Die Spionin des Kaufmanns - Jessica Weber - E-Book

Die Spionin des Kaufmanns E-Book

Jessica Weber

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Beschreibung

Hamburg 1624: Lisbeth lebt mit ihrer Familie im ärmlichen Gängeviertel. Gemeinsam mit ihrem Bruder Johann, der eine Anstellung bei dem reichen Händler van Heuvel ergattern konnte, kämpft sie jedoch unermüdlich für ihren Traum, ein Handelshaus in London aufzubauen und das Armenviertel endlich hinter sich zu lassen. Doch van Heuvel hat ganz andere Pläne für Lisbeth. Als ihr Bruder plötzlich verschwindet und die Familie kaum noch über die Runden kommt, bleibt ihr keine andere Wahl, als sich auf einen gefährlichen Handel mit ihm einzulassen. Wird Lisbeth es schaffen, dem Kaufmann zu entkommen und doch noch ihr Glück zu finden?

Der neue packende historische Roman von Jessica Weber erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die trotz aller Widerstände ihre Träume nicht aufgibt.

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

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Die Figuren der Handlung

Glossar

Weitere Titel der Autorin

Das Leuchten der Freiheit

Als Marie Caroline Bonnet:

Die Malerin von Paris

Über dieses Buch

Hamburg zur Zeit des 30-jährigen Krieges: Lisbeth lebt mit ihrer Familie im ärmlichen Gängeviertel. Gemeinsam mit ihrem Bruder Johann, der eine Anstellung bei dem reichen Händler van Heuvel ergattern konnte, kämpft sie jedoch unermüdlich für ihren Traum, ein Handelshaus in London aufzubauen und das Armenviertel endlich hinter sich zu lassen. Doch van Heuvel hat ganz andere Pläne für Lisbeth. Als ihr Bruder plötzlich verschwindet und die Familie kaum noch über die Runden kommt, bleibt ihr keine andere Wahl, als sich auf einen gefährlichen Handel mit ihm einzulassen. Wird Lisbeth es schaffen, dem Kaufmann zu entkommen und doch noch ihr Glück zu finden?

Über die Autorin

Die Kieler Autorin Jessica Weber ist gelernte Schifffahrtskauffrau und liebt es, das Meer vor der Tür zu haben. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als Lektorin, Korrektorin und Sekretärin. In ihrer Freizeit fertigt sie ausgefallene Motivtorten an, ist in der Mittelalterdarstellung aktiv und reist viel, gern auch zu Recherchezwecken. Außer historischen Romanen mit und ohne Romantik schreibt sie Kurzgeschichten und liebt Gemeinschaftsprojekte mit Autorenkolleginnen.

Jessica Weber

DIE SPIONIN DES KAUFMANNS

Historischer Roman

Originalausgabe

beHEARTBEAT der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Shutterstock / RossHelen; iStock / Getty Images Plus / IakovKalinin; Shutterstock / Anneka

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7517-2146-2

be-heartbeat.de

lesejury.de

1

Freie Reichsstadt Hamburg

Wohnung der Familie Bartels, März 1623

»Hier ist kein Hase.« Lisbeth beugte sich hinab und spähte unter den Tisch, an dem sie saß. Sie kam wieder hoch und zuckte mit den Schultern. »Wir haben gar keine Tiere hier oben. Unten im Hof sind Hühner, aber die gehören ...«

Der Amtsmeister der Schneiderzunft schnaubte, sah seinen Begleiter an und schwenkte die Laterne, die er in der Hand hielt. »Stell dich nicht dümmer, als du bist, Mädchen. Also noch einmal: Wo ist der Bönhase?«

Lisbeth starrte die beiden unliebsamen Besucher nur mit aufgerissenen Augen an, obwohl sie genau wusste, was mit dem Ausdruck Bönhase gemeint war und wen die Kerle suchten.

»Der Unzünftige«, erklärte der ältere Mann so langsam, als rede er mit einem Kleinkind. »Der Verbrecher, der an der Zunft vorbei hier auf dem Dachboden seine minderwertigen Kleider zusammenflickt.«

»Hier bin nur ich«, gab Lisbeth zurück. »Ich nähe für meine Familie.«

»Dann ist dies dein Nähkorb?« Er wies auf den Holzkasten, der die Ausmaße eines mittelgroßen Handkarrens hatte, und danach auf den Korb mit Tuchstücken. »Und das dort dein Stoffberg?«

Lisbeth nickte.

Erneutes Schnauben. »Schreib auf, Martin, was wir gefunden haben«, wies er den jungen Mann an, der mit ihm gekommen war. Der Angesprochene notierte etwas mit dem Griffel auf seiner Wachstafel. Dann wandte sich der Ältere wieder an Lisbeth. »Das soll ich dir glauben?«

»Meine Familie ist groß.« Lisbeth zählte langsam an den Fingern ab. »Da hätten wir zunächst die Mutter, dann meine älteren Schwestern Christa und Sybille, meinen Neffen Jakob ...«

»Schon gut!«, fuhr sie der Amtsmeister an. »Und warum sitzt du allein hier auf dem zugigen Dachboden, anstatt in der Wohnstube bei deiner lieben Familie zu nähen?«

»Hier ist es heller als da unten.« Noch einmal hob Lisbeth die Schultern. »Vom Hof kommt ja kaum Licht rein, schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Da schaffe ich es nicht mal, den Faden einzufädeln.« Sie deutete auf das mit verschieden langen und dicken Nadeln gespickte Nadelkissen vor ihr auf dem Tisch. »Außerdem brauch ich Ruhe zum Nähen. Unten schnattern alle um die Wette, besonders Anni und Irmi.« Sie nickte übertrieben bedeutungsschwer vor sich hin und musste sich trotz ihrer Besorgnis das Lachen verbeißen. »Das sind meine Nichten. Die sind noch klein, reden aber schon ohne Punkt und Komma.«

»Was weißt du von Punkt und Komma, du einfältiges Ding?« Der Mann lachte auf und strich sich über den pelzbesetzten Kragen seiner Schaube.

»Ich kann le...« Lisbeth verschluckte das Wort im letzten Augenblick und räusperte sich schnell. »... leider nicht lesen und schreiben, aber ich erkenne Punkt und Komma sehr wohl, wenn ich sie sehe.«

»Sei nicht so patzig«, sagte der Amtsmeister.

»Und Ihr müsst nicht so unhöflich sein.« Lisbeth erhob sich. Sie war zwar nicht groß genug, um dem Kerl Auge in Auge gegenüberzustehen, aber dass sie saß und er auf sie herabblickte, ging nicht an. Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Das hier ist meine Wohnung, und ich habe nichts Unrechtes getan.«

»Das wird sich noch zeigen.« Der Mann begann, auf und ab zu gehen und in alle Ecken der Dachkammer zu spähen, sogar in jedes einzelne Fach des hohen Regals an der Wand neben der Bodenklappe. Er schob die Körbe, die angeschlagenen Geschirrteile und die abgetragenen Kleidungsstücke, die den Kindern zu klein geworden waren, so achtlos hin und her, als wären es Lumpen und Unrat. Lisbeth ballte die Fäuste.

Während sein jüngerer Begleiter stumm dastand und auf seiner Unterlippe herumkaute, setzte der Mann seinen Marsch fort. Die Dielen knarrten unter seinen schweren Schritten. Er trat zu dem Strohsack, auf dem die wollene Decke unordentlich zusammengeknüllt lag.

»Und hier schläfst wohl auch du.« Er schob das Lager mit dem Fuß ein Stück zur Seite.

Beinahe hätte ihr Ärger die Furcht besiegt. Es fehlte nicht viel, und sie hätte den Kerl angeschrien, dass er ihr Bett nicht mit seinem Straßenschuh beschmutzen solle. Sie hielt sich mühsam zurück. »Allerdings«, presste sie hervor.

Der Amtsmeister sah sie an und hob einen Mundwinkel. »Ihr lasst hier keinen Bönhasen schlafen.«

»Nein!«

»Du schläfst hier oben in der Kälte.« Seine Stimme wurde mit jedem Satz schärfer.

»Im Winter nicht, aber inzwischen ist es warm genug.« Es war zwar nicht ganz die Wahrheit, denn sie fror nachts erbärmlich, doch Lisbeth dachte mit Grauen an die vergangenen Monate, in denen sie unten in der Wohnung dicht gedrängt mit den anderen hatte schlafen müssen. »Wir sind sieben Personen. Zählt unten die Schlafplätze nach, dann werdet Ihr feststellen, dass einer fehlt.«

Er antwortete nicht, sondern öffnete das Fenster der Dachluke und spähte hinaus, nach links den Hof entlang, dann geradeaus zum gegenüberliegenden Haus, dann nach rechts zur vorderen Häuserreihe und dem Durchgang in Richtung Binnenhafen. Schließlich wandte er sich wieder dem Raum zu. Das Fenster ließ er geöffnet, und ein kalter Windstoß fuhr von der Elbe her in den Dachboden.

Lisbeth fröstelte und zog ihren Umhang enger um sich. Ihr Blick huschte zu dem jüngeren Mann. Er stand noch immer unbewegt da mit seiner Wachstafel in der Hand, und sein Gesicht zeigte einen peinlich berührten Ausdruck. Wenigstens einer, der Anstand hatte! Er sah nett aus, schien nur wenige Jahre älter als sie selbst zu sein. Gewiss war er noch kein Meister, sondern Geselle.

