Das Leuchten am Rand der Welt - Eowyn Ivey - E-Book
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Das Leuchten am Rand der Welt E-Book

Eowyn Ivey

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Beschreibung

Winter, 1885. Lieutenant Allen Forrester erhält den Auftrag seines Lebens: Er soll im Namen der US-Armee den Wolverine River in Alaska erforschen. Seine Expedition verspricht endlich Erkenntnisse über diesen geheimnisvollen, unerforschten Landstrich, doch niemand vermag vorauszusehen, was Allen und seine Männer dort erwartet. Seine junge Frau Sophie lässt Allen in Vancouver zurück – sie ist schwanger. Leidenschaftlich gern hätte die Naturkundlerin ihren Mann in die Wildnis begleitet. Was sie jedoch nicht ahnt: Die Zeit der Trennung wird ihr ebenso viel Mut abfordern wie ihrem Ehemann. Ein Roman über eine abenteuerliche historische Expedition, eine tiefe Liebe zwischen zwei Forschernaturen und die Geheimnisse einer ungezähmten, spektakulären Natur.

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Seitenzahl: 603

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Ähnliche


Eowyn Ivey

Das Leuchten am Rand der Welt

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus und Martina Tichy

 

Über dieses Buch

Winter, 1885. Lieutenant Allen Forrester erhält den Auftrag seines Lebens: Er soll im Namen der US-Armee den Wolverine River in Alaska erforschen. Seine Expedition verspricht endlich Erkenntnisse über diesen geheimnisvollen, unerforschten Landstrich, doch niemand vermag vorauszusehen, was Allen und seine Männer dort erwartet.

Seine junge Frau Sophie lässt Allen in Vancouver zurück – sie ist schwanger. Leidenschaftlich gern hätte die Naturkundlerin ihren Mann in die Wildnis begleitet. Was sie jedoch nicht ahnt: Die Zeit der Trennung wird ihr ebenso viel Mut abfordern wie ihrem Ehemann.

 

Ein Roman über eine abenteuerliche historische Expedition, eine tiefe Liebe zwischen zwei Forschernaturen und die Geheimnisse einer ungezähmten, spektakulären Natur.

Vita

Eowyn Ivey wuchs in Alaska auf, wo sie noch heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern lebt. Sie studierte Journalismus und kreatives Schreiben und arbeitete zehn Jahre lang als preisgekrönte Redakteurin und Buchhändlerin. Ihr Debüt «Das Schneemädchen» war international ein großer Erfolg und wurde für den Pulitzer-Preis nominiert. «Das Leuchten am Rand der Welt» ist ihr zweiter Roman.

Für meinen Mann Sam,

in Liebe

Ich sah ihm in die Augen und begriff, dass ich keine Ahnung hatte.

 

Richard K. Nelson in Make Prayers to the Raven über seine Begegnung mit einem Vielfraß in Alaska

z.Hd. Herrn Joshua Sloan

Museumskurator

Historisches Museum Alpine

Alpine, Alaska

 

Sehr geehrter Herr Sloan,

vor meinem Altersstarrsinn habe ich Sie ja bereits gewarnt. In diesen Kisten finden Sie die Unterlagen, von denen ich sprach – die Briefe und Tagebücher der Alaska-Expedition, die mein Großonkel 1885 leitete. Sie sagten, Sie könnten sie nicht übernehmen, aber ich schicke sie trotzdem. Wenn Sie das Material erst gelesen haben, werden Sie Ihre Meinung ändern. Ehrlich gesagt bleibt mir keine andere Wahl. Ich habe keine Kinder, und die ganze Verwandtschaft ist tot. Kommt die Reihe an mich, werden diese Unterlagen mit allem Übrigen entsorgt. Beinah mein ganzes Leben lagen sie in Kisten und Kästen gestopft, die Zeit hat bereits ihre Spurenhinterlassen. Es wäre ein Jammer, wenn diese Geschichteunwiederbringlich verlorenginge.

Die Forschungsreise des Colonels verlief grauenvoll. Womöglich stand sie von Anbeginn unter einem schlechten Stern – was aber meines Erachtens ihrer Bedeutung keinen Abbruch tut. Seine Alaska-Expedition ist der von Lewis und Clark sicherlich gleichrangig, und die Aufzeichnungen zählen zu den ersten Augenzeugenberich- ten über jene nördlichen Gefilde und ihre Bewohner.

Einige der privaten Tagebucheinträge des Colonels muten geradezu phantastisch an und decken sich nicht mit seinen offiziellen Berichten. Manche, die die Unterlagen zu Gesicht bekommen haben, tun die befremdlicheren Ereignisse als Halluzinationen ab, ausgelöst durch Hunger und witterungsbedingte Entkräftung. Andere unterstellen dem Colonel, er habe seine Einträge aus Geltungssucht ausgeschmückt. Doch lassen Sie sich gesagt sein: Er war weder hysterisch veranlagt, noch war er ein Schwindler. Er hatte die Militärakademie in West Point absolviert und in den Indianerkriegen gekämpft, wo er als Gefangener der Apachen erfolgreich um seine Freilassung verhandelte. Das Scheinwerferlicht jedoch suchte er, soweit man weiß, nie. Ich persönlich bevorzuge inzwischen eine andere mögliche Erklärung: Er beschrieb exakt das, was er sah. Man muss doch arrogant sein, um zu glauben, alles auf Erden lasse sich mit den uns bekannten wissenschaftlichen Methoden messen und beurteilen. Auch der Colonel ging mit dieser Einstellung auf seine Reise – wie Sie sehen werden, tat er sich damit keinen Gefallen.

Neben den Tagebüchern und Berichten sende ich noch einiges, was meine Großtante Sophie schrieb. Außerdem Illustrationen, Fotos, Zeitungsausschnitte – dies und das, was mir im Laufe der Jahre in die Hände gefallen ist. Ich hatte erwogen, alles durchzugehen und vieles auszusortieren, aber manches könnte für Sie doch von Interesse sein.

Die von der Expedition stammenden Artefakte behalte ich vorerst hier. Ich habe so viel wie irgend möglich aufbewahrt; das meiste ist allerdings so empfindlich, dass es den Postweg nach Alaska und retour womöglich nicht überstünde. Ich habe für alles Fachgutachten eingeholt. Beigelegt finden Sie für jeden Gegenstand eine Beschreibung und eine Beurteilung seines Zustands.

Schauen Sie alles in Ruhe durch. Sollten Sie Ihre Meinung ändern und doch in Ihrem Museum Platz dafür finden, schicke ich Ihnen gern alles, was ich noch habe.

 

Mit freundlichen Grüßen

Walter Forrester

Teil 1

Künstlicher Horizont Mitte des 19. Jh., nicht bezeichnet Sammlung Allen Forrester

Mahagoni-Kasten mit Fächern und Schlüssel.

Inhalt: Spiegelschale, Quecksilberflasche, messinggefasste Glaspyramide.

Verwendung: Zur astronomischen Navigation bei aufgrund von Dunkelheit, Nebel oder Landerhebungen nicht sichtbarem natürlichem Horizont. In die Spiegelschale gegossenes Quecksilber dient als waagerechte Spiegelfläche; der Sextant misst über der Spiegelung den doppelten Höhenwinkel.

Tagebuch von Lieutenant Colonel Allen Forrester21. März 1885 Perkins Island, Alaska

Die Uhrzeit weiß ich nicht, nicht einmal ungefähr. Es ist tiefe Nacht; vielleicht schon Morgen. Ich kann meine Worte auf dem Papier nicht ausmachen, kritzle beim Mondlicht, so gut es geht, halte unmittelbare Gedanken fest. Bei Tage erscheint mir alles womöglich als Phantasterei. Doch momentan verstört es mich.

Vor wenigen Minuten erhob ich mich & verließ das Zelt, um mich zu erleichtern. Der Mond schien hell, die Laterne sparte ich mir. In offenen Schnürstiefeln suchte ich mir den Weg unter die Bäume. Die Nacht war still bis auf das Zischen der Wellen am Strand. Gewiss, ich schlief noch halb, mein Blick war verschwommen. Als ich mich zum Zelt zurückwandte, raschelte es über mir. Ich blickte auf, sah Mondlicht, silbrige Schatten, schwarze Äste. Ein Tier hätte ich erwartet, eine Eule vielleicht, die sich zum Schlafen einrichtete, doch oben in der Fichte saß der alte Eyak. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber seine schmale Gestalt & der schwarze Hut waren unverkennbar. Sein merkwürdiger Halsschmuck glänzte im Mondschein.

Da hockte der Indianer, hoch im Geäst, ganz still. Ich weiß nicht, ob er mich sah. Ich ging nicht näher heran, wollte ihn nicht erschrecken. Nicht, dass er herabstürzte.

Zur Not käme ich auf den Baum hinauf, aber leicht wäre es nicht. Doch dieser alte Mann mit seinem lahmen Bein – was hatte ihn bloß da hinaufgetrieben? Ein Bär? Angst um sein Leben? Das passt nicht zu ihm. Der Eyak erscheint mir recht unerschütterlich. Offenbar hatte er es sich im Astwerk bequem gemacht, vielleicht schlief er gar.

Sein Anblick hat mich seltsam beunruhigt. Als hätte ich einen Vogel unter Wasser fliegen sehen oder einen Fisch durch die Lüfte schwimmen.

