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Rob sorgt sich um ihre Tochter Callie, die winzige Knochen sammelt und mit imaginären Freunden flüstert. Sie erkennt in Callie etwas Dunkles, das sie an ihre Familie erinnert, die sie schon so lange versucht zu vergessen. Dennoch beschließt sie, ihre Tochter nach Sundial zu bringen, zurück in das Haus ihrer Kindheit, tief in der Mojave-Wüste. Dort wird sie eine schreckliche Entscheidung treffen müssen … Rob hat Angst vor ihrer Tochter. Und Callie hat Angst vor ihrer Mutter. Ein neues fesselndes Gothic-Meisterwerk der internationalen Bestsellerautorin von Das letzte Haus in der Needless Street. Emma Stonex: »Ein Wüstenstaub-Albtraum mit dem Stachel eines Skorpions. Ich habe es geliebt.« Stephen King: »Dieses Buch darfst du nicht verpassen. Wirklich erschreckend.« Ian Rankin: »Gruselig, originell und packend.«
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Englischen von Susanne Picard
Impressum
Die englische Originalausgabe Sundial
erschien 2022 im Verlag Viper.
Copyright © 2022 by Catriona Ward
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Lektorat: Joern Rauser
Titelbild: Festa Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-070-0
www.Festa-Verlag.de
Für Agnes Matilda Cavendish Gibbons und Jackson Blair Miller, die wonnigsten Patenkinder mit den hellsten Köpfchen, die ich mir nur wünschen kann.
Rob
Es sind die Windpocken, die es für mich zur Gewissheit machen: Mein Mann hat schon wieder eine Affäre.
Das erste Pöckchen auf Annies Haut finde ich morgens an dem Tag, an dem die Party der Goodwins stattfinden soll. Sie sitzt gerade in der Wanne, und hinter dem Fenster des Badezimmers ist ein Quadrat winterlich blauen Himmels zu sehen. Die nackten Zweige der Sykomoren werfen scharfe Schatten auf die weißen Kacheln. Annie sitzt im Schneidersitz – im lauwarmen Wasser. Ihre Lippen bewegen sich, sie summt ein wortloses Lied für all die Plastiktiere, die um sie herum auf dem Wasser dümpeln. Wenn es auch nur ein Grad wärmer ist als Blut, setzt Annie keinen Fuß ins Badewasser. Sie mag auch keine Dinge, die zu salzig sind, zu süß oder zu sauer, und ihre Lieblingsgeschichten sind solche, in denen gar nichts passiert. Sie scheut die Extreme. Die Sorge um dieses zweite Kind, das ich habe, erfasst mich auch körperlich auf eine Weise, wie ich es von Callie nicht kenne. Annie ist für ihre neun Jahre so klein, dass die Leute oft annehmen, sie sei jünger. Callie hingegen macht mir ganz andere Sorgen.
Die Party bei den Goodwins im Januar hat Tradition. Sie nennen sie ihre »Wir verscheuchen den Winterblues«-Sause. Die Goodwins sind eine fröhliche Familie, die im Haus links neben uns wohnt. Ihre beiden klugen Söhne Sam und Nathan sind in etwa so alt wie Callie, sie haben sowohl interessante Bekannte als auch einen ausgezeichneten Wein-, Speisen- und Kunstgeschmack. Auf dieses Fest freut sich unsere Familie das ganze Jahr. Die Zeit bei den Goodwins ist für uns immer ganz wundervoll.
Annie beugt sich vor und flüstert der Gummiente in ihrem Schoß etwas zu. Der Anblick ihrer verletzlichen Wirbelsäule, die dunklen Haarsträhnen, die ihr im Nacken kleben … Beides schnürt mir heiß die Kehle zu. Ich weiß nicht, wie das bei anderen Leuten ist, aber mir fällt es oft schwer, Liebe und Übelkeit voneinander zu trennen.
»Arme hoch«, kommandiere ich. Annie gehorcht, und weil sie das tut, sehe ich es: eine rote Pocke auf ihrem Oberarm. Ich erkenne sofort, um was es sich handelt. Ich lege ihr die Hand auf die Stirn, dann auf den Rücken. Beides ist warm. Zu warm.
Annie kratzt sich den Oberarm, dann nehme ich ihre Hand in meine. »Aufhören«, sage ich sanft. »Das macht es nur schlimmer, kleine Rübe.«
Sie gibt einen Laut des Unbehagens von sich. »Ich bin keine Rübe«, erklärt sie.
»Dann eben ein Blumenkohl.«
»Nein!«
»Rosenkohl?«
»Nein, Mama!« Aber sie hört auf, sich zu kratzen.
Sie ist ein fügsames Kind.
Ich ertappe mich dabei, wie ich meinen eigenen Arm ebenfalls empathisch kratze. Manchmal verwechsle ich meinen Körper mit dem meiner Kinder.
Ich bringe Annie ins Bett, danach stelle ich mich vor den Badezimmerschrank. Die Fächer darin sind so überfüllt, wie es bei einer lebhaften Familie mit zwei Kindern überall der Fall ist. Ich krame in altem Hustensaft, Einwegrasierklingen, Nagelscheren, Irvings Diabetes-Tabletten, meiner Pille, der Munddusche, die wir nie benutzen, Aspirin und einer alten, zerbrochenen Puderdose herum. Wenn ich mal Zeit habe, werde ich hier ausmisten müssen. Ganz hinten finde ich schließlich, was ich gesucht habe: eine volle Tube Zinksalbe. Die Öffnung der Tube ist schon ganz verkrustet, aber die Salbe ist noch gut. Ich habe sie vor ein paar Monaten für Callies Ekzeme gekauft.
Annie hat Fieber, 38,6 °C, ihr Blick irrt noch ruheloser umher als sonst. Ich hätte das früher bemerken müssen. Wirklich. Mich überkommt ein deutliches Gefühl von Schuld. Sie kratzt sich wieder am Arm.
»Nein, Süße«, sage ich, hole ein Paar Fäustlinge aus der Kommode, nehme Klebeband aus Irvings Werkzeugkasten und befestige die Fäustlinge an den Ärmeln ihres Schlafanzugoberteils, nachdem ich sie von oben bis unten mit Zinksalbe eingeschmiert habe. Dann gebe ich ihr noch ein Aspirin.
»Rob!«, ruft Irving die Treppen hinauf. Morgens ist seine Stimme immer rau. »Porridge ist fertig.« Er räuspert sich. »Und der Kaffee auch«, fügt er hinzu.
Ich sitze auf Annies Bettkante und gestatte mir einen Augenblick überwältigender Erschöpfung. In solchen Momenten empfinde ich es als unglaublich entspannend, bei meiner jüngeren Tochter zu sein, sie beruhigt mich und hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Irving und ich stecken schon so lange in dem immer gleichen Teufelskreis.
Im Kopf lasse ich einen Entscheidungsbaum entstehen. Dann gehe ich nach unten in die Küche, um die Neuigkeit loszuwerden.
In der Küche erzählt Callie eifrig und mit hoher Stimme von dem, was sie bewegt. »Und sie haben ihn erwischt, weil die Tankstelle eine Überwachungskamera hat«, erläutert sie. »Da hat er den Zement gekauft.«
»Wo hast du das denn her, Schnips?«, fragt Irving mit einer Stimme, in der auch schlechte Laune mitschwingt. Er tut mir sogar etwas leid. Callie spricht gern schon beim Frühstück über Morde. »Was hast du da wieder gelesen?«
»Nichts Besonderes«, erwidert Callie. »Hier und da so Kleinigkeiten. Die Frau wurde freigesprochen. Alles war schwer zu beweisen. Man hatte ihm Luft injiziert, nur Luft! Das verursacht eine Lungenem… embo…lie. Oder hieß das Embolismus? Nein, es war Embolie.«
Ich gehe zu Irving, der an der Kaffeemaschine steht. »Annie hat die Windpocken«, sage ich leise. »Ich verstehe gar nicht, wo sie sich angesteckt haben könnte. Wann kann sie denn der Krankheit ausgesetzt gewesen sein? Und außerdem ist sie doch geimpft.«
»Die Impfung schützt nicht zu 100 Prozent.« Unter Irvings Augen sind die Tränensäcke deutlich sichtbar, er hat dunkle Ringe unter den Augen. Sein Blick glüht. Er hat eine schlimme Nacht hinter sich.
»Und natürlich gehören wir zu dem einen Prozent, das Pech hat«, murre ich.
Er lächelt dünn und löffelt Porridge in Callies Schüssel. Zeichentrick-Rentiere laufen um den inneren Rand, gleich über dem breiigen Inhalt. Er fügt ein paar in Scheiben geschnittene Erdbeeren hinzu und gießt noch eine ordentliche Portion des zähen Sirups darüber, den Callie so mag. Ich lege ihm eine warnende Hand auf die Schulter. Nicht zu viel. Callies Körper scheint ihr nicht sagen zu wollen, ab wann er von etwas zu viel hat. Wenn man das nicht unauffällig kontrolliert, futtert sie, bis es schmerzt, bis sie sich übergibt. Und heute kann ich keine zwei kranken Kinder gebrauchen.
Irving schüttelt mich kurz ab wie ein Pferd, das eine Fliege loswerden will, und kippt noch einen Schwung Sirup über den Porridge. Irving liebt Süßigkeiten, darf sie aber nicht essen. Also stopft er seine Tochter mit den Dingen voll, die er selber gern essen würde. Aber er steht ja auch nicht die Nächte mit ihr zusammen durch.
