Das Leuchten der Freiheit - Jessica Weber - E-Book
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Das Leuchten der Freiheit E-Book

Jessica Weber

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Beschreibung

Kiel, Ende des 19. Jahrhunderts: Die lebenshungrige Arbeitertochter Luise träumt von einem besseren Leben. Doch ihr Freiheitsdrang bringt sie immer wieder in Konflikt mit den strengen Regeln ihrer Zeit. Als Luise gegen ihren Willen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird, scheint ihr Weg vorgezeichnet - bis sie dem einfühlsamen Medizinstudenten Julius begegnet. Durch ihn findet Luise neue Kraft und den Mut, für sich selbst einzustehen. Doch zurück in der Enge ihres Elternhauses versucht ihre Mutter, sie zur schnellen Heirat zu drängen. Luise aber hat eigene Träume - von Selbstbestimmung, von Liebe und von einem Leben jenseits gesellschaftlicher Konventionen.

Ein bewegender historischer Roman über eine starke Frau, die allen Widerständen trotzt und für ihr Glück kämpft - voller Gefühl und dem Flair der Wendezeit im Deutschen Kaiserreich.

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Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Weitere Titel der Autorin

Als Marie Caroline Bonnet:

Die Malerin von Paris

Über dieses Buch

Kiel, Ende 19. Jhdt.: Die lebenshungrige Arbeitertochter Luise träumt von der weiten Welt und davon, es einmal besser zu haben als ihre Eltern. Aber ihr Freiheitsdrang bringt sie mehr als einmal in Schwierigkeiten und sogar ernsthaft in Gefahr. Als Luise einige Zeit in einer psychiatrischen Anstalt verbringen muss, dringt einzig Medizinstudent Julius zu ihr durch. Mit seiner Hilfe findet sie zu sich selbst und kämpft sich zurück ins Leben. Dennoch verlieren sich ihre Wege. Wieder zu Hause drängt ihre Mutter Luise erneut in die starren Konventionen der Gesellschaft und zu einer baldigen Heirat ... Doch was ist mit Luises eigenen Träumen?

Über die Autorin

Die Kieler Autorin Jessica Weber ist gelernte Schifffahrtskauffrau und liebt es, das Meer vor der Tür zu haben. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als Lektorin, Korrektorin und Sekretärin. In ihrer Freizeit fertigt sie ausgefallene Motivtorten an, ist in der Mittelalterdarstellung aktiv und reist viel, gern auch zu Recherchezwecken. Außer historischen Romanen mit und ohne Romantik schreibt sie Kurzgeschichten und liebt Gemeinschaftsprojekte mit Autorenkolleginnen. Sie ist Mitglied im Phantastik-Autoren-Netzwerk (PAN) e. V., in der Autorinnenvereinigung »Romance Alliance« und im Verband der Schriftsteller in Schleswig-Holstein e. V.

Jessica Weber

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © iStock / Jan-Otto; iStock / Getty Images Plus / TeamDAF; Shutterstock / Alvov; iStock / Getty Images Plus / home-; © Richard Jenkins Photography

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0889-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Kiel, April 1905

... So beende ich diesen Brief in der Hoffnung, dass du nun verstehst, wie alles so kommen konnte, wie es gekommen ist. Ich war nie die unschuldige Frau, für die du mich bei unserer Hochzeit gehalten hast. Ich habe mich oft verloren auf meinem Weg – so oft, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Ich weiß nur, dass ich nie anders handeln konnte.

Sosehr ich dich verletzt habe, bitte glaube mir: All das ist nur aus den Vorkommnissen entstanden, die fast auf den Tag genau vor zehn Jahren ihren Anfang nahmen. Vorher war ich ein Kind, lebensfroh, voller Träume und viel zu unbedarft. Der eine Augenblick hat alles verändert.

Verzeih mir.

Deine Luise

Kapitel 1

Dorf Gaarden bei Kiel, April 1895

Der weiche Waldboden dämpfte ihre Schritte. Trockene Stöckchen und leere Schalen von Bucheckern flogen unter ihren Sohlen hervor. Luise breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis, schneller und schneller. Sie richtete ihren Blick in den Himmel. Das zarte Grün der ersten Buchenblättchen verschwamm vor ihren Augen, das Vogelgezwitscher wurde zu Musik, die ihren wilden Tanz untermalte. Der Wind, der von der Förde kam und auch vor dem Vieburger Gehölz nicht haltmachte, fuhr unter ihren Rock und hob ihn an. Zum Glück war sie allein, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Luise kicherte, änderte die Richtung, ehe ihr übel werden konnte. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, der Wind würde sie mitnehmen, davontragen über das Wasser, weit fort von Kiel, hinaus in die Welt. Sie riss sich die Zopfbänder heraus und ließ ihr Haar fliegen.

Als sie nicht mehr konnte, blieb sie keuchend stehen, sog tief die frische Frühlingsluft ein. Langsam ging sie weiter, und der köstliche Schwindel legte sich. Neben dem Weg breitete sich ein dichter Teppich aus Buschwindröschen aus, weiße Sterne auf grünem Grund, dazwischen Scharbockskraut und Löwenzahn, gelbe Tupfen neben bemoosten abgebrochenen Ästen. Auch wenn sie Kiel irgendwann verlassen würde – hierher würde sie immer wieder zurückkehren. In ihren Wald auf dem niedrigen Hügel oberhalb der Stadt.

Sie wusste, sie musste nach Hause. Die Mutter hatte ihr aufgetragen, die Strümpfe des Vaters zu stopfen. Nur unter dieser Bedingung hatte sie nicht mit ins Kuhbergviertel zum Sonntagskaffee bei Tante und Onkel gehen müssen. Zu gern hätte sie noch einen Abstecher zu dem Ausflugslokal Waldwiese gemacht, um zu schauen, welche Vergnügungen an diesem Tag stattfanden. Sonntags war dort immer viel los, im Sommer, wenn die Abende lang und warm waren, noch mehr als jetzt im Frühjahr. Doch auch zu dieser Zeit gab es Theatervorführungen und Gesang, Tanz und Musik. Zwar nicht für Luise, aber sie liebte es dennoch, die Menschen zu beobachten, die aus der Pferdestraßenbahn stiegen und zu dem Wirtshaus hinübergingen oder sogar mit eigenen Kutschen vorfuhren. Wie schade, dass sie keine Zeit hatte!

Allerdings würde sie auf dem Weg nach Hause an einer anderen Gastwirtschaft vorbeikommen. Das Krusenrott war nicht ganz so groß und prächtig wie die Waldwiese, aber auch dort ging es sonntags fröhlich zu. Luise beschleunigte ihre Schritte. Da es bergab ging, verfiel sie ins Laufen, ihre Haare und ihr Rock flogen, und wieder meinte sie, Musik zu hören. Noch einmal drehte sie sich wie im Tanz. Irgendwann würde sie tanzen! In der Waldwiese und durchs Leben, auch wenn sie nur die Tochter eines Werftarbeiters war.

Das lang gezogene, weiß getünchte Gebäude des Krusenrott kam in Sicht. Im Garten standen Reihen von Tischen und Stühlen bereit, doch es war trotz des sonnigen Wetters noch zu kühl, als dass schon Gäste draußen gesessen hätten. So blieb Luise nur, durch eines der hohen Fenster in den Festsaal zu spähen. Es war einen Spaltbreit geöffnet. Akkordeonmusik, der Geruch von Butterkuchen, Stimmengewirr und Lachen drangen zu ihr heraus. Gebannt beobachtete sie die Vierergruppe, die am nächstgelegenen Tisch saß. Die beiden Herren tranken schweigend Kaffee, die Damen unterhielten sich. Luise spitzte die Ohren, um ja kein Wort des Gesprächs zu verpassen, während sie ausgiebig die feinen Seidenkleider musterte, eines lindgrün, das andere zartrosa, beide mit langen, bauschigen Ärmeln und Spitzenkragen.

»Und Sie sind im vergangenen Jahr wirklich auf der berühmten Augusta Victoria gereist?«, fragte die grün gekleidete Frau.

Die andere nippte an ihrem Likörgläschen und neigte den sorgsam frisierten Kopf. »Allerdings.«

»Oh, davon müssen Sie mir erzählen! Wie ist es an Bord eines solchen Schiffes?«

»Man nennt es nicht umsonst einen Schnelldampfer. Kaum waren wir aus Hamburg losgefahren, waren wir auch schon in New York. Jedenfalls kam es mir so vor. Ich hätte gern noch länger den Luxus an Bord genossen. Das Essen, meine Liebe! Sie können sich nicht vorstellen, was ...«

Hamburg ... Schon dieser Name klang in Luises Ohren nach Freiheit und Abenteuer. Und erst New York! Sie wusste nicht genau, wo das lag, nur dass es einen ganzen Ozean entfernt war.

Ein Kellner trat in Luises Blickfeld und wandte sich in ihre Richtung. Erschrocken hockte sie sich nieder und presste sich an die Hauswand. Hoffentlich hatte er sie nicht bemerkt! Mit einem Krachen schloss sich das Fenster über ihr. Enttäuschung erfasste sie. Sie hätte doch so gern noch länger dem Gespräch gelauscht. Nun würde sie nichts mehr hören. Beobachten konnte sie die beiden Paare allerdings noch immer, und das war besser als nichts.

