinah
1921
Mein Herz ist ein dunkler Gang, gesäumt von Reihen glänzender Gefäße. In jedem von ihnen schwebt etwas. Die Vergangenheit, bewahrt wie in Alkohol. Hier ist der Duft von Gras und Meer, hier das Knarren von Rädern auf einem holprigen Pfad, hier ein leuchtend gelber Möwenschnabel. Das Gefühl von Blut, das auf meiner Wange im Wind trocknet. Abel, der um seine Mutter weint, Onkels Hand auf mir. Silber auf einem weißen Schlüsselbein. Das Wissen um Verlust, das wie ein Schlag ins Herz oder in den Magen erfolgt. Es erreicht den Verstand erst später.
Sie ist natürlich auch da. Evelyn. Irgendwo entlang der Reihen, hinter Glas, schwebt sie in der trüben Luft. Ich suche sie nicht auf. Mein Überleben hängt davon ab.
Nach allem, und gegen jede Wahrscheinlichkeit, habe ich eine Chance bekommen. Ein Leben. Egal was für eines. Ich habe Menschen, die auf mich angewiesen sind und ich auf sie. Es ist egal, wer sie sind.
Ich bin von Erinnerung erfüllt. Ich muss Platz schaffen in dem dunklen Gang. Also werfe ich sie raus, heute. Ich gebe sie Ihnen. Dies ist der Tag, an dem ich wurde, was ich bin.
Am Morgen des 2. Januar 1921 wurde James MacRaith durch die Stille geweckt. Der Sturm, der drei Tage lang an der Küste gewütet hatte, hatte sich gelegt. Drosseln und Seidenschwänze sangen in den Weißbirken, die Loyals schmale Kopfsteinpflasterstraße säumten. Es war halb sieben, und die Morgendämmerung würde in diesen nördlichen Gefilden noch einige Stunden auf sich warten lassen.
Jamie war 28 Jahre alt, bei guter Gesundheit und hatte nie geheiratet. Er zog sich im Schein einer Kerze vor dem kleinen Viereck aus Glas an, das an der Wand über der Kommode hing. Ein Unterhemd, dicke Wollsocken mit Stulpen, der Kragen seines Baumwollhemds mit einem hellroten Tuch gebunden, eine Schafsfellweste, die stark nach Lanolin roch. Mühsam rührte er aus einem Stück Rasierseife Schaum an und wetzte sein Rasiermesser. Er setzte seine Zahnplatte ein, die dunkle Lücke auf der linken Seite seines Oberkiefers mit je einem weißen Schneide- und Eckzahn füllend. Die Zähne hatte er bei einer Explosion in Frankreich verloren. Zuletzt legte er sorgfältig die Manschettenknöpfe an, die ihm sein Vater hinterlassen hatte. Sie waren aus geschlagenem Silber, mit vergilbendem Elfenbein eingelegt, und Jamie MacRaith hatte sie immer geliebt. Wenn er sie in der Hand hielt, spürte er das Wiegen eines langen Rüssels, den sanften Tritt eines großen Fußes auf staubiger Erde; er nahm den Duft von blühendem Hibiskus wahr. Die Manschetten erinnerten ihn außerdem an den Tod seines Vaters.
Das Obergeschoss des Hauses bestand aus zwei Schlafzimmern, von denen eines Jamie bewohnte. Das andere war das seines Vaters gewesen und stand jetzt leer. Manchmal hörte er noch, wie sein Vater sich darin bewegte.
Jamie aß einige eingemachte Aprikosen aus einem Glas. Er rauchte Woodbine-Zigaretten und trank dazu starken Tee. Er bestrich zwei Scheiben Weißbrot mit Butter und bestreute sie mit Zucker, bevor er sie sorgsam in Wachspapier einwickelte und für später in seine Jackentasche steckte. Er las ein paar Seiten von Tarzan und die Ameisenmenschen von Edgar Rice Burroughs. In dieser Geschichte wird Tarzan von einer Rasse winziger Menschen gefangen genommen und versklavt, um in den Minen zu arbeiten. Jamie MacRaith las gern, vor allem Abenteuer- und Mordgeschichten. Die anderen Bücher, die er an jenem Januartag in der Reisebibliothek ausgeliehen hatte, waren Das fehlende Glied in der Kette und eine Anleitung zum Bau eines Vergasermotors.
Jamie schloss das Haus ab und verstaute die Schlüssel in einem Stapel Schieferplatten an der Hintertür. Verschlossene Türen waren in Loyal bis vor drei Jahren, als Jamie MacRaiths Vater gehenkt wurde, unbekannt gewesen. Er holte Bill, das Pony, von der Koppel hinter dem Hühnerstall. Bills struppige Mähne war von Eiskristallen durchsetzt.
Das Dorf Loyal bestand aus einer einzigen Straße mit weiß getünchten Häusern und lag am nördlichsten Rand von Großbritannien. Im 19. Jahrhundert von Highlandern besiedelt, die vor dem Feuer und Blut der Clearances flohen, war Loyal eine Seetangstadt, bis es keinen Seetang mehr gab. Der Krieg hatte die meisten jungen Männer dahingerafft und nun war es ein Dorf von Krüppeln und alten Frauen, die die Namen längst ausgelöschter Clans trugen. MacRaith, McRae, Buchanan. Sie trauerten um die Vergangenheit und sie hielten die Erinnerungen an ihre Großväter und Großmütter in Ehren.
Jamie führte Bill das Pony die dunkle Straße am kleinen Hafen von Loyal hinunter. Der ölige Salzgeruch verfolgte ihn in der kalten Luft. Während des Sturms waren die Boote hoch über die Wasserlinie auf die gepflasterte Straße gezogen worden, die Masten gelegt und mit Tauen festgezurrt. Die Boote lagen nun ausgestreckt auf der Seite und ließen Jamie an gestrandete Seeungeheuer denken.
Um zehn vor acht schloss Jamie den Laden auf. Er war seit zwei Jahren der Metzger in Loyal, seit er aus dem Krieg heimgekehrt war. Er ging in den Keller, hängte eine große Rinderhälfte aus und wickelte sie in ein Tuch. Er schleppte sie hinaus zu Bill, der vorm Laden angebunden war. Jamie hatte mehrere Monate damit zugebracht, das Pony an den Geruch von Blut zu gewöhnen. Trotzdem sträubte sich Bill manchmal. Das Rindfleisch war von Burg Altnaharra für den Silvesterabend bestellt worden, in dieser Gegend Hogmanay genannt. Wegen des Sturms war es inzwischen drei Tage überfällig und Jamie sorgte sich wegen der Bezahlung.
Mittels eines eigens konstruierten Geschirrs lud er die Rinderhälfte auf Bill und machte sich dann auf den Weg, am Meer entlang.
Unterwegs begegnete er keiner Menschenseele. Um neun Uhr, der Stunde des winterlichen Sonnenaufgangs, begann sich die Welt zu offenbaren. Vögel kreisten am immer heller werdenden Himmel, die Hügel waren rotbraun und grau gefärbt, erstreckten sich bis weit in den hohen Norden. Draußen auf dem Meer war die Sonne ein brennender Ball, der sein gebrochenes Licht über das Wasser warf.
Burg Altnaharra lag auf der gleichnamigen Insel, eine Viertelmeile vor der Westküste der Halbinsel. Im Jahr 1898 kehrte Colonel John Bearings aus Indien zurück und reiste nach Norden in die Highlands, um sein Erbe anzutreten – eine verfallene Ruine auf einer vom Wind gebeutelten Insel. Er setzte die Burg instand, legte Gärten an und stellte Bienenstöcke auf. Zwei Frauen schlossen sich ihm an, Alice Seddington und Nora Marr. Sie nahmen vier Säuglinge auf, Findelkinder aus den vielen verarmten Gemeinden, die in den Highlands verstreut lagen. Die Bewohner von Altnaharra kamen hin und wieder ins Dorf, um Schnürsenkel zu kaufen oder Geschirr ausbessern zu lassen. Von den Einheimischen wurden sie für seltsam gehalten, aber man ließ sie in Ruhe.