Er bemerkte ihren Blick und errötete, was auch dem Zunftmeister nicht entging. Er sah den jungen Mann streng an, ging dann zu dem Türchen zur Abseite unterhalb der Dachschräge, riss es auf und hockte sich vor die Öffnung. Lisbeth wurde heiß und kalt. Der Mann zog den Kopf ein und rutschte auf den Knien ein Stück hinein, die Laterne in der Hand.

»Was haben wir denn da?«, erklang dumpf die höhnische Stimme zu ihnen heraus. »Einen Durchgang zum Nachbarhaus.« Er kam rückwärts aus der Tür gekrochen und erhob sich. »Dadurch ist er also verschwunden!«, rief er triumphierend.

»Da ist kein Durchgang.«

»Lüg nicht, Mädchen. Ich habe genau gesehen, dass die Hauswand durchgebrochen wurde.«

»Ich lüge nicht. Ja, man könnte zum Nebenhaus rüber, aber ...«

»Schweig! Martin, komm her.«

Der junge Mann setzte sich zögernd in Bewegung.

»Rein da, schnell. Vielleicht ist der Bönhase noch da drüben.«

»Wir könnten hinunter und durch den Nebeneing...«

»Damit der Kerl inzwischen irgendwo Unterschlupf findet? Mach schon!«

Der als Martin Angesprochene ließ sich auf die Knie nieder und krabbelte durch die niedrige Tür. Der andere Mann hockte sich wieder davor und sah ihm nach.

»Das würde ich nicht tun«, sagte Lisbeth. »Da ist alles ...«

Es krachte, gefolgt von einem überraschten Ausruf, dann erklangen ein weiteres Rumpeln und Sybilles spitzer Schrei aus der Wohnung unter ihnen.

»... morsch«, vollendete Lisbeth ihren Satz und musste sich erneut ein Lachen verbeißen. Zu schade, dass nicht der Ältere selbst in die Abseite gekrochen war. Die Decken waren so niedrig in ihrem Haus, dass man sich bei einem Sturz nicht ernstlich verletzte. Trotzdem drang ein klägliches »Aua« zu ihnen herauf, was sicherlich mehr dem Schrecken als dem Schmerz geschuldet war.

»Dadurch ist sicher niemand abgehauen«, rief der junge Mann von unten. »Können wir bitte gehen?«

Der Schneidermeister knurrte unterdrückt. »Ich komme runter.« Seine Stimme klang eine Spur kleinlauter als zuvor. Er kam auf die Füße und wandte sich an Lisbeth. »Ich behalte euch im Auge.« Dann ging er zur Bodenklappe und kletterte ächzend die schmale Stiege hinab.

»Einen schönen Tag noch, die Herren!«, rief sie ihm betont artig nach und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Sie sollte es nicht übertreiben. Es war knapp gewesen.

Sie schloss das Fenster, setzte sich wieder auf die Holzbank am Tisch, zog die Nadel mit dem eingefädelten Faden aus dem Nadelkissen und nahm ein Stoffstück zur Hand, falls die Männer doch noch einmal zurückkamen. Selbst wenn sie nicht so furchtbar ungeschickt bei der Handarbeit gewesen wäre, hätte sie in diesem Moment keinen ordentlichen Stich setzen können, denn ihre Hände waren eiskalt und zitterten heftig. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Jetzt, da die Anspannung langsam nachließ, war es auch mit ihrer Beherrschung vorbei, und es gelang ihr nur mit Mühe, die Tränen zurückzudrängen.

Es dauerte lange, bis Geräusche aus der Abseite an ihr Ohr drangen. Sie sprang auf und schloss die Bodenklappe. Diese war kein wirklicher Schutz – nicht vor den Amtmännern, die eine geschlossene Klappe erst recht misstrauisch machen würde –, hielt aber wenigstens die neugierigen Kinder davon ab, ihre Köpfe hereinzustrecken. Dann hockte sie sich vor die Abseitentür und spähte ins Halbdunkel. Schon wurde das dicke Brett über das Loch im Boden geschoben, und Richard kam ihr entgegengekrochen, ein breites Grinsen im Gesicht.

»Ein Hoch auf meine Retterin, die edle Königin Elisabeth vom Kehrwieder.«

Lisbeth musste lachen, richtete sich auf und half auch ihrem Freund auf die Beine. »Nenn mich nicht so, elendiges Langohr, sonst schick ich die nächsten Jäger gleich zu dir rüber.« Sie schlang die Arme um Richard und presste sich an ihn. »Das war höllisch knapp!«

»Wieso sollte ich dich nicht so nennen?« Er küsste sie auf die Stirn. Seine Lippen fühlten sich kühl an. »Ich dachte, dein Vater hat dich nach ihr benannt.«

»Nur weil durch den Tod der englischen Königin ihr Name gerade in aller Munde war«, murmelte sie, »und ihm beim dritten Mädchen nichts Besseres eingefallen ist. Die Namen der Großmütter waren schließlich schon vergeben.«

Sie fühlte sich, als sei ein Schatten auf sie gefallen. Das passierte immer, wenn sie an ihren Vater dachte. Das dritte Mädchen ... Wäre er geblieben, wenn sie ein Junge geworden wäre?

Sie riss sich aus den unsinnigen Gedanken. »Ich hab mit dem Adel nichts zu schaffen, weder mit dem englischen noch mit unserem hiesigen.« Sie löste sich von Richard und breitete die Arme aus. »Sieh dich um! Hätte Königin Elisabeth so gehaust?«

»Dabei solltest du nur feinste Gewänder tragen und den ganzen Tag bedient werden, meine Schöne.« Er nahm Lisbeths Gesicht in beide Hände. »Wenn ich nur nicht so ein armer Schlucker wäre.«

Auch Richards Finger waren eisig. Hoffentlich war der elend lange Winter bald vorbei!

»Die Schmeicheleien kannst du dir sparen«, gab sie zurück. »Ich besitze einen Spiegel und weiß sehr wohl, dass ich wie eins von Frau Köhlers mageren Hühnchen aussehe. Also lenk nicht ab. Verdammi, sie hätten dich beinahe erwischt. Das geht so nicht weiter!«

»Aber unsere Falle war doch wunderbar wirkungsvoll.« Er grinste. »Die angesägten Bodenbretter in der Abseite ...«

»Richard!«

Seine Miene wurde wieder traurig. »Was soll ich denn tun? Von irgendwas muss ich ja leben. Die Zunft nimmt nur Bürger auf, ich müsste raus nach Altona. Und da kann ich nicht hin.« Er schluckte sichtbar. »Ich kann einfach nicht.«

»Weiß ich doch«, sagte sie leise. Nur im neutralen, durch massive Befestigungsanlagen geschützten Hamburg fühlte er sich sicher. Er hatte recht. Es gab keine andere Möglichkeit, solange der Krieg nicht vorbei war.

So viel ihr Johann von der Welt erklärte, so vage blieb ihr Bruder, was diesen Krieg betraf – vermutlich, um sie nicht zu ängstigen. Es ging um Land und um Religion, das zumindest wusste sie. Die katholischen Länder kämpften gegen die protestantischen. Hamburg unterstützte keine der Parteien, und auch Lisbeth war die Religion herzlich egal. Sie verstand nicht, wie man sich deswegen bekriegen konnte.

»He, nun guck nicht so.« Sie streifte Richards Hände ab und küsste ihn auf die Wange. Dann schob sie ihren Strohsack zurück an seinen Platz, setzte sich darauf und wickelte sich in die wollene Decke. »Wir zwei kommen hier schon noch raus. Johann hat es bereits geschafft, und mit all dem, was er mir beigebracht hat, schaffe ich es auch noch. Und dann nehme ich dich mit!«

Sie tastete unter dem Strohsack nach der lockeren Bodendiele und holte ihr Buch hervor, das sie versteckt hatte, als die Bönhasenjäger gekommen waren. Nicht auszudenken, wenn sie es gefunden hätten! Dann hätten sie erst recht einen Mann hier oben vermutet. Niemand ahnte, dass sie lesen konnte, und das sollte auch so bleiben. Sie hatten es schwer genug in der Nachbarschaft, ohne Mann im Haus, mit den vielen vaterlosen Kindern und Sybilles Eigenheiten.

Das Buch war ihr größter Schatz, ein Werk des vor einigen Jahren verstorbenen englischen Dichters William Shakespeare. Dass sie bereits viele der Wörter verstehen konnte, hatte sie, ebenso wie das Buch selbst, ihrem Bruder zu verdanken.

Es hieß The Tragedy of King Richard the third, und Johann hatte es amüsant gefunden, ihr ebendieses Buch zu schenken, in dem ein Richard die Hauptrolle spielte, der nicht gerade ein feiner Mensch war. Lisbeth hatte sich jedoch nicht necken lassen. Und auch ihr Richard hatte sich nicht beleidigt gefühlt, sondern sich mit ihr über das Geschenk gefreut. Das Stück handelte von einem Herzog, der sich bewusst entschied, ein Bösewicht zu werden und sich durch den Mord an seinen beiden Brüdern – und weiteren Menschen, die ihm im Weg standen – die englische Krone zu ergaunern. Johann hatte ihr nicht verraten, wie das Buch in seinen Besitz gelangt war, und ebenso wenig, wer ihn die englische Sprache gelehrt hatte. Aber wenn sie eines wusste, dann, dass Johann alles schaffte, was er sich vornahm.

Und sie würde das auch, früher oder später.