Callie sitzt am Tisch und beobachtet uns. Sie hat gesehen, dass ich Irving daran hindern wollte, ihr zu viel Sirup über den Porridge zu gießen, das weiß ich ganz genau. Plötzlich wird die Atmosphäre unbehaglich. Ich weiß eigentlich nie, was Callie wirklich denkt.
»Arme Annie«, murmelt sie und knabbert an einem Fingernagel. »Trauriger Smiley.« Das ist eine ihrer neuesten Macken, ihre Gefühle mithilfe der kleinen Emojis auszudrücken, die man in Textnachrichten verschickt. Mich macht das entweder wütend oder ich lache darüber.
Irving stellt die Schüssel vor Callie ab. Sie ist groß für ihr Alter, hat goldgetönte Haut, ein breites, eckiges Gesicht und leuchtend grüne Augen. Wenn sie spricht, klingt es ein bisschen schrill und angestrengt, als würde jemand Akkordeon spielen.
»Mom kann sich doch um Annie kümmern«, meint Callie. »Dad, wir beide können ja auch allein zu den Goodwins gehen.« Sie taucht den Finger tief in den Porridge und steckt ihn in den Mund, während sie mich betrachtet. »Partyhut- und Weinglas-Smileys.«
Sie und Irving haben da so einen kleinen Privatclub, ganz für sich.
Irving sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. So hat er mich auch in dieser Bar angeblickt, als er mich zum ersten Mal gesehen hat. Früher brachte das mein Herz immer zum Rasen. Diese Intimität. Diese stumme Frage, auf die nur ich eine Antwort habe.
»Nimm einen Löffel, sei so gut«, bitte ich Callie. »Und dann … Nein, tut mir leid, Liebes. Wir müssen alle zu Hause bleiben. Du könntest das Virus schon in deiner Kleidung haben. Auf dieser Party wird es viele kleine Kinder geben, und wir wollen doch nicht das Risiko eingehen, dass sie sich anstecken.«
»Rob«, mischt sich Irving ein. »Lass sie doch gehen.«
Irving will selbst hingehen, ganz der Partylöwe, der attraktive Professor der Biochemie, der die Augenbrauen über Leute hochzieht, die ihn nicht schon hundertmal so erlebt haben. Aber am meisten wünscht er sich wohl, mit ihr in einer Menschenmenge zusammenzutreffen, ihr Blicke aus der Entfernung zuzuwerfen und selbst zugeworfen zu bekommen, während sie beide mit ganz anderen Menschen sprechen. Er wünscht sich, die feuchten Fingerabdrücke auf den Weingläsern des jeweils anderen zu hinterlassen, das Verlangen zu spüren, das sich wie feiner Golddraht von einem zum anderen zieht. Das habe ich alles schon erlebt und werde es zweifellos wieder erleben.
»Ich will mich mit Nathan und Sam treffen«, murrt Callie.
»Die kannst du doch immer wieder treffen«, vertröste ich sie. »Die leben schließlich nebenan.«
»Nicht wenn ich mir die Rippen breche«, behauptet Callie. »Oder Hepatitis bekomme. Oder Bleichmittel trinke und dann sterbe.«
»Callie, bitte. Es werden Babys, Schwangere und alte Leute kommen. Vielleicht sind manche Kinder noch nicht geimpft. Möchtest du dafür verantwortlich sein, wenn sie krank werden? Ich meine es ernst. Wir bleiben lieber zu Hause. Ich weiß, wie schnell man sich ansteckt. Wenn einer meiner Viertklässler die Grippe hat, sind innerhalb einer Woche alle krank.«
Callies Schrei beginnt ganz tief in ihrer Bauchhöhle, wie das Fauchen einer fetten Katze. Dann geht es los wie eine Rakete, es ist ohrenbetäubend. Es ist so laut, dass ich es wie einen Fausthieb spüre und in der Luft so klar sehe, als wären es Sterne. Irving beugt sich über sie und flüstert ihr etwas ins Ohr. Callie schreit lauter und immer schriller. Ich wechsle einen Blick mit Irving. Ich gestatte meinem Mundwinkel, sich ein wenig zu heben, nur ein winziges bisschen. Widersprich mir noch ein Mal, denke ich in seine Richtung. Wag es ja nicht, Callie zu sagen, sie kann mit dir zu der Party gehen.
Er senkt den Blick, streicht Callie über die Schulter und murmelt etwas über Pfannkuchen in sich hinein. Das Kreischen verstummt und macht einem kleinen Kichern Platz. Sie und Irving starren mich an. Um ihre Lippen tanzt das gleiche kleine Lächeln. Sie haben den gleichen Mund. Und das macht mich rasend, auch wenn ich weiß, dass es das nicht sollte.
»Jetzt reicht’s aber!«, rufe ich. »Los, rauf mit dir und räum dein Zimmer auf. Und wechsle die Bettwäsche! Vielleicht verschwindet dann auch dieser komische Geruch aus dem Raum.«
Callie legt die Hand über den Mund und lacht sich ins Fäustchen. Irving steht auf und will sich lieber um das Geschirr kümmern, als ginge ihn das alles nichts an. Ich bohre meine Blicke in seinen Hinterkopf, an diese rötliche Stelle, wo der Friseur zu viel Haar weggeschnitten hat. Und ich wünschte, es gäbe etwas, womit ich ihn verletzen könnte. So wie er das immer mit mir macht. Aber diese Macht habe ich nicht.
Also nehme ich einfach Callies Schüssel mit dem restlichen Porridge und bringe sie die Treppe hinauf. In großen, kühlenden Portionen trage ich ihn auf Annies Ausschlag auf. Sie legt ihre heiße kleine Wange auf meine Hand, und das hilft ein bisschen.
Ich schreibe Hannah Goodwin eine kurze Nachricht. Tut mir leid! Wir haben hier die Windpocken. Ist wohl besser, wir bleiben zu Haus. Trauriger Smiley. Ärgerlich lösche ich den letzten Teil wieder. Callies Angewohnheit ist wohl so ansteckend wie die Windpocken. Viel Spaß euch, und kommt nächste Woche mal auf ein paar Drinks vorbei. R.
Ich lese die Nachricht noch einmal sorgfältig durch und ersetze das R durch Rob x. Ja, so ist es besser. Das sieht normal aus.
»Das wird sicher lustig«, sage ich zu Irving und Callie. »Wir machen einfach einen Familientag draus. Filme, Spiele, chinesisches Essen …«
Jeder von uns hat ernstliche Vorbehalte gegen den Filmgeschmack der anderen. Aber wir bringen es auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und rufen einen Film auf, den eigentlich keiner wirklich gern sehen will: über einen Mann, dem ein gigantisches Kaninchen folgt, das es vielleicht – oder vielleicht auch nicht – nur in seiner Fantasie gibt. Irving sitzt zwischen mir und Callie und hat je einen Arm um mich und um sie gelegt. Ich sehe jede halbe Stunde nach Annie. Nebenan dringt ab elf Uhr morgens die Musik zu uns herüber. Das Gelächter beginnt, etwas schrill klingende Gespräche, die schon nach kurzer Zeit geradezu fieberhaft fröhlich klingen. Ein- oder zweimal ist das Klirren von zerbrechendem Glas zu hören. Irving stellt den Fernseher lauter, aber der Film ist so blöd, dass sich keiner von uns darauf konzentrieren kann.
»Ich geh mal kurz einkaufen, wir brauchen noch Haferflocken für Porridge und Zinksalbe«, erklärt Irving schließlich.
Ich weiß schon, was das bedeutet. Ich erkenne es an den winzigen, angespannten Muskelbewegungen um seinen Kiefer herum. Er wird zum Supermarkt gehen und auf dem Nachhauseweg wie selbstverständlich auf einen Drink bei der Party reinschauen. So zumindest wird es anfangen. Ich bin dermaßen wütend, dass ich kaum noch etwas erkennen kann. Kleine schwarze Punkte schweben vor meinem Sichtfeld herum.
»Wir haben genug Haferflocken und Zinksalbe«, erkläre ich.
»Und du bist vielleicht ansteckend, das hat Mom doch gesagt«, fügt Callie hinzu. »Vielleicht wird ein kleines Kind krank.«
Ein seltenes Gefühl der Liebe und Dankbarkeit für sie überkommt mich. Auch wenn ich den Verdacht nicht abschütteln kann, dass sie einfach nur nicht mit mir allein sein mag.
Neben mir spüre ich, dass sich Irvings Laune jetzt rapide verschlechtert. Keiner sagt ein Wort. Auf dem Bildschirm folgt das eingebildete Kaninchen dem Mann. Nebenan dringt jazzige Musik durch die fröhlichen Schreie.
Schließlich erkläre ich, dass es jetzt genug ist, und schalte den Film ab. So läuft das Familienleben meiner Erfahrung nach nun mal. Immer wenn man versucht, das zu tun, was Familien in Zeitschriften und in Fernsehserien eben so machen, folgt unweigerlich das Versagen.
