Das letzte Testament der heiligen Schrift - James Frey - E-Book

Das letzte Testament der heiligen Schrift E-Book

James Frey

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Beschreibung

Seine skandalträchtige, weil teilweise erfundene Autobiografie über seinen Entzug von Alkohol und Crack machte James Frey über Nacht zu einem der wichtigsten jungen Autoren Amerikas - und verkaufte sich weltweit 4,5 Millionen mal. Frey, eigentlich ein Kind der gehobenen Mittelschicht, weiß wie es ganz unten aussieht. Und dorthin schickt er auch den Protagonisten seines neuesten Buchs: Den Messias. Mehr als 2000 Jahre hat das Christentum auf die Rückkehr des Erlösers gewartet, jetzt ist er wieder da. Heute. In New York. Er begibt sich zu den Ärmsten der Armen. Er mengt sich unter Penner und Junkies. Er schläft mit Männern und Frauen. Er verachtet die Kirche und wird vom Staat verfolgt. Er heilt die Kranken. Er gibt Liebe und wird gehasst. Er wird getötet.Wie es sich für ein Testament gehört, erzählen 13 Zeugen von der Wiederkehr des Erlösers. Jeder Zeuge wird von einem bekannten Literaten ins Deutsche übertragen. Als Übersetzer wirken mit: Alexa Hennig von Lange, Charles Lewinsky, Clemens J. Setz, Gerd Haffmans, Harry Rowohlt, Juli Zeh, Katja Scholtz, Klaus Modick, Kristof Magnusson, Steffen Jacobs, Sven Böttcher, Tina Uebel, Zoë Jenny.

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Die Originalausgabe

“The Final Testament of The Holy Bible”

ist zuerst 2011 in der Gagosian Gallery,

New York, erschienen.

© 2011 James Frey

Für die deutsche Ausgabe:

© 2012 Haffmans & Tolkemitt,

Alexanderstraße 7, D-10178 Berlin.

www.haffmans-tolkemitt.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Umschlag: © Gregory Crewdson,

Courtesy Gagosian Gallery.

Gestaltung & Produktion von Urs Jakob,

Werkstatt im Grünen Winkel in Winterthur.

Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten.

Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm.

Printed in Germany.

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-942989-16-9

„Er wird wiederkommen.“

– Apostolisches Glaubensbekenntnis

Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit und nach ausführlichen Gesprächen mit der Familie, Freunden und Anhängern von Ben Zion Avrohom, auch genannt Ben Jones, auch genannt der Prophet, auch genannt der Sohn, auch genannt der Messias, auch genannt der Herr.

MARIA MAGDALENA  (Alexa Hennig von Lange)

CHARLES  (Clemens J. Setz)

ALEXIS  (Tina Uebel)

ESTHER  (Zoë Jenny)

RUTH  (Katja Scholtz)

JEREMIAS  (Kristof Magnusson)

ADAM  (Charles Lewinsky)

MATTHÄUS  (Harry Rowohlt)

JOHANNES  (Gerd Haffmans)

LUKAS  (Steffen Jacobs)

II MARIA MAGDALENA  (Alexa Hennig von Lange)

MARKUS  (Klaus Modick)

JUDITH  (Juli Zeh)

II ESTHER  (Zoë Jenny)

PETER  (Sven Böttcher)

III MARIA MAGDALENA  (Alexa Hennig von Lange)

MARIA MAGDALENA

Er war nichts Besonderes. Einfach ein Weißer.Ein stinknormaler Weißer. Braune Haare, braune Augen, normal groß und normal schwer. Genau wie die zehn oder zwanzig oder dreißig Millionen anderer weißer Typen in Amerika auch. Wie gesagt: nichts Besonderes.