Am besten früher, schließlich war sie schon bald zwanzig Jahre alt.

Richard ging zur Bodenklappe und öffnete sie einen Spalt. Er lauschte, dann zog er die Klappe ganz auf. »So ist es besser. Etwas Wärme von unten.«

»Ja, aber möglicherweise auch neugierige Nichten und Neffen.«

»Wir tun ja nichts Geheimes. Jedenfalls im Augenblick nicht.« Er grinste, setzte sich an den Tisch und nahm das Nähzeug auf. »Liest du mir weiter vor?«

Lisbeth lachte. »Du verstehst doch sowieso kein Wort.«

»Aber ich mag deine Stimme. Ich mag alles an dir.«

Sie mochte ihn auch, ihren stillen Richard, vom ersten Moment an, als sie ihn im vergangenen Jahr vor dem Obdachlosenasyl aufgegabelt hatte, halb verhungert und in abgerissener Kleidung, ärmer noch als sie selbst. Nachdem seine Heimatstadt in Böhmen verwüstet und seine Familie getötet worden war, war er mehr als ein Jahr durch die vom Krieg gebeutelten Lande gezogen, bis er Hamburg erreicht hatte. Noch einmal fünf Monate waren vergangen, bis Lisbeth ihm begegnet war. Damals hatte sie ihn mehr schlecht als recht verstanden mit seiner breiten, weichen Aussprache und den ihr unbekannten Wörtern, die er benutzte. Er hatte eine seltsame Art von Deutsch gesprochen, wie sie es manchmal von zugereisten Händlern aus dem Süden hörte, wenn sie sich vor der Börse herumtrieb und den Gesprächen über Geschäfte und Geld lauschte.

Inzwischen war kaum noch ein Unterschied zwischen ihm und einem gebürtigen Hamburger zu hören. Er hatte tatsächlich etwas von einem Hasen, war häufig scheu und furchtsam, sprach leise und hielt den Kopf gesenkt, wenn andere Menschen anwesend waren. Er hatte ihr leidgetan, und sie hatte ihn nebenan bei den Beckers untergebracht, wo er gegen einen kostenlosen Schlafplatz Arbeiten verrichtete, die das greise Ehepaar nicht mehr bewältigte. Schneider war er, ausgebildet von einem Meister in seiner Heimat, aber das half ihm nicht in einer Stadt, in der es nur wenige Handwerker in die Zünfte schafften. Sie ließ ihn auf ihrem Dachboden nähen, da ihrer ein Glasfenster besaß und der in seinem Haus nur eine winzige Luke. Sie waren sich bald nähergekommen, und wann immer es ihre Zeit zwischen Putzen, Kochen, Kinderhüten und dem Heranschaffen des Nötigsten, was die Familie zum Überleben brauchte, erlaubte, saß sie bei ihm. Sie sah ihm bei der Arbeit zu, las ihm vor oder erzählte ihm ihre Träume von der Zukunft.

Es war stets England, das darin vorkam. Ein Handelshaus in London, gemeinsam mit Johann, genügend Geld, um die Theater zu besuchen, die während der Regentschaft der Königin, nach der sie benannt war, gegründet worden waren. Bücher, so viele sie wollte, ein Lesezimmer in einem schönen Haus. Kleider wie die, die Richard nähte und an Kundinnen verkaufte, die nicht ausreichend Vermögen besaßen, sich bei einem zünftigen Schneider einzukleiden, dies aber nach außen hin verbergen wollten. Keine Reichtümer, nur genug zum Leben. Genug, um jemanden einzustellen, der für sie kochte und putzte. In einer Stadt, in der das Leben brodelte.

Eine solche Stadt war Hamburg zwar auch, aber nicht für sie. Kein Bürgerrecht, keine Rechte. Als Frau noch weniger.

Doch wer sagte, dass man sich mit Ungerechtigkeiten abfinden musste? Sie würde triumphieren – eines Tages. Bis es so weit war, schummelte sie sich durchs Leben, stibitzte hier und da und log auch mal einen Amtsmeister und seinen Gesellen an, dass sich die Balken bogen. Bei dem Gedanken an das dumme Gesicht, das der Kerl nach Martins Abgang gezogen hatte, musste sie grinsen.

»Träumst du schon wieder, mein Herz? Du wolltest mir vorlesen.« Richard zwinkerte ihr zu, sie lächelte ihn an und schlug das Buch auf.

»Akt eins, Szene eins. Eine Straße in London. Auftritt der Herzog von Gloucester.« Lisbeth räusperte sich. »Now is the winter of our discontent – Made glorious summer by this sun of York ...«

2

Bei Sankt Katharinen, Hamburg, April 1623

»Es gefällt mir nicht, dass du so viel Zeit mit dem Bönhasen verbringst.«

»Nenn ihn nicht so, Johann. Er heißt Richard.« Lisbeth bemühte sich, mit ihrem Bruder Schritt zu halten. Sie verlor kurz den Anschluss, da ihr ein Gürtler seinen schwer mit noch unbearbeiteten Lederriemen beladenen Karren in den Weg schob und sie zu allem Überfluss anschnauzte, als sie dagegenprallte. Dabei war es seine Schuld gewesen! Sie unterdrückte eine scharfe Erwiderung, murmelte sogar eine Entschuldigung und ließ den Mann ziehen. Zwar ging es ihr gegen den Strich, aber sie wollte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich und damit auf das lange, schmale Stück Leder lenken, das bei dem Zusammenstoß von seinem Eigentümer unbemerkt vom Wagen gerutscht war. Das würde einen schönen neuen Gürtel ergeben, und sie musste es nicht einmal stehlen. Es war ihr sozusagen in den Schoß gefallen, ohne dass sie etwas dafürkonnte. Sie grinste in sich hinein, hob den Riemen rasch auf, schlang ihn sich um die Mitte und verknotete ihn. Dann schloss sie im Laufschritt zu Johann auf, der offenbar nichts von dem Zwischenfall bemerkt hatte.

»Du kommst jedenfalls nicht aus dem Kehrwieder heraus, wenn du weiterhin auf dem Dachboden hockst und ihm bei seiner unzünftigen Tätigkeit zusiehst«, fuhr ihr Bruder fort, als sei ihr Gespräch nie unterbrochen worden. »Und weiß Gott, was ihr da oben sonst noch treibt.«

Lisbeth packte Johann am Arm und zwang ihn, seine Schritte zu verlangsamen. Mit der anderen Hand hob sie den Saum ihres Umhangs an. »Sieh mal, was für ein schönes Kleid er mir genäht hat.« Sie liebte das hübsche dunkelgrüne Gewand, das viel zu fein für eine Frau ihres Standes war. »Er ist begabt, und nur weil ihn die Zunft nicht aufnehmen will ...«

»Es gibt gute Gründe für diese Gesetze. Die Qualität des Handw...«

»Ach ja? So wie für das Gesetz, das uns gebürtigen Hamburgern das Bürgerrecht verwehrt und verhindert, dass du hier ein Geschäft eröffnest?«

Johann blieb stehen und musterte sie. Er runzelte die Stirn und deutete auf den Riemen, der bald zu ihrem neuen Gürtel werden würde. »Wo kommt der denn her?«

Lisbeth verdrehte die Augen. »Hab ich gefunden. Aber darum geht es nicht.« Sie ließ Johanns Arm los, öffnete den Knoten des Lederriemens und schlug ihren Umhang zurück. »Darum geht es.«

Es dauerte einen Augenblick, aber schließlich grinste Johann. »Das ist wirklich ein schönes Kleid. Was hat er dafür verlangt?«

»Nichts!«, rief Lisbeth. Wobei – das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Zwar hätte Richard nie etwas gefordert, das sie ihm nicht freiwillig gewährt hätte, dennoch hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, was er sich von ihr wünschte: einen Kuss. Bei dem es nicht geblieben war, aber das war ihre Entscheidung gewesen. Der Gedanke an die Nacht, die sie gemeinsam auf dem Dachboden verbracht hatten, ließ Lisbeth die Hitze in die Wangen schießen.

Johann runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf und nahm seinen schnellen Gang wieder auf. Lisbeth beeilte sich, ihm zu folgen.

»Du willst wohl enden wie Mutter, was?«, raunzte er sie an. »Sieben Schwangerschaften, davon vier lebende Kinder am Hals und inzwischen drei Enkel, deren Väter genauso verschwunden sind wie unserer. Jetzt, mit dreiundvierzig, ist sie eine Greisin. Willst du das?« Unvermittelt blieb er stehen und packte Lisbeths Oberarme. »Willst du das, Bess?«

So nannte er sie ständig. Bess, nach dem angeblichen Spitznamen der verstorbenen englischen Königin. Manchmal gefiel es ihr, aber in diesem Augenblick machte es sie wütend. Sie riss sich von ihm los und konnte sich im letzten Moment zügeln, ihm nicht den Lederriemen um die Ohren zu schlagen. Vorsichtshalber knotete sie ihn sich wieder um den Leib, ehe sie doch noch in Versuchung geraten konnte. »Ich heiße Lisbeth, und am Hals hat Mutter höchstens zwei von uns vieren«, schimpfte sie.

Augenblicklich überkam sie das schlechte Gewissen. Sybille konnte schließlich nichts dafür, dass sie so war, wie sie eben war. Und Christa ...

»Genau genommen heißt du Elisabeth«, sagte Johann in einem derart herablassenden Tonfall, dass sie schon wieder ärgerlich wurde.