Luise zählte langsam bis fünfzig, dann richtete sie sich auf und spähte vorsichtig durch die Glasscheibe. Der Kellner war verschwunden – die Gäste allerdings auch. Und die anderen Tische waren zu weit entfernt, um sie gut sehen zu können.

»He, was tust du da?«

Luise schrak zusammen. Der Kellner stand im Rahmen des geöffneten Nebenfensters und schwenkte drohend die Faust.

»Verschwinde von hier, sonst setzt’s was!«, rief er.

Luise rannte blindlings los – und prallte gegen einen Körper. Massen von zartrosa Seide, denen der süße Duft nach Veilchen entströmte. Kräftige Hände, die sie vor dem Sturz bewahrten, dann ein Lachen.

»Nicht so stürmisch, junge Dame!«

»Entschuldigung«, stieß Luise hervor. Ihre Wangen brannten.

Die hochgewachsene Frau sah auf sie herab und lächelte. »Es ist ja nichts passiert.«

»Doch, ist es«, sagte der Kellner, der in der offenen Eingangstür erschien, gleich hinter den beiden Herren und der grün gekleideten Dame. »Das Mädchen hat Sie durchs Fenster belauscht, ich habe es genau gesehen!«

»Und wenn schon«, rief ihm die Frau zu. »Ich war auch neugierig in ihrem Alter.« Dann wandte sie sich wieder an Luise. »Du siehst aus, als würdest du mich etwas fragen wollen.«

Hundert Fragen brannten Luise auf der Zunge, aber sie brachte nur mühsam eine einzige hervor. »Was muss man tun, um so eine Reise machen zu können wie Sie?«

»Eine Ozeanüberquerung auf einem Schnelldampfer? Nun, vor allem muss man eine Menge Geld beschaffen. Zum Glück ist mein Mann gut darin.« Sie zwinkerte einem der Herren zu, der daraufhin gutmütig grinste. »Oh, nun siehst du traurig aus.« Sie tätschelte Luises Wange. »Tja, ohne Geld wird das mit dem Reisen schwierig. Aber weißt du was? Ich schenke dir etwas.« Sie griff sich an den Hals und zog eine Kette mit einem hühnereigroßen, flachen Anhänger unter dem Spitzenkragen hervor. »Es ist nicht viel wert, aber ich habe es gern getragen. Nun soll es dir gehören.«

Luises Herz schlug schneller, als sie nach dem Schmuckstück griff. Ihre Mutter hätte nie gutgeheißen, dass sie ein Geschenk von einer Fremden annahm, dennoch tat sie es. Sie starrte den Anhänger an, ein bronzefarbenes Plättchen mit leicht erhabenen Mustern. Auf den ersten Blick erkannte Luise, was diese ergaben.

»Es ist eine Weltkarte«, bestätigte die Dame ihre Vermutung. »Damit du dich stets daran erinnerst, dass du auch einmal eine Reise machen möchtest. Wenn du fest daran glaubst, wird es dir auch gelingen. Dann kann dir alles gelingen!«

Schweigend strich Luise mit dem Zeigefinger über die Kontinente der Erde.

»Wo liegt New York?«, fragte sie und hoffte, den Namen der Stadt richtig ausgesprochen zu haben.

Die Frau deutete auf eine Stelle auf der linken Seite des Amuletts. »Und dort stehen wir gerade.« Sie wies auf die Mitte der Weltkarte und lachte. »Wie du siehst, ist es nur ein Katzensprung. Ich wünsche dir viel Glück bei all deinen Plänen. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen«, hauchte Luise, konnte den Blick aber nicht von der Weltkarte lösen. Als die Herrschaften schon die Straße erreicht hatten, riss sie sich endlich zusammen. »Und vielen Dank!«, rief sie der rosa Dame hinterher. Rasch verließ auch sie das Grundstück der Gastwirtschaft, ehe der Kellner sie doch noch zu fassen bekam. Sie trat zu der dicken Eiche, die unweit des Eingangs zum Hof des Krusenrott stand, lehnte sich an den Stamm und legte sich die Kette mit dem Weltkarten-Anhänger um. Schwer hing er an ihrem Hals, und Freude durchströmte sie wie zuvor bei ihrem wilden Tanz im Wald. Sie konnte sich kaum von dem Anblick losreißen.

Erst eine Bewegung aus Richtung der Gastwirtschaft ließ sie den Blick heben. Ein Mann trat allein auf die Straße. Er schwankte, als hätte er bereits zum Mittag reichlich dem Schnaps zugesprochen. Er war ebenso fein gekleidet wie die beiden Paare. Ob er auch schon einmal eine weite Reise unternommen hatte? Sein schmucker Sonntagsanzug und sein taumelnder Gang wollten nicht zusammenpassen und verliehen seiner Gestalt etwas Komisches. Luise unterdrückte ein Glucksen. Unsicher setzte der Mann einen Fuß vor den anderen.

Dennoch war er mit wenigen Schritten bei ihr, kaum dass er sie entdeckt hatte. Luise blieb keine Zeit, sich hinter dem Stamm der Eiche zu verstecken. Das Lachen verging ihr, sobald der Mann vor ihr stand. Der Hut rutschte ihm vom Kopf, der Blick aus seinen blauen Augen war glasig, und er leckte sich die Lippen. Als Luise begriff, was er vorhatte, fuhr sie herum und wollte wegrennen, aber er packte sie an beiden Oberarmen und drehte sie zu sich um. Seine Wangen waren gerötet, die Äderchen auf der Nase deutlich zu sehen. Er lallte etwas Unverständliches und lächelte sogar, zwinkerte ihr zu, wie es Männer taten, wenn ihnen eine Frau gefiel.

Luise jedoch war keine Frau, noch längst nicht.

»Ich bin erst dreizehn«, stieß sie hervor und wand sich in seinem Griff. »Ich muss nach Hause.«

Sah der Kerl denn nicht, dass sie noch nicht einmal konfirmiert war? Dabei war das leicht zu erkennen! Sie trug Schulmädchenkleidung, Rock und Schürze endeten oberhalb der Knie. Sie konnte doch nichts dafür, dass ihr Körper schon Rundungen besaß, die ihren Mitschülerinnen noch fehlten!

Er war ein hübscher Mann von höchstens dreißig. Wie sollte man wissen, ob jemand gut oder böse war, wenn man es nicht einmal am Aussehen festmachen konnte? Seine Haut war hell, das blonde Haar kurz geschnitten und akkurat gescheitelt. Die Hand, die sich ihr über Mund und Nase legte, roch nach Schnaps und Seife. Luise konnte nicht mehr atmen, ihr Herz raste, vor ihren Augen verschwamm sein Grinsen zu einer teuflisch verzerrten Maske. Wo waren denn bloß alle Menschen? Die rosa Dame und ihre Begleiter waren schon zu weit entfernt, aber warum kam keiner der anderen Gäste des Lokals in ihre Richtung?

Er drehte sie herum, nahm endlich die Hand von ihrem Gesicht und drückte es stattdessen gegen die furchige Borke der Eiche. Sie schnappte nach Luft. Feuchter, pilziger Geruch drang in ihre Nase, die Rinde zerkratzte ihre Wange. Er presste sie mit seinem viel größeren, kräftigeren Körper gegen den harten Stamm. Luise versuchte, sich daran abzustützen, sich wegzudrücken, aber es gelang ihr nicht. Seine Hände tasteten und nestelten eine Weile und glitten schließlich unter ihre Röcke. Ihr wurde übel, sie zappelte hilflos, doch es gab kein Entrinnen.

Wie eins der Insekten in Lehrer Sauerbiers Sammlung, schoss es ihr durch den Kopf. Einmal hatten die Schülerinnen zusehen müssen, wie er einen lebendigen Käfer aufgespießt und neben all die toten Exemplare gesteckt hatte. Er hatte den glänzenden schwarzen Panzer zwischen seinen Fingern gehalten, sodass das Tier gerade noch die Beinchen bewegen konnte, dann war die dicke Nadel gekommen und in den Leib des Käfers gefahren. Dieser hatte gezuckt, gezittert, und dann hatte er sich nicht mehr bewegt.

Auch Luise erstarrte, als der erste Stich in sie fuhr und sie durchbohrte. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, dann wurde ihr Blick wieder klar. Sie sah graugrüne Baumrinde und dahinter ein winziges Stück blauen Himmel.

Das passierte nicht ihr, entschied Luise, das durfte es schließlich nicht. Die Eltern wollten ihr einziges Kind gut verheiraten, und da kam es auf alles an, auch auf die Unversehrtheit. Sie waren einfache Arbeiter, und Luise hatte sich geschworen, nicht so zu enden wie ihre Mutter. Sie wollte mehr, wollte schöne Kleider tragen und zu Walzerklängen über blank gewienertes Parkett schweben. Sie wollte reisen wie die rosa Dame! Schließlich trug sie die Welt um den Hals, da konnte es doch nicht sein, dass ihre Welt zusammenbrach.