22. März

Bei Tagesanbruch verlassen wir Perkins Island, ob mit Verstärkung oder ohne. Schon viel zu lange haben wir den Aufbruch verschoben & gewartet, dass die Männer der Eyak wie versprochen von der Seeotterjagd zurückkehren, um uns zu begleiten. Uns bleiben drei halbe Kinder, zu jung für die Jagd, & der Alte mit dem krummen Bein. Angeblich kennt er diese Gewässer & kann uns zur Mündung des Wolverine River lotsen. Jetzt, wo das Festland Alaskas in so greifbarer Nähe ist, will ich keinen Tag länger warten. Erst verzögerten Militärangelegenheiten unsere Abreise aus Sitka um Wochen, dann kroch die USS Pinta im Nebel dahin. Allzu bald könnte der Wolverine aufbrechen, sich in eine wilde Flut aus Sulz & Eisschollen mit unpassierbaren Stromschnellen verwandeln. Auf dem offen dahinströmenden Fluss werden wir es auch nicht weiter als bis zu der Stelle schaffen, an der Haigh seine Reise abbrechen musste. Schon jetzt sorge ich mich um das Eis in der Schlucht.

Ich schreibe beim Zelteingang. Pruitt hantiert wieder mit den Instrumenten, poliert die Glaspyramide des künstlichen Horizonts & kontrolliert das Uhrwerk der Howard. Fast schon eine Manie, aber ich kann sie ihm nicht verdenken.

Sergeant Tillman hat einen anderen Tick. Er sorgt sich um unsere Essensvorräte. Reicht unser Schiffszwieback?, fragt er dreimal am Tag. Sagt immer wieder, Erbsensuppe könne er nicht leiden, wolle auf seinem Schlitten lieber Schokolade den Fluss hinaufziehen. Und ich? Ich schreite rastlos auf & ab, am Strand dieser kleinen Insel hoch im Norden, starre über den Sund. Wir sind alle begierig darauf, endlich unsere Mission anzutreten.

Der Eyak beobachtet uns von seinem Platz unter der großen Fichte, in der er genächtigt hat. Ohne seinen schwarzen Hut & die geknöpfte Weste sieht man den Alten nie, doch dazu trägt er Hemd & Hose aus Tierhaut wie seine Stammesgenossen. Sein schwarzes Haar ist schulterlang. Um den Hals hängt ihm ein bizarrer Schmuck aus kleinen Tierknochen, Zähnen, glänzenden Glas- & Metallstückchen, ähnlich dem Meerzahn-Halsschmuck, den hier viele tragen. Er beobachtet uns mit einem unergründlichen Ausdruck auf dem breitwangigen Gesicht. Belustigung? Wüste Entschlossenheit? Ich kann es nicht einordnen. Selbst die Frauen & Kinder der Insel scheinen vor ihm auf der Hut zu sein. Der alte Mann blickt finster, gibt kein Wort von sich, lacht plötzlich zur unpassendsten Gelegenheit los. Heute Morgen ist Sergeant Tillman auf den vereisten Felsen bei den Ruderbooten ausgeglitten, auf die Knie geschlagen. Der alte Mann gackerte. Tillman rappelte sich hoch, ging hin & packte ihn am Kragen. Der Sergeant ist nicht gerade klein. Gebaut wie ein Preisboxer, ständig die Faust geballt – so hatte ihn mir der General im Vorfeld beschrieben. Der alte Eyak hätte gegen ihn keine Chance.

«Lassen Sie ihn in Ruh», sagte ich, obgleich ich ihn verstehen konnte. Mich macht der Alte auch nervös. Wie er in tiefster Nacht da oben im Baum hockte, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Hätte ich die Wahl, heuerte ich einen anderen Führer an.

Der Trapper Samuelson wird uns bis zur Mündung des Wolverine begleiten. Wenn er weiter dabeibliebe, wäre das kaum in Gold aufzuwiegen, er kann sich nämlich in den meisten einheimischen Sprachen einigermaßen verständigen & hat große Teile des Unterlaufs bereist. Die Wolverine-River-Indianer, von den Russen Midnuski genannt, sollen ihm Nachricht von seinem Kompagnon bringen. Auf ihn will er bei der Flussmündung treffen, um zu beratschlagen, wo sie den Sommer verbringen. Ich versuche weiterhin, ihn zu überreden, sich unserer Expedition anzuschließen, doch er widersetzt sich. Das Quellgebiet des Wolverine ist Niemandsland, sagt er. Dabei schrecken ihn nicht die als grausam verrufenen Indianer, sondern das unwirtliche Terrain & der unberechenbare Fluss.

Was den Menschenschlag am Oberlauf des Wolverine River betrifft, legt sich Mr. Jenson, der weiße Händler, gewaltig ins Zeug, uns Furcht einzujagen. Er erzählt, sie hätten die Russen abgeschlachtet, während diese auf ihren Schlitten schliefen, ihnen dann die Geschlechtsteile abgeschnitten & in den Mund gestopft.

Mr. Jenson betreibt hier auf der Insel den Handelsposten der Alaska Commercial Company. Er prahlt, allein dank seiner eisernen Faust halte er die hiesigen Indianer im Zaum. Mir ist selten ein derart unangenehmer Zeitgenosse begegnet. Er trinkt über alle Maßen & verkauft Alkohol an die Indianer der Insel, um dann über deren Trunksucht zu wettern. Er protzt damit, wie er die Eingeborenen für erstklassige Pelze über den Tisch zieht. Und uns rät er, einen Indianer nie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, denn einer wie der andere seien sie Lügner & Diebe.

Ich gehe dem Händler aus dem Weg, wo ich nur kann, aber er kommt mir immer wieder mit Geschichten, man trachte ihm nach dem Leben. Dieses Inseldorf wird mit jedem Tag enger. Ruhelos gehen wir umher, überprüfen die Ausrüstung, beobachten den Himmel, fragen, wann die Otterjäger zurückkehren.

Bei aller ruhelosen Langeweile lässt uns die spektakuläre Umgebung nicht unberührt. Ein herrliches Land, weit & kalt. Sonne überall, sie glitzert auf blauer See, auf Eis, auf Schnee. Die Lichtreflexe so grell wie das Geschrei der Seevögel über uns. Die Insel ein rauer Fels im Wasser, mit grauen Klippen, Nadelwäldern, felsigem Strand. An klaren Tagen kann ich jenseits des Sunds die Festlandberge Alaskas ausmachen. Noch immer sind sie winterlich weiß.

Gestern in der Abenddämmerung tappte ein Braunbär den Strand entlang, schlenderte zwischen unseren Ruderbooten umher. Heute maßen wir seinen Fußabdruck im Sand: so breit wie zwei gespreizte Männerhände.

Sobald ich nicht arbeite, schweifen meine Gedanken zu Sophie, doch solche Schwelgerei darf ich mir nicht gestatten. Ich muss einen kühlen Kopf bewahren.

Sonderauftrag Nr. 16

Hauptquartier Militärbezirk Columbia

Garnison Vancouver, Washington-Territorium

7. Januar 1885

Per Anordnung des Oberkommandierenden der Armee, am heutigen Tage per Telegramm eingegangen, wird Lieutenant Colonel Allen Forrester hiermit ermächtigt, eine Expedition ins Innere Alaskas flussaufwärts entlang des Wolverine River anzuführen. Gleichzeitig ergeht Befehl an Lieutenant Andrew Pruitt und Sergeant Bradley Tillman, sich für nämliche Expedition bei Colonel Forrester zum Dienst zu melden.

Ziel der Unternehmung sind die Kartierung des besagten Territoriums sowie eine Erhebung zu den einheimischen Völkern, um im Falle künftiger Auseinandersetzungen zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten und den Eingeborenen des Territoriums entsprechend gewappnet zu sein. Die Expedition wird des Weiteren feststellen, ob und wie sich im Bedarfsfall Truppen in dieser Region versorgen lassen, sie wird Daten zum Klima und zur Dauer des Winters erheben und Erkenntnisse zu Methoden der Nachrichtenübermittlung und zur Bewaffnung der Eingeborenen sammeln.

An Colonel Forrester ergeht Befehl, bei jeder sich ergebenden Gelegenheit vollständige Meldung an das Hauptquartier zu machen, einschließlich Wegstrecken, Karten und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ihm ist gestattet, bei Bedarf bis zu fünf einheimische Kundschafter anzuheuern. Die Expedition sollte bis Anfang März an der Mündung des Wolverine River angelangt sein, um auf dem zugefrorenen Fluss landeinwärts ziehen zu können.

Aufgrund der Unwägbarkeiten einer solchen Unternehmung verbleiben sämtliche Entscheidungen bezüglich der Fortsetzung der Fahrt über den Wolverine River hinaus in der Zuständigkeit von Colonel Forrester. Die Expeditionsmitglieder verpflichten sich, mit Ausrüstung und Proviant jederzeit sorgfältig und sparsamst umzugehen. Für reichlich Reiseproviant ist gesorgt.

Bei erfolgreichem Verlauf sollten die Expeditionsteilnehmer vor Wintereinbruch den gut kartierten Yukon River erreichen und dort einen Dampfer zur Küste nehmen. Colonel Forrester wird sodann für sich und seine Männer den Weitertransport mit einem Zollkutter organisieren.

Mit besten Wünschen für eine erfolgreiche Expedition und gute Heimkehr

gezeichnet: Major-General James Keirn

i.A. Assistant Adjutant General Stanley Harter

USS Pinta

Lieutenant Colonel Allen Forrester23. März 1885

Eine letzte Nacht verbringen wir noch auf Perkins Island, aber zumindest liegen das Dorf & der Händler Jenson hinter uns. Wir kampieren im Norden der Insel am Sund, der Wolverine mündet genau gegenüber. Noch immer kommen wir langsamer voran, als uns lieb ist.

Jenson hatte prophezeit, wir würden unsere Boote nicht durch die Brandung bringen. Doch das bestärkte uns nur in unserer Entschlossenheit. Heute, am Morgen der Abreise, begrüßten uns trostloser Regen & raue See. Der Händler war zeitiger aus den Federn, als ich ihn je sah, um uns unter reichlich skeptischen Kommentaren bei der Arbeit zuzuschauen. Es war fast noch finstere Nacht, als wir die Ruderboote beluden & die Besatzung einteilten: in dem einen Boot Pruitt, der alte Mann, zwei junge Eyak & ich, in dem anderen Samuelson, Tillman & der dritte junge Eyak. Den drei halbwüchsigen Indianern befahl ich, die Boote abzustoßen & zuletzt hineinzuspringen.