»Dann eben Elisabeth, du Klookschieter. Und ich bin schon drei Jahre älter, als Mutter es war, als sie dich bekommen hat. Verdammi, was willst du von mir, Johann?«

Sein Gesichtsausdruck wurde weich. »Ich will nur, dass du glücklich wirst, kleine Schwester. Du weißt, du bist mir die Liebste von allen. Keine andere ist so klug wie du. Wirf das nicht fort für einen Mann.«

»Werd ich nicht«, murmelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will schließlich auch raus aus dem Elend.« Aber Richard würde sie mitnehmen. Nur musste Johann das ja nicht wissen.

»Gut, dann komm und lass uns etwas für deine Zukunft tun.«

Aufregung verdrängte den Ärger. »Was hast du vor, Johann?«

Bisher hatte er nichts als geheimnisvolle Andeutungen gemacht. Schon ihr Treffen war seltsam abgelaufen. Er hatte einen Boten zu ihr geschickt, einen schmutzigen, frechen kleinen Jungen, der ihr ausgerichtet hatte, sie solle ihr bestes Kleid anziehen und ihren Bruder an der Brooksbrücke treffen, aber drüben auf der anderen Seite des Hafens. Gemeinsam waren sie dann in östlicher Richtung gegangen, an Sankt Katharinen vorbei, und nun führte er sie zurück über das Fleet auf die Wandrahm-Insel. Das hätten sie einfacher haben können. Warum waren sie nicht den direkten Weg über den Schiffbauerbrook gegangen?

Lisbeth kam nicht oft hierher, denn sie fühlte sich fehl am Platz. Die erst in den letzten Jahren errichtete Bebauung zeigte den Wohlstand der Bewohner. Anders als die eng aneinandergedrängten Fachwerkhäuser auf dem Kehrwieder, dieser schmalen Insel mit ihren winzigen Wohnungen, die an arme Familien wie Lisbeths vermietet wurden, und auf dem Brook, wo die Schiffszimmerer und andere Handwerker lebten. Auf dem Wandrahm hatten zumeist ausländische Kaufleute ihre Wohn- und Arbeitsstätten errichtet – schöne, stabile Häuser mit Portalen und Fassaden, von denen viele mit Figuren, steinernen Schnörkeln oder Schnitzwerk an den Balken verziert waren. Hübsch, dabei aber nicht übermäßig prunkvoll. Prunk war in Hamburg untersagt. Katholiken standen im Ruf, verschwenderisch und arbeitsscheu zu sein, während sich anständige Lutheraner, wie es die Einwohner der Stadt nach dem Willen des Rates sein sollten, in Mäßigung zu üben hatten, was Kleidung, Ausstattung und Benehmen betraf. Lisbeth maßte sich nicht an, diese Aussagen für wahr oder unwahr zu halten, zumal sie keinen einzigen Katholiken persönlich kannte. Zum Protzen verfügte sie ohnehin nicht über genügend Mittel, als dass ihr die Gesetze Probleme verursacht hätten.

Betriebsamkeit erfüllte die Gassen. Mit dem Frühling hatte der Seehandel wieder Fahrt aufgenommen, und offenbar waren mit der Flut Schiffe eingetroffen, die Ladung für die Händler auf dem Wandrahm gebracht hatten. Entlang des Fleets standen Seilwinden, mit denen Arbeiter die Kisten, Ballen, Fässer und Säcke von den flachen Booten auf den Kai hoben. Von dort aus schleppten sie sie in die Speicher der Kaufmannshäuser. Neugier erfasste Lisbeth. Was sich wohl in den ganzen Warenverpackungen befand? Und welch lange Reise hatten die Güter hinter sich gebracht, ehe sie in Hamburg angekommen waren? Die ganze Welt handelte mittlerweile miteinander, immer häufiger trafen sogar Schiffe aus Indien und China ein, aus diesen unvorstellbar weit entfernten Gegenden. Wenn sie nur endlich ein Teil dieser aufregenden Gemeinschaft hätte sein dürfen!

Sie gingen weiter und mussten einem Pferdefuhrwerk ausweichen, dessen Wagen mit aufgetürmten Fässern so hoch beladen war, dass Lisbeth befürchtete, sie würden hinabrollen und sie erschlagen. Rasch überquerten sie die Fahrbahn, und kurz darauf blieb Johann vor einem hohen, massiven Steinhaus stehen. Auch Lisbeth hielt inne und betrachtete das Gebäude. Die vier Treppenstufen hinauf zur Eingangstür säumte ein hübsches, in sich gedrehtes Metallgeländer, am dunkelbraunen Türblatt hing ein goldener Klopfer mit einem Löwenkopf, und über der Tür war ein steinernes Schild angebracht, das wie ein Wappen aussah. Es zeigte ein Segelschiff mit zwei Masten oberhalb von drei Wellenlinien. Auf einem der Segel waren verschlungene Buchstaben zu sehen. Lisbeth blickte an der Fassade hinauf. Drei Stockwerke mit jeweils vier hohen, rechteckigen Sprossenfenstern, die von steinernen Rankenornamenten gekrönt waren, darüber ein zweigeschossiger Speicherboden.

Lisbeth sah ihren Bruder an. »Wer wohnt denn hier?«

Johann grinste. »Na, ich.«

»Du nimmst mich mit zu deinem Dienstherrn?«, fragte sie entgeistert. »Zu van Heuvel?«

Sie sah zurück zu dem Wappen und erkannte, dass die verschlungenen Buchstaben auf dem Segel HvH lauteten – Hendrik van Heuvel, einer der niederländischen Handelsherren, von denen es reichlich in der Stadt gab. Wenn man Johann Glauben schenkte, waren jedoch wenige darunter so erfolgreich wie sein Arbeitgeber. Ihr Bruder hatte sie noch nie zu dem Haus mitgenommen, in dem er bereits seit acht Monaten lebte und arbeitete. Sie hatte nicht einmal gewusst, wo es sich befand.

»Nicht zu ihm, sondern zu seiner Tochter.« Johann sah sie eindringlich an. »Verrate bloß nicht, wo du wohnst.« Er hatte die Stimme gesenkt. »Ich hab gesagt, wir stammen aus dem Kirchspiel Sankt Nikolai. Du kannst ruhig vage bleiben, wenn du gefragt wirst. Sag, du wohnst beim Hopfenmarkt.«

»Du hast gelogen, um die Arbeitsstelle zu bekommen?« Deshalb hatte er bisher so geheimnisvoll getan, was seine neue Bleibe anging.

Johann lachte leise auf. »Nur ein klein wenig«, flüsterte er, und seine grauen Augen funkelten. »Ich habe ein Abgangszeugnis der Höheren Schule gefälscht. Mein Freund Peter hat mir seins geliehen, und ich habe es kopiert. Mit einigen kleinen Änderungen.« Er zwinkerte ihr zu. »Das ist das Gute daran, ein Schreiber zu sein. Man begegnet allen möglichen Handschriften und lernt, sauber zu arbeiten – manchmal auch, indem man eine kopiert oder die eigene verändert. Das Lehrzeugnis eines Lübecker Händlers, bei dem ich zum Kaufmannsgehilfen ausgebildet wurde, habe ich auch vorlegen können.«

»Aber du warst doch noch nie in Lübeck!« Und er war nirgends in die Lehre gegangen, sondern hatte, seit er schreiben konnte, kleinere Aufträge ergattert, indem er sich am Hafen und bei der Börse herumgetrieben und Händlern seine Dienste angeboten hatte. Dass er das Handwerk dabei gelernt hatte, mochte angehen, aber ein Lehrzeugnis fälschen?

Johann grinste. »Peter aber. Zurzeit ist er dort und arbeitet bei seinem Onkel – ebendiesem Händler. Er hat mich mit allen nötigen Informationen, Briefbögen und Siegeln versorgt. Ich habe das Gefühl, mich in Lübecks Gassen inzwischen besser auszukennen als in den hiesigen. Eine Bescheinigung, dass ich nach meiner Lehrzeit bei einem weiteren Handelsherrn dort als Schreiber tätig war, habe ich auch angefertigt.« Er grinste. »Van Heuvel hat das genügt.«

»Und was hat Peter für diese Gefälligkeiten verlangt?«

Ein Schatten legte sich über das Gesicht ihres Bruders, der Eindruck verflog jedoch gleich wieder. »Peter hätte die Höhere Schule ohne meine Hilfe nicht erfolgreich abschließen können. Das Lernen fiel ihm nicht so leicht wie mir, und er hatte Angst vor den Lehrern und ihren Strafen. Er hat mir jahrelang alles weitergegeben, was im Unterricht behandelt wurde, und ich habe ihm erklärt, was er nicht verstanden hatte. Er wurde einer der besten unter seinen Kameraden.« Johann hob die Schultern. »Es war viel Arbeit und nur gerecht, dass ich ebenfalls ein lobendes Abgangszeugnis erhalten habe.«

»Und die anderen Gefälligkeiten?« Da er nun endlich einmal ehrlich war, wollte sie ihn nicht vom Haken lassen.