Also war es ein anderes Mädchen, dessen Körper von dem eines Fremden in Besitz genommen wurde, das die Stöße zwischen den Beinen spürte, die es innerlich zerrissen. Ein anderes Mädchen, das nicht auf die Mutter gehört hatte, das sein Haar außerhalb der Schule offen trug, anstatt es züchtig zu flechten und zu bedecken. Ein anderes Mädchen, das allein durch die Gegend streifte, in die Fenster der Tanzlokale spähte, um all die fröhlich feiernden Menschen in ihrer schönen Kleidung anzusehen und davon zu träumen, auch einmal dort von einem gut aussehenden Mann im Kreise gedreht zu werden.

Ein anderes Mädchen. Nicht Luise Johannsen. Nicht sie, in deren Ohren das heisere Grunzen klang, das immer schneller wurde, nicht sie, deren Wimmern von der Baumrinde verschluckt wurde. Nicht sie, der die Mittagssuppe hochkam und in einem Schwall herausbrach, im gleichen Moment, als der Mann ein letztes Mal aufstöhnte.

Er ließ sie abrupt los, ihre Beine gaben nach, und sie sackte zu Boden. Das vermodernde Laub des vergangenen Herbstes fing ihren Sturz ab.

Ich bin das nicht, dachte Luise. Ich träume bloß und sehe ein fremdes Mädchen in der eigenen Kotze sitzen und heulen.

Sie lehnte sich gegen die Eiche und versuchte, ihren Atem zu beruhigen, das haltlose Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. Sie schmeckte das Salz ihrer Tränen. Etwas Warmes, Klebriges lief zwischen ihren Schenkeln aus ihr heraus, und das Brennen an derselben Stelle zeigte ihr überdeutlich, dass es sehr wohl sie war, der soeben Gewalt angetan worden war. Sie fühlte sich, als hätte man glühende Kohlen in ihren Leib gesteckt.

Sie hörte leises Lachen und gemurmelte Worte, die sie nicht verstand, ein Hut wurde aufgehoben, dann entfernten sich die unsicheren Schritte. Einen Augenblick später erklang eine gepfiffene, fröhliche Melodie. Luise würgte und erbrach sich erneut. Das Schluchzen wollte nicht abebben. Sie schlug den Hinterkopf gegen den Baumstamm, einmal, zweimal. Immer wieder, bis ihr Kopf stärker schmerzte als die andere Stelle, an die sie nicht einmal mehr denken wollte.

Das Pfeifen wurde leiser, dann war es endlich verklungen. Luise rappelte sich auf. Es war nicht weit bis nach Hause, nur den Krusenrotter Weg ein Stück entlang in Richtung Innenstadt. Die Eltern waren gewiss noch nicht zurück. Sie musste sich und ihre Kleidung reinigen, ehe sie sie sahen. Keine Spur dieses Tages durfte mehr zu sehen sein. Sie durften nie erfahren, was geschehen war!

Niemals.

Wenn doch nur die Tränen aufhören würden, über ihre Wangen zu strömen. Was sollten die Nachbarn denken? Mit gesenktem Kopf lief Luise die Straße entlang, ließ ihr offenes Haar vor ihr Gesicht fallen, damit niemand es sah. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, und jeder Schritt schmerzte in ihren Schenkeln und dazwischen. Sie stieß die Haustür auf, trat ins dunkle Treppenhaus und lief die vier Stufen hoch. Der Schwall scharfen Geruchs, der ihr durch die geschlossene Tür des Aborts links der Treppe entgegendrang, brachte sie erneut zum Würgen. Schnell zog sie ihren Schlüssel aus der Rocktasche, schloss die gegenüberliegende Tür auf, stürzte hinein und sperrte den Gestank aus.

Alles war still. Die Eltern waren noch nicht daheim. Luise atmete auf und ging in ihr Zimmer. Sie hatte es für sich allein, seit die Großmutter gestorben war, und sie hielt es peinlich sauber, das gestärkte Deckchen akkurat auf dem quadratischen Tisch vor dem Fenster, das Bettzeug glatt gestrichen, kein Kleidungsstück lag herum. Nur nicht Mutter und Vater erzürnen, die so hart arbeiteten. Nur nicht riskieren, dass sie ihr verboten, draußen herumzustreunen und sich ihren Tagträumen hinzugeben.

Hätte sie doch nur auf sie gehört! Nun passte sie nicht mehr hierher, in ihr gepflegtes Mädchenzimmer. Sie war schmutzig, von innen wie von außen.

Gegen den äußeren Schmutz zumindest konnte sie etwas tun. Sie holte eine Waschschüssel, Seife und Tücher, zog sich aus und wusch sich mit kaltem Wasser, denn es wäre zu auffällig gewesen, wenn sie den Herd angeheizt hätte. Sie schrubbte sich das Gesicht, Hände, Arme und Unterschenkel, bis die Haut rot war und schmerzte. Immer wieder wischte sie die Tränen fort, aber unaufhörlich kamen neue. Sie wusch sich den Bauch, die Knie. Die Oberschenkel. Nie hatte sie ein Problem damit gehabt, ihren Körper zu reinigen, auch nicht die empfindlichsten Stellen. Nun konnte sie es nicht über sich bringen, den Lappen zwischen ihre Beine zu führen. Ihre Hände zitterten. Sie holte tief Luft und gab sich einen Ruck.

Das Tuch war blutverschmiert, als sie es herauszog. Der Anblick traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schrei aus den Tiefen ihrer Brust formte sich in ihrer Kehle, sie ließ ihn heraus und konnte nicht wieder aufhören. Schrie und schrie, bis die Nachbarn an die Wohnungstür hämmerten. Bis sie heiser war und endlich keine Träne mehr floss.

Dann verstummte sie. Sie war wieder Luise, das Mädchen mit dem sauberen Zimmer und dem sauberen Leben. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst. Nichts von alledem war ihr geschehen. Sie hatte keine Ahnung, wessen Schicksal sie beobachtete, wer da seine Kleidung wusch, auswrang und zum Trocknen hängte, das blutige Wasser aus dem Fenster schüttete, sich eine gestärkte Bluse und einen frischen Rock anzog. Sie wusste nicht, wessen Körper wie Feuer brannte, wer geblutet hatte und nun für immer und ewig schmutzig war. Sie war es jedenfalls nicht, auch wenn sie die Schmerzen fühlte. Sie sah dem Mädchen zu, das starr auf dem Bett saß. Eine Frau kam, später dann ein Mann. Sie sahen aus wie Luises Eltern, aber sie sprachen ja mit dem fremden Mädchen. Nicht mit ihr. Nicht mit Luise. Die war irgendwo anders und betrachtete das Geschehen. Auch das Mädchen starrte nur vor sich hin. Als wäre die Zeit stehen geblieben.

Kapitel 2

Psychiatrische Klinik Hornheim, Gaarden bei Kiel, April 1895

Frau Johannsen, ich verstehe Sie. Aber Sie müssen mich auch verstehen. Wir sind eine Privatklinik und auf die Gelder angewiesen. Das Hornheim hat Personal zu bezahlen, und allein die Pflege der Gärten ...«

»Das weiß ich, Herr Doktor Jessen. Aber bitte, können Sie nicht eine Ausnahme machen?« Münzen ergossen sich klimpernd aus dem Lederbeutel auf den Tisch. »Das ist alles, was wir momentan aufbringen können. Vielleicht kann ich demnächst noch etwas vom Lohn abzweigen. Aber Luise ist doch unser einziges Kind. Ich bitte Sie!«

Der Mann im weißen Kittel seufzte. »Für die paar Mark kann sie höchstens einige Wochen bleiben. Dass das ausreichen wird, bezweifle ich.«

Sie waren nur ein paar Minuten zu Fuß gegangen, die Lübecker Chaussee entlang und dann hoch Richtung Gehölz, Luise, das seltsame Mädchen und die Frau, die wie Luises Mutter aussah, sich aber dem fremden Mädchen gegenüber wie eine Mutter benahm. Sie hatten eines der riesigen Gebäude betreten, die in einer hübschen Parkanlage lagen, waren von einem Dienstmädchen in gestärkter Schürze in einen Raum geführt worden, und nun saßen sie einem Herrn um die siebzig gegenüber. Auf dem Schreibtisch zwischen ihnen lag ein dickes Buch, daneben standen ein Tintenfass und in einer Halterung ein neumodischer Füllfederhalter. Die Münzen blinkten im Frühlingslicht, das durch die hohen Sprossenfenster einfiel.

Luise verstand nicht, worum sich das Gespräch drehte. Dies war eine Art Krankenhaus, das hatte sie schon herausgefunden. Es war aber niemand von ihnen krank! Selbst das fremde Mädchen nicht, das geblutet und geschrien hatte. Sie saß ganz still und aufrecht da. Ein bisschen blass war sie vielleicht, und sie trug das hellbraune Haar nicht mehr offen. Zwei dicke Zöpfe hingen bis auf ihre Brust hinunter. Sie waren so straff geflochten, dass es sich anfühlte, als risse ihre Kopfhaut ab. Luise wunderte sich längst nicht mehr, dass sie die Schmerzen des Mädchens fühlte. Die Hauptsache war doch, dass sie selbst keine hatte. Ihr war schließlich nichts geschehen.