Wir mussten uns gegen die Brandung schwer in die Riemen legen. Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst auf Tillmans gebellten Ruf hin:

«Verdammt! Kehren wir um & holen sie?»

Ich blickte auf. Im Morgengrauen waren die Indianer am Ufer gerade eben auszumachen. Knietief standen sie in den heranspülenden Wellen. Ihre Mienen waren nicht zu deuten, einer hatte die Hand erhoben. Was wollte er uns bedeuten? Winkten sie uns nach? Hatten sie nie vorgehabt, uns zu begleiten, obwohl sie meine Bedingungen mit einem Nicken angenommen hatten? Blieben sie gegen ihren Willen zurück? Wie auch immer – umkehren würde ich nicht. Wir hatten es nur mit Mühe durch die Brandung geschafft. Ich wies mit der Hand nach vorn, hinaus auf den Sund.

«Vorwärts!», kommandierte ich.

Wir machten uns auf in das kalte nasse Grau. Nur zwei kräftige Ruderer per Boot, der alte Eyak war nutzlos. Schon jetzt, ganz am Anfang der Reise, waren wir unterbesetzt.

Das Tageslicht erleichterte nichts. Die Wellen klatschten gegen die Bootsseiten, vom Wind verwehte Gischt durchnässte die in Segeltuch geschlagene Ausrüstung. Unser Kurs ging nordwärts, parallel zur Insel. Als sich vor uns eine Felsgruppe erhob, befahl ich, in Richtung offene See abzudrehen. Da sprach der alte Mann zum ersten Mal, kehlig & mit Schnalzlauten. Ich hatte die Sprache noch nie gehört. Der Trapper aber verstand ihn.

«Wir sollen uns am Ufer halten, dort hindurch.»

«Wie bitte?»

Die Boote stiegen die Wellen hinauf, kippten über die Kämme, trugen uns auf die Felsen zu.

«So hat er es gesagt. Nahe am Ufer halten.»

Ich blickte zu dem Alten im Bug. Seine Weste flatterte im Wind. Seine Augen waren weit aufgerissen, er grinste – oder war es eine Grimasse? Unmöglich zu sagen.

«Das ist doch Wahnsinn!», rief Tillman gegen den Wind.

Ich musste ihm recht geben. Die Wellen würden die Boote an den Felsen zerschmettern. Doch wozu hatten wir den Alten dabei, wenn nicht als Lotsen? Er kennt diese Buchten & Fjorde schon sein ganzes Leben. Die Eyak hatten gesagt, er könne uns zum Festland bringen.

Die Boote drohten querzuschlagen. Wellen brachen über das Dollbord.

«Tut, was er sagt!», rief ich. «Rudert landwärts!»

Mir blieb keine Zeit, meinen Befehl zu bereuen. Die See packte uns wie Treibholz & warf uns auf die Felsen zu. Mit knapper Not schrammten wir daran vorbei, nur um von Strudeln am Fuße der Inselklippen ergriffen zu werden. Die Boote drehten sich, hoben sich, knarzten. Salzige Gischt brannte uns in den Augen. Vom Bug meinte ich, das Gackern des alten Eyak zu hören. Oder waren es Möwen? Wer ist so verrückt, noch beim Absaufen zu lachen?

Ich kann nicht sagen, wie lange wir gegen die See & die Steilwand kämpften. Tillman stand aufrecht im Heck & stemmte den Riemen gegen die Klippen, um das Boot vom Fels abzuhalten. So stark er war, der See war er nicht gewachsen. Pruitt schrie gellend auf – seine Hand war zwischen Bug & Felswand geraten. Samuelsons Mund entströmten Flüche, wie ich sie noch nie gehört hatte.

Als wir uns schließlich aus dem tosenden Sog befreit hatten, legten wir uns in die Riemen, bis uns das Herz schier bersten wollte. Wir ließen erst nach, als uns sanfte Dünung wiegte, ohne einen Felsen weit & breit.

Tillman schloss zu uns auf. Ich glaubte, er wolle das weitere Vorgehen besprechen, doch stattdessen ließ er die Riemen fahren & sprang herüber in unser Boot. Bevor ich begriff, was er vorhatte, hatte er den alten Mann schon am Hemd gepackt & hochgerissen.

«Was zum Teufel ist in dich gefahren?», schrie er dem alten Eyak ins Gesicht. «Willst du uns alle umbringen?!»

Der Alte blinzelte nicht einmal. Er hätte um sein Leben fürchten sollen. Stattdessen entblößte er grinsend seine abgenutzten Zahnstummel. Erneut äußerte er sich in seiner von Schnalz- & Knacklauten durchsetzten Sprache.

«Was sagt er?», wandte Tillman sich an Samuelson.

Der Trapper zögerte, als wolle er es ungern wiedergeben.

«Er sagt, er hat schon seit vielen Tagen Hunger.»

«Was?»

Samuelson zuckte mit den Schultern. «Das sagt er. Er hat Hunger.»

«Und darum sollen wir mit ihm zur Hölle fahren?»

Tillman versetzte dem Alten einen Stoß & machte Anstalten, ihn über Bord zu werfen. Der Alte krächzte auf, ein Lachen, oder ein Jaulen. Ich war kurz versucht, den Sergeant gewähren zu lassen, besann mich jedoch.

«Es reicht, Tillman. Wir sind ihn bald genug los.»

Der Sergeant zögerte. Ich dachte schon, er würde sich dem Befehl widersetzen, doch er stieß den Alten zurück ins Boot.

Wir nahmen die Riemen wieder auf & ruderten ohne innezuhalten oder auch nur ein Wort zu sprechen. Nur langsam kamen wir voran. Erst am frühen Nachmittag erreichten wir die Nordseite von Perkins Island.

«Der Alte sagt, ein Sturm zieht auf», ließ Samuelson vernehmen.

Warum sollten wir dem Eyak glauben? Keiner von uns traut ihm mehr.

«Vielleicht wäre es besser, auf ihn zu hören», meinte Samuelson. Wir folgten seinem Blick. Am Horizont türmten sich erste Wolken.

«Er sagt, direkt hinter der Landspitze da vorn finden wir einen sicheren Anlandeplatz.»

Diesmal belog der Alte uns nicht. Ein eisiger Regenguss trieb uns zum Ufer. Wir verzichteten aufs Feuer, bauten nur rasch unter Bäumen das Zelt auf & krochen hinein, kalt, zitternd, erschöpft. Der alte Eyak ist draußen geblieben, wo genau, wissen wir nicht, & es interessiert uns auch nicht. Laut prasselt der Regen auf die Zeltwand. Wir essen kaltes Corned Beef aus der Dose, sitzen Schulter an Schulter zusammengedrängt.

Ich fragte Samuelson, warum die jungen Indianer nicht mitgekommen sind.

«Aus Angst.»

«Vor den Midnuski?»

«Nein. Vor Jenson, dem Händler. Er erwartet, dass sie ihm helfen, wenn die Jäger mit den Otterbalgen kommen.»

«Er hat erstaunliche Macht über sie», bemerkte ich.

«Noch sind sie nicht ganz seine Sklaven, aber lange dauert es nicht mehr», meinte Samuelson. «Einmal habe ich gesehen, wie er einer Indianerin das Kind von der Hand riss, als Entschädigung für die Pelze, die der Vater nicht gebracht hatte.»

«Was will ein Weißer mit einem Indianerkind?»

«Angst verbreiten», meinte der Trapper.

Wir segeln den Küstensaum entlang oder lassen uns von Schlittenhunden über die zugefrorenen Flüsse ziehen, bis wir zum eisigsten, wildesten Westen gelangen, vom unwirtlichsten, fernsten Osten durch nichts als eine Meerenge getrennt, im Winter überzogen von dickscholligem Eis. Was kann man nun über diese Region sagen – dieses Ultima Thule der bekannten Welt, dessen nördlichster Punkt nur drei, vier Grad südlich des höchsten bisher erreichten Breitengrades liegt?

Aus: History of Alaska: 1730–1885, Hubert Howe Bancroft, 1886

Tagebuch von Sophie ForresterGarnison Vancouver 6. Januar 1885

Unglaubliche Neuigkeiten! Dank einer Ausnahmegenehmigung des Generals darf ich Allen und seine Männer auf dem Dampfer nach Norden begleiten! In den vergangenen Tagen schien dies immer unwahrscheinlicher, und sicher verdanke ich es allein Allens zäher Beharrlichkeit, dass mir die Fahrt gestattet wird. Gewiss, meine Reise endet bereits in Sitka, und Ende Februar bin ich wieder in der Garnison – das nördliche Festland, wo das eigentliche Abenteuer beginnt, werde ich nicht einmal aus der Ferne zu Gesicht bekommen, aber dennoch bin ich wie elektrisiert. Auch Allen ist hocherfreut. Heute Nachmittag stürmte er ins Wohnzimmer und verkündete: «Du fährst mit, Liebling! Haywood sagt, du fährst mit!»

Jetzt gibt es viel zu tun. Bis heute hielt ich mich an Mutters Empfehlung, mich nicht um ungelegte Eier zu kümmern, und habe daher noch keinerlei Vorbereitung getroffen. Wir werden voraussichtlich noch diesen Monat an Bord gehen. Was muss mit? Reichlich warme Kleidung. Unbedingt meine Wanderstiefel, denn wie ich höre, ist das Deck oft tückisch glatt von Eis und Gischt. Natürlich mein Feldstecher und meine Notizbücher, und dazu viele, viele Bleistifte.