Nach der Hinrichtung, im Jahr 1917, erschien ein großes Stahltor auf dem steinernen Damm, der Altnaharra mit dem Festland verband. Die Kinder besuchten nicht mehr die Schule in Loyal. Die Frauen kamen nicht mehr ins Dorf, um Schnürsenkel zu kaufen, sie sammelten kein Treibholz mehr am Ufer. Sie zogen sich in sich selbst zurück.
Die einzigen Lebenszeichen waren die höflichen Mitteilungen, die für Händler in dem Drahtkäfig hinterlassen wurden, der am Tor hing. Blassgrüne Wolle, vom Farbton eines Kohlherzens. Stricknadeln (3x). Drei scharfe Schneidemesser und ein Knäuel Schnur (groß). Rindfleisch für Hogmanay bitte. Mindestens drei Wochen abgehangen. Die Einwohner von Loyal waren es gewohnt, den Käfig zu überprüfen, wenn sie an Altnaharra vorbeikamen, und die Waren dort zu hinterlegen, wenn sie das nächste Mal vorbeikamen. Die Bezahlung wurde auf die gleiche Weise im Käfig hinterlassen, immer auf den Penny genau.
In Loyal erzählte man sich, dass die Bewohner von Altnaharra nachts unter dem Herbstmond das Tor öffneten und wild über das Moor liefen, blau angemalt, um nach Seelen zu suchen, die sie holen konnten. Manche sagten, sie seien alle längst tot und die Insel sei nun von Geistern bevölkert. Jamie schenkte dem keine große Beachtung. Geister und Feen brauchten keine Dinge wie Lammhack oder Wolle.
Der Fußweg zur Insel lag nun vor ihm, unter einem Fingerbreit schimmerndem Wasser. Er beglückwünschte sich, seine Reise so gut geplant zu haben, denn bald würde die Flut einsetzen und wieder hereinströmen. Altnaharra konnte nur bei Ebbe erreicht werden, und wenn er getrödelt hätte, wäre ihm das Meer bei seiner Überquerung bis zu den Oberschenkeln geschwappt.
Aber Bill scheute am Damm zurück. Er setzte seine vier Beine fest auf und stellte klar, dass er seine Hufe nicht nass machen würde. Jamie versuchte, ihn mit dem Stück Zuckerbrot, das er für sein eigenes Mittagessen vorgesehen hatte, zu überreden. Er streichelte und drohte, alles ohne Erfolg. Das Pony wollte nicht hinübergehen. Anstatt sich mit 500 Pfund sturem Highland zu streiten, löste Jamie die Rinderhälfte, nahm sie resigniert auf seinen eigenen Rücken und watete vorsichtig zur Insel hinaus.
Im Kielwasser des Sturms wehte ein steifer Wind, und mehr als einmal hätte ihn das Gewicht des Rindes fast ins Meer gestürzt. In der Ferne hörte er das Bellen von Robben. Ihm gefiel der Gedanke nicht, mit einem 100 Pfund schweren Ochsen am Körper ins tiefe Wasser zu fallen. Die Herden, die bei Altnaharra überwinterten, waren Kegelrobben: riesig, hässlich und stark. Sie waren dafür bekannt anzugreifen, wenn sie den Geruch von Fleisch witterten.
Als Jamie sich näherte, sang der Wind seltsam durch das Stahltor. Es war fünf Meter hoch und an riesigen Pfosten aufgehängt. Schwere Ketten hielten es fest. Jamie legte das Rindfleisch mit einem dumpfen Schlag in den Drahtkäfig. Als er sich zum Gehen wandte, stolperte er im seichten Wasser und hielt sich an einer Querstange des Tores fest. Auf seine Berührung hin schwang es langsam auf und zog Jamie mit, der mit einem Platschen auf die Knie fiel.
Vor ihm lag ein kleiner blauer Kieselsteinstrand. Ein Pfad führte durch vergilbtes Wintergras den Hügel hinauf. Schafe scharrten schwermütig in der harten Erde. Oben zeichnete sich die verfallene Silhouette der Burg scharf gegen den Himmel ab. Jamie richtete sich rasch auf. Er rief ein Hallo. Die Schafe machten erschrocken einen Satz, aber es kam keine Antwort.
»Ich dachte, sie wollten, dass ich das Fleisch zur Burg hinaufbringe«, sagte er später bei der Untersuchung. »Und dass sie das Tor für mich offen gelassen hatten.«
Jamie kletterte den schmalen, steinigen Pfad hinauf. Der Himmel klärte sich zum gestochenen Blau eines kalten Tages. Das Meer kräuselte sich und glitzerte. Dahinter, nach Westen, war das Land in Licht getaucht. Für Jamie fühlte sich jeder Schritt wie eine Übertretung an.
Die Burg war von einem Wall umgeben, alt und bröckelnd. Das rostige Fallgitter war halb heruntergelassen. Im Hof dahinter wehten weiße Papierfetzen oder Stofftücher heftig im Wind.
Die Spitzen des Fallgitters waren scharf und Jamie wollte sich »nicht darunter begeben, denn es sah aus, als ob es jederzeit ganz herunter und auf mich fallen könnte.«
Er rief zum Haus hin. Es gab keine Antwort.
Er schob das Rindfleisch unter die Spitzen, dann schlängelte er sich widerwillig und mit fest geschlossenen Augen hindurch, nur darauf wartend, dass das alte Eisen herunterkrachte und seine Rippen durchbohrte.
Im Innenhof angekommen, rief er erneut. Noch immer erfolgte keine Antwort. Jamie war verärgert – er dachte, dass man sich vielleicht über ihn lustig machte oder irgendein Spiel gespielt wurde.
Als er sich der Küchentür näherte, sah er, dass es sich bei den weißen Stofftüchern in Wirklichkeit um fünf oder sechs Möwen handelte, die sich um die Reste von irgendetwas balgten. Als er die Faust hob, um gegen das Eichenholz zu schlagen, flatterte ihm eine Möwe, verfolgt von ihren Artgenossen, in die Beine. Sie ließ das, was sie in ihrem Schnabel hielt, zu Jamie MacRaiths Füßen fallen. Es erwies sich als ein menschlicher Daumen, der sauber am Gelenk abgetrennt war.
Jamies Herz begann heftig zu schlagen. Schnell legte er die Rinderhälfte ab, wickelte den Daumen in sein Taschentuch und steckte es in die Tasche. Die Möwen pickten wütend nach seinen Fingern, als er dies tat. Als Nächstes entfernte er den Metallhaken, der zum Aufhängen in das Fleisch gesteckt worden war. Mit diesem in der Hand öffnete er die Tür und schlich sich leise in die Küche.
Später sagte er, dass ihn die Erkenntnis in dem Moment überkam, als er Altnaharra betrat. Als er in der Stille stand und die Luft atmete, wusste er, dass sie alle tot waren. Er sah sich in dem Raum mit dem Holztisch und dem eisernen Herd um, der viermal so groß war wie der kleine in seinem Haus. Der Herd fühlte sich kalt an, was ihm verriet, dass niemand ihn an diesem Tag angeheizt hatte. Ein schweres Beil lag auf dem Fußboden, daneben ein aufgeschlitzter Sack Mehl. Der Wind hatte einen feinen Staub durch den Raum geweht. Auf dem Boden waren zwei Fußspuren zu sehen. Er folgte ihnen, wobei er darauf achtete, die Spuren nicht zu verwischen. Schließlich las er Kriminalromane.
Im Korridor waren die Steinplatten von schwarzem Schlamm bedeckt, breite Streifen aus Dreck, die sich über den Boden verteilten, noch nicht ganz trocken. Jamie sah mit einem Gefühl des Fallens, dass der Schlamm rot gefärbt war. Von irgendwo oben erklang etwas, das sich wie ein Schuss anhörte. Jamie erzählte der Polizei später, dass alles »erstarrte und zum Stillstand kam«. Nach ein paar Augenblicken ertönte das Geräusch erneut und die Vernunft setzte sich wieder durch. Es war nur eine Tür, die in irgendeinem Raum im Obergeschoss vom Wind hin- und hergeworfen wurde.