»Bitte helfen Sie unserer Luise, Herr Doktor«, flüsterte die Mutter, und Tränen rannen über ihre Wangen. »Sie ist nicht mehr sie selbst. Wir wissen weder, was ihr passiert ist, noch, was wir gegen diesen Zustand tun können.«

Mir ist nichts passiert, wollte Luise sagen, aber es kam kein Wort aus ihrem Mund. Kein einziges Wort.

Der Arzt klingelte mit einem Glöckchen, und die Bedienstete erschien wieder. Er sagte etwas zu ihr, und sie nahm das fremde Mädchen bei den Schultern und führte es zur Tür. Luise folgte den beiden, obwohl sie lieber in Jessens Zimmer geblieben wäre. Aber das ging nicht. Sie musste immer bei dem Mädchen bleiben, dem die schlimmen Dinge geschehen waren, musste es unentwegt anstarren. Sie wollte es nicht! Die Verbindung war ihr viel zu eng! Sie sträubte sich, und da begann auch das Mädchen, sich gegen die Frau zu wehren. Sofort kamen zwei junge Männer wie aus dem Nichts herbei und umfassten ihre Arme. Luise fühlte den Griff, und er erinnerte sie an den, den sie vor wenigen Tagen gespürt hatte. Danach war es geschehen. Es war auch ein junger Mann gewesen. Ihr wurde übel.

Nein, nicht sie hatte den Griff gespürt. Nicht sie! Das andere Mädchen! Warum überfielen sie die Erinnerungen, als wären es ihre eigenen? Das durfte nicht sein! Sie wehrte sich, trat um sich, war plötzlich im Körper des fremden Mädchens, nicht mehr außen, nicht mehr unbeteiligt. Sie waren eins! Die Erkenntnis brach das Schweigen, sie schrie, brüllte, konnte nicht wieder aufhören. Der Arzt erschien, hinter ihr ihre Mutter, das Gesicht tränenüberströmt. Luise schrie und trat, wand sich. Sie durften sie nicht festhalten! Es würde wieder geschehen, die Männer würden – sie würden ...

Jemand presste einen feuchten Lappen auf Luises Mund und Nase, der ihre Schreie dämpfte und ihr die Luft nahm. Sie wollte sich davon befreien, warf den Kopf hin und her, doch sie vermochte nicht, das Tuch loszuwerden. Sie rang nach Atem, sog den süßlichen, schweren Geruch ein, der dem Stoff entströmte.

Sie wollen mich umbringen mit dem Zeug, durchfuhr es sie. Vor Schreck erstarrte sie, dann breitete sich ein Nebel in ihrem Kopf aus, eine bleierne Schwere in ihren Gliedern. Die Gesichter der Menschen um sie herum verschwammen, und sie fiel.

Sie lag weich, hatte die Augen geschlossen. Schritte entfernten sich, eine leise gepfiffene Melodie verklang. Sie hatte diese Geräusche schon einmal gehört. Sie wusste, sie hätte Angst haben sollen, doch jegliche Empfindungen drangen nur wie durch dichten Nebel in ihr Bewusstsein. War das das Laub der großen Eiche unter ihr? Das konnte nicht sein. Es roch nicht nach Erbrochenem, obwohl ihr sterbenselend war, sondern nach Wäschestärke. Luise hätte sich gern davon überzeugt, aber sie war nicht fähig, sich zu rühren. Alles in ihr war dumpf, selbst der Schmerz der Erinnerung brannte nicht mehr so sehr. Sie wollte sich aufsetzen, allerdings kostete sie schon das Öffnen der Lider ungemeine Kraft.

Sie lag nicht im Freien, da war kein Himmel über ihr. Der Raum war nur schwach erhellt, sie sah weiße Wände, eine geschlossene Tür mit einem Fensterchen darin. Unendlich langsam bewegte sie erst die Arme, dann die Beine. Als sie endlich saß, sah sie im Licht zweier Petroleumlaternen den Arzt und eine junge Frau an einem Tisch sitzen. Hinter dem Fenster war Dunkelheit.

»Ah, Fräulein Johannsen«, sagte der Mann. »Es tut mir leid, aber wir mussten Ihnen ein Betäubungsmittel verabreichen.«

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich Worte in Luises Geist geformt hatten, und dann schaffte sie es doch nicht, sie auszusprechen. Ihr Mund fühlte sich an, als habe sie Wolle gegessen, die Zunge bleischwer.

Die Frau erhob sich, trat zu ihr und hielt ihr einen Becher an die Lippen. »Trinken Sie einen Schluck.«

Ihre Stimme klang hell und mädchenhaft, und Luise tat, was sie gesagt hatte. Angenehm kühl rann das Wasser ihre Kehle hinab und wusch ihr den Mund sauber.

»Wo ist meine Mutter?«, fragte sie, als sie endlich sprechen konnte.

»Die ist heimgegangen«, sagte der Mann. »Sie bleiben eine Weile bei uns, bis es Ihnen besser geht. Ich bin Doktor Jessen, und dies ist Fräulein Müller, die heute im Frauenflügel die Aufsicht hat. Sie wird regelmäßig nach Ihnen sehen, und morgen erkläre ich Ihnen alles Weitere.«

»Ich bin nicht krank.« Luises Stimme klang fremd in ihren Ohren, heiser und wie verschwommen.

Der Doktor lächelte milde. »Natürlich nicht. Aber Sie brauchen Ruhe. Die werden Sie hier bei uns im Hornheim finden.«

Hornheim ... Luise durchforstete ihren gelähmten Geist nach diesem Wort, das sie schon einmal gehört hatte. Da traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Sie sprang auf, schwankte und wäre gefallen, wäre der alte Mann nicht erstaunlich flink bei ihr gewesen. Er packte sie und drückte sie sanft zurück aufs Bett, ließ sie dann jedoch sofort wieder los.

»Ich bin doch nicht irre!«, rief Luise mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte. »Was soll ich hier?«

»Wir bezeichnen unsere Besucher nicht als irre.« Doktor Jessen setzte sich wieder auf seinen Stuhl und faltete die Hände. »Sie leiden an den unterschiedlichsten auffälligen Geisteszuständen, und wir bemühen uns, sie so weit wiederherzustellen, dass sie ihr normales Leben wieder aufnehmen können.«

Es klang wie der Text einer Reklamebroschüre. Kalte Angst erfasste Luise. Oft genug wurde in der Schule über Dinge getuschelt, die in Irrenanstalten vor sich gingen. Sie hatte von wahren Foltermethoden gehört, die angewandt wurden, um die Verrückten wieder zurechtzurücken.

»Ich bin hier falsch«, presste sie hervor. »Ich will nach Hause.«

»Erinnern Sie sich an die vergangenen Tage?«, fragte Doktor Jessen.

Luise wollte sich nicht erinnern. Sie wollte nicht! Es gab kein fremdes Mädchen, so viel war ihr inzwischen klar. Das Schreckliche war ihr passiert. Sie wollte es vergessen, so tun, als sei es nie geschehen, und sie ahnte, dass man es sie an diesem Ort nicht vergessen lassen würde. Sie schluchzte auf.

»Nun schlafen Sie sich erst mal aus, Fräulein Johannsen. Morgen früh sieht die Welt schon anders aus.«

Doktor Jessen und Fräulein Müller erhoben sich. Letztere lächelte Luise an. »Ich schaue später noch einmal nach Ihnen.«

Sie nahmen jeder eine Laterne und gingen. Luise war allein im Dunkeln. Sie hörte, wie ein Riegel vor die Tür geschoben wurde. Panik erfasste sie. Sie sprang auf, ignorierte das Schwindelgefühl, stürzte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie rüttelte vergebens. Tränen strömten über ihr Gesicht. War das, was ihr geschehen war, noch nicht schlimm genug? Mussten sie sie auch noch einsperren, als sei sie diejenige, die das Verbrechen begangen hatte? Es war doch nicht ihre Schuld! Wenn einer eingesperrt werden sollte, dann war es jener Mann!

Doch, es ist deine Schuld, hörte sie im Geiste die anklagenden Stimmen von Mutter und Tante. Was läufst du auch allein draußen herum, in der Nähe der Etablissements, in denen sich die Herren betrinken? Warum faulenzt du, anstatt zu arbeiten, warum trägst du keine Zöpfe wie ein ordentliches Mädchen, warum hast du keine Freundinnen, mit denen du Puppenmutter spielst?

»Nein«, schrie Luise auf und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. »Lasst mich raus! Ich bin nicht schuld. Ich darf gehen, wohin ich will, und das gibt niemandem das Recht, mir wehzutun.«

Brennende Wut über die Ungerechtigkeit erfasste sie, und sie brachte keine Worte mehr heraus, sondern brüllte nur noch aus Leibeskräften. Ihre Hände schmerzten, aber sie schlug weiter auf das Holz ein. Es tat gut, sich nach der Betäubtheit der letzten Tage wieder zu spüren.

Ein Licht kam flackernd näher. Luise sah es durch das winzige Fenster in der Tür. Schnelle Schritte näherten sich, dann öffnete sich die Tür nach innen und hätte Luise beinahe zu Fall gebracht. Fräulein Müller mit einer Laterne in der Hand und ein unbekannter junger Mann traten ins Zimmer.