Zum ersten Mal sah ich ihn, als er den Hausflur runter kam. Gegenüber stand seit einem Jahr eine Wohnung leer. Normalerweise gehen die Wohnungen in unserer Siedlung schnell wieder weg. Die Regierung zahlt was drauf für Leute, die nichts haben – und wissen, dass sich daran nie was ändern wird, auch wenn man uns dauernd was anderes erzählt. Gibt Wartelisten. Werden immer länger. Trotzdem wollte niemand da drüben wohnen. Hatte keinen guten Ruf, die Wohnung. Der Mann, der zuletzt drin gelebt hatte, war durchgedreht. Am Anfang war er noch ganz normal. Verkaufte vor dem Yankee Stadion Souvenirs, hatte eine Frau und zwei kleine Jungs, zwei richtig süße kleine Jungs. Doch plötzlich hörte er Stimmen und solchen Scheiß, fing an von Teufeln und Dämonen zu schwafeln und dass er unsere letzte Rettung ist.

Er verlor seinen Job und fing an, sich komplett weiß zu kleiden, und versuchte, allen auf den Kopf zu tatschen. Ein paarmal kriegte er richtig die Fresse poliert und seine Kirchengemeinde verbot ihm, je wieder aufzukreuzen. Er schrie seine Familie an und ließ die ganze Nacht lang solche Orgelmusik laufen. Verfluchte die Dämonen und flehte den Herrn an. Jaulte rum wie ein Köter. Seine Familie durfte nicht mehr raus. Plötzlich hörte die Musik auf, dafür fing es an zu riechen und Mami rief die Bullen, und die entdeckten ihn in der Dusche – erhängt. Steckte in einer weißen Kutte, wie so ein Mönch. Baumelte am Elektrokabel. Seine Frau und die Jungs waren an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt und hatten Plastiktüten über den Köpfen. Im Abschiedsbrief stand: Wir sind an einen besseren Ort gegangen. Schätze, der Teufel oder die Dämonen haben ihn geholt oder sein Herr hat ihn verlassen. Oder er hatte einfach keinen Bock mehr. Und kann ja sein, sie haben diesen besseren Ort gefunden. Ich weiß es nicht und werde es vermutlich auch nie erfahren.

War sowieso egal. Jeder wusste von der Sache und niemand wollte da wohnen. Bis auf Ben. Kam mit Rucksack und einem alten Koffer den Hausflur runter und zog einfach ein. Entweder er hatte keinen Schimmer oder ihm war’s egal. Zog scheißenochmal einfach ein.

Er war der einzige Weiße im ganzen Haus. Mal abgesehen von den Juden, denen die Schnaps- und Klamottenläden gehörten, war er der einzige Weiße im ganzen Viertel. Der Rest von uns war durchweg puertoricanisch. Ein paar Dominikaner gab’s auch. Und die üblichen schwarzen Old-School-Motherfucker. Alle arm. Und genervt. Alle am Überlegen, wie sie da rauskommen, obwohl’s sowieso keinen Ausweg gab. Es war, was es war. Ein beschissenes, amerikanisches Großstadt-Ghetto. Sind überall gleich beschissen. Ben schien das nicht zu stören. Interessierte ihn gar nicht, dass er hier nichts verloren hatte. Er kam und ging. Sprach mit niemandem. Lief die Woche über in so einer Art Polizei-Uniform rum, über die hier jeder lachte. Am Wochenende blieb er die meiste Zeit in seiner Wohnung, außer er ging sich besaufen. Dann sahen wir ihn weggeschossen auf einer der Bänke vorm Haus liegen, gleich neben dem Spielplatz. Oder im Flur mit Kotze auf dem T-Shirt. Einmal kam er Samstag früh nach Hause getaumelt, hatte sich komplett die Hosen voll gemacht und grölte einen zwanzig Jahre alten Rapsong. Mein Bruder und sein Kumpels griffen ihn sich und verarschten ihn, aber er war zu besoffen, um’s mitzukriegen. Wir dachten, wir wüssten, warum er hier bei uns wohnte. Warum es ihn nicht kratzte, dass er hier total fehl am Platz war. Wir dachten, sie hätten ihn verjagt, von wo er herkam. Dass er da nicht mehr willkommen war. Und wir hatten recht, seine Leute hatten ihn scheißenochmal verstoßen. Nur, was die Gründe anging, lagen wir falsch.