Und dann dies hier – ein neues Tagebuch. Ich sträubte mich, als Allen es mir überreichte, und sagte, meine Feldbücher genügten mir vollends. Er erwiderte neckend, wenn er aus Alaska zurückkehre, wolle er nicht nur etwas über das Verhalten von Kleibern und Meisen hören.

Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Tage interessanten Erzählstoff hergeben könnten: die lange Zugfahrt nach Vermont, die Rückkehr in mein Elternhaus. Sollte mir tatsächlich gestattet werden, bis zum Teich im Steinbruch zu gehen, um die Spießenten und Rothalstaucher zu beobachten oder im Wald nach Vaters Skulpturen zu schauen (wie gern möchte ich sie Allen zeigen, besonders die Seeschlange und den alten Bären), dann gäbe es vielleicht etwas Berichtenswertes. Doch derartiges Umherstreifen würde nie geduldet sein. «Müßiggang ist aller Laster Anfang», wie oft habe ich das als kleines Mädchen gehört? Waschbrett und Wischlappen, Rechen und Unkraut – das ist Mutters ständiges Tun, und sie wird dasselbe von mir erwarten. Wer wollte aus solch einem Tagebuch hören?

Nun aber! Nun werde ich auf diesen Seiten etwas zu notieren haben, denn ich fahre nach Alaska!

8. Januar

Ob ich will oder nicht, die Aufregung hat auch mich gepackt. Täglich treffen Lieferungen aus unterschiedlichsten Landesteilen ein – Zelte, Schlafsäcke, Schneeschuhe, an die tausend Tagesrationen für die Männer! Ich weiß nicht, wie Allen den Überblick behält. Bevor er sich heute Morgen an der Tür mit einem Kuss von mir verabschiedete, sagte er: «Ja, Pruitt wird mit der Kamera unterwegs sein, aber Tillman kann die Gewehre und die Munition sichten. Das gibt mir Gelegenheit, zur Telegraphenstelle zu gehen.» Er muss Nachricht nach Sitka schicken, über British Columbia und von dort weiter per Postdampfer, dass bis zu unserer Ankunft mehrere Schlitten für ihn zu bauen sind.

Und dann, auf meinem Nachmittagsspaziergang, traf ich bei den Ställen auf Mr. Pruitt mit seiner Kamera. Allen sagt, der Lieutenant habe das Photographieren erst vor kurzem erlernt, um die Expedition in Bildern festzuhalten, und übe daher so viel wie möglich. Heute diente ihm der Schmied unwillig als Motiv.

Sie waren amüsant anzusehen, der eifrige Mr. Pruitt, ganz hellhäutig und mit jungenhaft geschnittenem rotem Haar, und dann der rußschwarze Schmied in seiner Lederschürze, die Ärmel aufgerollt und sichtlich unglücklich darüber, dass er nun Modell stehen sollte. Mr. Pruitt linste unter dem schwarzen Tuch hervor und bat den Schmied leise, seine Schulter so und sein Kinn anders zu wenden. Der Schmied leistete unter beträchtlichem Murren Folge.

Nur zu gern wollte ich Mr. Pruitt fragen, wie die Kamera funktioniert, wie man sie auf Exkursionen mitnehmen kann; ihn am liebsten bitten, mir einige seiner Lichtbilder zu zeigen, doch ich wagte nicht, ihn zu stören.

Wie außerordentlich, dass es möglich ist, Licht und Schatten derart auf Papier zu bannen! Ich denke oft an die Photographien, die Allen und ich in einem Atelier in Boston sahen – die alte Frau mit ihrer Pfeife, ein kleiner Junge auf einem riesigen Hund, eine possierliche Szene mit Schauspielern in Tiermasken. Eine jede verblüffend lebensecht, Stoffe und Haut mit silbriger Oberfläche, dazu ein Licht wie von Zauberhand, ein beseeltes Leuchten aus dem Papier heraus.

Mr. Pruitt ist zu beneiden, dass er den hohen Norden mit einem solchen Gerät im Bild festhalten darf! (Ich hingegen werde nur meine Notizbücher und meine dürftigen Zeichenkünste mit an Bord bringen. Es ist doch verflixt, die Arbeit des Naturkundlers so zu lieben und dabei so schlecht dafür geeignet zu sein.)

9. Januar

Ich hätte nicht gedacht, dass ich Anlass zu derartigem Aufruhr geben könnte. Man sollte meinen, ich wolle zu einer Polarexpedition aufbrechen. Als die Offiziersgattinnen heute beim Nachmittagstee in Mrs. Connors Haus erfuhren, dass ich Allen und seine Männer bis Sitka begleiten werde, reichten ihre Reaktionen von Entsetzen bis hin zu begeistertem Kreischen.

Wo in Gottes Namen werden Sie schlafen? Sie müssen zusätzliche Steppdecken einpacken, damit Sie bei Nacht nicht frieren! Was ist mit den Eisbären? Das sind Menschenfresser! (Ich erklärte Mrs. Bailey, der weiße Bär lebe meines Wissens wesentlich weiter nördlich als Sitka, also könne er mir nicht gefährlich werden.)

Miss Evelyns Reaktion hätte ich voraussagen können. «Ein schönes Kleid müssen Sie trotzdem einpacken. Das ist unverzichtbar. Man weiß nie, wann es einen entsprechend eleganten Anlass geben wird – nun schauen Sie mich nicht so an, Mrs. Forrester, Sie könnten schließlich beim Gouverneur in Sitka zum Essen eingeladen werden!»

Sarah Whithers war die Einzige, die brauchbaren Rat bot.

«Haben Sie einen guten wetterdichten Mantel, zum Schutz gegen Regen und Schnee?» Und dann bot mir diese liebe, schüchterne Person ihren eigenen an, denn ihr habe man erst kürzlich einen neuen geschenkt. Ich dankte ihr und sagte, ich hätte selbst einen und werde auf jeden Fall daran denken, ihn mitzunehmen.

Und dann die aufgeplusterte Mrs. Connor. «Was ist das nur für ein Unsinn! Warum in aller Welt fahren Sie mit?»

Ich sagte, ich wisse nicht, was sie meine.

«Ihr Gatte kann Sie doch nicht dazu zwingen!», empörte sie sich.

Mich zwingen?! Ich erklärte, es sei mein größter Wunsch mitzufahren, und wäre es mir gestattet, würde ich Allen auf dem gesamten Weg quer durch Alaska begleiten.

«Das ist doch absurd. Es gibt keinen Grund, warum eine gescheite junge Frau wie Sie sich an einem derart idiotischen Unterfangen beteiligen sollte. Überlassen Sie es dem Mannsvolk, sich über den Rand der Welt zu stürzen. Das bekommen die Männer sehr gut allein hin.»

Was sollte ich darauf sagen?

«Aber ist es denn nicht romantisch?», meldete sich Mrs. Whithers zu Wort. «Überlegen Sie doch – ein Gatte, so verzweifelt angesichts der Vorstellung, Ihnen Lebewohl sagen zu müssen, dass er Sie mitnimmt!»

Wie freundlich von ihr, mir so zur Seite zu springen, besonders da sie Mrs. Connor gegenüber sonst bedauernswert ängstlich ist. Und doch konnte auch sie nicht meinen Eindruck mildern, dass sich soeben zwischen mir und den anderen Damen ein Graben aufgetan hatte. Den Rest des Nachmittags schwieg ich still.

Wären mir diese Worte in den Sinn gekommen, hätte ich so geantwortet: Nicht, weil mein Mann es mir vorschreibt, fahre ich mit. Und auch nicht, weil ich meine, etwas beweisen oder erreichen zu müssen. Ich fahre mit, weil ich dieses wilde Land unbedingt mit eigenen Augen sehen will.

11. Januar

Soll ich wirklich glauben, dass ausschließlich ehrliches Mitgefühl Mrs. Connor an meine Tür trieb?

Tee und Kuchen wollte sie nicht, sie wollte nur ihre Hände am Küchenherd wärmen und mir noch einmal eindringlich erklären, dass ich die Tragweite von Allens Einsatz nicht begreife. Die Unternehmung erscheine mir offenbar als eine Art Vergnügungsreise in Richtung Norden! Ob ich mir nicht der Gefahren bewusst sei, denen er in Alaska ausgesetzt sein werde?

Mit Mühe blieb ich während ihres Besuchs ruhig und höflich, gestattete mir nur ein gelegentliches «Ach so. Ja, ich verstehe.» Das stellte sie jedoch nicht zufrieden, sie ereiferte sich zusehends und begann, in unserer kleinen Küche auf und ab zu gehen.

«Sie zwingen mich, deutlicher zu werden», seufzte sie schließlich. «Mein Hugh sagt, die letzten Weißen, die jenen Fluss hinaufgereist seien, waren Russen, und die Indianer haben sie ermordet. Bis auf den letzten Mann.»

«Ach so», sagte ich zum wiederholten Male.

«Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt? Ich frage mich, ob Sie wirklich irgendetwas verstehen!»

Ich dankte ihr für ihre Anteilnahme und geleitete sie zur Tür.

Warum muss sie mir so schreckliche Dinge erzählen? Zweifellos werde ich jeden Tag, den Allen von mir fort ist, um ihn bangen, und dies umso mehr, falls stimmen sollte, was sie sagt, doch mit all meiner Sorge, und sei sie noch so groß, bringe ich ihn nicht heil zurück. Einzig Glück und sein eigenes Geschick können das bewerkstelligen.

12. Januar

Er hat mich beruhigt, so gut es ging. Nahezu hundert Jahre. So lang ist es her, dass die Indianer die Russen in Alaska massakrierten. Darüber hinaus gibt es nur wenige Details, was der Auslöser für den Angriff gewesen sein könnte, sagt Allen. Und genau, wie ich es mir dachte: Der Wolverine River selbst war der Grund, warum die amerikanischen Expeditionen seither umgekehrt sind – und zwar lange, bevor sie auch nur in die Nähe irgendwelcher entlegener Stämme gerieten.