Eigentlich bin ich nicht der Typ, der viel Zeit vor dem Fernseher verbringt. Als ich das erste Mal einen Actionfilm gesehen habe, bin ich vor Aufregung fast gestorben. Oder wenigstens fühlte sich das so an. Heutzutage verstehe ich nicht mehr, warum jemand seine Zeit an Seifenopern verschwendet oder ins Kino geht. Ich lese nicht einmal oder schaue Nachrichten. So wie das Leben eben ist, ist es intensiv und schmerzhaft genug.
Es kostete mich Monate des Bettelns und der Erpressungen, Irving die Zusage abzuringen, aber schließlich habe ich die Schlacht darum gewonnen, das College zu Ende zu machen und Lehrerin zu werden. Und als Annie dann da war, bin ich wieder arbeiten gegangen. Irving legt großen Wert auf eine konventionelle Rollenverteilung. Das, was die Waagschale dann letztlich in meine Richtung neigte, war die offene Stelle an der Grundschule unserer Kinder, was bedeutete, dass ich den ganzen Tag mit ihnen in einem Gebäude verbringen würde. Das und die Tatsache, dass wir das Geld brauchten. Irvings Vater hatte damals viel Geld in dem Immobiliencrash verloren.
Ich liebe meinen Job. In der Schule bin ich als die ›Kinderflüsterin‹ bekannt. Die Bezeichnung soll zwar witzig klingen, aber es ist trotzdem eine Tatsache, dass ich geradezu zaubern kann, wenn es um meine Schüler geht. Die schüchternen Kinder blühen unter meinen Fittichen vorsichtig auf. Die hyperaktiven und manischen werden in meiner Anwesenheit ruhig und sanft. Eine Viertklässlerin, die im Lehrerzimmer als ›Schnappschildkröte‹ bekannt ist, weil sie dazu tendiert, geradezu um sich zu beißen, wenn sie sich langweilt, schreibt jetzt leidenschaftlich gern Aufsätze über die Kinderbücher von Maya Angelou. Zu Hause habe ich diese Macht allerdings nicht.
Ich liebe mein Haus, ein schachtelartiges Gebäude im Cape-Cod-Stil, das auf einem Grundstück mit heimeligen 500 Quadratmetern grünem, leicht abfallendem Rasen liegt. Es ist immer die Frau, die dem Haus das Flair und den Stil verleiht. Sagen die Leute das nicht immer? Zwei große Eichen stehen neben dem Eingang. Zum Garten hin gibt es eine Veranda aus Fichtenholz, die im Schatten der großen Ahornbäume liegt, die neben dem Haus stehen. Ich habe diese Veranda selbst an drei Wochenenden nach einer Do-it-yourself-Anleitung in einem Buch zusammengebaut, das ich aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es war wirklich nicht schwierig, ich habe die Bohlen bestellt und sie dann wie ein Puzzle zusammengesteckt. (Eine der wenigen Gemeinsamkeiten von mir und Callie: Wir beziehen beide einen großen Teil unseres Wissens aus der hiesigen Bücherei.) Wie auch immer, jedenfalls ist es wundervoll, hier zu sitzen und der Sonne beim Untergehen zuzusehen. Oder einen heißen Tag zu genießen, wenn die Ahornbäume Schatten über das Grün werfen. Dann kann ich mir vorstellen, in den Baumwipfeln zu sitzen. Außerdem ist diese Terrasse ganz einfach zu putzen. Uns muss das Nachbarschaftskomitee nicht ermahnen, den Rasen zu mähen oder Mulch auf die Blumenbeete zu streuen. Oder die Kalksteinauffahrt zu fegen, die sich zur Eingangstreppe hinaufzieht. Ich halte das alles peinlich sauber. Ich liebe den Garten dafür, dass er so schlicht ist. So in sich abgeschlossen. Das ist ganz anders als der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, wo sich in alle Himmelsrichtungen nur heißer, toter Sand und Felsbrocken erstrecken. Wenn man Tag für Tag nichts anderes sieht, hat man das Gefühl, man sitzt in einer Falle.
Hier, in diesen endlosen Reihen von Einfamilienhäusern, fühle ich mich geborgen. Sie haben alle einen drolligen Anflug von Individualität; hier ziert ein Vogelbad den Vorgarten, dort sieht man einen kleinen Teich, drüben ist der Briefkasten in einem vorwitzigen Pink gestrichen. Ab und zu gibt es bunte Glasfenster, unterschiedliche Türklopfer, verschiedene Steinarten für die Auffahrt … Weiter als mit diesen Extremen kann man nicht gehen, wenn man etwas individuell halten will. Aber diese Unterschiede sind wichtig. Sie sind die Stempel, die die Menschen hier ihrer eigenen Welt aufdrücken.
Ich sagte, ich fühle mich geborgen. Ich glaube, ich meine damit, dass meine Kinder hier geborgen sind. Das sind zwei verschiedene Dinge und nicht immer dasselbe. Vielleicht gibt es einen Punkt, an dem man sich für eines von beiden entscheiden muss. Es ist besser, Teil einer Einheit zu sein, die »Cussens«, als Individuen. So fällt man weniger auf.
Irving schließt sich in seinem Arbeitszimmer ein. Callie holt sich ihre Stifte. Sie hat nie ein Problem damit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und ich muss nie hinter ihr her sein, damit sie ihre Hausaufgaben macht. In ihrer Persönlichkeit gibt es verwirrende, unerwartete Momente der Erleichterung. Sie sitzt also an dem altmodischen Rollsekretär im Wohnzimmer und beugt sich tief über ihren Zeichenblock. Die Buntstifte machen trockene und einschläfernde Geräusche. Sie beginnt leise vor sich hin zu summen, ohne eine erkennbare Melodie. Das zerrt an den Nerven, und ich würde ihr am liebsten sagen, dass sie ihre Brille aufsetzen soll, aber ich unterdrücke beide Impulse. Ich habe sehr früh gelernt, taktisch zu handeln. Ich suche mir die Schlachten aus, die ich schlagen will.
Um eins hat sich Annies Ausschlag ausgebreitet. Ihre Hände, die nach wie vor in den Fäustlingen stecken, sind unter ihrem Kinn zu Fäusten geballt, eine dunkle Haarsträhne liegt auf ihrer Wange und flattert im Rhythmus ihrer Atemzüge. Ich kontrolliere das Klebeband an ihren Handschuhen, das immer noch fest ist, und streiche ihr das Haar aus dem Mund.
»Es ist zu hell«, murmelt sie, also schließe ich die Vorhänge, was den Raum in eine geheimnisvolle, silbrige Dunkelheit taucht.
»Soll ich deinen Stern anmachen?«, frage ich leise.
»Ja«, flüstert sie zurück, ohne die Augen zu öffnen. Ich gehe ans Fenster und schalte ihr Nachtlicht an. Die Lampe hat die Form eines Sterns, der im Dämmerlicht des Zimmers hell erstrahlt. Sie ist hellrosa, wie Bubblegum oder das Innere einer blassen Pfingstrose. Die Farbe, in der kleine Mädchen träumen. Ich habe immer das Gefühl, dass Annie geschützter ist, wenn die Lampe leuchtet. Ich weiß aber, dass das keinen Sinn ergibt.
Als ich den Blick hebe, steht Irving im Türrahmen. Ich habe ihn gar nicht kommen hören. Er hat die Fähigkeit, absolut still zu stehen, als würde er nicht einmal atmen. Das ist an einem lebenden Menschen wirklich irritierend.
»Wie geht es ihr?«
»Sie schläft.«
»Lass es nicht an den Kindern aus, Rob«, fängt er an. »Callie will wirklich auf diese Party gehen. Erlaub es ihr, du kannst sie wegen Annie nicht hier zu Hause einsperren.«
Annie regt sich und öffnet ein Auge. »Wasser«, piepst sie leise.
»Sicher, Mäuschen, Mami holt dir welches. – Geh mir aus dem Weg«, kommandiere ich zwischen zusammengepressten Lippen in seine Richtung und drücke mich an ihm vorbei. »Du bist schuld.«
Zornig dreht er mir den Rücken zu und geht ins Bad, um seine Diabetes-Tablette zu nehmen. Er wird wohl ein paar Minuten brauchen, um die Dose zu finden. Ich habe sie im Badezimmerschrank ganz nach hinten geschoben und hinter einer alten Tube Vaseline versteckt. Das ist zwar ziemlich kindisch, aber in dieser Zeit stehe ich einfach nicht über den Dingen.
Unsere Streite fangen immer auf unterschiedliche Weise an, enden aber ähnlich. Wir zischen uns an wie Schlangen, während ich die Geschirrspülmaschine einräume oder Wäsche zusammenfalte, er Seminararbeiten korrigiert und sein Stift in der Luft herumstochert. Beide achten wir immer darauf, dass die Kinder oben schlafen. So machen wir das schon seit Jahren. Schließlich fallen wir dann gemeinsam ins Bett, erschöpft und geschwächt von all dem Gift, das uns verzehrt.
Letzte Nacht hat es mit unseren elektrischen Zahnbürsten angefangen, deren Akkus leer waren. Beide standen auf dem Ladegerät, aber irgendjemand hatte den Schalter ausgemacht, der die Steckdosen an der Wand mit Strom versorgt, also funktionierten sie nicht. Eigentlich ist es Callie, die die Gewohnheit hat, an Schaltern herumzuspielen.