Zum ersten Mal unterhielten wir uns im Hausflur. Ungefähr sechs Monate nachdem er eingezogen war. Meine Tochter und ich kamen gerade aus unserer Wohnung, um ein bisschen vorm Haus zu chillen.

Da stand er in Boxer-Shorts und T-Shirt, die Tür offen, das Telefon in der Hand. Meine Tochter war so etwa anderthalb. Gerade dabei, ein paar Worte zu lernen. Sie sagte: Hallo, aber er grüßte nicht zurück. Sie ist wie ihre Mami. Wenn ich jemanden grüße, erwarte ich, dass man mich zurück grüßt. Jeder will das. Ein bisschen Respekt. Als Mensch zur Kenntnis genommen werden. Sie versuchte es noch mal, aber er stand einfach nur da. Also sagte ich: Ey, du Schwanzlutscher, weißt du nicht, dass man als anständiger Nachbar zurück grüßt? Und er guckte gleich ganz nervös und irgendwie verängstigt und sagte: Sorry. Meine Kleine meinte dann noch mal: Hallo, er grüßte zurück, sie lächelte, umarmte sein Bein und er lachte. Ich fragte ihn, was das soll, hier so in Unterhosen im Flur rumzustehen, die Tür offen und das Telefon in der Hand. Er sagte, er wartet auf seinen neuen Fernseher, den er sich im Ausverkauf besorgt hat und der geliefert werden sollte. Ich meinte, Hauptsache er hat ein gutes Schloss, für so einen Fernseher schlitzen sich die Schwanzlutscher hier schon mal gegenseitig auf, ohne Scheiß. Er lächelte nur, immer noch irgendwie nervös, und meinte: Ich glaube, mein Schloss ist okay, aber ich werd’s noch mal checken. Das war’s. Wir ließen ihn da stehen und auf seinen Fernseher warten.

Ich weiß, dass der verdammte Fernseher ankam. War ja nicht zu überhören. Bang bang bang. Explosionen. Hubschrauber und Flugzeuge. Und er voll am Schreien und Brüllen: Yeah yeah yeah, ich zeig’s dir, du Arschloch. Was sagst du nun, du Schwanzlutscher? Machst du dir ins Hemd? Hörte ihn hin und her rennen, hin und her. Kriegte richtig ein bisschen Schiss, weil er genau wie der Verrückte klang, der seine Familie umgebracht hatte, und dachte, ob dieser Ort irgendwie verflucht war. Brachte meinen Bruder dazu, der ein Jahr vor mir die Schule geschmissen hatte und damals noch bei uns war, mal an der Tür zu lauschen. Mein Bruder nahm’s ziemlich ernst und drückte sich das Ohr platt, dann kam er wieder und meinte: Okay, das ist richtig Scheiße, Maria Magdalena, richtig Scheiße, gegenüber sitzt ein Idiot, der Videospiele spielt, ich trommle mal besser ein paar Jungs zusammen und kümmere mich darum.

Ich lachte, aber ich hätte es gleich wissen müssen.

So läuft’s eben im Leben, du liebst die Deinen, traust aber niemandem, der nicht so ist wie du. Wäre ich in eine weiße Gegend gezogen und meine Nachbarn hätten bei mir Maschinengewehrgeballer und Gebrüll gehört, hätte mir gleich eine verschissene Garnison von Cops die Tür eingetreten. So läuft das eben.