Johann seufzte. »Sagen wir es so: Peter hat kurz vor Antritt seiner Lehre in Lübeck einen Fehler gemacht, und ich habe die Schuld auf mich genommen.«

Eine Erinnerung durchzuckte Lisbeth. »War das damals, als du wochenlang verschwunden warst?«

»Ich bin glimpflicher davongekommen, als er es wäre«, sagte Johann ausweichend. »Sein Vater hätte ihn enterbt – oder gleich erwürgt. Wir haben ja zum Glück keinen Vater, der sich so etwas anmaßen würde. Ach, aber auch das weiß in diesem Haus natürlich niemand. Falls du darauf angesprochen wirst – er war Kapitän und ist auf See verschollen.«

Lisbeth konnte Johann nur anstarren.

»Nun schau nicht so entsetzt«, sagte er leichthin. »Ein wenig Flunkerei, die niemandem wehtut. Die Märchen, die du den Amtsmeistern wegen des Bönhasen auftischst ...«

»Er heißt Richard!«, fuhr Lisbeth auf. »Und wenn du nicht willst, dass ich sofort umkehre, merk dir das besser.«

»Dann tu nicht so, als wärest du nicht in der Lage, Lügen zu erzählen, wenn sie dir nützen«, zischte Johann.

»Es gibt solche und solche Lügen.« Lisbeth wollte nicht klein beigeben, obwohl ihre Empörung schwand. Johann hatte recht. Welche Möglichkeiten blieben jungen Leuten vom Kehrwieder schon, die dort nicht alt werden wollten?

Johann seufzte. »Stimmt. Aber ich verletze niemanden. Ich verstehe mein Handwerk, auch wenn ich es nicht von einem Dienstherrn gelernt habe. Und hätte ich die Höhere Schule besuchen dürfen und nicht nur die Armenschule, hätte ich auch ein gutes Abgangszeugnis bekommen.«

»Immerhin durftest du überhaupt eine Schule besuchen«, murmelte Lisbeth. Schon die Armenschule wäre besser gewesen als nichts. Aber als Mädchen war ihr sogar dies verwehrt geblieben.

Johann strich ihr über die Wange. »Nun komm. Sehen wir zu, dass du auch etwas lernst.«

»Was soll ich denn hier lernen?«

»Heda, ihr zwei«, ertönte ein Ruf von oben. Lisbeth spähte an der Hauswand hoch. Aus einem der Fenster im zweiten Stock reckte sich der Kopf einer jungen Frau mit blasser Haut und Sommersprossen. Einige rotblonde Strähnen ringelten sich unter dem blütenweißen Kopftuch hervor.

»Guten Tag, Margriet«, rief Johann, und seine Stimme klang so bewundernd, dass ihn Lisbeth irritiert ansah. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er hob die Hand zum Gruß. Lisbeth blickte zurück zu der jungen Frau. Auch sie lächelte und winkte.

»Na, das ist ja eine Wiedersehensfreude – dafür, dass du hier wohnst.« Lisbeth schnaubte leise. »Und warum sprichst du sie mit dem Vornamen an?« Ihr Bruder machte der Tochter des Hauses schöne Augen, wollte ihr aber vorschreiben, sich von Richard fernzuhalten?

»Ich sehe sie nur zu den Mahlzeiten«, verteidigte sich Johann. »Und mit den Vornamen und du sprechen sich die meisten hier an.«

»Kommt rauf!«, rief Margriet und verschwand im Inneren des Hauses.

Johann sprang die Stufen hoch, öffnete die Haustür und bedeutete Lisbeth, ihm zu folgen. Im Flur wies er auf eine Tür zur Rechten. »Dies ist Mijnheer van Heuvels Kontor«, sagte er mit gedämpfter Stimme, dann zeigte er linker Hand auf einen zweiten Eingang. »Und da arbeiten seine Kaufmannsgehilfen, wenn sie nicht gerade in seinen Räumen, in der Diele oder im Speicher tätig sind.« Sie gingen weiter, und der Flur mündete in besagte Diele, in die vermutlich Lisbeths gesamte Wohnung dreimal gepasst hätte. An der gegenüberliegenden Wand war neben einer geschlossenen Tür ein breites Tor ins Freie geöffnet. Packer und Handlanger eilten herein und hinaus, räumten Kisten und Säcke hierhin und dorthin, wogen und vermaßen, redeten, lachten und schimpften. Zwei junge Männer mit Wachstafeln standen inmitten des Gewimmels und machten Notizen.

»Die Waren werden vom Fleet aus in den Speicher gebracht, der das hintere Drittel des Hauses einnimmt«, erklärte Johann, und Stolz schwang in seiner Stimme mit, obwohl er nur ein winziger Teil des ganzen Unternehmens war. »Im vorderen Drittel stehen wir momentan, und die Mitte teilen sich der Hof und ein Gebäudeflügel, in dem sich die Küche, das Speisezimmer und die Räume von Köchin und Hausmädchen befinden.« Er zeigte erst auf die geschlossene Tür, dann auf das offene Tor. »Die Handelswaren werden nach und nach über den Hof in die Diele getragen und dokumentiert. Danach werden sie entweder zurück nach hinten gebracht, wenn sie kurzfristig verkauft werden ...« Er legte den Kopf in den Nacken und wies über sich. Lisbeths Blick folgte seinem Fingerzeig, und sie erkannte ein Loch in der hohen Decke, aus dem ein Seil mit einem Haken herabhing. Soeben wurde ein Sack hochgezogen und verschwand. »Oder sie werden durch die Windeluke auf die Lagerböden verbracht«, fuhr Johann fort.

Die Luke prangte inmitten einer mit Blüten und Ranken bunt bemalten Holzdecke, die hoch über ihnen lag, denn die Diele war zweigeschossig. Im ersten Stock befand sich eine umlaufende Galerie mit einem prächtig geschnitzten Geländer. Eine breite Treppe links von Lisbeth führte hinauf. Die Ausstattung der Diele vervollständigten ein mit blau-weißen Fliesen geschmückter Handstein mit einem Wasserkrug und an den Wänden eine große Uhr mit goldenem Gehäuse und verschiedene Gemälde, die Lisbeth in ihrer Aufregung aber nicht näher betrachtete.

Obwohl sie nicht leicht zu beeindrucken war, fühlte sie sich angesichts der Größe und Gestaltung des Kaufmannshauses mit einem Mal unbedeutend. »Was soll ich hier, Johann?«, wisperte sie.

»Du wirst Niederländisch lernen.«

»Niederländisch?«

»Es ist eine wichtige Handelssprache.«

»Das weiß ich.«

»Es reicht nicht, dass du Englisch sprichst. Wenn wir zusammen unser Handelshaus in London aufbauen wollen, brauchst du auch die niederländische Sprache.«

Stolz durchflutete Lisbeth. Ihr Bruder hielt sie tatsächlich für klug genug, seine Geschäftspartnerin zu werden. Was als Spaß begonnen hatte – der neugierigen kleinen Schwester die Buchstaben und Zahlen beizubringen, die er in der Armenschule gelernt hatte, und sich an ihrem Eifer zu erfreuen –, war mit den Jahren zu einer ernsthaften Bemühung geworden, sie so viel wie möglich zu lehren.

Sie waren einander so ähnlich, wie es eine junge Frau und ein sechs Jahre älterer Mann sein konnten, und das nicht nur, was ihre grauen Augen und hellbraunen Haare betraf, durch die sie sich vom strohblonden, blauäugigen Rest der Familie unterschieden. Auch ihr Ehrgeiz war gleich stark ausgeprägt. Und nun sprach Johann von ihrem Handelshaus. Nicht von seinem. Von ihrem gemeinsamen.

Da war es gewiss zu verschmerzen, dass er ihr hereinredete, was Richard anging. Auch wenn es ihr gehörig gegen den Strich ging.

Die breiten Stiegen knarrten leise unter ihren Schritten. Sie erreichten zuerst die Galerie, von der aus sie in die Diele hinuntersehen konnten. Im Vorbeigehen wies Johann sie auf weitere Räume hin – den Salon der Eheleute van Heuvel, seine eigenen Schreib- und Schlafzimmer und die des Buchhalters –, dann erklommen sie eine schmalere Treppe hinauf in den zweiten Stock. Margriet erwartete sie in einer offenen Zimmertür. Sie sah allerdings an Lisbeth vorbei zu Johann. Erst als sich dieser verabschiedet hatte und gegangen war, wandte sich die junge Frau ihr zu.

»Herzlich willkommen, Lisbeth. Oder auf Niederländisch: welkom.« Margriet ging voraus in das Zimmer und bedeutete Lisbeth, ihren Umhang abzulegen. »Das ist ein hübsches Kleid, das du da trägst«, sagte sie dann.

Ihr Tonfall war weich und hart zugleich, anders konnte Lisbeth es nicht beschreiben. Er enthielt kratzige Laute, die im Rachen entstanden, gleichzeitig schien ein Summen über den Tönen zu liegen, das die Schärfe wieder milderte. Ihre Aussprache war längst nicht so breit wie die Richards und ganz anders als die hamburgische, aber sie klang niedlich, und Margriet wirkte freundlich und aufgeschlossen. Lisbeth verstand, dass ihr Bruder die junge Frau mochte.

»Danke.« Lisbeth sah sich um. Sie war kein schüchterner Mensch, doch nun, da sie in Margriets geräumigem Zimmer stand, fühlte sie eine seltsame Scheu, noch stärker als die, die sie in der Diele verspürt hatte. Der dunkelbraune Holzfußboden war blank poliert, ein heller, flauschiger Wollteppich lag in der Mitte des Raumes. Es gab kein Bett, also musste die Tochter des Hauses ein weiteres Zimmer zur Verfügung haben. Was für ein unvorstellbarer Wohlstand! Und wie überflüssig. In diesen Räumen hätte eine siebenköpfige Familie wie die ihre bequem leben können. Es war nicht Neid, was Lisbeth empfand, aber sie hoffte, dass die van Heuvels verdienten, was sie besaßen, und es zu würdigen wussten.