Er ging zum Eingang des großen Saals. Die hohen Fenster blickten auf das Meer im Osten, und die Reflexionen des Wassers spielten an den Wänden und Balken der gewölbten Decke. Es herrschte ein süßer, fermentierter Geruch. Die Stühle waren wie in Eile zurückgeschoben und die Kerzen in den Leuchtern waren alle heruntergebrannt. In der Ecke des Raumes pickten zwei Hühner hungrig an den kalten Steinen. Oben krachte die Tür erneut mit einem gewaltigen Knall im Wind. Nach einem Moment schluckte Jamie MacRaith sein Herz wieder hinunter. Er ging weiter durch das Haus und folgte der Spur aus Schlamm und Blut.
Er kam zur Tür, die auf den Osten der Insel hinausging, und begrüßte erleichtert die Luft und den Himmel. Doch der Türsturz war mit einem rostfarbenen Handabdruck versehen. Der Weg zu seinen Füßen war mit dunklen Tropfen besprenkelt. Er führte zum Meer hin. Er folgte ihm, weil er wusste, dass er es musste, während sich in seinem Kopf eine Frage und eine Antwort wiederholten wie ein Kinderreim oder ein halb vergessenes Lied. Was ist hier geschehen? Eine schreckliche Sache.
Er erklomm den Hügel, einen sanften grünen Hang, der zu dem warmen grauen Haufen einer verfallenen Kirche hinunterführte. Dahinter sah er die stehenden Steine. Sie langten wie weise Finger in den Himmel und warfen lange Schatten auf das Gras. Der größte Stein, Cold Ben genannt, lag auf der Seite, neben einer klaffenden Wunde, wo er aus der Erde gerissen worden war.
Dann sah Jamie sie.
In der Mitte des Steinkreises lagen fünf Gestalten, die sternförmig angeordnet waren. Sie wurden von Möwen bewacht, die eifrig fraßen. Als Jamie näher kam, flogen die Vögel auf, mit weißen Flügeln schlagend.
Die Gestalten waren Menschen, die friedlich wie bei einem Kinderspiel dalagen. Ihre Füße zeigten in die Mitte des Kreises und ihre Köpfe nach außen; ihre Körper zeigten in alle Himmelsrichtungen. Sie waren in feine weiße Wolle gewickelt. Jamie sah ihre Gesichter, sie waren alle tot.
Jamie MacRaiths erster Instinkt war, sich umzudrehen und davonzulaufen. Er unterdrückte ihn. Sein zweiter Impuls war, sich zu übergeben, und für einige Augenblicke kauerte er auf allen vieren. Als er sich wieder erholt hatte, ging er schnell zu dem Kreis. Er überprüfte jedes kalte Handgelenk auf einen Puls. Ihre Herzen waren still. Ihre rechten Augen waren sauber entfernt worden. Die Augenhöhlen klafften rot.
Elizabeths Leichnam lag von Osten nach Westen, zum Meer hin ausgerichtet. Ihr Kopf ruhte neben dem umgefallenen Stein. Sie war 14 Jahre alt gewesen. Der Wind wirbelte ihre Locken durcheinander. Neben ihr lag John Bearings, das Fleisch wie Marmor, steif vor Starre, das Haar fiel ihm in die Stirn. Sein Daumen war am Knöchel sauber abgetrennt. Neben ihm Nora. Ihr einzelnes großes graues Auge starrte. Dinah lag auf der anderen Seite des Kreises. Neben Dinah lag Sarah Buchanan, ein Mädchen aus dem Dorf. Welches böse Schicksal sie hierher nach Altnaharra geführt hatte, konnte Jamie sich nicht vorstellen.
Die Bewohner der Insel waren alle anwesend, bis auf eine Ausnahme: Evelyn war nicht unter den Toten.
Die Möwen begannen vorsichtig zurückzukehren. Eine landete auf Dinahs Gesicht und trieb ihren Schnabel in die Stelle, wo ihr Auge hätte sein sollen. Jamie schrie entsetzt auf und rannte auf sie zu. Die Möwe flatterte ein paar Meter außerhalb seiner Reichweite und landete träge auf Noras Fuß. Schluchzend stürzte er sich erneut auf die Möwe, aber als er sich umdrehte, waren zehn weitere heruntergekommen. Sie rissen und pickten mit gierigen Schnäbeln.
Jamie rannte im Kreis herum und fuchtelte mit den Armen. Die Möwen stiegen auf und ließen sich nieder, stiegen auf und ließen sich in weiß gefiederten Wellen nieder, ihm mühelos ausweichend. Sie füllten ihre Bäuche mit dem weichen Fleisch der Toten.
Jamie schrie und so hörte er zunächst nicht, wie sein Name mit schwacher Stimme ausgesprochen wurde. Dinah rief erneut nach ihm. Ihre Finger zuckten. Ihr Gesicht war grässlich blass, ihre Worte undeutlich, ihr Kopf wackelte betrunken, und eine dünne Blutspur rann ihr die Wange hinab. Aber sie lebte.
Jamie nahm sie in den Arm und weinte.
»Wo ist Evelyn?«, fragte sie. »Oh, ich erinnere mich. Sie hat uns die Augen genommen.«
Jamie MacRaith schaute sich um, als ob Evelyn hinter den Steinen oder im langen Gras lauern würde, aber da war nichts außer dem hellen Morgen.
Jamie kam im Galopp nach Loyal. Das Pony zitterte vor Erschöpfung, sein langes zotteliges Fell war schweißgetränkt. Die beiden wurden erstaunt von Mrs. Smith begrüßt, die sich auf ihre Türschwelle gesetzt hatte, um ein Fischernetz auszubessern. Sie versuchte Jamie ins Haus zu holen, um ihm etwas zu trinken zu geben und ihn zu beruhigen, aber er wollte nicht. Immer wieder zeigte er mit zitterndem Finger über das Moor, nach Osten, auf das Meer, als hätten diese Dinge ein großes Unrecht begangen.
»Sie müssen nach Altnaharra. Die Polizei. Sie sind alle ermordet worden. Nur Dinah ist noch am Leben.«
Was ist hier geschehen? Eine schreckliche Sache.
So überlebte ich, obwohl ich es damals nicht wollte. Sie brachten mich auf einer Trage zurück nach Loyal. Mit meinem verbliebenen Auge starrte ich hinauf. Die Wolken zogen über mir, bildeten immer neue Formen. Darin zeigten sich die Gesichter der Toten.
Leute kamen aus Häusern und von Feldern, als wir uns Loyal näherten. Wir wurden zu einer Prozession. Überall waren Augen und Hände zu sehen. Sie schienen sich die Lippen zu lecken, als sie mich ansahen. Ein kleiner Junge berührte mit einem schmutzigen Finger einen Blutfleck auf meinem Ärmel. Ich schrie. Ich hörte erst auf, als wir im Gasthaus waren und die Tür verriegelt wurde. Ich konnte sie noch immer hinter der Tür atmen hören. All diese Leute. Ich hatte die Insel seit Jahren nicht verlassen.
Sie steckten mich in einen Raum über der Bar, wo sie kaputte Dinge aufbewahrten, die darauf warteten, repariert zu werden: einen Handpflug, einen Krug, eine Kiste mit zerbrochenen Tellern, einen Steigbügelriemen, einen Kreisel mit leuchtend roter und blauer Farbe.
Ein alter Doktor aus Tongue verband mein Auge. Er roch nach Tabak und Kampferöl, und ich weinte die ganze Zeit. Seltsam, dass ein fehlendes Auge noch weinen kann.
»Mein Name ist McClintock«, sagte er.