Mein Bruder liebte Videospiele. Also hing er von da an den ganzen Tag bei Ben rum. Sie holten sich ein Basketball-Spiel und ein Autorennen, bei dem man Punkte sammelte, indem man so viele Leute wie möglich über den Haufen fuhr. Sie guckten sich die Spiele der Knicks an, tranken Bier und rauchten hin und wieder Gras. Ich warnte meinen Bruder, er soll vorsichtig sein, Weiße sind mit Vorsicht zu genießen, du weißt nie, was die sonst noch so im Schilde führen.

Für mich war klar, alles, was in meinem Leben schief gelaufen war, ging direkt auf das Konto von Weißen, und die meisten von denen sahen ziemlich jüdisch aus. Wegen denen war mein Daddy auch ins Gefängnis gewandert, als ich klein war. Meine Mami hatte fast ihr ganzes Leben für sie geputzt. Meine Lehrer, die alle so taten, als würden sie sich voll um uns sorgen, obwohl sie eigentlich Schiss vor uns hatten und uns wie Tiere behandelten, waren Weiße. Sie sind Cops, Richter, Vermieter, Bürgermeister, die reißen sich einfach alles unter den Nagel. Und nichts davon wollen sie wieder rausrücken oder wenigstens teilen. Die Reichen kümmern sich um die Reichen, damit die reich bleiben. Gleichzeitig quatschen sie davon, dass sie den Armen helfen, aber würden sie das machen, gäbe es nicht so viele von uns. Einen Weißen gegenüber wohnen zu haben, ihn manchmal zu grüßen, ihn beim Besaufen oder beim Rumlaufen in bescheuerten Uniformen mitzukriegen war schlimm genug, aber dass mein Bruder ständig bei dem rumhing, war echt nervig. Ich war mir sicher, das würde voll nach hinten losgehen.

Mein Bruder hatte noch nie auf mich gehört. Nie. Wünschte, er hätte es mal gemacht dann wäre er möglicherweise noch hier. Aber zugegeben, dieses eine Mal lag er richtig und ich lag falsch. Schon bevor Ben überhaupt eine Ahnung hatte, bevor er wurde, was er wurde, war er eigentlich ganz okay. Nicht mehr, nicht weniger, einfach nur ganz okay. Das kriegte ich mit, als mein Bruder mich mal mit zu ihm rüber nahm. Er hatte nämlich keinen Bock mehr, ständig von mir zu hören, dass dieser Weiße kein Umgang für ihn war, also meinte er eines Tages: Entweder du kommst jetzt mit rüber und überzeugst dich, dass er cool ist oder du hältst für immer die Klappe und lässt mich mit ihm abhängen. Ich war keine, die einfach ihre Klappe hielt, abgesehen von ein paar Ausnahmen, also ging ich mit. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass mit Mami soweit alles okay war, gingen wir über den Flur und klopften an seine Tür und er machte in Boxer-Shorts und einem komplett mit Tomatensauce verschmierten T-Shirt auf, und mein Bruder fing direkt an zu quatschen:

Was geht, Ben?

Ben wischte sich ein paar Fettspritzer aus dem Gesicht.

Was geht, Alberto?

Ich hab meine Schwester Maria Magdalena und ihre Tochter Mercedes dabei.

Ja, hab die beiden schon mal gesehen.

Ben sah mich an.

Wie geht’s?

Ich bedachte ihn mit einem eisigen Blick.

Dürfen wir vielleicht mal reinkommen?

Warum nicht?