Mit den Zahnbürsten fing es also an, aber es dauerte nicht lange, bis wir bei Katherine, der Laborassistentin, angelangt waren. Irving arbeitet oft länger. Das stört mich nicht. Die Laborassistentin arbeitet ebenfalls oft länger. Katie, so nennt er sie, trägt ein Parfüm namens Sentient. Ich weiß das, weil seine Anzüge von oben bis unten danach riechen. Sein ganzer Schrankteil stinkt nach Sentient.
Ich zischte wie eine Schlange, mit geballten Fäusten. Meine Kehle zog sich so eng zusammen, dass die Worte wie bittere Galle hervorquollen. Meine Augen brannten.
Irving begann zu stochern. Er rührt mich nicht an, er stochert. Sein Finger sticht zittrig in meine Richtung, hält aber einen Zentimeter vor mir an. Er tut das im Rhythmus seiner Worte. »Du wolltest das so. Das wolltest du, als wir uns kennengelernt haben, und jetzt jammerst du bloß.«
Das Chaos eines Erwachsenenlebens, in dem man so versunken ist. Wo die Schuld wie ein Wandteppich aus Filz ist, so eng gewoben, dass man die Fäden nicht mehr entwirren kann.
Ich versuche zu lesen, als ich Annie oben weinen höre.
»Nein«, schluchzt sie. »Nein, nein!«
Ich öffne die Tür. Sie und Callie streiten sich um etwas, beide halten es fest und zerren daran. Es ist die rosafarbene Sternenlampe. Annies Kopf ist zurückgeworfen, ihr Mund bildet ein »o« des Kummers. Callies Miene ist ausdruckslos wie immer, aber sie hat ihre Unterlippe zwischen die Zähne genommen.
»Gib sie mir«, sagt sie mit gepresster Stimme. »Oder jemand stirbt!«
»Ich hasse dich, Callie«, erklärt Annie. »Gott hasst dich auch.« Sie holt mit einer behandschuhten Faust aus.
Ich trenne die beiden mit aller Kraft. Die rosafarbene Lampe ist wie durch ein Wunder noch heil. Ich nehme sie Callie aus den feuchten, fest zupackenden Händen und platziere sie wieder auf dem Fensterbrett. Der liebe Himmel mag wissen, warum Callie sie jetzt haben will.
»Mama«, drängt mich Callie. »Erlaub ihr nicht, sie zu behalten!«
»Sie ist immer so gemein zu mir!«
»Du meine Güte!«, rufe ich. »Seid endlich still, alle beide! Lest doch ein Buch!«
Irving sitzt an der Kücheninsel und hat die Füße auf einem Stuhl abgelegt. Ich unterdrücke einen ärgerlichen Ruf. Er weiß, wie sehr ich das hasse: schmutzige Füße auf meinen schönen Stühlen.
Meine Küche ist mein liebster Raum. Ich habe ewig gebraucht, mich für das Holz zu entscheiden, aus dem die Kochinsel gebaut wurde, und vergesse nie, es sonntags einzuölen. Ich habe das Muster der Bodenfliesen selbst entworfen, die Spiralen mit dem blassblau glasierten Terrakotta. Auch das Hängeregal über der Insel habe ich selbst gebaut, ebenso wie die Arbeitsplatten, die ich selbst gelegt habe. Schreinern ist gar nicht so schwierig, wenn man sich ein wenig Zeit dafür nimmt. Ich habe die Töpfe mit dem Kupferboden fein säuberlich der Größe nach an das Regal über der Kücheninsel gehängt.
In der Mitte der Kochinsel steht eine Schüssel mit etwas Mehlartigem darin. Irgendwie wirkt das stolz, allein wegen des Platzes.
»Was ist das?«
Ich gehe an die Hängeschränke, um nach Aspirin zu suchen. Nicht für Annie, für mich.
»Ich mache einen Spotted Dick. Gedämpften Pudding mit Trockenfrüchten«, erklärt er. Er kocht eigentlich nie, ist aber sehr stolz auf seine Kuchen und diese stärkehaltigen, britischen Puddings, die man dämpfen muss. Er glaubt, daran zeige sich sein Stil. »Hey, Rob«, meint er dann. »Probier mal und sag mir, ob ich noch mehr Johannisbeeren dazutun muss.«
Nichts möchte ich weniger, aber wieder einmal verschiebe ich einen Streit und hol mir einen Löffel. Traurig denke ich an Annie und Callie. Früher waren sie mal sehr gute Freundinnen und spielten immer miteinander. Ich würde ja sagen, dass es daran liegt, dass Callie in einem schwierigen Alter ist, aber so gesehen war bisher jedes Alter schwierig für Callie.
Ich tauche einen Löffel in die Schüssel und erkenne erst jetzt, was wirklich darin ist. Ich schreie auf, ich kann nichts dagegen tun, auch wenn ich genau weiß, dass es das ist, was er will.
Er biegt sich vor Lachen und schnappt nach Luft. »Dein Gesicht!«
»Das ist einfach schrecklich.« Meine Stimme zittert. »Es ist wirklich schrecklich, jemandem einen solchen Streich zu spielen.«
»Ich muss sie aufwärmen«, erklärt er geduldig. »Morgen wollte ich mit John angeln gehen.« Ich kann die Maden jetzt riechen, die Säure, den Ammoniak der Verwesung, der von ihnen ausgeht. Irving bewahrt die Köder im Kühlschrank draußen in der Garage auf. Ich hätte wissen müssen, dass er mir heimzahlen würde, dass ich ihm seine Party verboten habe.
In der Schüssel kringeln sich die langsam aufwachenden Maden und strecken ihre runden Köpfe in die Höhe. Ihre Leiber sind rot wie Blut.
Ich glaube, dass jeder eine Geschichte erzählen könnte, die ihn voll und ganz erklärt. Das hier ist meine.
Callie war zwei. Sie war ein schwieriges Kleinkind, sie hat erst spät gesprochen und war immer voll stillem Zorn. Schon damals war ihr Gesicht ständig zu einer grimmigen Miene verzogen. Es sei denn, ihr Blick fiel auf ihren Vater. Dann kroch ein vorsichtiges Lächeln über ihre Züge, und mir wurde klar, dass sie nur ein Baby war.
Sie war auch immer ein Flüchter. Sie konnte Türen, Schubladen, Schranktüren öffnen, mit Klinken und Schlössern umgehen, die gar nicht in ihre kleinen Hände hätten passen sollen.
An einem Nachmittag sollte Irving von einem Kongress nach Hause kommen. Callie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sie schlief niemals, keine Sekunde, wenn ihr Vater nicht im Haus war. Ich war erschöpft, die Luft an dem Tag damals war genauso stickig und zäh, wie ich mich fühlte. Ich setzte Callie in ihren Hochstuhl, um kurz etwas aus dem Bad zu holen. Ich schwöre, ich bin dort nicht länger als 30 Sekunden gewesen. Als ich wieder ins Zimmer kam, war sie halb aus ihrem Stuhl ins Spülbecken geklettert. Einen ihrer kleinen Arme hatte sie bis zur Schulter in den Müllzerkleinerer gesteckt. Ihr Blick war hoch konzentriert, die kleinen Finger ihrer anderen Hand tasteten nach dem Schalter des Zerkleinerers, der sich an der Wand befand.
Ich rannte los und riss sie fest an mich. »Tu das niemals, niemals wieder«, rief ich.
Sie sah mich erstaunt an, öffnete weit den Mund und schrie los. Es stach mir wie Nadeln in den Kopf.
Es dauerte Stunden, bis ich sie schließlich in ihrem Kinderbettchen schlafen gelegt hatte. Immer noch zitterte die Welt um mich herum, als bestünde sie aus Wackelpudding. Ich ließ mich auf die Couch fallen und war sofort eingeschlafen.
Ich wachte auf, weil ich seine Hand auf der Stirn spürte. Irving sah auf mich herab, mit unbewegtem Blick aus seinen dunklen Augen.
»Callie war ein Albtraum«, sagte ich.
»Mir geht’s auch gut, danke«, meinte er ätzend. »Die Konferenz war großartig.«
»Ich habe ja nicht geahnt, dass es so werden würde. Ich glaube, sie mag mich nicht.« Ich hörte, dass ich weinerlich klang, und ein Teil von mir hasste mich dafür.
»Sie ist doch bloß ein Kind. Versuch bitte, das etwas vernünftiger zu sehen.« In seinen Sätzen schwang etwas Unbekanntes, Unvertrautes mit. Mein Herz wurde schwer. Schon wieder eine. In der ersten Verliebtheit einer Beziehung nimmt Irving immer die Sprachmuster der Neuen an.
Ich setzte mich auf und beugte mich vor, als wollte ich ihn küssen. Ich roch den Whisky in seinem Atem. »Hat es überhaupt eine Konferenz gegeben?«, fragte ich und war selbst überrascht von meiner Direktheit.
Er nahm eine Strähne meines Haars zwischen Zeigefinger und Daumen und zog so fest daran, dass mir die Tränen kamen. »Sieh mal nach deiner Tochter«, meinte er. »Meine Güte.« Er ließ das Haar los und wischte sich dann die Hände ab, als hätte er etwas Unangenehmes an den Fingern.