«Wir suchen dort keinen Kampf, Liebling», versprach er. «Ich bringe uns heil zurück.»

13. Januar

Auf meine Bitte hin hat Allen gestern Abend meinen Reisekoffer hervorgeholt, wobei er sanft darauf hinwies, es sei vielleicht noch ein wenig zu früh, um mit dem Packen zu beginnen. Ein vernünftiger Ratschlag, doch ich wollte nicht hören und machte mich heute Morgen daran, meine Besitztümer zu ordnen. Schon bald sah ich den Unsinn ein. Es ist ja nicht so, als besäße ich ein Dutzend Kleider, das ich jetzt tragen, und ein weiteres Dutzend, das ich für später einpacken könnte. Also habe ich den Koffer in eine Ecke geschoben und sitze nun mit meinem Schreibzeug am Schlafzimmerfenster.

Es ist ein Winternachmittag wie viele andere in dieser Gegend – kalt, grau und verregnet –, und doch wirkt er auf mich plötzlich ganz anders. Als wir ins Washington-Territorium kamen, schlug mich die wilde Natur ringsum völlig in ihren Bann, und selbst der Stützpunkt wirkte auf mich wie ein entlegener Vorposten der zivilisierten Welt. Nun aber schwirrt mir der Gedanke an Alaska durch den Kopf, und die stramm aufgereihten Offiziershäuschen, die angepflanzten Bäume und akkuraten Hecken, die holzverkleidete Mannschaftskaserne und schlammigen Fahrwege erscheinen mir allzu zivilisiert und alltäglich.

Sitka liegt im südlichsten Zipfel des Alaska-Territoriums und doch fernab von Zivilisation, Eisenbahn und Telegraphenamt. Wir werden Gletscher kalben und Wale prusten sehen und möglicherweise Vögel, die nur dort im Norden anzutreffen sind. Und dann erreichen wir das Ende der Landkarte, und Allen fährt darüber hinaus. Es ist aufregend und furchteinflößend zugleich, und ich stelle fest, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Die Wochen bis zu unserer Abfahrt werden fürwahr langsam vergehen.

Es ist gut, dass Mr. Tillman einen Tanzabend geplant hat und Allen und ich zur Teilnahme verpflichtet sind. Das wird zumindest eine Ablenkung sein.

Ich werde Miss Evelyn aufsuchen, um sie zu fragen, ob ich eines ihrer Kleider borgen könnte, denn sie beharrt darauf, mein schwarzes Wollkleid genüge dem Anlass nicht.

Ivashov und seine Leute lagen schlafend auf ihren Schlitten, als auf ein Zeichen hin die Midnuski den Männern mit Äxten die Schädel einschlugen.

Aus dem Journal der Russischen Geographischen Gesellschaft, St. Petersburg, 1849

Lieutenant Colonel Allen Forrester24. März 1885 Point Blake, Alaska

Endlich haben wir Festland betreten, doch noch immer ist der Wolverine weit entfernt. Bei Sturm setzten wir über & gingen bei Point Blake an Land, zwei Meilen nach backbord abgedrängt. Im Tidenbereich zwischen uns & der Flussmündung erstreckt sich meilenweit blaugelber Schlick. Kreuz & quer durchs Watt laufen Spuren, wo die Indianer ihre Einbäume bei Niedrigwasser schleifen. Unsere mit gut 9 Zentnern Proviant & Gepäck beladenen Ruderboote lassen sich weniger gut schleifen.

Wir schafften es in eine kleine Bucht, wo ein paar Indianer Muscheln auffädelten. Der alte Eyak sprang als Erster an das felsige Ufer. Trotz seines krummen Beins ist er sehr wendig. Ich dachte, er wolle nur Tillman entkommen, doch halb hüpfte, halb lief er zu dem Muschelhaufen. Er griff sich eine, dann eine zweite Muschel & schlürfte sie aus. Eine Indianerin schlug mit der Hand nach ihm, rief Aiii!, als wolle sie ein lästiges Tier vertreiben. Der Alte wich ihr flink aus, duckte sich & schnappte noch eine Muschel. Und noch eine. Die Frau scheuchte ihn über den Strand.

«Er hatte wohl wirklich Hunger», bemerkte Tillman. «Verrückter alter Kerl.»

 

Wir schlagen hier für den Nachmittag & die Nacht unser Lager auf & hoffen, dass wir im Morgengrauen mit der Flut zur Flussmündung gelangen können. Tillman & ich haben am Strand das Zelt aufgebaut. Der Trapper sammelt Feuerholz.

Lt. Pruitt will die Indianer photographieren. Er zeigt großes Geschick mit wissenschaftlichem Gerät. Als er im Arizona-Territorium unter mir diente, beeindruckte er mich sehr mit seinem Wissensdurst. Während die meisten Soldaten in ihrer Freizeit zechten, las er literarische & wissenschaftliche Werke. Von Zeit zu Zeit schob er dann seine Nickelbrille die Nase hoch & begann, Fragen abzufeuern. Manche Offiziere irritierte dies, für mich jedoch war seine jugendliche Neugier eine willkommene Abwechslung.

In meinem Brief über die Expedition hatte ich geschrieben, er solle für mich Messdaten zum Zwecke der Kartierung sammeln, denn ich weiß, dass er mit Sextant & künstlichem Horizont umzugehen weiß. Auch meteorologische Instrumente wie Barometer & Psychrometer würden in seine Zuständigkeit fallen. In seinem Antwortbrief stand, er würde gern auch eine Kamera mitführen. Dank der jüngsten Fortschritte seien diese Apparaturen inzwischen recht handlich.

«Ihr Nutzen wird ihr Gewicht aufwiegen», schrieb er.

Jetzt hat Pruitt das dreibeinige Stativ am Strand aufgebaut, den Apparat darauf befestigt & den Kopf unter das schwarze Tuch gesteckt; er sieht aus wie ein vielbeiniges rundköpfiges Monstrum. Die Indianer schauen von ihrem Lager aus zu ihm herüber. Sie zeigen, gaffen, flüstern. Mir selbst erscheint es kaum weniger rätselhaft. Pruitt hat sich bemüht, mir die Glasplatten, die Bromsilbergelatine, das Objektiv, die matte Glasplatte für die Scharfeinstellung & schließlich die Chemie zu erläutern. Sophie zuliebe habe ich versucht, so viel wie möglich zu begreifen.

Pruitt hat die Kamera auf den Eyak ausgerichtet, der jetzt aufsteht, den Kopf schief legt, sich langsam der Apparatur nähert. Er ruckt mit dem Kopf auf & ab, weicht seitlich aus, fast wie ein Kämpfer oder ein vorsichtig abschätzendes Tier mit einer Beinverletzung. Jetzt trennen ihn nur noch wenige Schritte von Pruitt. Pruitt streckt einen Arm aus, gestikuliert.

«Zurück! Du bist zu nah! Geh zurück & steh still!»

Der Alte aber bleibt nicht stehen, sondern presst sein Gesicht gegen die Kamera & zieht das schwarze Tuch auch über seinen eigenen Kopf. Ich bezweifle, dass Pruitt bei diesem Unterfangen viel Erfolg haben wird.

 

Heute Abend hörten wir eine eigenartige Geschichte. Als wir am Strand unser Essen bereiteten, trat eine junge Indianerin mit zwei toten Hasen aus dem Weidengestrüpp, hockte sich ans Wasser & zog den Tieren mit raschem, sicherem Griff das Fell über die Ohren. Sie trug ein perlenbesticktes Hemd aus Tierhaut & um die Schultern einen Pelzumhang. Einen der Hasen brachte sie zum Lager der Indianer, die wohl ihre Sippe sein mögen. Zu unserer Überraschung kam sie dann den Strand entlang bis zu unserem Lagerfeuer, wo sie den zweiten Hasen in den Topf mit kochendem Wasser gleiten ließ. Eigentlich sollte es nur Bohnen geben, wir erhitzten die Dosen gerade am Feuer, & so nahmen wir ihre Gabe, ohne zu zögern, an. Wir brachten unsere Dankbarkeit zum Ausdruck, doch sie schien uns nicht zu verstehen.

«Hat sie keinen Mann, der für sie jagt?», fragte Tillman. Er zwinkerte dem Mädchen zu, doch es zeigte keine Reaktion.

Samuelson stellte ihr etliche Fragen in ihrer Sprache, die sie kaum hörbar beantwortete. Während der langen Unterhaltung hob sie nicht ein einziges Mal die Augen, als befürchte sie, unser direkter Blick könne sie versteinern. Dann machte sie sich zu ihrem eigenen Lager auf, doch nach wenigen Schritten sprach sie noch ein letztes Mal. Samuelson nickte.

«Und? Was sagt sie?», fragte Tillman.

«Sie hatte einmal einen Mann.»

«So ein hübsches junges Ding. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Mann sie freiwillig aufgibt. Also, was ist mit ihm?»

«Sie hat ihn umgebracht», sagte Samuelson. «Hat ihm im Schlaf die Kehle durchgeschnitten.»

Die Antwort überraschte uns, ebenso wie der Rest der Geschichte, die der Trapper nun erzählte.

Die Frau hatte erzählt, vor zwei Wintern sei ein Fremder das Tal des Wolverine herabgestiegen. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen, aber er war ein guter Jäger & ein schneller Läufer. Als er sie bat, mit ihm heimzugehen, folgte sie ihm. Die beiden zogen das Tal hinauf, höher als sie je zuvor gekommen war, bis sie an einen Gebirgsbach gelangten. Er führte sie zu einer Felshöhle, die war kalt & feucht & stank nach Fisch. Tagelang ließ er sie dort allein, gab ihr nichts zu essen als rohen Fisch. Er erklärte, sie dürfe die Höhle nie verlassen. Doch sie fühlte sich einsam, & so folgte sie ihm eines Tages durch den Schnee. Schon bald wurde aus seinen Fußspuren eine Otterspur. Die verfolgte sie bis zu einer Uferhöhle, wo sie ihren Mann in seiner wahren Gestalt erblickte – als Fischotter. Gerade begrüßte ihn seine Otterfrau.