Er hielt die Tür auf. Trat beiseite. Und wir gingen rein und ich sah mich um. Fetter Fernseher im Wohnzimmer. Eine abgeschräbbelte, alte Couch mit Brandlöchern, die aussah, wie aus alten Teppichen zusammengeflickt. Videospiele und Konsolen. Küche war eklig. Pizzakartons. Leere Suppendosen und Spaghetti, in denen noch Löffel und Gabeln steckten. Volle Müllsäcke. Ich suchte im Kühlschrank nach was zu trinken, aber da stand nur Ketchup drin, mehr nicht. Überall roch es nach ranzigem Essen und abgestandenem Bier. Im Schlafzimmer gab’s nur eine Matratze mit Kissen. Klamotten auf dem Boden. Im Schrank hing seine Uniform, das einzige, was gepflegt aussah. Das Badezimmer, also das Badezimmer, wo der Mann sich erhängt hatte, war genauso eklig wie die Küche. Flecken in Klo und Waschbecken. Taschentücher quollen aus einem kleinen Mülleimer. Toilettenpapier gab’s nicht, und ich bezweifelte, dass er hier jemals geputzt hatte. Es war eklig, selbst im Vergleich zu dem, was wir hier sonst noch so zu sehen bekamen. Eklig, aber vor allem traurig. Richtig traurig. Als würde er es irgendwie nicht anders kennen. Als würde er denken, das hier wäre total normal für einen erwachsenen Mann. Als hätte er niemanden, der ihm mal zeigte, wo es langging. Als sei er total einsam. Allein an einem Ort, wo er nichts zu suchen hatte, weil er sonst nirgends hin konnte. Weil er niemanden hatte. Hätte es wen gegeben, hätten die ja mal was unternommen. Sah aber nicht danach aus.

Er war komplett allein. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Bang bang bang. Er und Alberto ballerten auf Nazis, bewarfen sie mit Granaten. Mercedes hockte auf dem Boden, kaute auf ihrer Kuscheldecke rum und guckte zu, wie im Fernseher Leute explodierten. Das reichte. Die Welt ist auch so schon krank genug, ohne diese ganzen Ich-tu-mal-so-als-ob-Spiele. Das reicht, sagte ich, und klatschte Alberto auf den Hinterkopf. Er kriegte gleich einen Anfall, von wegen, du wusstest doch was hier läuft, musstest ja nicht mitkommen. Ich sagte: Spielt ein anderes Spiel, eins, wo nicht überall das Blut rumspritzt, und Ben meinte: Wir nehmen das NBA-Spiel, und wechselte die CD. Dabei frage ich ihn, wo er herkommt, und er sagt Brooklyn, und ich frage, ob er da Familie hat, und er sagt Ja. Ich frage, ob er manchmal hinfährt, er meint Nein. Ich frage: Warum nicht, und er meint: Ist eben so. Ich frage ihn: Seit wann schon nicht, und er meint: Schon ewig nicht mehr. Ich frage ihn, wie alt er eigentlich ist, und er meint: Dreißig, ich frage ihn, wo er vorher gewohnt hat, und er meint, da will er nicht drüber reden. Das Ganze machte mich richtig traurig. Ich dachte immer, Weiße haben’s gut im Leben. Sogar die Ärmsten haben’s besser als ich und alle, die ich kenne. Ging ich einfach von aus. Aber dieser Typ war alles andere als gut dran. Im Gegenteil. Nur er und seine Videospiele und seine eklige Wohnung, in der keiner wohnen wollte. Ich hatte wenigstens meine Kleine und meine Familie. Ihm ging’s so was von viel dreckiger.