Ich stand auf, ging aber nicht zu Callie. Ich war bis zum Rand von etwas Grimmigem, Aufbrausendem erfüllt, das kurz vor dem Überlaufen stand. »Ich kann das nicht mehr«, sagte ich und war überrascht, wie sachlich ich es vorbrachte. »Ich gehe. Wir müssen nicht verheiratet bleiben, Irving!«
Diese Erkenntnis überkam mich wie eine Erleuchtung, wie ein Lichtblitz. Aber als ich dann seine Miene sah, floh ich.
Nach einem Augenblick der Überraschung kam Irving hinter mir hergelaufen. Ich rannte durchs Haus, immer wieder streiften meine Hände die Türrahmen. Dann passierte, noch während ich rannte, etwas ganz Furchtbares. Mein Körper erinnerte sich an … Weglaufen, Furcht, Gefahr und ein Keuchen direkt hinter mir. Plötzlich war die Erinnerung wieder da und schnürte mir die Kehle zu. Ich muss daran glauben, dass dies der Grund war, warum ich das tat, was ich als Nächstes tat. Ich öffnete die Haustür, die Nachmittagsluft war wie der Atem der Freiheit. Aber ich lief nicht hinaus. Ich wartete, bis Irving mich eingeholt hatte, trat erst dann auf die Veranda und schlug die Tür hinter mir zu. Direkt auf seine Hand, die gerade nach dem Türrahmen gegriffen hatte. Ich hörte das Knacken, gefolgt von seinem Schmerzensschrei. Ich wandte mich ab. Niemand kann mich zwingen, das weiter mitzumachen, dachte ich.
Ich ging durch den Vorgarten, der zu dieser Zeit nichts weiter als eine erdige Fläche bis hin zur Straße war. Wir hatten noch keine Zeit gehabt, uns darum zu kümmern. Was soll ich jetzt machen?, fragte ich mich. Ich hatte keinen Job und auch keine Freunde.
Dort, wo der Vorgarten in den Bürgersteig überging, lag irgendetwas. Zuerst dachte ich, es sei ein Kissen oder ein Schemel, den man dort als Sperrmüll abgestellt hatte. Manchmal kommt das sogar in einer so netten Nachbarschaft wie unserer vor. Aber es war Callie. Sie saß beinahe auf der Straße, man konnte sie in ihrem grauen Schlafanzug mit den rosa Elefanten darauf leicht übersehen.
Ich rannte zu ihr hin. Mein Körper bestand nur noch aus Angst.
Sie sah mich mit ihren großen Augen an, die vom Weinen immer noch geschwollen waren. »Bleich«, sagte sie und streichelte ein braunes, halb vertrocknetes Unkraut, das aus den Rissen in den Betonplatten des Bürgersteigs gewachsen war. Die Überreste einer Blüte hingen noch daran. Ich setzte mich, ganz plötzlich erschöpft, neben sie. »Das tut mir leid, Liebes«, sagte ich. »Es tut mir leid.«
Da wusste ich, dass ich nicht gehen würde. Es war ja nicht ihre Schuld. Nichts davon war ihre Schuld.
Ich hob sie auf. Ausnahmsweise wehrte sie sich nicht, sondern legte mir den Kopf auf die Schultern. Langsam gingen wir zum Haus zurück, und ich legte sie wieder in das Kinderbett. »Ich werde den Garten für dich anlegen«, sagte ich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Mochte sie auch nicht zulassen, dass ich sie liebte, aber für sie sorgen konnte ich trotzdem.
Irvings Hand war zwar schlimm gequetscht, aber nicht gebrochen. Also kühlte ich sie mit Eis und wir saßen an der zerbeulten Kücheninsel aus Kunststoff. Beide schwiegen wir, vom Streit erschöpft. Ich sollte etwas aus diesem Raum machen, dachte ich. Damals war die Küche nur sehr rudimentär und billig eingerichtet, das Linoleum auf dem Boden war rissig, der Wasserhahn tropfte fürchterlich. Ich stellte mir vor, wie sie aussehen würde, wenn über der Insel ordentlich aufgehängte Pfannen mit Kupferboden prangten, Kräutertöpfe an den Fenstern stünden oder es vielleicht sogar ein Gewürzregal gäbe.
»Keine Überstunden mehr«, bat ich Irving. Ich meinte natürlich nicht die Überstunden selbst, sondern dass er nicht mehr am frühen Morgen heimkommen oder die Wortwahl anderer Frauen übernehmen sollte. »Abgemacht?«
Abschätzend sah er mich an. »Um einen Gefallen zu bitten, steht dir wohl kaum zu«, meinte er und wies mit dem Kinn auf seine verletzte Hand.
Ich musste es irgendwie gutmachen. Damit es wieder funktionierte zwischen uns. Zögernd legte ich meine Hand auf seine unversehrte.
»Callie hat ein neues Wort gelernt.« Ich erzählte ihm die Geschichte und lachte. Ein bisschen weinte ich auch dabei. Er lächelte, und ich wäre vor Erleichterung, dass mir vergeben war, beinahe zusammengesunken. Und spürte dann auch einen grimmigen Stich des Stolzes. Sie hatte mir das neue Wort mitgeteilt, nicht ihm. Dann wurde mir klar, was wir zu tun hatten.
»Wir sollten noch eins bekommen«, meinte ich. »Noch ein Baby.«
»Ja«, erwiderte er. Ich weinte fast, als ich die Wärme seiner Zustimmung wieder spüren konnte. Wenn wir zwei Kinder hätten, überließe er mir vielleicht etwas von ihrer Liebe.
Seither frage ich mich, warum er sich damals mit dieser Idee einverstanden erklärte. Sein Vater hatte noch nicht alles verloren. Ich glaube, Irving hoffte auf einen Jungen. Er dachte wohl, dass der alte Mann vielleicht großzügiger wäre, wenn er einen Enkel bekäme. Was mich anging … O Gott, ich wollte ein Kind ganz für mich. Callie war immer Irvings Liebling. Eigentlich sollte man ja weniger egoistische Gründe haben, ein Kind zu wollen.
Ich bekam den Wunsch erfüllt. Als Annie geboren wurde, spürte ich es gleich: Wärme überflutete mich, als sie mich mit ihren tiefblauen Augen zum ersten Mal ansah. Sie war von Anfang an ein einfaches Kind, und sie war mein Liebling. Sie und ich, wir passen zusammen. Wir sind Teil voneinander, wie Callie und ich es nie waren.
Auf eine Weise allerdings funktionierte es nicht. Die Kinder haben Irving immer weiter aus meinem Fokus entfernt. Und er schätzt es nicht, am Rande des Scheinwerferkegels zu stehen. Außerdem wurde es kein Junge, der Irvings Vater veranlasst hätte, höhere Schecks auszuschreiben. Aber ich bleibe weiter bei ihm, weil ich auf diese Weise meinen beiden Kindern Eltern geben kann, die sich um sie kümmern, ein helles Haus mit Blumen und einen duftenden Garten mit einem Rasen, über den man laufen kann. Auch wenn Irvings Überstunden wieder angefangen haben. Wie immer. Aber ich bleibe.
Ich tue es für sie, aber auch für mich. Sundial, Falcon, Mia, diese ganze Sache mit Jack, alles das trennt mich von anderen Menschen, und ich habe immer noch dieses brennende Verlangen, mich anderen anzupassen. Ich wünsche mir nichts mehr, als in der unauffälligen Masse von Familien mit Häusern in den Vorstädten und Frauen, die Lehrerinnen oder Erzieherinnen sind und keinen Ehrgeiz haben, zu verschwinden. Callie ist meine Tochter, und ich liebe sie. Ich werde sie niemals wissen lassen, auf keinen Fall, dass ich sie manchmal nicht mag. Wie hart ich manchmal daran arbeiten muss, sie zu lieben.
Also, das bin ich. Zumindest bin ich jetzt so. Es gibt andere, ältere Geschichten, aber die erzählen von einer Rob, die seit Jahren tot ist. Sie ist fort. Ich habe sie eingemauert, in Dunkelheit weggeschlossen. Vielleicht ist sie schon verhungert und dort gestorben. Ein Kind, für das man viele Hoffnungen hegte, unter dem Wüstensand begraben. Vielleicht ist das etwas Gutes. In meiner Familie hätte sie keinen Platz.
Erst viel später wurde mir klar, was für ein seltsames Wort das für eine Zweijährige war. »Bleich«. Ich habe lange darüber nachgedacht.
Die Türklingel schreckt mich aus meinen Träumereien auf, schrill und laut. Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, ein Notizblock liegt offen auf dem Schoß. Ich hatte mir für den Unterricht Notizen zu Mark Twain machen wollen (grauenvoll, was wir unseren Kindern so alles beibringen), aber ich ertappe mich dabei, dass ich Szenen für Arrowood geschrieben habe. Callie sitzt in der Ecke und malt. Wie lange sitzen wir hier eigentlich schon? Dissoziationsstörungen – so nennt das June, die Therapeutin. Ich nenne es willkommene Unterbrechung. Wieder klingelt es an der Tür.
»Willst du nicht aufmachen?«, fragt Callie bissig. Sie sieht nicht einmal hoch.
Verlegen stehe ich auf. Der Notizblock fällt zu Boden, ich hebe ihn schnell wieder auf und stecke ihn in die Tasche. Hastig laufe ich durch den Flur, da quiekt schon die Klappe des Briefschlitzes. Die Scharniere brauchen Öl.
»Hallo?«, ruft jemand hindurch.