»Beruhigen Sie sich, Fräulein Johannsen«, forderte die Frau mit einer viel strengeren Stimme als zuvor. »Sonst müssen wir Sie fixieren.« Sie deutete auf das Bett, und im Schein der Petroleumlampe sah Luise zum ersten Mal die dicken Lederriemen, die an der Seite hinabhingen.

»Nein!«, entfuhr es ihr.

»Und wenn das nichts nützt, verlegen wir Sie in den Gebäudeflügel für die Tobsüchtigen. Dort haben wir besondere Räume, in denen Sie sich nicht verletzen können.«

Es klang wie die Drohung, die es gewiss auch sein sollte, und Luises Herz tat einen schmerzhaften Sprung. So mädchenhaft Fräulein Müller in Anwesenheit Doktor Jessens gewirkt hatte, so streng war sie nun, da sie das Kommando über den Frauenflügel innehatte. Plötzlich erinnerte sie Luise an die Tante mit ihren Moralpredigten.

»Das wird gewiss nicht nötig sein, Fräulein Müller«, sagte der junge Mann und lächelte Luise an. Er sah aus, als sei er gerade dem Bett entstiegen. Sein hellbraunes Haar war zerzaust, und das Hemd hing ihm über den Hosenbund. Er konnte noch keine zwanzig sein.

Dennoch – er war ein Mann, und sie würde sich nicht von seiner Freundlichkeit täuschen lassen. Luise ging rückwärts, bis sie gegen den Tisch stieß, und machte sich bereit, wieder zu schreien.

Er kam nicht näher, musterte sie nur mit einem Blick, in dem sie Traurigkeit zu lesen glaubte. »Mein Name ist Julius Reuther«, sagte er. »Ich studiere Medizin und arbeite nebenbei hier im Hornheim.« Er strich sich durch das wirre Haar. »Es wäre gut, wenn Sie sich jetzt schlafen legen, Fräulein Johannsen. Wir können morgen über alles sprechen, was Sie bedrückt.«

Was dachte sich dieser Mann? Niemals würde sie mit ihm darüber sprechen, was ihr geschehen war! Und sie würde sich auch nicht ins Bett legen, solange er im Zimmer war. Sie blieb stocksteif stehen.

Fräulein Müller räusperte sich. Sie sah aus, als wüsste sie nicht recht, ob sie nun die Strenge oder die Liebenswürdige spielen sollte. Sie entschied sich für Letzteres. »Bitte, Fräulein Johannsen, legen Sie sich freiwillig ins Bett und bleiben Sie darin, sonst müssen wir Ihnen ... dabei behilflich sein.«

Luise rührte sich nicht und sah wieder Julius Reuther an. Er runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen. Er schien zu begreifen. »Ich gehe schon mal raus. Wir sehen uns morgen, Fräulein Johannsen.« Kaum hatte er das Zimmer verlassen, legte sich Luise ins Bett und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Sie wollte nicht riskieren, dass Fräulein Müller den jungen Mann zurückholte und sie mit seiner Hilfe gewaltsam ins Bett verfrachtete. Wenn sie schnell wieder nach Hause wollte, durfte sie sich nicht aufführen wie eine Verrückte.

Das jedoch erwies sich als gar nicht so leicht. Als sie wieder allein in der Dunkelheit war, allein mit ihren Erinnerungen, mit der Wundheit zwischen ihren Beinen, dem Ekel über das Geschehene und der Wut über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, musste sie alle Willenskraft aufbringen, um nicht erneut loszubrüllen. Sie biss sich die Lippen auf, kratzte mit den Nägeln über die empfindliche Haut ihrer Handgelenke, und der Schmerz beruhigte sie auf seltsame Weise. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, ließ sie es rasch sein und tastete stattdessen nach ihrer Kette mit dem Weltkarten-Anhänger, klammerte sich daran fest wie an einem Rettungsring.

Sie lauschte in die Stille und erkannte, dass sie nicht so vollkommen war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Ferne Schreie drangen zu ihr herein, verzweifelte Laute, die aus einem anderen Stockwerk kommen mochten – oder einem anderen Gebäude. Dem für die Tobsüchtigen vielleicht? Die Klänge erinnerten Luise an die, die aus dem Schlachthof am Ende der Förde zu hören waren, wenn man zu nahe daran vorüberging. Immer wieder hörte sie auch Stimmen von Männern und Frauen, konnte aber keine Worte ausmachen. Ruhe jedoch, wie Doktor Jessen sie ihr versprochen hatte, herrschte im Hornheim nicht.

Kapitel 3

Psychiatrische Klinik Hornheim, Gaarden bei Kiel, April 1895

Kommen Sie, Fräulein Johannsen. Ich bringe Sie zum Frühstücksraum.«

Fräulein Müller hatte eine Schüssel mit lauwarmem Wasser und einige Lappen ins Zimmer getragen und ihr fünf Minuten Zeit gegeben, sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen, die ihre Mutter gebracht haben musste. Nun stand sie erneut in der Tür und tippte mit dem Fuß auf, als sich Luise nicht sofort erhob. Das Gesicht der jungen Wärterin war aschgrau, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Luise ahnte, dass sie ähnlich aussah. Auch ihre Nacht war nicht von ruhigem Schlaf geprägt gewesen. Langsam erhob sie sich, die Glieder schwer wie Blei, und folgte Fräulein Müller auf den Gang und hinaus aus dem Trakt, in dem die Frauen untergebracht waren. Sie führte sie in ein anderes Gebäude und in einen geräumigen Speisesaal mit langen, U-förmig aufgestellten Tischen, an denen bereits Menschen Platz genommen hatten. Zu viele Menschen für Luises Geschmack, Männer und Frauen jeglichen Alters. Sie hatte das Gefühl, alle starrten sie an, als sie den Raum betrat.

»Ah, Fräulein Johannsen. Guten Morgen!« Doktor Jessen erhob sich von seinem Platz inmitten der Patienten und lächelte sie an. »Willkommen zu unserem gemeinsamen Frühstück.«

Da erst fiel Luise auf, dass sich nicht nur Menschen in Alltagskleidung oder Morgenröcken im Speisesaal befanden, sondern auch Frauen und Männer in den weißen, gestärkten Uniformen des Pflegepersonals. In diesem seltsamen Krankenhaus aßen alle gemeinsam?

Sie antwortete nicht, bekam kein Wort heraus. Stattdessen ließ sie ihren Blick weiter über die Anwesenden gleiten. Einigen sah man an, dass sie krank waren, andere wirkten vollkommen gefasst und gesund. Warum waren sie alle hier? Gab es Frauen, die das Gleiche erlebt hatten wie sie? Und die Männer – was konnte ihnen widerfahren sein, dass sie ihr Leben in Freiheit nicht mehr meistern konnten? Wer von ihnen hatte in der Nacht geschrien, wer ebenso wenig zur Ruhe gefunden wie sie?

Fräulein Müller führte sie zu einem freien Platz neben einem Mädchen im blauen Seidenkleid und mit so aufrechter Haltung, dass sie wie eine Adlige wirkte. Um den Hals trug sie eine goldene Kette mit einem Medaillon, das sogar größer war als Luises Weltkarte. Als sie bemerkte, dass Luise den Anhänger musterte, ließ sie ihn rasch in ihrem Ausschnitt verschwinden.

Luise schob sich auf den leeren Stuhl und blickte auf ihren Teller hinab, auf dem eine mit Butter bestrichene Scheibe Brot lag. Sie spürte die Blicke der ihr gegenübersitzenden Frau, und ihre Kehle fühlte sich so zugeschnürt an, dass sie meinte, keinen Bissen herunterzubekommen.

»Guten Morgen, Neuankömmling.«

Luise blickte auf. Die Frau grinste sie an. War es ein freundliches oder ein hämisches Lächeln? Sie konnte es nicht erkennen.

»Ich bin Trine, und das ist Lotte.« Sie wies auf die Patientin neben sich, eine bleiche Schwarzhaarige mit dunklen Schatten unter den Augen und blutroten Striemen an den Handgelenken. »Hast du auch einen Namen?«

Während das Mädchen mit dem Amulett in ihrem Alter zu sein schien, waren die beiden Frauen auf der anderen Seite des Tisches älter. Wie alt, konnte sie nicht beurteilen, doch gewiss jünger als ihre Mutter. Durfte sie die beiden duzen? War das hier so üblich? Immerhin hatte die Frau ihre Vornamen genannt.

»Luise«, flüsterte sie und bemühte sich, nicht auf die Arme der Schwarzhaarigen zu starren. War die Frau ans Bett gefesselt gewesen, so wie es auch ihr angedroht worden war? Luise wurde schwindlig.