Das Videospiel fing an, und ich wollte nur noch weg. Das alles war so was von traurig und deprimierend, also verschwanden Mercedes und ich wieder. Und das war’s. Für lange Zeit. Sechs oder neun Monate oder so. Alberto spielte mit Ben Videospiele. Ich traf ihn nur hin und wieder. Tagsüber in seiner Uniform, nachts sturzbetrunken, manchmal in Unterwäsche im Hausflur, wenn er auf eine Pizza wartete. Ich wurde achtzehn. Mit ein paar von meinen Freundinnen aus der Siedlung und welchen, die ich noch aus der Schule kannte, zog ich um die Häuser. Wir waren alle ungefähr gleich alt, fast alle in derselben Lage, kein Abschluss, ein oder zwei Kids, ein paar von uns sogar drei, ein Freund, der sich nie blicken lässt, keine Perspektive, außer den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat über die Runden zu kommen. Eins von den Mädchen trug gute Klamotten und eine schicke Uhr und roch nach teurem Parfüm und sie erzählte, dass sie als Tänzerin ordentlich Geld machte. Sagte: Musst zwar achtzehn sein, kannst aber drei-, vierhundert, oder vielleicht fünfhundert Mäuse pro Nacht mit Tanzen in Clubs machen. Wir dachten, sie geht anschaffen, aber sie sagte: Nein, sie tanzt nackt auf einer Bühne oder nimmt Männer für einen Lapdance mit ins Hinterzimmer und die geben ihr Cash. Keine große Sache. Die Typen kamen aus Manhattan, erzählten ihren Frauen was von Meetings oder Überstunden oder kamen nach Baseballspielen im Yankee Stadion rüber. Die waren so bescheuert zu glaubten, dass du sie ranlässt, und je mehr sie dir die Nummer abnahmen, desto mehr ließen sie springen. Sie sagte, dafür, dass man mit dem Arsch und den Titten weiße Männer frottierte, kam man nicht gerade in den Himmel, aber von uns war sowieso keine eine Heilige, und nach einer heißen Dusche am Ende der Nacht war das alles kein Ding für sie, besonders, weil sie so viel Geld damit machte. Sie meinte, irgendwann würde sie vermutlich wegziehen. In ein Viertel, wo ihre Kids auf eine gute Schule gehen können. Denn obwohl wir alle Schulabbrecher waren, wussten wir, wenn du hier wirklich raus wolltest, musstest du was lernen. Nur bekam das keiner von uns hin.

Am nächsten Tag rief ich meine Freundin an und sie nahm mich mit in den Club. Da traf ich den Manager. Weißer Fettsack aus Westchester. Ich musste mich bis auf Slip und BH ausziehen und für ihn tanzen. Meinen Hintern über seine Weichteile reiben, meinen Titten seine Brust hoch und runter rubbeln und Schweinkram flüstern, den seine Frau ihm niemals ins Ohr gequatscht hätte. Er fing an mich anzugrabbeln und ich wollte wissen, was das soll, und er meinte, er mache mit allen Mädels erst mal eine Probefahrt, bevor er sie raus auf die Rennbahn ließ. Das war so krank. Aber wir brauchten das Geld. Mami konnte nicht mehr arbeiten und was Alberto tat, wusste kein Mensch. Das war so krank. Aber ich ließ ihn. Ich ließ ihn seine Scheißprobefahrt machen. Bis mir kotzübel wurde.

Paar Tage später fing ich an. Es war nicht schwer, musste einfach mein Herz und meine Seele kalt machen. Bisher hatte ich erst mit drei Männern was gehabt. Mit einem als ich zwölf war. Dann mit Mercedes’ Papa, mit dem ich ab vierzehn zusammen war, bis er mich mit siebzehn sitzen ließ. Und mit dem Manager. Mal abgesehen vom Manager, hatte ich immer gewartet. Wollte es nur mit Typen machen, die mich aufrichtig liebten. Bei mir war es immer Liebe. Hätte alles für die Typen getan. Hätte für sie getötet oder wäre für sie gestorben. Wäre mit ihnen durchgebrannt. Ich dachte, die fühlen genau wie ich, lieben genau wie ich. Aber Liebe kann nun mal für jeden was anderes bedeuten. Für manche Hass, für manche Freude, für manche Angst, für manche Eifersucht, für manche Folter, für manche Frieden. Für manche ist sie alles. So, wie für mich. Echt alles. Und damit mich ein Mann überhaupt so anfassen durfte oder ich einen Mann so anfasste, musste ich ihn immer lieben. Deshalb machte ich dicht. Verschloss mein Herz. Verdrängte das Ganze. Und ich tanzte und streichelte und flüsterte, machte sie richtig heiß, brachte sie so gut es ging um den Verstand und um alles, was ich kriegen konnte. Was sie nicht wussten, sie kriegten noch zu viel von mir. Eine Dusche am Ende der Nacht war nicht genug. Nicht mal annähernd.