Mein Magen krampft sich zusammen, als wären Babymäuse darin. Aber ich setze ein Lächeln auf, auch wenn sie mich noch gar nicht sehen kann.
»Hannah!«, rufe ich zurück. »Wie ist die Party?«
Hannah Goodwins Augen sind wie zwei blaue Monde, von rötlichen Wimpern bekränzt. Als sie mich um die Ecke biegen sieht, entstehen in den äußeren Winkeln ein paar Fältchen. Ich bin heute also nicht die Einzige mit einem falschen Lächeln.
Ich bleibe ein paar Meter vor der Tür stehen. »Ich komme nicht näher«, erkläre ich. »Nur um ganz sicherzugehen.« Erst jetzt wird mir klar, dass ich immer noch einen Morgenmantel trage. Nach allem, was heute Morgen schon los war, hatte ich einfach noch keine Zeit, mich anzuziehen.
»Wie geht es dir?«, fragt sie.
»Ach, mir geht es gut«, erwidere ich. »Annie ist die mit den Windpocken, aber wir dachten, wir gehen besser auf Nummer sicher.«
»Arme Annie! Wir vermissen euch alle sehr. – Hör mal, als ich die Auffahrt heraufkam, lag da irgendein totes Tier. Eine Feldmaus oder so etwas, glaube ich. Eine Katze muss sie erwischt haben. Ich hab sie schon in den Mülleimer geworfen, aber an der Stelle ist immer noch eine ziemliche Sauerei. Vielleicht sollte Irving das nachher mal mit dem Gartenschlauch abspritzen, was meinst du, Prinzessin?«
Das ist ein Witz, den wir immer wieder miteinander machen, wir geben uns vor anderen Leuten immer neue Spitznamen, mit altem englischem Akzent, als wären wir Filmstars aus den 1940er-Jahren.
»Danke«, antworte ich.
»Alles in Ordnung?«, fragt Hannah. Ihr Blick ist besorgt. »Du und ich, wir müssen wirklich so einiges besprechen, Rob, bei einem großen Cocktail.« Der schrille Klang einer Jazztrompete erklingt nebenan. »Lass uns mal ein Wochenende ausmachen, an dem wir zusammen wegfahren. Die Jungs reden immer wieder vom Memorial Day, an dem wir zusammen in der Wüste waren.«
Ich gestatte mir ein heimliches Lächeln. Einmal waren wir zusammen auf Sundial, und seither will Hannah unbedingt noch einmal dorthin eingeladen werden. Die Goodwins teilen sich mit einigen anderen ein Ferienhaus in Florida. Dort zieht es Nick Goodwin immer hin, aber Hannah hat da snobistischere Vorstellungen. Sie würde in ihrer Yoga-Klasse nur zu gern damit angeben, dass sie in der Wüste war. Ich sage euch, die Mojave ist ja so spirituell! Da kann man wirklich zu sich selbst finden.
»Rob?«
»Tut mir leid«, antworte ich. »Ich war grad in Gedanken.«
»Braucht ihr irgendetwas? Ich kann schnell einkaufen gehen.«
»Du bist ein Engel, aber uns fehlt nichts. Gestern kam die Supermarktlieferung, also haben wir alles.«
An Hannahs Augen bilden sich wieder die Lachfältchen. »Na, du hast ja meine Telefonnummer. Gib einfach Bescheid. Sam hatte letzten Monat die Windpocken, es war ein Albtraum.«
»Ich erinnere mich.« Letzten Monat, vor genau 21 Tagen, sind die Goodwins aus Australien zurück gekommen. Am folgenden Tag bekam Sam Goodwin die Windpocken. Also haben wir Hannah schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Zumindest habe ich sie seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.
»Ich habe euch allen etwas zum Naschen mitgebracht. Ich lasse es einfach hier auf der Treppe stehen, Püppchen!«
»Du bist ein Schatz«, sage ich.
»Ruf mich nachher an.«
Hannah und ich treffen uns normalerweise an einem oder zwei Abenden in der Woche. Ich glaube, wir wären überhaupt nicht befreundet, wenn wir nicht direkt nebeneinander wohnen würden und unsere Kinder nicht im gleichen Alter wären. Wir sind ziemlich verschieden. Aber diese nagende Erschöpfung, die das Elternsein mit sich bringt, dieses ständige Schwanken zwischen Lachen und Weinen, diese zehrende Liebe für die eigenen Kinder sitzt so tief in einem, dass man schließlich aus nichts anderem mehr besteht. Hannah und ich sind uns gegenseitig ans Herz gewachsen. Ich mag sie. Sie ist die Art von Person, die ich als Kind zur Freundin haben wollte, bevor ich wirklich begriff, was Freunde sind.
Wenn wir auf der vorderen Veranda in der Hollywoodschaukel sitzen und sie mich mit ihren typischen Seitenblicken ansieht, wenn die Nacht warm ist und die Kinder schlafen, kann ich beinahe glauben, dass das alles ist, was ich bin. Rob, die Lehrerin, die mit ihrem attraktiven Mann, dem Biochemiker, in der Vorstadt lebt und endlich eine nette Freundin gefunden hat, die mich versteht.
Ich weiß nicht, ob sie diese gemeinen Gedanken verdient hat, die ich über sie habe. Sie schien Sundial und die Wüste draußen wirklich zu mögen. Der Ort ist in der Tat etwas Besonderes. Viele Leute spüren das, aber nur wenige verstehen es wirklich.
Und das ist gut so.
Ich öffne die Tür erst, als ich sicher bin, dass sie weg ist. Partygirlanden flattern am Baum im Vorgarten der Goodwins. Hinten hört man jetzt den Lärm, der entsteht, wenn sich auf einer Party alle gut amüsieren und langsam betrinken. In der kalten Luft liegt ein Hauch von Zigarrenrauch.
Auf der Treppe steht eine Zitronenbaisertarte. Dahinter, etwa auf der Hälfte der Auffahrt, sind die glitschigen Überreste der Feldmausleiche zu sehen. Ich habe den Eindruck, das tote Fleisch in der Mülltonne bis hierher riechen zu können.
Es dauerte Monate, bis ich den schwarzen Kalkstein, mit dem die Auffahrt gepflastert ist, zu einem Preis gefunden hatte, den wir uns leisten können. Ich liebe die Beschaffenheit des Steins, denn er hält die Sonnenwärme und gibt sie an die nackten Fußsohlen wieder ab, wenn man darüber läuft. Der Gartenbauer hat die Fliesen gelegt, nicht rechtwinklig oder gerade, sondern in einer sanften Kurve bis zum Eingang. Im Sommer wird die Auffahrt von Rosmarin, Thymian, Lavendel und Blauem Salbei gesäumt, mit eigentlich nicht ganz passenden hoch aufschießenden Kardinalslobelien dazwischen. Es hat ein bisschen gedauert, bis das alles farblich zusammenpasste.
Wenn ich jetzt meine wunderschöne Auffahrt betrachte, sehe ich nur Tod und schimmerndes Blut.
Ich spüre jemanden hinter mir stehen. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass es Callie ist. Sie hat einen sechsten Sinn für Zucker. Ich bücke mich und nehme die Tarte von den Stufen. »Erst heute Abend, nach dem Abendessen.« Ich schließe die Tür.
»Dad ist gerade hinten raus«, verrät sie mir.
Natürlich.
Plötzlich ist mir das alles zu viel. Mit einem Plumps setze ich mich mit dem Rücken an die Haustür. Heiße Tränen rinnen wie Würmer meine Wangen hinab. Schon bald muss ich nach Atem ringen. Meine Nase ist zugeschwollen, als wäre sie aus Zement. Mein Gesicht schwillt an, die Haut spannt sich darüber, als wäre es das Gesicht einer Plastikpuppe. Doch immer noch kommen Tränen.
»Mom …?«
Ach du lieber Himmel. Callie. Ich muss mich zusammenreißen. Ich versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, sodass das alles weniger beängstigend für sie ist. Auch wenn ich gar nicht weiß, ob Callie überhaupt Angst bekommt. Wenn, dann empfindet sie Furcht jedenfalls nicht so wie andere Leute.
Es ist seltsam, dass einem solche Gedanken in den Sinn kommen, während man wie ein neugeborenes Hirschkalb auf dem Boden seines Flurs sitzt und vor einer Tochter herumheult, die kurz davor ist, in die Pubertät zu kommen.
»Nicht weinen, Mom«, sagt Callie. »Warte mal … eine Sekunde.« Sie läuft in die Küche, ich höre sie dort kurz herumrumoren. Mein Kopf fühlt sich in meiner Hand sehr schwer an.
»Hier.« Etwas kommt in mein Gesichtsfeld geschwebt. Ich starre es einen Augenblick lang an. Es ist eine Gabel voller Zitronenbaisertarte. Ein Laut löst sich aus meiner Kehle, hoch, laut und kurz. Selbst in meinen Ohren klingt das verstörend. Callie allerdings zuckt nicht einmal zusammen. Sie sieht mich mit festem Blick an. »Das wird dir helfen«, erklärt sie.
Also esse ich. Die Zitrone klebt mir an der Zunge, sie ist sauer, aber das Baiser zergeht im Mund und wird zu einer wahren Zuckerexplosion. Es hilft wirklich ein bisschen. »Danke«, sage ich.