An der rechten Wand des Raumes hing ein mannshoher, goldgerahmter Spiegel neben einem prächtigen Musikinstrument. Dessen geschwungene Beine waren kunstvoll geschnitzt, der hochgeklappte Deckel war mit einer Landschaftsszene bemalt, und auch der Rest des Instruments war mit Mustern dekoriert. Es juckte Lisbeth in den Fingern, eine der weißen oder kleineren schwarzen Tasten zu drücken und auf den Ton zu lauschen, den sie erzeugen würde.

»Setz dich.«

Nur mit Mühe riss sich Lisbeth von dem Anblick los und sah Margriet an. Diese deutete auf einen der beiden hochlehnigen Stühle, die an einem Tisch standen, auf dem sich ein Buch, zwei große Wachstafeln mit Griffeln, ein paar Bögen Papier sowie Tintenfass und Schreibfedern befanden.

»Mein Vater erlaubt mir, dir Sprachunterricht zu erteilen, weil ihn dein Bruder darum gebeten hat«, erklärte Margriet. »Er hält große Stücke auf Johann und weiß, dass ich mich oft langweile. Ich habe keine Geschwister, und meine Freundinnen wollen immer nur über uninteressante Dinge sprechen. Mit dir ist das hoffentlich anders.«

»Ich habe Geschwister, aber das bedeutet nicht, dass die Gespräche mit ihnen interessant wären«, entfuhr es Lisbeth. »Ich meine nicht Johann!«, versicherte sie eilig. »Aber der wohnt ja nicht mehr bei uns auf dem Ke...« Lisbeth tat, als hätte sie sich verschluckt, und täuschte einen Hustenanfall vor. Verdammi! Sie durfte sich nicht ständig verplappern. Sie räusperte sich noch einmal und wischte sich über die Augen. Warum verlangte Johann auch, dass sie log? Sie war zwar recht gut darin, dennoch war es gefährlich. »Sollen wir anfangen?«

Margriet musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Wunderst du dich nicht, dass ich lesen und schreiben kann?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich kann es ja schließlich auch.« Und sie hatte gewiss nicht dieselben Möglichkeiten wie die junge Holländerin.

»Ja, das fand ich auch erstaunlich«, sagte Margriet geradeheraus. »Natürlich ist es bei Johanns außergewöhnlicher Klugheit nicht abwegig, dass auch seine Schwester gescheit ist, dennoch hätte ich nicht gedacht ...« Sie errötete. »Nun, ihr seid nicht gerade wohlhabend, da ist es ja noch ungewöhnlicher als in meinem Fall, dass ein Mädchen etwas lernen darf.«

Nicht gerade wohlhabend ... Johann hatte sich zum Absolventen der Höheren Schule und zum Lehrling eines Handelsherrn hinaufgelogen. Ein solcher wäre ungefähr hundertmal vermögender, als er in Wahrheit war, und dennoch hielt ihn Margriet für arm. Was ihrer Bewunderung ganz offensichtlich keinen Abbruch tat, wenn man ihren entzückten Tonfall bedachte, mit dem sie seine außergewöhnliche Klugheit gerühmt hatte. Lisbeth musste an sich halten, nicht die Augen zu verdrehen. Hoffentlich klang sie nicht derart hingerissen, wenn sie von Richard sprach.

»Mein Vater allerdings hatte keine andere Wahl, als mich unterrichten zu lassen«, erzählte Margriet weiter. »Ich bin, wie gesagt, ein Einzelkind. Neffen, denen er das Geschäft vermachen könnte, hat er auch keine. Es wird darauf hinauslaufen, dass mein zukünftiger Ehemann das Handelshaus weiterführt. Da Vater grundsätzlich niemandem traut, will er, dass ich möglichst viel vom Geschäft verstehe.« Sie verdrehte die Augen. »Allerdings finde ich Rechnen und Buchhaltung langweilig. Lesen und Schreiben mag ich dagegen gern.«

Bald ließ sich Lisbeth von Margriets Geplapper verzaubern, schließlich erzählte die junge Frau ebenso begeistert von der niederländischen Sprache wie von allen anderen Dingen. Sie erklärte, dass es sich bei dem Buch, dessen Titel Twe-spraack vande Nederduitsche letterkunst Lisbeth nur mühsam entziffern konnte, um eine Grammatik-Fibel handelte, mit deren Hilfe sie Lisbeth die Sprache näherbringen wollte. Und dann schob sie endlich eine der Wachstafeln zu ihr herüber.

»Die erste Lektion – Begrüßung und Abschied.« Margriet nahm ihren Griffel auf und begann, Wörter in das Wachs zu ritzen. »Goedendag«, sagte und schrieb sie langsam und deutlich. »Goedemorgen. Goedenavond. Vaarwel.« Sie hielt Lisbeth die Tafel hin. »Jetzt du. Schreib es genau so ab, wie ich es geschrieben habe.«

Lisbeth nahm den Griffel, prägte sich das erste Wort ein und begann zu ritzen.

»Was ist mit deinen Fingern?«

Irritiert sah Lisbeth auf, dann betrachtete sie die Hand mit dem Griffel. Hielt sie ihn falsch?

Mit einem Mal erkannte sie, was die junge Frau meinte. Ihre Hände waren rau und rissig. Lisbeth wurde heiß, ihre Finger begannen zu zittern. Daran hatte Johann gewiss nicht gedacht. Sie senkte den Kopf, damit Margriet ihre glühenden Wangen nicht sah. »Unser Dienstmädchen ist krank«, murmelte sie. »Ich musste putzen.«

»Ich hoffe, es ist nichts Ansteckendes«, sagte Margriet. »Es wüten in diesen Tagen ja überall Seuchen.«

»Nein, sie ist ausgerutscht und hat sich das Handgelenk verletzt«, log Lisbeth. Hoffentlich konnte sie Johann rechtzeitig diese Geschichte erzählen, ehe ihn Margriet darauf ansprach und er nicht entsprechend reagierte. »Es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder arbeiten kann.«

»Ihr findet gewiss bald ein neues Mädchen.«

»Meine Mutter will kein anderes. Nun müssen meine Schwestern und ich vorerst die Arbeit erledigen.« Lisbeth hob die Schultern. »Mir macht es nichts aus.«

»Das ist nett von dir«, sagte Margriet. »Und auch von deiner Mutter, dass sie das unglückliche Ding nicht rauswirft. So, nun aber an die Arbeit!«

Goedemorgen, schrieb Lisbeth mit noch immer zitternden Fingern.

»Guten Morgen«, übersetzte Margriet. Sie zeigte auf einen der Buchstaben. »Sehr schön, aber schreib das N noch ein bisschen deutlicher.«

Mit jedem Wort fiel Lisbeth das Schreiben leichter. Als das Hausmädchen später ein Tablett mit gewürztem Wein und vom Osterfest übrig gebliebenem Gebäck brachte, hatte sie sich entspannt und schon die ersten Begriffe gelernt. Sie stellte fest, dass sich die deutsche und die niederländische Sprache ähnelten und sie viele Übersetzungen erriet, bevor Margriet sie ihr nannte. Dies war um einiges leichter, als Englisch zu lernen!

Wieder und wieder ritzte sie Wörter und Sätze in das Wachs ein, schrieb nach, was Margriet ihr vorgab, drehte den Griffel um und zog die Tafel mit seiner flachen Seite glatt, sodass sie sie wieder neu beschreiben konnte. Erst als am späten Nachmittag kaum noch Tageslicht durch die hohen Fenster fiel, hörten sie auf mit ihren Lektionen.

»Das hat Spaß gemacht!« Margriet klatschte in die Hände. »Kommst du bald wieder?«

»Gern«, sagte Lisbeth und meinte es auch. Nicht nur würde ihr der Unterricht ermöglichen, dem ärmlichen Hof auf dem Kehrwieder stundenweise zu entfliehen und sogar Dinge zu essen und zu trinken, die für sie unerschwinglich waren. Sie hätte auch endlich wieder das Gefühl, etwas für ihre – und Richards – Zukunft zu tun. Er würde so stolz auf sie sein!

3

Johann hatte noch zu arbeiten, deshalb konnte sich Lisbeth am Abend nicht von ihm verabschieden. Sie nahm wieder den Umweg, denn Margriet ging mit bis zur Straßenecke und winkte ihr hinterher, bis sie die Brücke über das Fleet überquert hatte.

Ein Umweg, nur um nicht zu verraten, dass sie arm waren. Die Familie verleugnen, lügen und betrügen, obwohl Johann klüger und nicht weniger fähig war als sein Freund Peter. Geschichten von verschollenen Vätern und kranken Hausmädchen erfinden, voller Angst, dass Johann und sie sich versehentlich gegenseitig verrieten.

Und das alles für den Traum von der Unabhängigkeit. Sie mussten schneller träumen, härter arbeiten, um aus Hamburg herauszukommen. An diesem Tag hatte sie einen Vorgeschmack darauf bekommen, was sich erfolgreiche Händler leisten konnten, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, es genossen zu haben, ohne den anderen mehr abzugeben als einige Stückchen Gebäck, die sie heimlich hatte mitgehen lassen.