Die Blonde, die sich als Trine vorgestellt hatte, wirkte forsch und ausgeschlafen. Sie biss herzhaft von ihrem Brot ab und zwinkerte Luise zu. »Willkommen, Luise«, nuschelte sie mit vollem Mund, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und fuhr fort: »Ah, gutes Brot und gute Butter! Gibt es was Besseres am Morgen? Wenn nur der Kaffee nicht so dünn wäre ... Das neben dir ist übrigens Ella. Ihr zwei dürftet die Jüngsten in diesem Grandhotel sein. Die Kleine hat ’nen gewaltigen Vogel, und das nicht nur auf dem Ding an ihrer Kette.«

Ella atmete zischend ein. »Du bist gemein, Trine.«

»Deshalb bin ich hier, Herzchen. Nun, nicht weil ich gemein bin, sondern weil ich immer sage, was ich denke. Damit kommt die Welt nicht zurecht.« Sie lachte laut auf. »Sei nicht böse, Kleine. Erzähl nur weiter deine Geschichten von sprechenden Tieren und Zauberfedern. Nur das mit dem Feuer solltest du in Zukunft bleiben lassen.« Wieder lachte Trine. »Sie hat in der Scheune ihrer Eltern gezündelt. Dagegen ist Lotte hier harmlos.« Sie legte der stillen Schwarzhaarigen einen Arm um die Schultern. »Die schlafwandelt nur und tut dabei seltsame Dinge. Am Tag sitzt sie meistens da und heult.« Sie rüttelte Lotte leicht. »Iss, Liebes.« Gehorsam griff die junge Frau nach ihrem Brot. »Was führt dich her, Luise?«

»Nun ist es genug, Frau Mertens.« Julius Reuther trat an ihren Tisch. »Fräulein Johannsen ist gestern erst angekommen. Wir wollen sie doch nicht gleich verschrecken.« Er lächelte Luise an. »Passen Sie auf, Frau Mertens kann sehr überzeugend sein. Sie müssen aber niemandem hier etwas erzählen, wenn Sie es nicht möchten.«

»Ach nee, niemandem?« Trine lachte erneut schallend. »Auch Ihnen und unserem lieben Doktor Jessen nicht?« Sie zwinkerte Luise zu. »Hübsches Kerlchen, der Herr Reuther, nicht wahr? Schöne grüne Augen. Bisschen jung für meinen Geschmack, aber so groß ist die Auswahl hier ja nicht.«

Schnell senkte Luise den Blick und biss von ihrem Brot ab. Beinahe hätte sie sich tatsächlich von Trines überschäumender Art mitreißen lassen, aber eine solche Offenheit einem Mann gegenüber mitzuerleben, war ihr zutiefst unangenehm.

Auch Ella und Lotte aßen und tranken schweigend. Als Trine bemerkte, dass niemand mehr ihrem Geplapper Aufmerksamkeit schenkte, schnaubte sie und widmete sich ebenfalls ihrem Frühstück. Luise war froh, dass sich ihre Wege nach dem Essen wieder trennten.

Allerdings war das, was sie dann erwartete, nicht besser. Doktor Jessen bat sie zum Gespräch in sein Zimmer. Die Tür zum Flur blieb offen, in dem Raum gegenüber saß eine junge Krankenwärterin an einem Schreibtisch und blätterte in Unterlagen. Die Frau hob den Blick und lächelte Luise an. Offensichtlich sollte ihre Nähe ihr Sicherheit vermitteln.

Das Zimmer sah gemütlich aus, hell und freundlich eingerichtet. Kein Schreibtisch war vorhanden, der eine Barriere zwischen Arzt und Patientin aufgebaut hätte, keine Fachbücher über Geisteskrankheiten in den Regalen, nur seichte Romane. Luise versank in dem riesigen Sessel, in den Doktor Jessen sie platziert hatte. Er saß ihr auf einem ebensolchen gegenüber und balancierte ein Holzbrett mit einem Blatt Papier darauf auf den Knien, auf das er mit Bleistift eine Notiz machte. Dann begann er mit sanfter Stimme, sie über die Geschehnisse auszufragen.

Luise presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht darüber sprechen, wollte alles vergessen, was an der Eiche geschehen war. Dennoch wühlte er mit seinen bohrenden Fragen ihre Erinnerungen auf. Wie von selbst bewegten sich Luises Finger zu der ohnehin schon wunden Haut ihrer Handgelenke. Der Schmerz erleichterte sie, und als Doktor Jessen bemerkte, was sie tat, hörte die Fragerei auf. Die junge Frau kam zu ihnen, verband ihre Arme und führte sie zurück in ihr Zimmer.

Beim Mittagessen wirkte Trine vollkommen verändert. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Platz und starrte mit glasigen Augen vor sich hin. Diesmal war es Lotte, die wacher wirkte und ihrer Sitznachbarin beim Essen half.

»Was ist mit ihr?«, wisperte Luise zu Ella hinüber.

Diese hob die Schultern. »So ist sie eben. Mal wie beim Frühstück, mal wie jetzt.«

Luise löffelte ihren Eintopf und fühlte sich fehl am Platz. Wie in einer Welt, in die sie nicht gehörte. Dann fiel ihr Blick auf ihre Arme, und sie musste sich eingestehen, dass sie nicht besser dran war als die anderen an diesem Ort.

Nach dem Essen stand Bewegung an der frischen Luft auf dem Plan. Die Patienten wurden in die Gärten geführt, die Frauen in den einen Teil, die Männer in den anderen. Wärter und Wärterinnen warfen ihnen Bälle zu, machten Turnübungen vor, die sie nachmachen sollten, oder leiteten sie an, in den Kräuter- und Blumenbeeten zu arbeiten. Luise fühlte sich wie in der Schule, beinahe so, als wäre sie zurück in ihrem Leben. Die Bewegung tat ihr gut, ebenso das Gefühl von Gras und Erde an ihren Händen, und sie sog tief die Frühlingsluft ein. Sie musste sogar mitlachen, als Ella beim Ballspielen ausglitt und in ihrem feinen Kleid kichernd im Gras kniete. Sie löste ihre Zöpfe, ließ den Wind durch ihr offenes Haar fahren, drehte sich im Kreis und fühlte sich endlich wieder frei! Gleich jenseits der Gärten begann ihr Wald, das Vieburger Gehölz, das sie so liebte, und der Blick auf seine Buchen mit ihrem frischen Grün tat ihr wohl.

Erst als sie wieder hineingeführt und die Türen hinter ihnen verriegelt wurden, stürzte die Wirklichkeit erneut auf sie ein. Sie war nicht frei. Sie war gefangener denn je, und das nur, weil sie hatte frei sein wollen! Sie hatte nicht auf sich achtgegeben und damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie am meisten ersehnte. Sie war eingesperrt. Die Wände schienen immer näher zu kommen und sie erdrücken zu wollen. Luise schrie auf und rannte zur Eingangstür, rüttelte daran. Keinen Augenblick konnte sie mehr in diesen Mauern ertragen, keine Sekunde länger bei diesen Menschen sein, die sie nicht kannte und nicht kennen wollte! Sie wollte nach draußen, den Wind und den Regen spüren, wollte lieber noch in der stickigen Wohnung ihrer Eltern sein als in dieser Irrenanstalt mit ihren verschlossenen Türen, all den Verrückten und den Ärzten, die sie zum Reden zwingen wollten! Das würde sie nicht, niemals! Sie riss ihre Verbände ab, kratzte sich die Wunden auf, schlug mit dem Kopf gegen die Tür, die verfluchte Tür, die sich nicht öffnen wollte! Luise ließ sich zu Boden sinken.

Sie spürte den Schmerz, doch er war nicht ihrer. Sie konnte nicht an diesem Ort sein, nicht gefangen sein! Das war nicht sie, der dies geschah. Sie war in Sicherheit, frei, ihr konnte nichts geschehen. Es war ein anderes Mädchen, und sie hatte es die ganze Zeit gewusst! Was hatten ihr diese Menschen einreden wollen? Dass ihr etwas zugestoßen war? Ihr war aber nichts zugestoßen!

Alles wurde still. Sie betrachtete die Eingangshalle von oben herab, all die Menschen, die sich um ein blutendes Mädchen scharten, sie angafften. Kein Wort drang mehr in ihren Geist. Schließlich sprachen sie nicht mit ihr, sondern mit dem struppigen Ding, das da auf dem Boden saß.

»Bleiben Sie bei sich, Luise.«

Eine einzige Stimme drang zu ihr durch. Der Sprecher konnte nicht sie meinen. Er sagte zwar ihren Namen, aber er sprach gewiss mit dem verstörten Mädchen, nicht mit ihr.

»Bleiben Sie bei sich. Ich sehe, dass Sie versuchen, Ihren Körper zu verlassen, doch das ist nicht gut für Sie. Bleiben Sie bei sich, Luise.«

Es war Julius Reuther. Warum ließ der Kerl sie nicht in Ruhe? Ihr war nichts geschehen, sie musste nicht mit ihm reden! Luise verschloss ihren Geist. Sie wollte die Stimme nicht hören.

»Kommen Sie zurück, Luise. Bleiben Sie bei sich.«

Brennende Wut erfasste sie, und sie stieß den vor ihr Hockenden so hart an den Schultern an, dass er auf den Hosenboden fiel. Das geschah ihm recht! Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Sie hörte wieder die Stimmen, spürte ihre brennenden Handgelenke. Es war ihr Schmerz, es waren ihre Erlebnisse. Ihre Erinnerungen. Tränen schossen ihr in die Augen. Verstand er denn nicht, dass es leichter war, nicht mehr sie selbst zu sein? Warum zwang er sie, bei sich zu bleiben?

Jetzt lächelte er sie sogar an. »Kommen Sie.« Er rappelte sich auf und reichte ihr eine Hand. »Ich verbinde Ihre Wunden, und dann reden wir.«

»Ich will nicht reden.« Ihre Stimme klang heiser vom Schreien, und ihr Hals tat weh.