Ich muss fast lachen, so rührend ist es, dass sie mir Kuchen zu essen gibt, um mich zu trösten, aber ein Teil von mir will wieder weinen, denn Trost bedeutet in dem armseligen emotionalen Empfinden meiner Tochter nur Eiweiß und Zitronencreme und Zucker, alles zusammengebacken von ihres Vaters … Nun ja, lassen wir das.
»Mir geht es wieder besser. Ich danke dir sehr, Liebling.« Ich esse noch eine Gabel Zitronentarte, um es ihr zu zeigen.
Callie sieht mich einen Augenblick lang mit schief gelegtem Kopf an, dann nickt sie zufrieden. Ich kann förmlich das Häkchen sehen, dass sie neben meinem Namen macht. Wieder ein Punkt auf ihrer To-do-Liste erledigt. Mir geht es gut, sie muss sich keine Sorgen mehr um mich machen. Also kehrt sie zu ihren Zeichnungen zurück. Sie fängt wieder an zu summen.
Ich esse weiter. Ein guter Kuchen.
Ich habe Hannah und Irving schon seit einer ganzen Weile im Verdacht. Es gab Anzeichen. Vor ein paar Nächten bin ich aus süßem Schlummer erwacht, als die Hintertür leise zuklickte. Sein langes Duschen, und dann die Erschöpfung. Der Wein in seinem Atem, mitten am Tag. Und er wirkte glücklich, daher musste es wohl etwas außerhalb unserer Ehe sein.
Als ich die Windpockenpustel auf Annies Arm sah, fühlte es sich an, als rastete das Schloss eines Safes ein, als glitte ein Golfball glatt und perfekt über das Grün ins Loch. Ich wusste es einfach. Während Sam die Windpocken gehabt hatte, war keiner von uns im Haus der Goodwins gewesen. Jedenfalls hatten wir uns das so gedacht. Hat er Annie vielleicht mit hinübergenommen, während er auf sie aufpassen sollte? Aber eigentlich ist auch egal, wie es passierte. Mein Ehemann hat meine Kleine angesteckt. Das kann ich ihm nicht vergeben. Ich denke wieder an die Eingeweide der Feldmaus, die sich auf der Auffahrt verteilt haben.
Irving weiß, dass er aufgeflogen ist. Ich habe es vorhin in seinen Augen gesehen, als ich ihm von Annies Windpocken erzählte. Ich sehe auf die Zitronentarte hinunter, sie steht neben mir auf dem Boden. Ganze Stücke sind herausgebrochen, die Gabel steckt aufrecht in den Schichten aus Creme und Baiser und Teig. Ich frage mich, ob sie das beide arrangiert haben: Sie lenkt mich vorn an der Haustür ab, damit er aus der Hintertür schlüpfen kann. So können sie sich treffen … Wo eigentlich? In dem Gebüsch, das sich auf dem unbebauten Grundstück im nächsten Straßenblock gebildet hat und in dem es im Sommer von Blindschleichen wimmelt? Um irgendwohin zu fahren?
Mir ist auch aufgefallen, dass Nick Goodwin Irving nie direkt ansieht oder seinen Namen ausspricht. Immer heißt es nur: Kumpel, Großer, Junge. Es klingt freundlich, aber so spricht man doch mit einem Kind. Sein Blick ist immer auf einen Punkt knapp hinter Irvings Schulter gerichtet. Nick weiß also Bescheid, auch wenn er sich dessen vielleicht noch nicht bewusst ist.
Ich glaube nicht, dass er das noch lange wird ignorieren können. Ist Nick eigentlich eher der Typ, solche Dinge zu leugnen, oder eher jemand, der eine Konfrontation erzwingt? Ich glaube, er ist ein Leugner. Er ist Immobilienmakler, die sind ja immer ziemlich geschickt darin, sich die Realität nach eigenen Wünschen zurechtzuformen. Dann fällt mir noch ein dritter Weg ein. Innerlich rast man vor Zorn, während man nach außen hin so tut, als wäre nichts. Das ist nicht zu empfehlen.
Ich kann nicht aufhören zu denken: Ich mag Hannah doch. An manchen Tagen mag ich sie lieber als Irving. Der Verlust ihrer Freundschaft ist wie ein körperlicher Schmerz.
Es ist ein stumpfer Schmerz, ein bisschen so, als hätte man seine Tage. Ich will ihr sagen: Nimm lieber mich, du weißt doch gar nicht, wie er wirklich ist. Offenbar bin ich nicht in der Lage, irgendetwas Angemessenes zu fühlen. Nicht einmal im Zusammenhang mit der Affäre meines Ehemanns.
Annie isst ihren Kuchen mit den Fingern, aber sehr fein. Oft richtet sie sich in dem, was sie tut, nach Callie, macht es dann aber doppelt so intensiv. Callie weigerte sich hin und wieder, eine Gabel zu benutzen, Annie benutzt jetzt überhaupt kein Besteck mehr.
»Süße«, fange ich an, doch dann lasse ich es gut sein. Soll sie doch tun, was sie will.
»Streitet ihr euch, Daddy und du?«, möchte sie wissen.
»Warum fragst du mich das?« Das Schuldgefühl legt sich wie eine Eisenklammer um mein Herz.
»Ihr werdet ganz schwarz und zittrig, wenn ihr euch anseht.«
Kinder begreifen so viel. Manchmal kann einen das schon sehr erschrecken. »Für Erwachsene ist es hin und wieder ganz gesund, sich zu streiten«, erkläre ich. »Alles auf den Tisch zu legen, was drinnen ist, damit man sich wieder versöhnt.«
»Sind Daddy und du Freunde?« Ihre Augen sind so groß wie die eines Lemuren.
»Dein Daddy und ich sind beste Freunde. Genau wie du und Maria.«
Annie spielt mit einem Stück Baiser herum. »Maria mag mich nicht mehr«, sagt sie. Ihre Lippen verziehen sich zu einem verstörend erwachsenen Gesichtsausdruck des Bedauerns. »In der Schule ist sie gemein zu mir. Und wir sitzen in der Schulkantine nicht mehr zusammen. Das macht mich so traurig. Am liebsten würde ich sterben.«
»Sag das nicht, mein Liebling.« Ich nehme sie in die Arme.
Ich bin ärgerlich. Maria ist ein sehr hübsches kleines Mädchen mit seidenglattem, dunklem Haar. Sie sieht wie ein Püppchen aus und spricht immer in ganzen Sätzen. »Bitte, Mrs. Cussen, ich habe meinen Kuchen aufgegessen.« Sie und Annie spielen jedes Mal sehr ernsthaft und still miteinander. Ich dachte, sie wäre die richtige Freundin für meine Kleine.
»Ich glaube, Maria hat es gerade nicht leicht«, sage ich. »Du weißt doch, dass sie zurzeit mit ihrer Mama allein lebt. Ihre Eltern lassen sich scheiden.«
Ich kann mich eines kleinen Hochgefühls von Stolz nicht erwehren. Egal wie schlimm alles ist, Irving und ich haben unsere Kinder vor so etwas bewahrt. Daran haben wir festgehalten. Ich schäme mich der Boshaftigkeit, die ich der kleinen Maria gegenüber empfinde, die die sanfte Seele meiner Tochter so verwundet hat. Ich halte Annie fest und atme den Duft ihres Haars tief ein.
Der Wasserstrahl prallt von den Pflastersteinen ab und löst die schwärzlichen und getrockneten Innereien dort. Wenn ich darauf warte, dass Irving nach Hause kommt, um die Auffahrt zu reinigen, würden Mausreste bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag die Steine zieren. Aber warum ist das überhaupt ein Männerjob? Hat das mit dem Blut oder dem Geruch zu tun? Jeder, der eine Geburt hinter sich hat, hat schon Schlimmeres gesehen. Es ist wirklich seltsam, dass man die Wehen so gut wie vergisst, diese Schmerzen und den Klang des Fleischs, das reißt. Das ist nichts weiter als Selbstverteidigung. Freundlicherweise filtert der Körper einiges, um den Verstand zu schützen.
Manchmal habe ich diesen Geschmack im Mund, wenn ich Angst bekomme oder wütend bin. Wie tagelang abgestandene Limo, Übelkeit erregend süß. Er überkommt mich sogar in meinen Träumen. Und jetzt ist dieser Geschmack auch da, und am liebsten würde ich ausspucken, aber das kann ich nicht, denn hier kann mich ja jeder sehen.
Es ist nicht das erste tote Tier, das mir begegnet. Hannah war der Ansicht, eine Katze müsse die Maus getötet haben, aber die Katzenbesitzer, die hier wohnen, lassen ihre Katzen nicht hinaus. Ich glaube, irgendein Raubtier treibt hier in der Nachbarschaft sein Unwesen. Vielleicht ein Kojote oder ein Fuchs. Oder ein Dachs oder Waschbär, was wahrscheinlicher ist. Ich habe gehört, sie töten alle zum Vergnügen. Was auch immer es für ein Tier sein mag, es benutzt meine schwarzen Pflastersteine als Esstisch. Ich finde diese bezeichnenden Überreste oft auf den Steinen. Auch an anderen Stellen hier im Viertel sehe ich Leichen, ausgeweidet, über die Auffahrten und Bürgersteige verteilt bis hin zu den Veranden. Kleine Knäuel von Därmen, die am frühen Morgen glänzen. Kleine Krallen, im Tod gekrümmt, mit halb geschlossenen Lidern, unter denen der Halbmond eines blassblauen Augapfels zu sehen ist. So vollkommen tot. Es ist schrecklich, wenn alles um einen herum wie eine Metapher auf das eigene Leben wirkt.