Tillman zeigte sich ungläubig. Ich selbst hatte bereits ähnliche Geschichten von Indianern gehört, allerdings noch nie aus erster Hand.

«Sie glauben, dass nur ein schmaler Grat Mensch & Tier voneinander trennt», sagte Samuelson. «Sie sind überzeugt, dass manche diese Grenze in beide Richtungen übertreten können, hier Mensch, dort wildes Tier.»

Tillman rückte näher heran. Er erinnerte mich an einen kleinen Jungen, der einer spannenden Geschichte lauscht.

«Wie ging es weiter?»

«Sie ist in ihre Höhle zurückgekehrt & hat dort auf ihn gewartet. Als er neben ihr eingeschlafen war, schnitt sie ihm die Kehle durch. Bei Tageslicht hat sie ihm das Fell abgezogen. Der Otterpelz um ihre Schultern, das ist der Balg ihres Mannes.»

«Himmelherrgott», sagte Tillman.

«Aber Sie glauben das doch nicht, oder?», fragte Pruitt.

Samuelson zuckte mit der Schulter.

«Was hat sie ganz zum Schluss gesagt, als sie ging?», wollte Tillman wissen.

«Dass der Wolverine River kein Ort ist für unsereins.»

Der Trapper beugte sich zum Lagerfeuer & schob die dürren Hasenbeine in den Topf zurück.

Washington, D.C.

17. September 1884

 

An Lieutenant Colonel Allen Forrester:

 

Erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass Sie zur Vernunft gekommen sind und den Auftrag annehmen. Ihre anfängliche Weigerung kam unerwartet, stand ich doch bis dahin unter dem Eindruck, dass Sie auf eine derartige Gelegenheit nur warteten. Ihr Schreiben erklärt nun Ihr Zögern. Sicher wären jugendliche Energie und Kraft für diese Aufgabe in mancher Hinsicht von Vorteil. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass dies durch Ihre umfängliche Erfahrung mit Einsätzen in Grenzregionen sowie durch Ihre Führungsqualitäten reichlich aufgewogen wird. Ich wage sogar zu behaupten, dass das Scheitern unserer bisherigen Expeditionen zum Oberlauf des Wolverine River auf Mangel an Urteilskraft gepaart mit Trägheit seitens unserer jungen Leutnants zurückzuführen ist. Tatsächlich ist es beschämend – auch wenn etliche Politiker dies offenbar nicht erkennen –, dass wir noch immer fast nichts über das Hinterland des Territoriums wissen, obgleich dieses seit nahezu 20 Jahren in unserem Besitz ist.

Ihr Vorhaben, die Expedition auf so wenige Männer zu beschränken, stimmte mich sehr nachdenklich. Ein Trupp von einem Dutzend Männern oder mehr, darunter ein Arzt und ein Kartograph, hätte deutliche Vorteile. Dennoch soll Ihrem Wunsch entsprochen werden, was allerdings nicht meinem Nachgeben geschuldet ist, sondern der Tatsache, dass die zur Verfügung gestellten Mittel ohnehin nur für Sie und zwei weitere Männer ausreichen.

Hier nun muss ich auf einer konkreten Ernennung bestehen. Normalerweise würde ich Ihrem Urteil vertrauen und Ihnen selbst die Auswahl Ihrer Leute überlassen. Ich bin jedoch überzeugt, dass sich Sergeant Bradley Tillman als unersetzlich erweisen wird. Der Tatsache, dass er mehrfach vor das Militärgericht zitiert wurde, sollte man nicht zu viel Bedeutung beimessen – er kann bisweilen über die Stränge schlagen, doch ich wüsste niemanden, von dem ich mir lieber Rückendeckung geben ließe, ginge ich selbst auf eine solche Mission. Dass er noch nicht den Rang eines Colonel einnimmt, ist allein seinem Mangel an Schulbildung, seinem aufbrausenden Gemüt und seiner Vorliebe für Hochprozentiges zuzuschreiben. Auf dieser Berufung bestehe ich; den zweiten Teilnehmer bestimmen Sie selbst.

Meiner Forderung, jeglichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung friedlich zu gestalten, kann ich nicht genügend Nachdruck verleihen. Im Umgang mit den Indianerstämmen haben Sie sich als besonnen und gerecht erwiesen, genau dies könnte für den Erfolg der jetzigen Unternehmung ausschlaggebend werden. Die Glaubwürdigkeit der russischen Berichte ist schwer einzuschätzen. Sollten Sie irgendwann nicht mehr weiterkommen, ohne feindliche Handlungen zu provozieren, dann müssen Sie umkehren. So wichtig mir der Erfolg dieser Expedition ist: Einen erneuten Indianerkrieg gilt es zu vermeiden.

Sie kennen die widersprüchlichen Depeschen bezüglich der geplanten Erkundung und die Schwierigkeiten, die dem Adjutant-General Ihres Bezirks den Weg verstellten. Trotz allem wurde der Zahlmeister instruiert, Ihnen $ 2000 als Vorauszahlung für Sie selbst und die Mitglieder Ihrer Abordnung anzuweisen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit reichlich ausgestattet sind und für Ihre Sicherheit, Ihr Wohlergehen und für den Erfolg der Mission gesorgt ist.

Von General Haywood höre ich, dass Sie sich vor kurzem vermählt haben. Meinen Glückwunsch, Colonel. Ich nehme an, dass dies einer der Gründe für Ihr Zögern bezüglich dieser Expedition war, doch nach Ihrer Rückkehr wird genügend Zeit sein, sich in ein ruhiges Familienleben zurückzuziehen.

 

Mit den besten Wünschen für eine glückliche Heimkehr,

JAMES KEIRN

Major General der Armee der Vereinigten Staaten

Sophie ForresterGarnison Vancouver 14. Januar 1885

Ich habe mich noch immer nicht von der Feier am gestrigen Abend erholt. Allen hat völlig recht – die einfachen Soldaten wissen sich bestens zu unterhalten, ein Offiziersball wirkt fad und steif im Vergleich. Fiedel, Banjo, Akkordeon. Und ich hätte nicht im Traum gedacht, dass mein so gesetzter Ehemann die Polka tanzen kann! Welch ein Gelächter, welche Fröhlichkeit. Eine solche Gala hat etwas wahrhaft Wunderbares, die vielen Lichter, die Musik, und alles dringt bis in den dunklen Wald hinaus.

Viele Trinksprüche wurden auf die bevorstehende Expedition ausgebracht, meist war es der ungestüme Mr. Tillman, der sein Glas erhob, und den ganzen langen Abend wurden Allen und seine Leute bedrängt, von ihren Plänen zu erzählen. Als bekannt wurde, dass ich bis Sitka mitfahren werde, rückte auch ich in den Mittelpunkt. Eine solche Situation ist mir ungewohnt und ausgesprochen unangenehm. Dem Himmel sei Dank für die wenigen Male, die Allen mich auf die Tanzfläche entführte. Viel zu oft jedoch wurde er in Gespräche verwickelt, und ich musste mich allein durch die Menge kämpfen.

Miss Evelyn war ungewohnt abweisend – die vielen adrett gekleideten Herren beanspruchten ihre Aufmerksamkeit, und abgesehen von einer gelegentlichen Frage nach Namen und Ehestand dieses oder jenes Herrn war sie an Konversation nicht sonderlich interessiert. Ich war ihr jedoch keine große Hilfe, und so ließ sie mich bald stehen. Mr. Tillman machte ihr den restlichen Abend lang den Hof, und wenngleich ich mir sicher bin, dass sie etwas bedeutend Höherrangiges als einen Armeesergeanten im Auge hat, schien sie mir gefährlich von ihm angetan. Ich habe meine Zweifel, dass General Haywood eine solche Verbindung seiner Nichte gutheißen würde.

Nichts an dem Abend jedoch versetzte mich in solche Ratlosigkeit und zugleich Verstörung wie mein Gespräch mit Mr. Pruitt. Er ist ganz anders, als ich erwartet hatte – ernst und grüblerisch, und es gelang ihm gleich mehrfach, mich zu brüskieren.

Seit jenem Tag beim Stall wünschte ich mir nichts so sehr wie eine Gelegenheit, ihn zu seiner Kamera zu befragen; als ich mich in der Menschenmenge neben ihm wiederfand, erwähnte ich daher mein Interesse an der Photographie. Was er mir zu der Verfahrensweise sagen könne?

«Das ist viel zu kompliziert für belanglose Plauderei», lautete seine Antwort.

Sein Ton war in jeder Hinsicht abweisend und unfreundlich, und ich hätte mich gern unter einem Vorwand verabschiedet, doch in dem Gedränge kam ich nicht davon. Wir standen beisammen, bis das betretene Schweigen unerträglich wurde.

«Wie ich höre, kennen Sie meinen Mann bereits etliche Jahre», wagte ich einen Neuanfang.

«Wir trafen in Fort Bowie aufeinander, Ma’am. Vor knapp neun Jahren.»

«Ja, er hat mir ein wenig von seiner Zeit dort erzählt. Er hat sich sehr gefreut, Sie näher kennenzulernen.»

Mr. Pruitt blickte mich scharf an, als sagte ich die Unwahrheit oder etwas Provokantes. Nach einem langen Moment wandte er den Blick ab und sagte mit großem Ernst: «Es war mir eine Ehre, unter ihm dienen zu dürfen.»