Das brachte gar nichts.

Ich arbeitete drei Nächte die Woche, manchmal auch vier. Begann zu sparen. Besorgte Mercedes ein paar Klamotten, die noch nicht getragen waren, eigene Schuhe, brandneu. Kaufte meiner Mami einen Pulli, und jede Woche neue Zeitschriften. Zur Bank brachte ich nichts, denn ich kenn mich aus mit Weißen und ihren Banken. Ich versteckte das Geld. Wo Alberto niemals nachsehen würde. Wo niemand nachsehen würde. Ein paar Monate, ein paar mehr. Machte ordentlich Geld, trotzdem tat’s weh. Und veränderte mich. Machte mich hart und kalt, so, als gäb’s mich gar nicht mehr. Eines von den Mädels gab mir bisschen Crack zum Rauchen, und es half. Also rauchte ich mehr davon. Und es half. Mehr als jede Dusche. Aber wenn die Wirkung erst mal nachließ, tat’s umso mehr weh, also zog ich mir noch mehr rein. Schlief und arbeitete und schoss mich ab. Fing an, Sachen zu machen, die ich niemals zuvor getan hätte, weil’s mir nichts mehr ausmachte, tat sowieso schon alles weh. Und machte noch mehr Geld. Als ich nachts mal wieder am Arbeiten war, kam Ben rein und eins von den Mädels meinte so grinsend: Guck mal, wer da ist. Und ich fragte, was mit dem sein soll, und sie meinte, er wäre leichte Beute. Würde hier reinkommen, mit seinem Gehaltsscheck rumwedeln und sich besaufen und alles verpulvern. Ich sagte: Der wohnt bei mir im Haus, und dass ich den übernehme. Sie zeterte über eine Minute rum, bis ich sagte, wie weit ich gehen würde. Ich gab zu viel Geld aus und brauchte mehr. Mami kränkelte, und Mercedes kränkelte, und ich musste sie dringend zum Arzt kriegen und ich hatte nun mal keine Versicherung. Und ich brauchte mehr.

Ich stellte mich zu ihm. Er war schon total dicht.

Er grinste und sagte: Hi, und ich sagte: Hey, Baby, nett dich hier zu sehen. Fragte ihn gar nicht groß, nahm einfach seine Hand. Führte ihn ins Hinterzimmer und legte los, so, wie die ganzen Typen das eben wollten, und flüsterte in sein Ohr, was wir zu Hause alles so veranstalten könnten, jetzt wo ich wusste, was für ein Typ er war. Von wegen, dass ich seinen Schwanz lutschen wollte und er mich ficken sollte, dass ich’s ihm so richtig besorgen würde, dass ich schon allein beim Gedanken daran so was von feucht wurde. Und bestellte noch mehr Drinks und füllte ihn ab. Gnadenlos. Und er ließ es geschehen. War unersättlich. Und nach einer Stunde war er alle. Genau wie sein Geld. Und ich fühlte mich mies, weil ich ihn ja kannte und wusste, er war okay. Nur traurig. Einsam und allein, ganz allein in dieser Wohnung, wo sonst keiner wohnen wollte, mit seinem Fernseher und seinen Spielen und seinen Pizzakartons und Suppendosen und seinem Müll und seiner traurigen Matratze und seinem ekligen Badezimmer. Mehr gab’s über ihn nicht zu sagen. Er ist einfach eingenickt, da auf dem Stuhl, mit meinem Arsch zwischen seinen Beinen.