Ich fragte wieder nach Onkel, Nora und Elizabeth. Ich sagte, es müsse sich um einen Irrtum handeln, denn sie könnten nicht tot sein. Er erwiderte, dass sie tot seien. Ich riss mir die Haare an den Wurzeln aus und kratzte mir das Gesicht. Er gab mir Milch mit etwas darin. Da ich es nicht besser wusste, trank ich sie. Das Zeug brachte meinen Verstand ins Schleudern, ließ ihn sanft in sich selbst stürzen.
»Warum hat sie die Augen genommen?«, fragte mich der alte Mann.
»Sie dachte, es würde ihr Macht geben. Sie hat sich vor drei Jahren selbst ein Auge ausgestochen. Es war nicht genug.«
Er machte einen missbilligenden Laut in der Kehle.
»Das ist die Sorte Unsinn, auf die sie sich stürzen werden. Da draußen erzählen sie schon die alte Geschichte, sagen, dass es die Eubha Muir war.« Der alte Mann erhob sich mit einem Ächzen. »Ich habe mich um die Lebenden gekümmert, nun kommt der Rest.«
Unsinn oder nicht, er wollte weg von mir, deshalb sagte ich: »Ich muss bei ihnen sein.«
Trotz seiner Proteste ging ich mit ihm über die Straße, barfuß, durch die zuschauende Menge. Die Leichen waren im Keller von Jamie MacRaith, zusammen mit dem Rindfleisch. Ich folgte ihm die Treppe hinunter. Als ich sie alle sah, weinte ich wieder. Ich versuchte auf die Bahre zu klettern, um mich neben Elizabeth zu legen. Der Doktor ließ mich nicht. »Ich bin eine von ihnen. Ich bin auch tot.«
»Geh runter. Lass mich meine Arbeit machen. Es gibt Dinge, die ich tun muss – die Leichen müssen gelüftet werden. Es ist die alte Pariser Methode. Du wirst das verstörend finden.«
»Ich kann nicht zurück ins Gasthaus gehen. All diese Augen und Hände.«
Er sah mich mit Ungeduld und einigem Mitleid an. »Es gibt nichts zu befürchten.«
»Wo ist Evelyn?«
»Ach, sie werden sie fangen und hängen«, sagte er. »Oder sie wird in der Kälte sterben. In dieser Gegend gibt es niemanden, der sie beherbergen würde. Sie ist nicht die Eubha Muir, nur eine böse Frau.«
»Lassen Sie mich bleiben.«
Der alte Mann zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Es ist deine Entscheidung. Ich habe noch zu tun.« Er ging zu Onkels Leiche, die weiß auf der Bahre lag. Er machte einen kleinen Schnitt in die Wunde, das Skalpell blinkte im schwachen Licht. Der Leichnam gab einen zischenden Laut von sich, als würde Gas entweichen. Er zündete ein Streichholz an und hielt es an die Wunde. Der Schnitt begann mit blaugrüner Flamme zu brennen. Er wiederholte diesen Vorgang an der Lunge und am Unterleib, machte Kerzen aus den Toten.
Ich ließ mich am Eingang zum Keller nieder. Die Dosis wirkte in mir. Die Szene schimmerte, die Leichen brannten wie Votivgaben. Ringsherum wiegten sich die Kadaver von Kühen sanft an ihren Haken. Ich war verändert.
Hier ist das Gefäß mit seinem bleichen Inhalt. Es gehört jetzt Ihnen. Ich hoffe, es wird Ihre Nächte heimsuchen. Ich glaube, das wird es.
Vielleicht werde ich dies nie absenden. Falls ich es tue, werde ich es von einer anderen Stadt aus abschicken. Suchen Sie nicht nach mir. Das sind Sie mir schuldig.
D
Evelyn
1917
Die Tür schwingt mit einem langen, hohen Ton hinter mir zu. Ich verziehe das Gesicht zu einem stummen Schrei. Bestimmt wird Dinah aufwachen. Doch sie schläft weiter, das Haar durcheinander über dem offenen Mund, die Arme weit ausgebreitet, als würde sie aus großer Höhe durch die Luft fallen.
Ich betrachte sie. Sie ist weiß, das Fleisch wie Wachs über ihre Knochen gegossen, Wimpern wie lange Schatten junger Bäume in der Abenddämmerung. Sie ist feucht an den Schläfen, das Haar ein Haufen polierter Pennys, die auf dem Bett verschüttet sind. In diesem Sommer ist sie zu nichts als Lippen und Augen geworden, und manchmal denke ich: Wer ist diese Frau? Es ist, als ob schon immer eine Fremde in ihr gelebt hat, die jetzt zum Vorschein kommt.
Durch das offene Fenster stirbt die Nacht. Die dunkle Luft ist vom Versprechen auf Licht erfüllt, dem schweren Innehalten vor der Morgendämmerung. Unten ist das Meer mit Nebel verhangen, der sein Atem auf dem Wasser ist. Irgendwo unter den Wellen bewegen sich seine trägen, schweren Windungen in der Tiefe.
»Komm heute nicht zu Dinah«, bete ich. »Sie möchte es nicht.«
Dinah keucht im Schlaf. Sie hat mächtige Träume, und das Aufwachen ist schwer. Langsam überquert sie die Grenze.
Wenn man sie lässt, wird Dinah schlafen, bis Onkel kommt. Sie wird benommen aufwachen, zu seiner Enttäuschung. Ich werde schnell und hell wie ein Messer sein. Onkel wird seine Hand auf meinen Kopf legen und die Wärme wird sich in mir ausbreiten. Eve, wach auf! Der Onkel wird endlich sehen, dass ich sein Liebling bin.
Ich seufze. Ich zwicke die Innenseite ihres blassen Schenkels. »Wach auf, Schlafmütze.«
Dinah greift meinen Arm mit überraschender Kraft, fünf Fingernägel graben sich hinein. »Eve.« Ihre Stimme ist schwer, weit entfernt. »Wir waren weiße Kaninchen. Wir waren eingeschlossen, wir konnten nicht hinaus. Der Miefling war unter uns mit seinen Nadelzähnen. Wir wussten nicht, wann er zuschlagen würde.« Der Miefling ist Dinahs ganz eigenes Monster. Er kommt zu ihr, seit ihr Verstand ihr zum ersten Mal Träume eingab.
»Es ist Zeit, Dinah.«
Sie setzt sich müde hin, zurückkehrend, dann stöhnt sie und steht auf, ihre nackten Füße erbleichen auf den eiskalten Steinen. Das Streichholz zischt in ihrer Hand, die Kerze wärmt die Dunkelheit.
Dinah starrt auf ihr Spiegelbild in dem kleinen gesprungenen Viereck aus Glas an der Wand, als wäre es ein großes Rätsel. Sie beginnt zu ahnen, dass sie schön ist, aber sie ist sich noch nicht sicher. Sie fährt sich mit der Zunge über ihre wunde Oberlippe und zuckt zusammen. »Glaubst du, dass das bis zum ersten Schultag weggehen wird? Ich hoffe es.« Wenn Dinah Angst hat, wird sie fast vollkommen still, und ihre Aufmerksamkeit verengt sich, findet irgendeinen kleinen Fokus.
Ich beobachte, wie sie ihr dunkelrotes Haar in Strähnen teilt und flicht. Als sie fertig ist, ist sie von einem Kranz aus Zöpfen gekrönt. Nora hat es Dinah beigebracht. Meine Finger wollten es nicht lernen. Oder vielleicht war es so, dass Nora es mir nicht beibringen wollte. Wir mögen uns nicht, sie und ich.
»Komm her, Schlafmütze.« Dinahs Finger sind schnell und geschickt, binden mein Haar an meinen Schädel. Das ist ihre Art, sich bei mir zu bedanken. Ich hätte sie auch schlafen lassen können.
Sie nimmt das Messer aus ihrem Aufschlag und schneidet einen losen Faden von ihrem Rock ab. Sie bindet das Ende des Zopfes zusammen. »Wo warst du heute Nacht?«
»Ich habe neben dir geschlafen«, sage ich.