Vielleicht hatte ich nun ein Thema gefunden, das Mr. Pruitt angenehmer war. Ich sagte, es interessiere mich außerordentlich, wie es sei, Allen zum Vorgesetzten zu haben.

Derart ermutigt, beschrieb er mir, wie Allen in Fort Bowie eingetroffen sei und Fragen über Fragen gestellt habe – zum Terrain und zur Wassersituation, zu den benachbarten Stämmen, zu allem bis hin zu den dort heimischen Grasarten, so lange, bis die Männer scherzten, als Nächstes wolle er sämtliche Eigenschaften des Staubs unter ihren Stiefeln kennenlernen. Und die ganze Zeit ließ er nichts darüber verlauten, was er mit all der Information vorhabe.

Ich lachte und sagte, das sei Allen, wie er leibt und lebt – er behält seine Gedanken für sich. Erst wenn er im Stillen über sein Vorgehen entschieden hat, lässt er das Umfeld an seinen Plänen teilhaben, seien es Soldaten oder seine Frau. Und zugleich erfüllte es mich mit Stolz zu sehen, wie sehr dieser junge Mann ihn bewundert. Er sagte, Allen erwarte immer das Beste von seinen Männern und gebe ihnen nie einen Auftrag, den er nicht auch selbst ausführen würde.

«Ich habe mehr als ein Mal gesehen, wie er half, einen Brunnen zu graben», sagte Mr. Pruitt.

«Aber irgendeinen Fehler hat er doch gewiss?», wollte ich wissen.

«Ich habe gesehen, wie wütend er werden kann, Ma’am», sagte er.

Das überraschte mich, denn mir gegenüber hat Allen sich noch nie aufbrausend oder übermäßig ungeduldig gezeigt. Ich bat Mr. Pruitt um Einzelheiten, und er erzählte von einem Zwischenfall, nachdem Allen ein unangenehmes Telegramm von einem General in Washington, D.C., erhalten hatte. Er marschierte in die aus Lehmziegeln errichtete Telegraphenstelle des Forts, riss das Morsegerät vom Tisch und schleuderte es durch die Tür in den staubigen Hof. Sowohl Mr. Pruitt als auch der Telegraphist seien sprachlos gewesen.

«Ihr Colonel strich seine Uniform glatt, entschuldigte sich für die Störung und ging davon. Dabei stieg er völlig ungerührt über das Gerät hinweg.» Glücklicherweise ließ dieses sich reparieren, so Mr. Pruitt, denn während der nächsten Tage war Allen derjenige, der etliche Telegramme absetzte, was an der Sache, die ihn so erzürnt hatte, wohl aber nichts änderte.

Ich glaube, Mr. Pruitt erwartete, diese Geschichte würde mich amüsieren, und so lächelte ich und schüttelte meinen Kopf über Allens Unmut, doch die Frage, was ihn so verärgern konnte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Und wie kam es, dass er mir nie davon erzählt hatte? Es schien mir allerdings unangemessen, dies mit einem seiner Untergebenen zu erörtern, und so versuchte ich einen erneuten Themenwechsel.

«Allen erwähnte, Sie haben den Kondor gesehen. Ist das tatsächlich wahr?»

Erneut bedachte er mich mit seinem halb überraschten, halb zweifelnden Blick, als könnte ich mich nicht wirklich für solche Dinge interessieren. Ja, sagte er – und dass der Vogel riesig war, mit einer Flügelspannweite von nahezu zehn Fuß und bunt geschecktem nacktem Kopf.

Wie gern ich einmal eine so erstaunliche Kreatur sähe! Ich beschrieb einige der weniger exotischen Vögel, die ich bereits in der Nähe der Garnison beobachtet habe, und fragte ihn, auf welche Spezies wir auf unserer Reise nach Alaska wohl hoffen dürften. Doch gerade als Mr. Pruitt einiges Interesse an unserer Unterhaltung zu zeigen begann, unterbrach uns Mr. Tillman mit einem seiner ebenso leidenschaftlichen wie kurzen Trinksprüche: «Auf Alaska!», dröhnte er, worauf die versammelte Menge jubelnd antwortete: «Auf Alaska!»

Als der Lärm nachließ, neigte sich Mr. Pruitt zu mir herüber und sagte, den Blick noch immer auf Mr. Tillman gerichtet: «Wissen Sie, Mrs. Forrester, Ihr Mann ist der einzige Militär, den ich nie anders als nüchtern, pflichtbewusst und gewissenhaft erlebt habe.»

Was konnte ich auf eine derartige Feststellung antworten?

«Ja, also, es ist wirklich ein bezaubernder Abend!», versuchte ich es unbeholfen. «So viele schöne Kleider, und die Musik!»

Jegliches Interesse, alles Leben verflüchtigte sich aus seinem Gesicht, und er starrte nur noch leeren Blickes über die Menge. «Sie können von Glück reden, Mrs. Forrester.»

Was in aller Welt meinte er damit?

«Sie sehen die Welt in goldenem Licht, nur Tanzabende und feine Stickerei und Seide», sagte er, wobei er mein Kleid musterte, was mich ziemlich befangen machte. «Aber das ist reine Illusion, ein Traum», fuhr er fort. «Die Wahrheit ist Ihnen erspart geblieben. Ihr Colonel und ich aber, wir kennen sie. Hat man sie einmal gesehen, kann man sie nicht mehr vergessen.»

Und dann drängte Mr. Pruitt mich, tanzen zu gehen und mich zu amüsieren und mir nicht den Abend durch seine Stimmung verdüstern zu lassen. Den Gefallen tat ich ihm gern.

Ich weiß, Allen sagt, er sei ein intelligenter, fleißiger Offizier, und er sei froh, ihn auf der Expedition dabeizuhaben; mir aber scheint Mr. Pruitt ein unglücklicher junger Mann.

Insgesamt hat mich der Abend mit all den Gesprächen sehr angestrengt. Das ist gewiss auch der Grund für das Unwohlsein, das mich heute plagt.

15. Januar

Was für ein schrecklicher Morgen! Ich hätte nie gedacht, dass es darüber zum Streit zwischen uns kommen könnte. Nun ist Allen an sein Tagwerk gegangen, ohne dass wir uns wieder vertrugen. Ich wollte ihn nicht verletzen oder provozieren – ich wollte doch lediglich wissen, was ihn dazu gebracht haben konnte, vor Wut auf einen Vorgesetzten mit einem Morsegerät um sich zu werfen.

Ich habe schon lange den Verdacht, dass Allen mich schützt. Ich merke, dass er ganze Seiten überspringt, wenn er mir aus seinen Wüstentagebüchern vorliest. Er beginnt, von einem mutigen Lieutenant zu erzählen, dem er einst im Krieg begegnet ist, oder von einer Begebenheit mit den wilden Apachen, und dann hält er nachdenklich inne und lenkt das Gespräch elegant in eine andere Richtung, und wenn ich es bemerke, ist es bereits zu spät, denn da spreche ich schon über ein Gedicht, das ich gelesen habe, oder ein Kunstwerk, vor dem wir in San Francisco standen. Und wie viel hat er in den letzten Wochen von der bevorstehenden Expedition erzählt, ohne ein einziges Mal das Massaker der Indianer an den Russen zu erwähnen.

Gewiss, wir sind noch kein Jahr verheiratet, doch ich möchte alle seine Seiten kennenlernen, nicht nur den adretten, wohlerzogenen Gatten, der mich zum Tanz ausführt und mir Geschenke bringt. Was ist mit dem Mann, der wochen- und monatelang ohne Bad und anständiges Essen auskommen musste, der Feind und Freund hat sterben sehen? Was ist mit der Medaille auf seiner Kommode? Ich sehe selbst, dass es eine sehr bedeutende Auszeichnung ist, aber er will dazu mehr nicht sagen, als dass er ein junger Lieutenant war und es lange her sei.

Hinzu kommt noch etwas anderes. Ich fühlte mich zurechtgewiesen. Mit welchem Recht nimmt Mr. Pruitt an, ich hätte ein völlig behütetes Leben geführt und wisse nicht, was Leiden heißt, nur weil er mich als gut verheiratete Frau in einem schönen (wohlgemerkt geliehenen) Kleid sieht?

Vor allem aber frage ich mich: Teilt Allen etwa diesen Eindruck? Verbirgt er mir womöglich Aspekte seiner Persönlichkeit, um mich zu beschützen? Das würde mich zutiefst betrüben, denn es würde bedeuten, dass keiner von uns so tiefreichende Kenntnis vom anderen hat, wie es zu einer Ehe doch gehört. Und hier mein allergeheimstes Eingeständnis – es verletzt meinen Stolz zu denken, dass Allens Leute ihn besser kennen, als ich es je erhoffen darf.

Ah, und genau hier liegt beim Tagebuch das Problem. Wie in einem Spiegel können wir uns viel zu lange darin betrachten, bis wir uns schließlich in Eitelkeit verlieren und zu kritteln beginnen.

Ich sollte mich an den Feldsperling im Flug halten. An die Zedern-Seidenschwänze im Vogelbeerbaum. Ihr Gefieder und ihre Schnabelform festhalten. Beobachten, welchen Lebensraum sie bevorzugen, welche Samen sie abzupfen. Meinen Bleistift den Flügelformen und Flugmustern vorbehalten, denn diese sind es viel eher wert, beobachtet zu werden.

Sophie Ada Swanson

Tapferkeitsmedaille

Forrester, Allen W.