»Das weiß ich.« Mehr sagte er nicht, sah sie nur an. Luise schnaubte, ließ sich aber auf die Füße ziehen und folgte ihm in einen kleinen Raum mit einer schmalen Liege. Er deutete darauf und machte sich an einem Schrank zu schaffen, aus dem er Tücher, Verbände und eine braune, verkorkte Flasche entnahm. Luise zögerte, aber da die Tür zu dem Zimmer offen stand und der junge Mann keine Anstalten machte, sie zu schließen, setzte sie sich. Er breitete seine Utensilien neben ihr aus und zog sich einen Stuhl heran. Vorsichtig nahm er Luises Hände und legte sie mit den Handflächen nach oben auf ihren Schenkeln ab. Dann öffnete er die Flasche und tränkte mit ihrem Inhalt einen Lappen.

»Das wird jetzt wehtun«, sagte er und strich sanft mit dem Tuch über Luises Wunden.

Es brannte wie Feuer. Sie sog die Luft ein, und die Tränen, die eben erst versiegt waren, schossen erneut in ihre Augen. Sie entzog ihm ihre Arme jedoch nicht.

»Was ist das?«, keuchte sie.

»Alkohol.« Er hielt ihr die Flasche unter die Nase. Ein scharfer Geruch entströmte dem Gefäß, wie ihn Luise vom Schnaps ihres Vaters kannte. »Er dient dazu, Erreger abzutöten, die möglicherweise in die Wunde eingedrungen sind und eine Entzündung auslösen könnten.«

»Davon habe ich noch nie gehört.«

Julius Reuther lächelte. »Das sind die neuesten Erkenntnisse der Medizin. Noch nicht alle Ärzte kennen sie, und manche weigern sich sogar, den Nutzen dieser Methode anzuerkennen. Ich dagegen bin überzeugt, dass Infektionen so verhindert werden können. Sie waren vorhin im Garten und haben schmutzige Hände, da können leicht Erreger eingedrungen sein.«

Geduldig ließ Luise die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Je länger sie dauerte, desto mehr Zeit blieb ihr, ehe Doktor Jessen mit ihr sprechen wollen würde. Dann aber waren ihre Arme verbunden und ihre Hände vom Schmutz des Gartens gesäubert, und Julius Reuther sah sie forschend an.

»Ich bin müde«, sagte sie schnell. »Darf ich in mein Zimmer gehen?«

»Ich denke nicht, dass Sie schon allein sein sollten, Fräulein Johannsen. Aber das muss Doktor Jessen entscheiden. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.«

»Es geht mir wieder gut. Warum nennen Sie mich nicht mehr beim Vornamen, so wie vorhin?«

»Geben Sie sich keine Mühe.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich merke, wenn Sie mich ablenken wollen.«

»Ich will Sie nicht ablenken.«

Er seufzte. »Nun gut. Vorhin habe ich Sie mit Vornamen angesprochen, weil ich nur so zu Ihnen durchdringen konnte. Sie hören nicht auf Ihren Nachnamen, wenn Sie in diesem ... Zustand sind.«

»Wie nennt man diesen Zustand?«, fragte Luise leise.

Er trat zur Tür. »Ich darf keine Diagnosen stellen. Bitte sprechen Sie mit Doktor Jessen darüber.«

Sie sprach nicht mit Doktor Jessen, kein einziges Wort. Am Abend lag sie im Bett und tastete nach ihren verbundenen Handgelenken. Bisher waren die Wunden oberflächlich, hatten zwar geblutet, doch sie hatte sich durch das Kratzen nicht ernsthaft verletzt. Sie wusste, es war ein tieferer Schnitt nötig, um die großen Adern zu verletzen und das Blut – und damit ihr Leben – aus sich herausfließen zu lassen. Sie hatte von einer Frau in der Nachbarschaft gehört, die sich auf diese Weise zu Tode gebracht hatte.

Luise lauschte auf die fernen Schreie. Kamen sie von jemandem, der ans Bett gefesselt war, um sich nicht zu verletzen, sich nicht umzubringen? Wer hatte das Recht, zu entscheiden, dass jemand weiterleben musste, der es nicht wollte?

Wollte sie weiterleben? Bei sich bleiben, mit all ihren Erinnerungen, mit dem Schmerz, so wie Julius Reuther es von ihr verlangte? War es nicht leichter, seinem Leben ein Ende zu setzen?

Nie zuvor hatte sie solche Gedanken gehabt, obwohl sie sich schon manches Mal gefühlt hatte, als gehöre sie nicht in die Welt, in die sie hineingeboren worden war. Stets hatte sie daran geglaubt, dass es für sie eine Zukunft gäbe, die schöner war als alles, was sie sich erträumen konnte. Nun kamen ihr diese Gedanken kindisch vor. Sie griff nach ihrem Anhänger, beschwor die Worte der Frau herauf, die ihn ihr geschenkt hatte.

Wenn du fest daran glaubst, wird es dir auch gelingen. Dann kann dir alles gelingen!

Glauben war gut und schön, doch ließ sich damit allein nicht die Welt verändern, auch wenn man sie in der Hand hielt oder um den Hals trug.

Hatte sie wirklich noch etwas vom Leben zu erwarten?

Kapitel 4

Psychiatrische Klinik Hornheim, Gaarden bei Kiel, Mai 1895

Wollen wir Freundinnen sein, Luise?« Ella drehte die Taubenfeder, die sie im Gras gefunden hatte, in den Händen.

Luise legte sich auf den Rücken und starrte in den blauen Himmel. »Ich hatte noch nie eine Freundin. Ich glaube, ich bin dafür nicht geeignet.«

»Sag ruhig Ja.« Trine lachte. »Freundschaften, die hier geschlossen werden, halten draußen sowieso nicht. Ich hab das oft genug erlebt. Ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich in einer Anstalt bin. Jeder, der rauskommt, muss erst mal wieder mit sich selbst zurechtkommen.«

»Ich glaub, ich komm nie wieder raus«, sagte Lotte mit erstickter Stimme.

»Ach, Blödsinn!«, rief Trine. »Wir alle kommen raus. Und dann wieder rein. Wer einmal hier war, kommt immer wieder.«

Luise setzte sich auf. »Ich nicht.«

Trine sprang auf die Füße und riss Lotte mit sich hoch. »Du auch, mein Kind!«, brüllte sie so laut durch den Garten, dass sich ihr alle Köpfe zuwandten. Sie schwang Lotte im Kreis wie eine willenlose Puppe und lachte schallend, bis zwei Wärterinnen die beiden zu fassen bekamen und fortbrachten. Luise ließ sich wieder auf den Rücken sinken.

»Sie wollen mir meine Kette wegnehmen, weißt du?«, wisperte Ella. »Sie sagen, sie sei nicht gut für mich. Aber das lasse ich nicht zu! Du darfst deine Kette ja auch tragen.«

Ellas Worte verstärkten das Gefühl der Hilflosigkeit, das Luise immer wieder erfasste, seit sie im Hornheim war. Hier war es nicht nur die Familie, die bestimmte, was gut für einen war. Hier waren es Fremde, die über sie urteilten, Entscheidungen für sie trafen. Sie hasste es!

Und doch hatte sie erkannt, dass sie mitspielen musste, um wieder nach Hause zu dürfen. Sie ließen sie ohnehin nicht in Ruhe. Die Momente im Garten, an der frischen Luft, in denen sie sich beinahe frei fühlte, waren zu kurz. Jeden Tag holte Doktor Jessen sie in sein Zimmer, drängte sie, auszusprechen, was ihr geschehen war. Sie hatte geschwiegen, tagelang. Sie waren keinen Schritt weitergekommen, keinen Schritt näher an ihre Entlassung. Davon zeugten die wenigen Notizen, die er bei diesen Begegnungen auf dem Blatt Papier hinterließ.

Wieder saß sie ihm gegenüber, die wachen Augen in dem faltigen Gesicht blickten sie mit einer seltsamen Mischung aus Güte und Strenge an.

»Ich habe mich mit einigen Berufskollegen beraten, Fräulein Johannsen.« Er seufzte. »Wir glauben zu wissen, was Ihnen zugestoßen ist.«

Luise wurde heiß und kalt. Sie wollte nicht, dass es jemand wusste!

»Anders ist der Zustand nicht zu erklären, in dem Sie zu uns kamen. Auch Ihr Schweigen spricht Bände. Sie schämen sich, nicht wahr?«

Schämte sie sich? Hatte sie Grund dazu? War sie denn schuld an dem, was geschehen war?

»Wissen Sie, Fräulein Johannsen, meine Kollegen raten mir zu gewissen Maßnahmen, um Ihr Schweigen zu brechen, da wir nur so eine Heilung erzielen können.«

»Maßnahmen?«, entfuhr es ihr. Das Wort verursachte ihr Übelkeit. War doch etwas dran an den Gerüchten über Irrenanstalten? Wurden Patienten tatsächlich stundenlang auf Stühle gefesselt, nächtelang unter Zwang wach gehalten, in Badewannen gesetzt, bis das Wasser kalt und ihre Haut aufgeweicht und schrumpelig war? Wurden sie gar mit Eiswasser übergossen oder auf Stühlen um die eigene Achse gedreht, bis sie sich erbrachen, aus der Nase bluteten oder ohnmächtig wurden?