»Nein. Du bist irgendwohin gegangen und dann zurückgekommen. Die Tür hat ein Geräusch wie ein krankes Lamm gemacht.«
»Du und deine Träume, Dinah!«
Sie schaut nur, die dunklen Augen weit aufgerissen. »Ich wünschte, die Prüfung wäre vorbei.«
Onkel steht in der Tür. Sein Monokel blinkt im Kerzenlicht. Onkel ist schmächtig und schüchtern. Er geht in einer Wolke aus Unsicherheit umher. Seine Augen sind sehr jung, der braune Bart und der Schnurrbart sprießen wie dichtes Gestrüpp aus seinem Gesicht, die Narben darunter sind nur flüchtig zu erkennen, wie Flusssteine im fließenden Wasser. Wie immer richtet sich die Welt mit seiner Anwesenheit neu aus. Sie nimmt Farbe und Details an.
»Schon wach, Dinah. Und bereit.« Seine Anerkennung ist wie eine Liebkosung. Ich sehe, wie sie über sie hinweggeht, wie ihre Wangen heiß werden und ein schüchternes Lächeln um ihre Lippen spielt. Wie albern sie aussieht. Sehnsucht erzeugt einen sauren Geschmack in meiner Kehle.
»Und Eve ist auch wach.«
Onkel breitet seine Arme aus.
Wir laufen beide in sie hinein. Es ist, wie von einem freundlichen Tiger gehalten zu werden, die leichte Berührung seiner Schnauze.
»Schnell jetzt«, sagt der Onkel. »Die Dämmerung bricht an.« Er geht, summend.
Die Turmtreppe ist von Jahrhunderten von Füßen glatt geschliffen, die alten Schießscharten sind Schlangenaugen, gesäumt von Farn und Moos. Der verwitterte Hof ist von schiefen Zinnen umgeben, zerfressen wie von Riesen. Über uns ist der Himmel stählern und voll von Vogelgezwitscher. Kleine schwarze Kaninchen stieben über das kahle Gras, zeigen ihre weißen Fersen.
Wir ducken uns unter dem verrosteten Fallgitter hindurch, hinaus aus dem Schutz der bröckelnden Arme der Burg. Der Wind trifft uns wie ein Schlag. Er ist eine Konstante auf Altnaharra. Das Heulen, das kalte Hämmern in den Ohren. Vor uns heben sich die Steine schwarz vom heller werdenden Meer ab. Manche sind hoch, schartig, andere breit und flach, von der Zeit geglättet. Sie stehen schief und schwankend in ungelenken Winkeln. Als wir uns nähern, zerrt jeder Stein an mir, kleine Zupfer der Macht. Cold Ben steht auf der Ostseite. Er ist nicht der größte Stein, aber er ist der mächtigste. Sein Wille schwebt in der Luft.
Wir laufen in der Reihenfolge unseres Alters auf unsere Plätze. Dinah steht neben Abel. Er ist 15 Wenden alt, aber ich bin fast so groß wie er, was er hasst. Sein Gesicht ist blass unter einem Schopf weißblonden Haars. Abel ist ganz und gar unergründlich. Er starrt vor sich hin, aber seine Hand berührt sanft die von Dinah, kleiner Finger an kleinem Finger. Sie schaudert, dankbar.
Ich nehme meinen Platz auf der anderen Seite von Abel ein. Baby Elizabeth schaukelt an Alice’ Hand. Sie wiegt einen Holzlöffel und streichelt ihn wie ein weiches Tier. Das schwache Licht macht einen Nimbus aus ihrem Haar. Elizabeth hat elf Wenden der Jahreszeiten erlebt, aber sie wird für alle immer das Baby sein. Sie spricht nicht. Vor zwei Wenden hat sie einfach aufgehört.
Nora und Alice sind von Kopf bis Fuß in cremefarbenes Leinen gehüllt. Unter den Schirmen ihrer Mützen sind ihre Gesichter fern und schön. In ihrem wogenden Weiß sehen sie aus wie zwei große Vögel, die ruhig unter den Menschen fressen. Wir Mädchen werden alle das Weiß tragen, eines Tages.
Die Luft ist voll, wartet auf Farbe.
Onkel gibt Alice Honig aus seinen Händen. Er hebt eine Perle aus Blut auf ihren Daumen. Er kommt zu jedem von uns mit Honig und dem Messer. Wir halten die zitternden roten Kugeln auf unseren Fingerspitzen. Der süße Schwindel des Blutvergießens durchfährt mich.
Ein brennender Feuerball fällt über die Bucht und die Luft wird lebendig. Die Steine heben sich vom glühenden Himmel ab, das Meer ist ein Feld aus zerbrochenem Glas.
Wir lassen das Blut auf die Erde fallen.
Onkel winkt Dinah in die Mitte der Steine. Sie geht hin und sieht benommen und dumm aus. Ihre Lippen sind geteilt, sie nimmt kleine Schlucke Luft.
Onkel öffnet den Binsenkorb vor seinen Füßen und kippt ihn vorsichtig um. Hercules gleitet heraus, silberne Streifen, die wie ein Strom fließen, während er sich bewegt. Seine roten Augen starren ihn an. Onkel nimmt ihn in seine bloßen Hände. Ich beobachte, wie er seinen Daumen hinter Hercules’ Kiefer legt.
Hercules windet sich, dann wird er still. Onkel hält ihn in die Höhe, eine Opfergabe an den Himmel. »Nimm ihn«, sagt Onkel.
Dinah atmet tief durch. Ihr Gesicht ist wie erstarrt. Sie greift nach Hercules mit zitternden Händen. Dinah nimmt ihn am Schwanz, am Hals. Ihre Lippen bewegen sich. Sie starrt die Schlange an. Sie versucht, in ihn hineinzufahren.
Hercules schnellt herum und zeigt seinen weißen Bauch. Sein Kopf ist ein unscharfer dunkler Fleck. Es gibt ein Geräusch wie das Knacken eines grünen Zweiges. Dinah schreit auf.
Onkel macht einen missbilligenden Laut und nimmt Hercules sanft zurück, dann legt er ihn in den Korb.
»Es ist zu Ende. Er hat Dinah nicht mit seinen Augen sehen lassen.«
Altnaharra beruhigt sich um uns her. Vogelgezwitscher und der Wind. Dinah beginnt zu schwitzen. Sie umklammert ihren Arm und zuckt zusammen. Zwei glänzende Einstiche. Das Fleisch um sie herum schwillt an, während ich zusehe.
Onkel hebt den Korb von Hercules auf und geht die Anhöhe zur Burg hinauf. »Kommt«, sagt er zu Nora und Alice. »Der Tag schreitet voran.« Sie eilen in einem Gewimmel von Röcken hinter ihm her, jede hält eine von Elizabeths Händen.
Dinah sitzt zwischen den Steinen und gibt einen hohen, schrillen Laut von sich. Ihre Schultern zittern. Ich gehe auf sie zu, aber Abel stößt mich zur Seite. Er legt seine dünnen Arme um Dinah und flüstert etwas mit der Stimme, die sie nur füreinander benutzen.
»Dinah«, sage ich. »Weine nicht!«
»Geh weg, Eve.« Abels Stimme klingt schrill. Er streichelt Dinahs Wange, die von Tränen glänzt. Sie sieht mich nicht an.
Etwas steigt heiß in meiner Kehle auf. Dinah ist der Fixpunkt. Ich nehme um sie herum Gestalt an. Wenn sie mich nicht bemerkt, verblasse ich an den Rändern und weiß nicht, was ich tun soll.