Rang und Zugehörigkeit: 2nd Lieutenant, 8. Kavallerie-Regiment

*

Ort und Zeit: San Carlos, Arizona, 30. Mai 1868

*

ausgestellt am: 4. August 1868

*

Text der Verleihungsurkunde: Lieutenant Forrester führte eine 12-köpfige berittene Abteilung, um eine Horde Apachen zur Kapitulation zu bringen. Unterwegs fand sich seine Abteilung von Angreifern umzingelt. Das Pferd des Lieutenant wurde unter ihm weggeschossen, worauf er sich im brutalen Kampf Mann gegen Mann fand. Unter scharfem Feuer sicherte Lt. Forrester den Rückzug dreier Verletzter, um sich danach erneut in den Kampf zu werfen. Mit den acht verbliebenen Soldaten erwehrte er sich der 50 Indianer, bis Verstärkung eintraf.

Lieutenant Colonel Allen Forrester27. März 1885

Wir sind auf Eis gestoßen. Hier lassen wir die Boote zurück.

Bei Morgengrauen ruderten wir mit auflaufender Flut zu einer Einmündung des Wolverine River. Die Garnison Vancouver verließen wir am 1. Februar, fast einen Monat sind wir in Verzug. Dennoch bin ich froh, diese raue Landschaft zu erblicken – am westlichen Ufer liegt Eis aufgetürmt, manche Blöcke über einen Meter stark. Bei trostlosem Schneeregen mühten wir uns auf einem offenen Hauptarm fast den ganzen Tag flussaufwärts. Eisgang zwang uns gelegentlich, die Fahrt zu unterbrechen. Als einmal ein großer Brocken an unserem Boot entlangschabte, spürte ich den eisigen Hauch, der von ihm ausging.

Vom Rudern gegen den Strom erschöpft, wechselten wir zum Treideln – ein Mann am Ufer hängte sich in die Seile, zog das Boot flussauf, ein zweiter steuerte am Heck mit dem Riemen dagegen & hielt den Bug im Strom. Die Methode erwies sich als ungeeignet, denn Eisbrocken verwandelten das Ufer in eine Hindernisstrecke, Bäche mussten durchwatet werden. Einmal versank Pruitt mit dem ersten Schritt bis zum Kinn im eisigen Wasser, das Zugseil ließ er dennoch nicht fahren. Unter anderen Umständen hätte man lachen können. Wir aber wussten zu gut, welche Lebensgefahr damit verbunden ist. Alle sind nass & frieren.

Als wir auf geschlossenes Eis stießen, stiegen wir an Land, um Feuer zu machen. Es wollte nicht gelingen, unsere Hände waren taub & ungeschickt. Die Zündhölzer, in der Dose trocken geblieben, erloschen zischend im nassen Wind. Mit etwas Baumrinde & wintertotem Gras gelang es Samuelson schließlich, das Feuer zu entfachen.

Sobald unsere Stiefel trocken sind, entladen wir die Boote. Samuelson sagt, in einem Dorf in der Nähe können wir Indianer anheuern, die uns helfen, die Ausrüstung zu transportieren. Sämtliche Nahrungsmittel, Munition & Gerätschaften müssen ab hier per Schlitten oder auf dem Rücken befördert werden. Wir brauchen mindestens vier kräftige Männer.

 

Wir sitzen im Trockenen. Ich sollte mich freuen. Stattdessen habe ich das Gefühl zu ersticken, fühle mich eingezwängt. Mehr als zwei Dutzend Indianer, drei Hunde, dazu wir vier zusammengepfercht in einer armseligen Hütte von der Größe eines Gartenschuppens. Das blakende Feuer in der Raummitte schickt mehr Rauch in unsere Gesichter als durch das Loch im Dach. Ich beneide Samuelson, der neben mir schnarcht. Genau das möchte ich nach diesem Tag auch.

Unsere Ausrüstung haben wir in der Nähe der Ruderboote in einem Weidendickicht versteckt. Während wir die Kisten an Land schleppten, machte Lt. Pruitt in der Ferne den alten Eyak aus, der durch den Schnee stapfte. Langsam kam er näher, Ellbogen & Knie krumm ausgestellt, seine Kleidung flatterte im schneenassen Wind. Bei dem Tempo hätte er noch Stunden benötigen müssen, doch plötzlich stand er neben uns.

Ich ließ Samuelson fragen, ob er wisse, wo das Dorf zu finden sei. Der Alte schüttelte nur den Kopf & stöberte in den Kisten.

«Er lügt», sagte Pruitt.

Das vermutete ich ebenfalls. Ich bedeutete ihm, wenn er uns den Weg wiese, bekäme er Tee.

Noch immer reagierte der Eyak nicht. Samuelson meinte, er selbst kenne zwar nicht den exakten Standort, doch ein nahegelegenes trockenes Bachbett sollte uns wohl hinführen. Von den Indianern, denen wir am Point Blake begegnet waren, hätten sich bestimmt schon einige auf kürzestem Wege aufgemacht, um uns anzukündigen.

Als wir unseren Aufbruch vorbereiteten, hockte der alte Mann neben unseren Vorräten. Ich gab Order, ihm keinen Tee zu geben, da er uns seinen Rat verweigerte.

«Wir können ihn nicht hierlassen, er wird uns ausplündern», meinte Pruitt.

«Er sagt, er ist alt & langsam & will darum ohne uns gehen», sagte Samuelson.

Ich wollte nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, also ließen wir ihn sitzen. Zwei Stunden lang gingen, krochen, zwängten wir uns durch dichtes Weidengestrüpp. Pruitt schlug ein Ast ins Gesicht, der sein Auge nur knapp verfehlte.

Schließlich verlor sich das trockene Bachbett, wir standen mitten im Dickicht. Fahle Dämmerung machte die Sache nicht leichter, bisweilen schienen wir rein gar nicht vom Fleck zu kommen. Endlich aber brachen wir aus den Weiden hervor & stolperten ins Dorf – ein paar ärmliche Hütten aus Stöcken & Häuten.

Und dort, frisch & ausgeruht, als sei er bereits vor Stunden angelangt, erwartete uns der alte Mann. Durchtrieben grinsend hockte er neben einem Haufen Feuerholz.

«Dieser Teufel!», entfuhr es Tillman.

Er klang eher amüsiert als verärgert. Pruitt hingegen wollte den Alten nach unseren Vorräten durchsuchen, doch er bekam ihn nicht zu fassen.

In der überfüllten, stickigen Hütte fährt der Tunichtgut nun fort mit seinen Provokationen. Samuelsons Sprachkenntnisse brauchen wir nicht zu bemühen, um ihn zu verstehen. Der Alte steht mitten im Raum, hüpft um das Lagerfeuer & erzählt in glucksendem Singsang. Er wedelt mit den Armen, gestikuliert wild in unsere Richtung, setzt die Füße übertrieben voreinander wie ein tollpatschiger Jäger auf der Pirsch, torkelt schließlich im Kreis wie ein schwindliges Kind. Alle Indianer schauen uns an & lachen.

«Wie schön, dass wir für die Abendunterhaltung sorgen», grummelte Tillman gerade.

Ich versuche, noch ein wenig im Tagebuch zu schreiben. Wenn der alte Mann meine Aufmerksamkeit erheischt, lächle ich nicht, sondern nicke höflich.

Gerade eben hockte er sich vor mich hin, griff in den Beutel, der ihm um den Hals hängt, & zog seine Beute hervor.

«Schokolade! Er hat uns Schokolade gestohlen!», rief Tillman & sprang auf, soweit das unter der niedrigen Decke möglich war. «Ich soll Erbsensuppe essen, während der Halunke Schokolade nascht!»

Doch selbst Tillman ist zu erschöpft für eine Auseinandersetzung. Er ist auf sein Lager zurückgekehrt & hat das Gesicht zur Wand gerichtet.

Ich will jetzt auch zu schlafen versuchen, trotz des rauen Gelächters der Indianer.

28. März

Ich hatte auf fünf kräftige Männer gehofft. Stattdessen bekomme ich drei unwillige Helfer, dazu die junge Frau, die behauptet, ihren Mann abgebalgt zu haben, & einen Hund.

Einzig die Frau ließ sich gern anheuern. Sie ist fast noch ein Mädchen, doch so jung & schmächtig sie auch wirkt, ich bin vor ihr auf der Hut. Im besten Falle ist sie etwas wirr, im schlimmsten in der Lage, einem Mann im Schlaf die Kehle zu durchtrennen. Dass sie unter denjenigen war, die uns vorauseilten, um uns im Dorf anzukündigen, macht sie mir nicht vertrauenswürdiger.

Doch Samuelson sprach sich für sie aus.

«Ich möchte wetten, sie ist uns eine bessere Hilfe als alle übrigen zusammen. Diese Frauen können zupacken. Wenn ein Dorf umzieht, schleppen sie sämtliche schweren Lasten. Sie sammeln das Holz, holen Wasser, verschnüren die Häute. Obendrein kann sie jagen. Die sorgt unterwegs für sich selbst.»

Ich habe weiter meine Zweifel, beugte mich jedoch Samuelsons besserer Kenntnis dieser Leute. Nun fehlten uns noch immer Männer. Wieder folgte ich Samuelsons Rat, auch wenn mein Gewissen protestierte.

«Sie lieben Glücksspiele. Wir müssen sie glauben machen, dass sie das große Los gezogen haben, wenn sie mitkommen dürfen. Dann wollen sie dabei sein.»

Also verkündete ich, wir würden auslosen, wer sich uns anschließen darf. Zu meiner Überraschung meldete sich ein ganzes Dutzend. Allerdings schwand die Begeisterung der fünf Gewinner deutlich, als sie erfuhren, dass wir gleich heute Morgen aufbrechen würden & ihre Aufgabe darin bestand, mit Proviant & Ausrüstung beladene Schlitten möglichst weit flussauf zu ziehen. Zwei verweigerten den Dienst rundheraus. Drei sind uns geblieben.

Als der alte Mann uns zu verstehen gab, er wolle ebenfalls mitkommen, sagte ich, seine Dienste seien nicht mehr nötig. Da bedachte der Alte mich mit einem listigen Blick & tippte sich an den schwarzen Hut, als wünsche er uns Lebewohl.