Margriets Bild schob sich vor Lisbeths inneres Auge, sie hörte wieder die bewundernde Stimme der jungen Frau, sah Johanns strahlende Miene, als er sie angesehen hatte, und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Wenn die Schwärmerei bloß nicht ihre Pläne zerstörte!

Aber nein. Johann würde sie nicht verraten. Alle anderen Menschen vielleicht, aber nicht Lisbeth. Nicht seine Lieblingsschwester. Sie würden gemeinsam nach England gehen!

Und mit Richard.

Er war nicht bei der Arbeit auf dem Dachboden, als sie durch den schmalen Durchgang in der Häuserreihe, die zum Binnenhafen hin lag, den Hof betrat. Stattdessen entdeckte sie ihn vor seiner Haustür, der zweiten von vieren in dem einfachen Gebäude mit der Vielzahl an winzigen Wohnungen. Seine langen Beine ausgestreckt, eine Schüssel auf dem Schoß, saß er auf einem niedrigen Hocker und schabte Rüben. Sie war froh, dass er sich nicht mehr ständig versteckte. Immerhin konnte ihm niemand etwas anhaben, solange er nicht auf frischer Tat bei der Schwarzarbeit ertappt wurde.

Sie scheuchte eins der gackernden Hühner aus dem Weg, stieg vorsichtig mit gerafftem Rock über die Abwasserrinne und trat zu Richard. Er hob den Blick von seiner Arbeit und lächelte sie an. »Wie war dein Tag?«

»Aufregend«, sagte sie. »Lehrreich. In vielerlei Hinsicht.«

Richard runzelte die Stirn, sie zwinkerte ihm verstohlen zu und sah nach oben. Er verstand.

Jakob kam gelaufen, seine kleine Schwester Anni und seine Base Irmi im Schlepptau. »Richard macht schon wieder Frauenarbeit«, feixte er, und die Mädchen kicherten, obwohl Lisbeth sicher war, dass ihre kleinen Nichten keine Ahnung hatten, was lustig sein sollte. Es war auch rein gar nichts komisch an der frechen Bemerkung ihres Neffen.

»Halt die Backen, Bengel«, schalt Lisbeth. »Richard hilft den Beckers, wo er kann, und das ist gut so. Soll sich Frau Becker mit ihren schlimmen Händen mit dem Messer abmühen und sich vielleicht noch schneiden? Außerdem gibt es keine Männer- und keine Frauenarbeit. Merkt euch das, Irmi und Anni.« Sie beugte sich hinab und küsste erst das eine, dann das andere Mädchen auf die Wange. »Jeder Mensch kann alles.«

Sybille trat zu ihnen. »Aber das stimmt nicht, Lisbeth«, sagte sie und strich ihrer Tochter Irmi über das blonde Haar. Es war zu zwei langen, dicken Zöpfen geflochten und mit roten Schleifen gebunden, genau wie Sybilles eigenes. Sie wollte es nicht anders, wollte nicht einmal ein Tuch darüber tragen. Und was Sybille nicht wollte, tat sie nicht. Manchmal beneidete Lisbeth ihre Schwester. »Nicht jeder Mensch kann alles«, fuhr diese fort. »Männer können keine Kinder bekommen. Und Frauen können auch nicht allein Kinder machen, dazu muss der Mann seinen Schw...«

»Sybille!«, fuhr Lisbeth sie an, und die Schwester schrak zusammen und verstummte. An einem der Fenster im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses sog Frau Köhler scharf die Luft ein. »Darüber spricht man nicht auf offener Straße, schon gar nicht vor den Kindern!«

Sybille schob die Unterlippe vor, die sofort zu zittern begann. Ihre großen blauen Augen füllten sich mit Tränen.

Lisbeth seufzte. »Schon gut, Liebes. Entschuldige. Geh hinein und schau, ob du Christa beim Essenmachen helfen kannst. Und sieh zu, dass sie auch Jakob eine Aufgabe gibt. Es geht nicht an, dass sich der Herr zu fein für die Küchenarbeit ist! Hier, für euch, aber teilt gerecht.«

Lisbeth gab Sybille das Gebäck und sah zu, wie sie von den johlenden Kindern umringt durch die nächste Haustür in der Reihe verschwanden. Manchmal fühlte sie sich, als wäre sie die einzige Erwachsene in dieser Familie, seit Johann ausgezogen war. Die Mutter war vollkommen hilflos, Christa hatte noch keine Tätigkeit gefunden, bei der sie keine zwei linken Hände bewies – außer beim Bezirzen von Männern vielleicht –, und Sybille ... Lisbeth wusste, es war ungerecht, so schnell die Geduld mit ihr zu verlieren, denn sie konnte schließlich nichts dafür, dass in ihrem zweiundzwanzigjährigen Körper ein Kind steckte, das jünger war als Jakob.

Dass sie dennoch so gut über das Kinderkriegen Bescheid wusste, war der Notwendigkeit geschuldet. Sybille war wunderhübsch, und es gab genügend Männer, die sich nicht darum scherten oder es sogar reizvoll fanden, dass sie ein schlichtes Gemüt und keinerlei Schamgefühl besaß. So war Irmi entstanden und vor vier Jahren geboren worden. Danach hatte die Mutter eingesehen, dass sie Sybille nicht wie ein Kind behandeln durften.

Wie zu erwarten gewesen war, benahm sich diese ihrer Tochter gegenüber eher wie eine Freundin, sodass Irmis Erziehung am Rest der Familie hängen blieb. Und damit hauptsächlich an Lisbeth. Wie so vieles, zumal Christa kurz nach Sybille auch noch einmal ein Kind bekommen hatte. Eine weitere Generation von Hinterhofbewohnern, wie sie in Hamburgs ärmeren Gegenden immer zahlreicher wurden.

Die Momente mit Richard ließ sich Lisbeth trotz aller Arbeit nicht nehmen. Als sie einige Stunden später, nach der dünnen Abendsuppe, zusammen auf dem Dachboden saßen, sie sich an ihn schmiegte und von ihrem Tag mit Margriet erzählte, lösten sich all ihre Sorgen in Wohlgefallen auf. Sie lachten sogar gemeinsam über Sybilles Äußerungen und die Empörung der Nachbarin. Sollten die doch alle von ihnen denken, was sie wollten. Irgendwann würden sie diese Enge in den ärmlichen Wohnquartieren nicht mehr ertragen müssen.

In dieser Nacht lag Lisbeth lange wach, lauschte auf das Schnarchen, das durch die dünnen Wände von irgendwoher zu ihr heraufdrang, auf das Rascheln der Strohsäcke aus der Wohnung unten und das leise Greinen der kleinen Anni, die häufig schlecht träumte. Im Geiste ging sie noch einmal die Wörter durch, die sie gelernt hatte.

Welkom. Goedendag. Goedemorgen. Goedenavond. Vaarwel. Mijnheer. Mevrouw.

Sie rief sich die Schreibweise in Erinnerung, meinte, das nachgiebige Wachs unter ihrem Griffel zu spüren. Welch eine Wunderwelt der Buchstaben anderen Frauen verborgen blieb! Wie gut, dass sie Johann hatte. Sie würde so schnell und so viel lernen, wie sie konnte. Er sollte stolz auf sie sein.

Schon bald hätte Lisbeth den Weg zum Haus der van Heuvels mit geschlossenen Augen gefunden. Nach dem ersten Ärger machte es ihr nichts mehr aus, den Umweg zu nehmen. An schönen, sonnigen Tagen, die in Hamburg zwar selten waren, sich aber mit dem Beginn des Sommers häufiger zeigten, schlug sie sogar einen besonders großen Bogen. Zwar lag an warmen Tagen der allgegenwärtige schwere, faulig-bittere Geruch der vielen Brauereien noch drückender über der Stadt, aber wenigstens verdrängte er den Gestank des Unrats, der unübersehbar auf den Gewässern dümpelte. Manchmal erreichte sie sogar eine nach Blüten duftende Brise aus einem der Gärten hinter den Häusern.

Sie überquerte eine der Brücken über das Nikolaifleet, die so hoch waren, dass sogar kleinere Schiffe, die ihre Masten umlegen konnten, unter ihnen hindurchpassten. Auf dem Hopfenmarkt bewunderte sie die Stände mit den verschiedenen Früchten und Gemüsesorten. Sie umrundete die Kirche, ging am Rathaus vorbei, bestaunte das Gewimmel aus Schiffen und Booten auf dem Wasser des Alsterhafens und dasjenige aus Menschen, Pferdewagen, Handkarren und Gütern an seinem Ufer und auf dem Vorplatz der Börse. Gut betuchte Händler mit riesigen Hüten und farbenfrohen Schauben schickten ärmlicher gekleidete Boten hin und her, verhandelten miteinander, bahnten Geschäfte an oder tauschten Neuigkeiten aus. Lisbeth konnte sich nicht sattsehen an dem Treiben, von dem sie so gern ein Teil gewesen wäre. Dennoch gelang es ihr stets nach kurzer Zeit, sich loszureißen und auf die Wandrahm-Insel zu Margriet zu eilen. Sie musste viel lernen, wenn sie Johann eine Hilfe in ihrem zukünftigen Handelshaus sein wollte.