Im grauen Licht der Küche legt Onkel eine Hand auf meinen Kopf. »Sei nicht traurig wegen Dinah«, sagt er. »Das ist vergangen.«
Alice lacht über etwas, das Nora mit ihrer tiefen Stimme flüstert. Seltsame Vokale von anderswo. Ihre Wangen erröten. Wenn Onkel sie ansieht, werden sie ernst, die dunklen Augen flackern. Er lächelt sie an. Nora ist in den letzten Monaten sehr dick geworden. Ihr Bauch sticht heraus wie ein Felsbrocken. Manchmal hält sie ihn, als ob sie ihn liebt oder als ob er wehtut. Das Meer ist vor kurzer Zeit in Nora gekommen und hat ein Kind in ihr hinterlassen.
Wir schlagen die Augen nieder und reichen uns die Hände.
»Ihm sprechen wir Dank aus«, sagt Onkel. »Möge Er sich um die Welt winden.«
Nora teilt Haferbrei und Honig aus. Fünf Mundvoll. Wir essen wie eine Schlange, wenig und selten. Der Hunger bringt uns näher zu Ihm.
Als Onkel seinen Brei aufgegessen hat, bringt Nora ihm Speck und Pilze. Der Duft erfüllt die Luft, kräftig und herzhaft, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich frage mich, ob Fleisch so schmeckt, wie es riecht, nach Trost und Schmerz zugleich.
Alice und Nora sprechen über den Zirkus. Sie haben auf dem Markt davon gehört. Orde’s Circus kommt in manchen Jahren durch Loyal, auf dem Weg nach Süden, nach England. Sie schlagen ihr Lager unterhalb von Ardentinny auf.
»Eine Handleserin«, sagt Nora. »Eine bärtige Frau! Ein Medium!«
»Was ist ein Medium?«, frage ich. Das Wort gefällt mir. »Medium, Medium, Medium.«
»Hör auf damit«, sagt Nora. »Es bedeutet jemand Unreines, der vorgibt, die Macht des Auges zu haben, und sie gegen Geld eintauscht.«
»Du bist zu jung, um dich an das letzte Mal zu erinnern, als sie durch Loyal kamen«, sagt Alice. »Sie haben Elefanten, arme Dinger, und sie ziehen ihnen Wintermäntel an, wie die, die diese dummen kleinen Hunde tragen, wie sie alte Ladys aus Edinburgh besitzen …« Nora sieht sie warnend an und Alice errötet. Sie legt die Hand auf ihren Mund. »Verzeih mir«, sagt sie zu Onkel.
»Wie groß sind Elefanten, Onkel?«, frage ich schnell. »Sind sie so groß?« Ich breite meine Arme aus, um ihn zum Lachen zu bringen.
»Viel größer«, antwortet er und lächelt. »Nun macht euch an eure Aufgaben.«
Ich weiß natürlich, dass Loxodonta africana bis zu drei Meter hoch wird und Elephas maximus bis zu vier.
Heute ist Fütterungstag für Hercules. Hercules ist Onkels Aufgabe, so wie die Hühner meine Aufgabe sind, die Mutterschafe Abels und Haystack das Pony Dinahs, und Alice flickt uns zusammen, wenn wir hinfallen, und Nora kümmert sich um die Bienen. Hercules’ Becken steht neben dem Küchenherd. Wenn es warm ist, bringt Onkel ihn tagsüber in die Sonne.
Onkel hält einen großen, glänzenden Frosch. Seine Kehle bewegt sich. Er lässt den Frosch in Hercules’ Becken fallen und schließt den Deckel.
Der Frosch glotzt und springt mit kräftigen Beinen. Hercules schlägt zu, seine dicken Windungen lösen sich. Der Frosch wird mitten im Sprung geschnappt. Seine Beine strampeln weiter. Hercules renkt seinen Unterkiefer aus und schluckt den Frosch hinunter. Seine roten Augen starren mich an.
Ich werde bereit sein, wenn meine Zeit gekommen ist, verspreche ich ihm im Stillen.
Nachdem ich die Hühner gefüttert und die Eier eingesammelt habe, gehe ich zum Westufer. Es ist Ebbe, und gestrandetes Wasser schimmert in Pfützen auf dem Fels.
Ich finde ihn leicht, als ob er auf meinen Ruf hergekommen wäre. Sein glatter, abgerundeter Panzer ist zart orange und rosa, grün und blau umrandet. Die Farben verletzten Fleisches. Ich hebe ihn vorsichtig hoch. Seine zehn gepanzerten Beine streichen durch die Luft. Wir nennen ihn Strandkrabbe, aber er hat noch einen anderen geheimen Namen.
Ich klettere mit ihm zu meinem versteckten Platz über dem Meer. Er ist von Felsbrocken umgeben, bedeckt von Flechten, Möwenkot und altem Seegras, das von Stürmen hierhergeworfen wurde. Es riecht stark nach totem Fisch. Es ist der Schlupfwinkel vieler Sandflöhe.
Niemand außer mir kommt hierher.
Unter einem Stein hole ich das in braunes Wachstuch eingewickelte Päckchen hervor. Es ist schwer und ich kann es kaum heben. Meine Hand streicht über das rissige Leder. Klassen der Reiche Animalia et Plantae, so steht es in verblasstem Gold in die Haut des Buchs geritzt.
Die Namen bilden so gute Formen im Mund. Muscheln werden zu Brachiopoda, Crustacea, Chordata, Loricifera. Das Reich Animalia erzählt von Dingen, die ich kenne. Robben und Schnecken und Würmer und Schafe, alles, was unter der glasigen Decke des Ozeans lebt. Es erzählt auch von Lebewesen, die ich nicht kenne, die von Hitze, Sand und Luft geformt werden.
Ich blättere die Seiten um, bis ich ihn gefunden habe. Da. Carcinus maenas. Ich forme die Worte mit meinen Lippen.
Ich fand das Buch in einer Truhe in einem Raum, in dem früher Bücher aufbewahrt wurden. Jetzt lagern wir dort Fischernetze. Wir brauchen keine Bücher mehr, meint Onkel. Wahrheit und Wissen sind im Ozean. Aber kann man die Wahrheit nicht an zwei Orten gleichzeitig finden?
Das Buch ist nicht wie die Schule, in der ich mich kalt und allein fühle. Das kleine weiße Haus in Loyal, wo wir dem Unterricht von Mr. MacRaith lauschen. Onkel sagt, wir müssen hingehen, müssen gerade genug tun, um wie die anderen zu wirken. An Schultagen sind wir Waisen. Notleidende Kinder, aufgenommen von Onkel. Ich hasse diese Lüge. Sie verbrennt mir den Mund. Es ist, als versteckte man ein großes Licht unter einem Sack.
Ich setze die Krabbe ab und sie macht sich auf den Weg zum Rand der Klippe.
»Carcinus maenas«, sage ich mit einem flachen Atemzug.
Einen Moment lang hält er inne, gefangen von der Macht seines Namens.
Nora bläst unsere Kerze aus, dann schlurft sie den Gang entlang. Ich höre sie stöhnen. Sie ist so dick, kein Wunder.
Neben mir sagt Dinah: »Eve.«
»Ich mache schon.« Ich steige langsam aus dem Bett. Ich gehe zum Fenster und öffne es einen Spalt. Der Wind pfeift, stößt seinen gierigen, eiskalten Finger herein. Ich gehe zur Tür. Ich öffne sie einen Spalt und klemme sie mit einem Schemel fest. »Besser?«
»Ja«, sagt Dinah und Erleichterung durchfließt ihre Stimme wie eine Ader. Es ist kalt. Im Winter wachen wir mit Eis auf den Lippen auf. Aber das Fenster muss offen sein. Dinah kann es nicht ertragen, eingeschlossen zu sein.
Ich steige zitternd ins Bett und halte sie fest, während sie in den Schlaf sinkt. Bald ist es, als hielte ich eine warme Leiche.
Ich lasse sie langsam los, dann gleite ich aus dem Bett und gehe durch die dunkle Burg hinunter, wo Hercules in seinem gläsernen Gefängnis schläft.