Die Rausschmeißer kamen und schleppten ihn weg. Er hatte weder Perso noch Führerschein oder Kreditkarte dabei. Nichts mit Namen oder Anschrift oder so. Ich sagte: Er ist mein Nachbar und dass ich wusste, wo er wohnte. Sie waren drauf und dran, ihn auf die Straße zu werfen, ihn in der Gosse liegen und seinem Schicksal zu überlassen. War sicher nicht das erste Mal. Ich sagte, ich könnte ihn nach Hause bringen. Nachdem ich ihm alles, was er besaß, abgenommen hatte, dachte ich, das wäre das Mindeste. Wir hielten ein Taxi an und legten ihn auf dem Rücksitz schlafen. Ich saß neben ihm. Er schnarchte wie ein Baby.

Und als wir zu Hause ankamen, half mir der Fahrer, ihn aus dem Taxi zu bekommen. Und ich schleppte ihn weiter ins Haus und in den Fahrstuhl. Schleppte ihn den ganzen Hausflur runter, bis vor seine Tür.

Da ließ ich ihn liegen. Und ging dann noch mal raus, mich wegschießen. Kaufte mir ein bisschen was von seinem Geld. Und als ich später nach Hause kam, lag er noch immer da.

Zwei Tage später traf ich ihn wieder. Er kam in seiner Uniform nach Hause und ich wollte gerade zur Arbeit. Wir sagten beide nichts. Ich war mir nicht mal sicher, ob er sich überhaupt erinnerte. Guckte nur traurig und nervös wie immer. Und als ich ihn dann, nach langer Zeit, wiedersah, war er nicht mehr derselbe. War verändert. Verwandelt. Jemand ganz anderer.

Erst konnte ich es nicht glauben. Und dann glaubte ich. Ich glaubte. Ich glaubte.

CHARLES

Als ich ihn traf, tat er mir leid. Er kam auf die Baustelle, um sich bei mir um einen Job als Aufseher zu bewerben. Bei uns waren jeweils zwei Typen beschäftigt, die in Zwölfstunden-Schichten arbeiteten. Es gab Typen für unter der Woche und welche fürs Wochenende. Ein Scheißjob. Man musste auf der Baustelle herumgehen und war stundenlang auf den Beinen.

Es gab keine Aufseherkabine. Wenn’s eine gibt, sitzen die Aufseher ständig drin. Sie kaufen sich kleine Fernseher und trinken den ganzen Tag Kaffee. Machen Nickerchen. Aber das hier war eine heikle Baustelle. In einer Gegend, wo das höchste Gebäude zwölf Stockwerke hatte, zogen wir eins mit vierzig hoch. Es hatte einigen Widerstand bei den Anwohnern gegeben. Ein paar Proteste, eine große Petition.

Ich brauchte Leute, die bereit waren zu arbeiten.

Um die Sicherheit auf der Baustelle zu gewährleisten. Die sind schwieriger zu finden als man glaubt.

Die meisten erwarten sich was für null Leistung.

Sie erwarten, dass alles immer leicht ist. Wenn ein Job schwierig wird, wollen sie mehr Geld, mehr Freizeit, sie beschweren sich bei den Gewerkschaftsvertretern und versuchen, die Bedingungen neu auszuhandeln. So kannst du nicht arbeiten. Das Leben ist hart.

Von nichts kommt nichts. Ich würde auch lieber zu Hause sitzen und alle zwei Wochen dafür einen Scheck kassieren, dass ich Baseball schaue und Zeit mit meinen Kindern verbringe. Aber so läuft’s nun mal nicht. Man muss für alles auf der Welt arbeiten. Für jedes kleinste bisschen musst du beißen und kratzen und kämpfen. Und es wird niemals leichter. Niemals. Und es geht immer so weiter, bis du stirbst. Und dann ist es egal. Find dich damit ab. So ist es nun mal auf der Welt. Du kämpfst und strengst dich an und reißt dir den Arsch auf und am Ende bist du tot. Damit musst du dich abfinden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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