Ich warte in den langen Januarschatten an der Hintertür, bis Irving hereinkommt.
»Rob«, sagt er, als er mich entdeckt. Er ist mehr als bloß ein bisschen betrunken. »War nur im Supermarkt.« Er lässt die Einkaufstüte, die er in der Hand hat, schaukeln.
»Hast du alles bekommen, was du brauchst?«
Er lächelt, als er meinen Tonfall hört. »Allerdings«, stellt er fest.
»Gut. Komm rein.«
Ich schließe den Riegel der Gartentür hinter ihm. »Keine Einkäufe mehr im Supermarkt. Ich habe deinen Schlüssel. Wenn du gehst, bleibst du draußen.«
»Bist du verrückt?«, fragt er langsam, aber ich behalte die Nerven.
»Vielleicht suchst du mal nach Callie. Sie hat nach dir gefragt.«
Er zögert. Kurz macht er den Eindruck, als wäre ihm die Situation peinlich. Ich kenne diesen Blick. Er braucht etwas. Er will mich um etwas bitten, und das geht ihm gegen den Strich. »Ich konnte meine Medizin vorhin nicht finden«, meint er dann. »Du weißt doch, dass ich sie jeden Tag zur gleichen Zeit nehmen muss. Hast du …«
»Ich habe sie im Badezimmerschrank hinter der großen Tube Vaseline versteckt«, gestehe ich. »Ich hoffe, du findest sie dort.«
Er packt mich von hinten, kommt über mich, bevor ich es richtig merke. Sein Unterarm schlingt sich um meine Kehle, aber nur leicht. Er beengt mich nicht, ja, er berührt mich kaum. Es ist wie ein Versprechen. Seine andere Hand hält das Licht ab. Für eine Sekunde bin ich überzeugt, dass er mir die Augen zuhalten will, wie Kinder, wenn sie einen von hinten überraschen wollen. Dann habe ich plötzlich die Befürchtung, dass er seine Finger in meine Augenhöhlen graben, meinen Augapfel zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen und ihn langsam herausziehen will. Ich ringe nach Atem und schlage nach seinen Händen. Der Schrei, der sich in meiner Kehle bildet, erklingt nur als ein gedämpftes Röcheln. Aber Irvings Hand schwebt immer noch vor meinem Gesicht. Er atmet mir ins Ohr und füllt es mit dem Gestank nach Alkohol.
»Ich hoffe auch, dass ich sie finde«, wispert er. Er berührt mich nicht. Seit diesem Tag damals hat er das nicht mehr getan, aber er mag es immer noch, so zu tun als ob.
Callie war neun und Annie sechs. Irving und ich hatten Streit, die Mutter allen Streits. Er dauerte damals schon ein paar Tage. Wir schimpften aufeinander ein, wann immer wir glaubten, dass die Mädchen uns nicht hören konnten. In der Nacht, wenn sie im Bett lagen, schrien wir, schluchzten und bewarfen uns mit Dingen. Manchmal weckten wir sie auf, Annie begann dann zu weinen. Sie schlief leicht wieder ein, sie war zu jung, um das alles wirklich zu verstehen. Callie aber weinte nie und sagte auch nie etwas.
Eines Abends saß Callie im Wohnzimmer und sah fern. Ich ging in die Küche, und er wartete hinter der Tür auf mich, so reglos wie ein Pfosten. Ich begann, ihm irgendwas Verletzendes zuzuraunen, um etwas von der Galle loszuwerden, die sich in mir aufgestaut hatte. Irvings Hand schnellte vor und packte meinen Nasenrücken so fest, dass ich hören konnte, wie der Knorpel brach. Schmerz durchflutete mich wie Feuer. Ich wollte schon losschreien, da fiel mir Callie nebenan ein, und ich dachte: Das darf ich nicht. Also schluckte ich es. Ich stand da, Tränen in den Augen, und schrie schweigend. Es blutete fast gar nicht, aber für ein paar Tage war meine Nase geschwollen und druckempfindlich wie eine überreife Pflaume. Annie wollte sie immer wieder anfassen und bubu sagen.
Der folgende Tag war ein Samstag. Wir wollten wie immer mit den Goodwins zum Bowling gehen. Diesmal durften Hannah und Nick etwas trinken, also nahmen Irving und ich zwei Autos, sodass Platz genug für zwei Familien war. Ich stieg mit Annie in den Jeep. Callie sah uns von den Eingangsstufen aus zu und wartete darauf, dass Irving, der im Haus noch irgendetwas zu erledigen hatte, herauskam. Immer wenn wir es eilig haben, fällt Irving noch irgendetwas ein, das unbedingt zu tun ist: die Geschirrspülmaschine ausräumen, ein Bild aufhängen, jemanden schnell anrufen. Es ist eine Machtdemonstration, mich warten zu lassen, während sich meine Ungeduld hochschaukelt und wir immer später dran sind. Ich bin darüber hinaus der Ansicht, dass er das Adrenalin, die Dringlichkeit braucht, um überhaupt etwas zu erledigen.
Annie fuhr immer mit mir, Callie mit Irving. Das war der natürliche Gang der Dinge. Aber jetzt drehte ich den Spieß um und rief Callie zu mir.
Als Irving herauskam, saßen bereits beide Mädchen im Jeep, Annie im Kindersitz, Callie angeschnallt auf dem Rücksitz. »Mach’s gut, Irving!«, rief ich und fuhr rückwärts von der Auffahrt herunter. Auf seinem Gesicht stand der Schrecken deutlich geschrieben. Er dachte ganz klar, dass ich seine Töchter entführen wollte. Gut, dachte ich. Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt.
»Warum kann ich nicht mit Dad fahren?«, wollte Callie wissen.
»Ich wollte auch mal etwas Callie-Zeit haben«, antwortete ich.
Der SUV blieb uns bis zum Bowlingcenter auf den Fersen. Ich konnte Irving im Rückspiegel sehen, über das Lenkrad gebeugt. In seinen Augen loderte der Zorn.
Um ihn herum lachten die Goodwins.
Die Bowlingbahn hallte vom Lärm glücklicher Familien auf Samstagsausflügen wider. Ich wartete, bis die Goodwins damit beschäftigt waren, sich ihre Schuhe anzuziehen. Dann flüsterte ich Irving ins Ohr: »Fass mich nie wieder an. Nie wieder.«
Er nickte einmal mit leerem Gesicht. Da erkannte ich überrascht, dass ich gewonnen hatte.
Wieder zu Hause, brachten wir die Kinder ins Bett. Ich lauschte auf die Geräusche, die Irving im Bad machte. Ich benutze das Bad, das ans Schlafzimmer grenzt, nie. Warum sollte man so nahe an der Stelle, an der man schläft, eine Toilette benutzen? Ich möchte wenigstens zwei Türen zwischen diesen beiden Tätigkeiten wissen. Das ist einer der Gründe, warum ich die Vorstädte so gernhabe. Dort nimmt man kaum zur Kenntnis, dass wir alle einen Körper haben.
Als Irving herauskam, setzte ich mich auf.
Ich wünschte, ich wäre gar nicht erst zu Bett gegangen. Ich mochte es nicht, zu ihm aufzusehen.
Er lächelte reuevoll und hob eine Augenbraue. Ich lächelte erleichtert zurück.
»Ich werde warten«, sagte er. »Darauf, dass dieser Streit beendet ist und wir wieder glücklich sind. Wir werden wieder in diese französischen Restaurants gehen und uns auch wieder ineinander verlieben. So sehr, dass es schmerzt, wenn wir nicht zusammen sind. Und dann, eines Tages, vielleicht frühstücken wir gerade oder wir sehen uns einen Film an, irgendetwas ganz Normales. Aber du wirst zu mir herübersehen und einen Scherz machen oder eine Frage stellen wollen. Doch dann werde ich fort sein. Dann suchst du nach Callie, und sie wird auch nicht mehr da sein. Ich werde dich verlassen, wenn du es am wenigsten erwartest, und ich werde sie mitnehmen.«
Er beugte sich über mich und küsste mich auf die Stirn, so sanft wie zu Boden segelndes trockenes Laub. »Ich bin klüger als du«, meinte er. »Ich habe Geduld. Ich kann so lange warten, bis es wirklich wehtut.« Er nahm das Wasserglas, das auf seinem Nachttisch stand, und schleuderte es gegen die Wand. Es klang, als würde die Welt zerspringen. Glas flirrte durch die Luft wie Diamanten. Irving lächelte. Dann legte er sich ins Bett und war einen Augenblick später eingeschlafen.
Ich lag wach neben ihm und sah zu, wie das Wasser die ockerfarbenen Wände des Schlafzimmers hinabrann. Ich habe diese Farbe gewählt, weil sie so beruhigend wirkt. Wie eine toskanische Villa in der Abendsonne, dachte ich damals.
Irving hat sein Versprechen gehalten. Er hat mich seit diesem Tag nie wieder angerührt, egal wie zornig er war. Er lässt es an Gläsern und Tellern aus. Jeden Tag frage ich mich, ob es heute sein wird.
Dass mein Kopf anstelle eines Tellers oder eines Wasserglases an der Wand zerspringt.