Jemand muss die Otter nach Onkel sein, sich so um uns kümmern, wie er es tut. Dinah will es nicht. Abel hat tiefe Strömungen in sich. Er liebt und hasst zu sehr, also kann er es nicht sein. Elizabeth – etwas ist gebrochen in ihr, nicht nur ihre Stimme. Ich muss es sein. Das wurde mir klar, kurz nachdem Onkel mit der Prüfung begonnen hatte.
Wie viele Male haben wir es schon versucht? Hunderte, vielleicht mehr. Nie ist es uns gelungen, mit seinen Augen zu sehen.
Wir werden jedes Mal gebissen.
Hercules ist ein Teil von Ihm, der aus dem Ozean kommen wird. Aber er ist auch eine Schlange, Vipera berus, eine gewöhnliche Kreuzotter. Ich kenne seine beiden Naturen.
Onkel hält Hercules immer auf die gleiche Weise. Er stützt Hercules’ Körper auf zwei Dritteln seiner Länge. Auf diese Weise fühlt sich Hercules sicher. Er pendelt nicht umher. Mit der anderen Hand nimmt Onkel ihn sanft hinter dem Kopf, damit Hercules sich nicht umdrehen und beißen kann. Sein Kopf wird still gehalten, sodass er nicht zuschlagen will. Sein Körper ist ruhig, also ist er ruhig. Und er kennt Onkels Geruch. Deshalb beißt er ihn nicht.
Die Glaswände des Beckens schimmern im spärlichen Licht.
Ist Hercules wach oder schläft er? Seine roten Augen schließen sich nicht.
Ich ziehe mein Messer aus dem Aufschlag. Ich kann ihn im dunklen Inneren nicht sehen, aber etwas bewegt sich, ein langes, trockenes Rascheln. Ein Gefühl scheint von ihm auszugehen. Neugier vielleicht.
Ich steche mit dem Messer in meinen Finger. Es ist schwer aufzuhören, nur ein paar Tropfen zu vergießen. Das gute Gefühl kommt, vermischt mit Unbehagen. Nur die Otter darf auf der Insel Blut vergießen. Aber ich sage mir, dass es kein echtes Blutvergießen ist. Abel schrammt sich beim Klettern an den Felsen. Letzten Sommer habe ich mir die Hand mit einem Messer aufgeschlitzt. Dinah und Alice und Nora vergießen Blut, wenn sie ihre Zeit haben und sie erhitzt und wütend sind. Dies ist nicht anders.
Ich schiebe den Deckel des Beckens zurück. Ich stelle mir vor, wie Hercules unten wartet, die schwarze Zunge in der Dunkelheit zuckend. Wie er mich in der Luft schmeckt. Ich lasse Blut von meinem Finger tropfen.
Er trifft das Glas wie ein Faustschlag, als er zuschlägt. Ich werfe den Deckel des Beckens zu. Er schlägt erneut zu, aufwärts. Sein Kopf trifft mit einem Knall das Glas.
32 Nächte hintereinander habe ich mein Bett verlassen, um dies zu tun. Hercules zeigt keine Anzeichen, sich an mich zu gewöhnen.
Ich gehe nicht gleich zurück ins Bett. Es dauert eine Weile, bis ich aufhören kann zu zittern.
Alice und Nora gehen auf Mission. Wir versammeln uns am Damm, um sie zu verabschieden. Sie haben ihr weißes Leinen abgelegt. Sie tragen selbst gestrickte Kleider und Sackschürzen. Sie sehen aus wie Fischersfrauen. Haystack das Pony kaut an Noras Ärmel, seine Augen geheimnisvoll hinter einem Schopf schwarzer und brauner Stirnlocken.
Sie schiebt ihn fort und wiegt ihren dicken Bauch. Onkel umarmt sie. Er verlässt die Insel nicht.
Er sagt: »Seid vor Einbruch der Dunkelheit zurück.«
Alice und Nora nicken. Man muss es ihnen nicht sagen.
Die Welt verändert sich bei Nacht. Böse Dinge vom Anbeginn der Erde streifen in der Dunkelheit umher. Wir müssen immer sicher auf der Insel sein, wenn die Sonne im Meer versinkt.
Es ist Ebbe und der steinige Weg führt direkt zum Ufer. Alice geht zu Fuß mit Haystack, der den kleinen Wagen zieht, an ihrer Seite. Nora sitzt auf einem Fass mit Salzfisch. Es gibt Behälter mit Schafsmilch, gelbe, in Leinen eingewickelte Käselaibe, Körbe mit Torf, Reihen leuchtender Sommerkonserven, die auf dem Markt in Tongue verkauft werden. Mir läuft bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Manchmal ist es hart, dass das meiste, was wir auf Altnaharra herstellen, auf den Markt muss. Aber so ist es nun einmal. Wir schauen Alice und Nora nach, bis sie am Horizont verschwunden sind.
»An eure Aufgaben«, fordert Onkel.
Dinah ist blass.
Mein Inneres flattert.
Wir fasten seit zwei Tagen und einer Nacht. Wir müssen für den morgigen Tag rein sein. Es ist gut, dass wir Birnen pflücken und nicht wie Abel nach Muscheln tauchen oder Holz hacken.
»Diese da ist schlecht«, sagt Dinah.
Ich drücke mit dem Daumen sanft auf das bernsteinfarbene Fleisch. »Sie ist gut.« Ich lege sie zu den anderen. Die Birnen unterhalten sich, eine jede raschelt in ihrer braunen Papierhülle. Weißer Duft steigt aus der Kiste auf und bringt meinen Mund zum Singen. Ich nehme einen Schluck Wasser aus dem Tonkrug. Das hilft ein wenig.
Dinah nimmt mir die Birne ab und zeigt darauf. »Die Raupe ist da hinein. Siehst du? Die ist nicht zu retten. Sie wird Eier legen.«
Es ist ein winziger Fleck, nicht größer als der Fußabdruck einer Ameise.
»Das ist Sonnenbrand.« Ich nehme ihr die Birne ab. »Da ist nichts dran, Dinah.«
»Ich hoffe, dass du es bist und nicht ich, der Onkel eine faule Birne zu essen gibt.«
Ich nehme die Birne in Schutz. »Sie ist gut.« Ich stecke sie in die Tasche meiner Schürze. Wenn wir das Fasten brechen, werde ich sie essen und Dinah die saubere weiße Schale zeigen. Die Birne sitzt an meiner Hüfte und summt vor Erwartung.
Dinah wendet sich achselzuckend ab.
»Dinah, Dinah«, singe ich. »Dein Haar ist aus Seegras gemacht. Dinah, Dinah, Dinah, du riechst nach Apfelkernen!« Ich zupfe an einer Strähne aus dunklem Kupfer, die ihr über die Schultern fällt. Sie wird mich ausschimpfen, aber alles ist besser, als wenn sie mich nicht beachtet. Dinah schlägt nach meinem Kopf, aber sie versucht, nicht zu lachen.
Der alte Baum knarrt in der salzigen Brise. Die Äste berühren an manchen Stellen den Boden, die Blätter kitzeln die Erde. Die Birnen sind reichlich vorhanden und hängen golden und prall an den Ästen. Die Tage vor Mittsommer waren sonnig gewesen. Gutes Birnenwetter. Aber etwas liegt in der Luft. Ein schwacher Duft in der Brise.
»Ein Sturm zieht auf«, sage ich.
»Die Kiste ist voll. Noch mehr, und sie werden verderben. Bring sie jetzt runter.«
»Nein.« Ich will ihr Angst machen. »Ich bleibe hier und pflücke mehr. Bring du sie runter.«
Dinah zittert am ganzen Körper. »Bitte, Eve«, flüstert sie. »Ich kann nicht.«
Ich hebe die Kiste auf und klettere über den verfallenen Hügel. Hier stand einst eine Kirche. Die Unreinen haben sie gebaut. Sie haben den Birnbaum gepflanzt. Jetzt sind sie weg und sie ist eingestürzt, das grasbewachsene Kirchenschiff der Meeresluft ausgesetzt. Hangaufwärts erhebt sich die Burg, die die Insel wie ein Wächter überragt. Die Bienenstöcke stehen auf der Anhöhe. In ihnen liegt Honig in wächsernen Waben. Mein Mund sehnt sich danach. Ich bin so hungrig. Aber Honig darf nur aus den Händen der Otter genommen werden.