Sie sah Doktor Jessen an, dass er von genau solchen Maßnahmen gesprochen hatte. Sie sprang vom Sessel auf und wich bis ans Fenster des Raumes zurück, starrte den Arzt jedoch weiterhin an. Er hob in einer Geste, die wohl beruhigend sein sollte, die Hände.

»Ich halte nicht viel von solchen Methoden. Erst recht nicht bei einem so jungen Mädchen wie Ihnen. Wir sollten mit Gesprächen weiterkommen. Nur – Sie müssen mit mir reden!«

Luise wandte ihm den Rücken zu und blickte aus dem Fenster in den Garten. Was sollte sie tun? Wenn sie weiterhin schwieg, würde er dann irgendwann auf seine Kollegen hören und Maßnahmen ergreifen?

»Ich werde Ihnen jetzt unsere Vermutungen schildern. Sie brauchen vorerst nur zu sagen, ob wir richtigliegen oder nicht.«

Luise wurde schwindlig. Er wollte tatsächlich aussprechen, was er dachte, was ihr passiert war? Würde er das Wort sagen, das sie sich nicht einmal zu denken erlaubte?

»Wir glauben, dass Ihnen jemand Gewalt angetan hat. Ein Mann.«

Luise erstarrte, durchforstete ihren Geist vergeblich nach einer Antwort, die das Gespräch beenden würde. Sie wollte nichts mehr hören! Sie musste ihm sagen, dass er unrecht hatte, doch sie brachte kein Wort heraus. Wenn sie aber schwieg, würde er das als Zustimmung werten!

Ihre rasenden Gedanken wurden von einer Bewegung im Garten abgelenkt. Da lief jemand. Sie erkannte ein hellblaues Seidenkleid. Ella. Zwei Wärter rannten hinter ihr her. Sie verschwanden aus Luises Blickfeld. Es dauerte einige Augenblicke, dann tauchten sie wieder auf. Nun drangen auch Geräusche zu Luise herein. Ella schrie. Die Wärter hielten sie fest und zerrten sie zurück auf das Gebäude zu.

Der Anblick riss Luise aus ihrer Starre. »Ich glaube, Sie werden gebraucht, Doktor Jessen«, sagte sie. Ella tat ihr leid, aber sie war erleichtert. Wenn der Arzt zu dem Mädchen musste, konnte er dieses unangenehme Gespräch nicht weiterführen. Da polterten auch schon Schritte näher, ein Wärter erschien in der offenen Tür.

»Herr Doktor, bitte kommen Sie.«

»Entschuldigen Sie mich, Fräulein Johannsen. Warten Sie hier. Es wird sich gleich jemand um Sie kümmern.«

»Aber ich kann in meinem Zimmer ...«

»Warten Sie bitte.« Die Worte drangen vom Flur zu ihr herein, die Schritte entfernten sich. »Ah, Herr Reuther, würden Sie ...«, hörte sie den Arzt noch sagen, der Rest blieb Gemurmel. Kurz darauf trat der Angesprochene zu ihr in den Raum. Er lächelte.

»Fräulein Johannsen, guten Tag. Setzen Sie sich doch wieder.« Er ließ sich in Doktor Jessens Sessel fallen und streckte die langen Beine von sich.

Luises Blick huschte aus dem Raum und über den Flur. Eine ältere Wärterin saß im gegenüberliegenden Raum. Beruhigt setzte sich Luise in den Sessel und beobachtete ihr Gegenüber.

Julius Reuther hatte das Holzbrett von der Armlehne genommen und überflog die Notizen auf dem Blatt Papier. Dann hob er den Blick.

»Ich lese hier, dass Doktor Jessen Sie heute mit Ihren Erlebnissen konfrontieren wollte. Ist er dazu gekommen, ehe er fortmusste?«

Hatte der Doktor womöglich seine Vermutungen über das, was ihr zugestoßen war, notiert? Sie wollte nicht, dass der junge Mann Bescheid wusste! Warum auch immer das so war – der Gedanke war ihr unerträglich, dass er erfuhr, was ihr an der Eiche geschehen war.

»Dürfen Sie das lesen?«, fragte sie herausfordernd. »Ich dachte, Sie seien nur Student und Aushilfe.«

Sein Blick flog zu der Wärterin gegenüber, und eine leichte Röte überzog seine Wangen. Rasch legte er das Holzbrett auf den Boden neben dem Sessel.

»Sie haben recht«, sagte er leise. »Entschuldigung. Ich möchte Ihnen nur helfen, so wie alle anderen hier.«

»Ich brauche keine Hilfe.«

Er lächelte, doch seine Miene war traurig. »Ich wünschte, Sie würden mir vertrauen.«

In diesem Augenblick geschah etwas mit Luise. Sie erkannte die Wahrheit. Niemand an diesem Ort hatte ein Interesse, sie zu quälen. Das wenige Geld ihrer Mutter würde nie und nimmer ausreichen, um all die Zeit zu bezahlen, die ihr hier gewidmet wurde. Dennoch warfen sie sie nicht hinaus. Obwohl sie nicht sprach. Obwohl sie abweisend blieb. Sie wollten ihr helfen. Sie brauchte Hilfe, sosehr sie sich auch dagegen wehrte. Die Erinnerungen würden sie sonst nie in Ruhe lassen.

Luise wies auf das Holzbrett. »Steht da drauf, was der Doktor vermutet?«

Julius Reuthers Augen weiteten sich. »Ja«, sagte er zögerlich.

»Vermuten Sie dasselbe?«

Er schluckte sichtbar, schwieg aber. Luise nahm allen Mut zusammen, den sie aufbringen konnte. Wenn er ohnehin die Wahrheit kannte, konnten sie ebenso gut darüber sprechen. Vielleicht würde es ihr ja wirklich helfen, wie der Doktor behauptete.

»Gibt es ein bestimmtes Wort dafür in Ihrer Arztsprache?«, fragte sie und hoffte, es wäre nicht dasselbe, das sie kannte.

»Vergewaltigung.« Seine Stimme war kaum hörbar und dröhnte doch in Luises Ohren.

Es war dasselbe Wort. Und es brachte unvermittelt die Bilder zurück, die sie so gern vergessen hätte. Blaue Augen, blauer Himmel. Blondes Haar, furchige Baumrinde, Hände, Atem, Stöße. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie schnappte nach Luft, konnte nicht atmen.

Wie durch Watte drang Reuthers Stimme zu ihr. »Ruhig, Luise. Atmen Sie. Ruhig!«

Schluchzen schüttelte sie, sie konnte es nicht kontrollieren. Er sprang auf, fiel vor ihrem Sessel auf die Knie, fasste sie nicht an, sprach nur weiter beruhigend auf sie ein. Luise aber konnte sich nicht beruhigen. Das eine Wort hatte alles zurückgebracht, was sie verdrängt hatte. Schmerzen, Erniedrigung. Gewalt. Vergewaltigt. Beschmutzt. Zerstört.

Die Wärterin von gegenüber stürzte in den Raum. »Was ist hier los? Fräulein Johannsen? Herr Reuther, was haben Sie getan?«

»Nichts!«, rief er, und es klang so verzweifelt, dass es Luise aus ihren grässlichen Erinnerungen riss und sie augenblicklich zurück ins Hornheim beförderte.

»Irgendwas müssen Sie getan haben, sie ist ja völlig aufgelöst!«

»Nein, ich habe nur ... Bitte! Ich wollte doch nicht ...«

»Raus hier, Herr Reuther! Ich werde dafür sorgen, dass Sie hier nicht mehr arbeiten.«

»Nein!«, rief Luise. »Er hat nichts getan. Er soll bleiben.«

Die Wärterin schnaubte und blieb mit verschränkten Armen neben dem Sessel stehen. Der junge Mann erhob sich und lächelte Luise dankbar zu. »Ich denke, Sie ruhen sich besser ein wenig aus. Ich spreche später mit Doktor Jessen.«

»Ich auch, verlassen Sie sich drauf«, sagte die Wärterin. »Kommen Sie, Fräulein Johannsen.«

Luise schluchzte noch einmal auf, rieb sich mit zitternder Hand übers Gesicht und atmete tief durch. Dann stand sie auf und folgte der Frau. Sie sah Reuther nicht noch einmal an. Er hatte das Wort gesagt und wusste durch ihre Reaktion nun mit Sicherheit, dass seine Vermutungen richtig waren. Sie schämte sich so sehr, dass es wehtat.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte die Wärterin, als sie an Luises Zimmertür ankamen.

»Wäre ich hier, wenn alles in Ordnung wäre?«, gab Luise zurück.

»Ich meine ...«

»Ich weiß, was Sie meinen. Hier im Hornheim ist alles in Ordnung. Nur in mir nicht.«

Beim Abendessen saß Ella nicht auf ihrem Platz. Auch Julius Reuther tauchte nicht auf. Trine stellte wüste Vermutungen an, warum sich beide nicht blicken ließen, aber Luise hörte nicht zu. Auch ohne Trines Theorien machte sie sich Sorgen genug. Hatte man ihn womöglich doch hinausgeworfen? Unterzog man Ella den Maßnahmen