Mein Fuß bleibt hängen. Ich habe plötzlich das falsche Gewicht und die falsche Gestalt in der Luft. Die Erde kippt, es gibt kein Gleichgewicht. Ich werde fallen, die Kiste wird zerbrechen und die Birnen werden herausplatzen.
Ich richte mich mit kribbelnder Haut auf und trete kräftig gegen die knorrigen Wurzeln. Ein Strauch mit glänzend dunklen Blättern, Blüten von der Farbe bewölkter Abenddämmerung. Er scheint die Erde erwürgen zu wollen. Ich nenne ihn den Kriecher. Onkel brachte den Kriecher von weit her und pflanzte ihn hier auf Altnaharra ein. Er ist anders als alle anderen Pflanzen auf der Insel. Er spricht von fernen, kalten Bergen, wo die Luft dünn wird und wohin nur Ziegen mit ihren klugen, klammernden Füßen gehen. Ich habe ihn nie gemocht. Es bedeutet, dass es einst eine Zeit gab, bevor Onkel auf die Insel kam, bevor die Kinder und ich existierten. Ein schrecklicher Gedanke, als würde man ins Leere treten.
Bei den sieben Steinen stelle ich die Kiste ab und lege meine Handflächen auf Cold Ben. Es gab hier Menschen vor den Unreinen. Die alten Menschen, die von Ihm wussten. Sie bildeten den Kreis. Aber sie verschwanden vor langer Zeit. Viele Wenden später, als der Zweck der Steine vergessen war, brachten die Dorfbewohner Hexen hierher, um sie zu verbrennen, bis zu den Hüften in Fässern mit Pech. Wenn ich leise bin, höre ich im Wind das Knistern von Haaren, die Feuer fangen. Die Steine kümmern sich nicht um sterbliche Dinge. Sie denken weder gut noch schlecht von uns. Aber sie erinnern sich.
Viele Leben sind auf Altnaharra gelebt worden. Wir werden die Letzten sein.
Der Keller ist ein dunkler Schnitt in der Burgmauer. Ich steige die in den Fels gehauenen Stufen hinunter. Die Holztür ist mit Eisen vergittert und die Wände schimmern feucht im spärlichen Sonnenlicht. Käselaibe hängen wie tote Männer in der kalten Luft. Es gibt Töpfe mit Honig aus Altnaharra, Schalen mit Salz aus dem Meer, Reihen schimmernder Konserven. Alles bereit, auf den Markt in Tongue gebracht zu werden. Ich betaste die Birne in meiner Tasche. Ich stelle mir vor, wie ihr Saft mir das Kinn hinunterläuft. Ich stelle mir vor, wie ich meine Zähne in bröckelndem weißen Schafskäse versenke. Aber Onkel würde es bemerken.
In der Mitte des Fußbodens ist die Falltür. Sie steht offen und gibt den Blick auf die klaffende Dunkelheit darunter frei. Warum ist sie offen? Ich sollte sie schließen. Mir gefällt es hier nicht. Ich komme nur her, weil Dinah nicht kann. Schnell staple ich die Kiste mit den Birnen auf ihre Artgenossen.
Über mir seufzt die Burg und regt sich. Knarren, Knacken, Geräusch und Bewegungen wie von der Passage gewaltiger dunkler Windungen. Das Ding aus Dinahs Traum ist auch hier unten. Es kriecht durch die Falltür nach oben.
Ich mache kehrt und renne zur Luft hin, zum Licht. Ich nehme die Treppe drei Stufen auf einmal. Ich rase durch den Nachmittag und sauge die saubere Luft tief in meine Lunge. Ich bleibe nicht stehen, bis ich den geknickten Baum sehe, der sich wie eine schwarze Spinne gegen das Meer abzeichnet, bis ich den Geruch verletzten Birnenfleischs wahrnehme, das auf dem Boden verrottet, bis ich meine Arme um Dinah werfe und spüre, wie Überraschung sie erfasst.
»Meine Güte«, sagt sie. »Schubs mich nicht so herum.«
In unbewachten Momenten überkommt mich die Angst. Wird Er schrecklich sein, wenn Er aus dem Ozean steigt?
»Das ist die Letzte.« Dinah wischt sich über die Stirn. Der Tag schwindet, und die Geschöpfe der Nacht rühren sich und bereiten sich auf ihre Zeit vor. Im Westen ballen sich die Wolken dunkel gegen den Himmel. Der Sturm ist fast da.
Alice und Nora sind winzig auf dem Land unter uns. Sie rennen, die Röcke hochgehalten. Haystack galoppiert mit nickendem Kopf. Im Kanal werfen sich die Wellen zu Türmen auf. Draußen auf dem Meer werden die Wolken von weißem Krachen erleuchtet, während der Sturm heranbraust.
Dinah und ich rennen, während der Regen in kalten Sturzbächen fällt, schneller, stärker. Abel hält das große Burgtor auf. Der Wind versucht es zu ergreifen, es zuzuschlagen. Nora und Alice kommen über den Damm gelaufen, bis zu den Hüften im Wasser. Eine halbe Stunde noch, und sie wären zu spät gewesen. Mich schaudert es bei dem Gedanken.
Alice hilft Nora aus dem Wasser. Es fließt aus ihren Röcken, ihren Haaren, ihren Ärmeln. Blitze blenden alles aus und Haystack brüllt. Der kleine Wagen poltert den Hügel hinauf, dann in die Burg. Wir rennen ihnen hinterher. Haystacks Hufe klappern auf den Steinen. Dinah schirrt ihn ab und er trottet in den großen Saal, den Führstrick hinter sich herschleifend. Er wirft einen wilden Blick durch die hohen Fenster, hinter denen Blitze über dem Meer zucken. Abel und Dinah stürmen wieder hinaus in den grauen Wolkenbruch. Sie holen die Werkzeuge herein und Nora trocknet sie schnell mit ihrer Schürze ab. Sie dürfen nicht rosten. Abel zieht die Tür mit einem Knall zu, der mit dem Donner wetteifert. Er ist gerade noch rechtzeitig. Das Unwetter schlägt richtig zu, kracht gegen die Mauern und lässt das alte Gebälk erzittern. Hagel kracht und zerspringt an den Scheiben.
Wir rennen hin und her, stellen Dosen und Töpfe an undichten Stellen auf, während Dinah versucht, das Pony Richtung Tür zu ziehen.
Alice sagt: »Lass ihn. Er hat sich ein bisschen Zeit am Feuer verdient.«
Haystack zwickt rachsüchtig Dinahs Arm. Sie quiekt und lässt ihn los. Er trottet zum erlöschenden Kamin, wo Elizabeth ihre Arme um seinen Hals legt und seufzt, als hätte sie ihn den ganzen Tag vermisst. Vielleicht hat sie das auch.
Alice wirft dem Pony einen Armvoll Heu vor die Nase. Es frisst, die weichen Lippen teilen sich und entblößen starke braune Zähne.
Elizabeth zupft an Alice’ Ärmel. Sie zeigt auf ihren Mund und gibt einen maunzenden Laut von sich.
»Nein, Liebling.« Alice streichelt Elizabeths Kopf. »Morgen. Das weißt du doch.«
Onkel sitzt in seinem Stuhl, die Arme ausgestreckt, die Augen geschlossen.
Er spricht mit dem Sturm.
Ich ziehe meine sturmnasse, schwach nach Birne duftende Schürze aus und hänge sie zum Trocknen vor den Kamin. Der warme Nachmittag scheint ein Jahr her zu sein. Ich kümmere mich um das Feuer, schüre die sterbende Glut. Abel pumpt wie wild den Blasebalg und gemeinsam entlocken wir den Kohlen Wärme. Flammen züngeln gegen die Dunkelheit empor.