Mindestens zweimal in der Woche saß sie für mehrere Stunden im Zimmer der jungen Frau und ritzte Wörter in ihre Wachstafel oder ließ sich anhand von Twe-spraack vande Nederduitsche letterkunst die Grammatik der Sprache erklären. Margriet war eine geduldige Lehrerin, aber sie war auch leicht abzulenken und sprang von einem Thema zum nächsten, wenn sich Lisbeth lieber noch eine Vertiefung der vorherigen Lektion gewünscht hätte. Dennoch lernte sie schnell. Sie durfte sogar das Buch und eine Tafel mit nach Hause nehmen, und anstatt Richard aus der Tragödie von König Richard III. vorzulesen, las sie ihm niederländische Wörter und Sätze vor.

Margriet sprach sie nie wieder auf ihre wunden Hände an. Gleich am zweiten Tag hatte sie ihr einen Tiegel mit nach Honig duftender Salbe geschenkt. Lisbeth hatte sie nicht annehmen wollen, aber Margriet hatte darauf bestanden, und Lisbeths Haut war schon viel besser geworden. Auch die Lügen wegen des verunfallten Dienstmädchens waren nicht aufgedeckt worden, und es fiel Lisbeth täglich leichter, die Unwahrheit zu sagen. Das schlechte Gewissen verdrängte sie. Sie musste schließlich tun, was notwendig war.

Es sollte doch möglich sein, eine Anstellung zu finden, wenn sie mehrere Sprachen beherrschte – auch als Frau. Natürlich musste sie vorsichtig sein, bei wem sie vorsprach. Noch immer war der Glaube tief in der Menschheit verankert, dass kluge Frauen mit Argwohn zu betrachten seien. Der letzte Prozess gegen eine sogenannte Hexe auf Hamburger Boden war noch nicht lange her, und Lisbeth hatte die Vermutung, dass es schon ausreichte, ein Leben abseits des Gewöhnlichen zu führen, um als eine solche zu gelten. Dass Margriet lesen und schreiben konnte, mochte noch durchgehen. Sie war die Tochter eines reichen Ausländers, die in Hamburg ohnehin Sonderrechte genossen und über deren Gepflogenheiten man zu wenig wusste, um sie zu missbilligen. Sie selbst dagegen, ein armes Mädchen vom Kehrwieder, hatte gefälligst nicht lesen zu können. Schon gar nicht, wenn es darüber hinaus einen davongelaufenen Vater und zwei liederliche Schwestern besaß, von denen eine auch noch ... besonders war. Es gab Nachbarn, denen es zuzutrauen war, in eine Wachstafel eingeritzte, ihnen unbekannte Wörter für Zaubersprüche zu halten, die Lisbeth vor sich hin murmelte. Diese Leute würden nicht zögern, sie anzuzeigen, falls sie sich davon einen Vorteil versprachen. Also sah Lisbeth zu, dass niemand erfuhr, was sie in Wahrheit tagsüber anstellte, wenn sie stundenlang aus dem Haus ging. Johann steckte ihr ab und an einige Kreuzer zu, sodass sie vortäuschen konnte, einer Arbeit nachzugehen. Abgesehen von ihm kannte nur Richard die Wahrheit, und das sollte auch so bleiben.

Wenn man allerdings dicht gedrängt wohnte und zu allem Überfluss den neugierigsten Jungen der Welt als Neffen besaß, war das mit der Geheimhaltung nicht so leicht, wie Lisbeth feststellen musste.

Eines Morgens, als sie wieder einmal früh das Haus verlassen wollte, um vor dem Unterricht noch durch die Stadt zu streunen, rief die Mutter sie zu sich. Lisbeth seufzte und schob den Stoff des Vorhangs vor dem Lager beiseite. Das bleiche Gesicht der Mutter war schmerzverzerrt, die Körperhaltung verdreht. Vermutlich hatte sie sich wieder wund gelegen. Lisbeth hätte sie schütteln mögen. Ja, sie hatte Schmerzen, aber diese wurden vom Herumliegen gewiss auch nicht besser! Wenn sie nur einen Arzt holen könnte, der ihrer Mutter den Kopf waschen würde. Auf den würde sie vielleicht hören. Auf ihre Töchter hörte sie nicht.

»Wieso bist du schon wach, Mutter?« Lisbeth bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. »Schlaf noch eine Weile. Sybille kümmert sich nachher um dich.«

»Warum gehst du jeden Tag weg, Elisabeth?« Die Mutter hatte ihren üblichen jammernden Ton angeschlagen.

Lisbeth seufzte. »Ich gehe doch gar nicht jeden Tag.«

»Aber viel zu oft. Und immer in den schönen Kleidern, die dir der Bönhase von nebenan genäht hat.«

»Er heißt Richard.« Lisbeth ballte hinter dem Rücken die Fäuste. »Und ich muss arbeiten, das weißt du.«

»Ich weiß längst, dass du keiner Arbeit nachgehst.«

Lisbeth erstarrte. »Wie bitte?«

»Du lernst unnützes Zeug! Und gestern hast du Jakob erzählt, dass deine Lehrerin sehr glücklich mit deinen Fortschritten sei. Als ob dir irgendeine fremde Sprache beim Geldverdienen hilft!«

Lisbeth unterdrückte ein Schnauben. Sie hatte es nicht Jakob erzählt, sondern Richard. Der kleine Tunichtgut musste gelauscht haben, und das nicht zum ersten Mal! Und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seiner Großmutter brühwarm alles zu erzählen. Den Bengel würde sie sich vorknöpfen! Und sie musste vorsichtiger sein, wenn sie mit Richard zusammen war. Die Bodenklappe wurde von nun an geschlossen und mit irgendetwas beschwert, damit sie auch keinen winzigen Spalt aufgedrückt werden konnte. Ihr wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, was ihr Neffe sonst noch belauscht – oder, Gott behüte, beobachtet! – haben könnte.

»Jakob ist ein Plappermaul!«, versetzte sie. »Er erzählt viel, wenn der Tag lang ist.«

»Du kannst heute nicht gehen, die Wäsche muss gewaschen werden.« Die Mutter wies auf einen Berg von Kleidern, der sich in ihrer Nähe auftürmte. Mit derselben Bewegung der Hand, so als müsste sie die Anstrengung wenigstens ausnutzen, griff sie nach ihrer Spindel und der schmutzig grauen Wolle, die Jakob auf den Schafweiden des Grasbrooks sammelte. Wobei Lisbeth angesichts der Menge befürchtete, dass es der Junge nicht beim Aufheben des bereits abgefallenen Fells beließ, sondern dem einen oder anderen Schaf und seinem Pelz mit dem Messer zu Leibe rückte. Allzu genau wollte sie es lieber nicht wissen. Er war nicht ihr Sohn, und auch wenn sie sich für die ganze Familie verantwortlich fühlte, war sie doch mit dem unbändigen Jungen überfordert und konnte sich schließlich nicht um alles kümmern. Immerhin gab die Wolle ihrer Mutter etwas zu tun. Das Spinnen und an guten Tagen gelegentliches Stricken waren die einzigen Tätigkeiten, zu denen sie sich aufraffte, während sie ansonsten nur herumlag, jammerte und kommandierte. Ja, sie hatte in ihrem Leben reichlich gearbeitet und verdiente gewiss ihre Ruhe, dennoch machte es Lisbeth manchmal wütend. Sie waren in keiner Lage, in der auch nur eine von ihnen untätig sein durfte.

»Ich kann die Wäsche heute nicht waschen«, sagte sie, obwohl sie wusste, was auf ihre Weigerung folgen würde. »Das können Christa und Sybille tun.«

»Die machen es nicht ordentlich.«

»Dann werden sie es lernen müssen. Ich will versuchen, eine Anstellung zu finden, damit wir endlich mehr Geld zur Verfügung haben.«

Schnarrend lachte die Mutter. »Eine Anstellung?« Das Lachen ging in einen Hustenanfall über. »Eine bessere als die eines Dienstmädchens oder einer Wäscherin? Ich wünsche dir alles Gute dabei, aber du solltest dir nicht zu große Hoffnungen machen.«

Danke, Mutter, das weiß ich selbst, dachte Lisbeth. Sie nickte jedoch und verließ die stickige Wohnung. Die Freude an ihrem Rundgang war verflogen, aber es war zu früh, um geradewegs zu Margriet zu gehen. So klopfte sie bei den Beckers im Nebenhaus an. Richard öffnete, und am liebsten hätte sie sich gleich in seine Arme geworfen, doch in diesem Moment kam ein Mann die Treppe herauf, der wie der Abort roch, den er wohl soeben aufgesucht hatte. Richards Nachbar Andresen aus der gegenüberliegenden Wohnung. Übelkeit wallte in Lisbeth auf. Der Mann drängte sich an ihr vorbei und murmelte einen Gruß, den sie nur mit Mühe erwidern konnte. Sie war nicht allzu empfindlich, was Gerüche anging, aber der Kerl schien sich nie zu waschen. Die beengten Wohnverhältnisse und der Zustand des Aborts, der am äußersten Ende des Hofes lag und den sich all seine Bewohner teilten, machten Reinlichkeit zu einer Herausforderung, aber etwas mehr Ehrgeiz hätte Lisbeth manchen ihrer Nachbarn durchaus gewünscht.

Sie musste rasch aus dem Treppenhaus und an die Luft. Richard sah es ihr offenbar an, denn er schlüpfte in seine Schuhe und schloss die Tür hinter sich. Unten angekommen, atmete Lisbeth tief durch.

»Puh«, entfuhr es ihr.

Richard lachte. »Na, Königin Elisabeth, ist Euch das gemeine Volk zu anrüchig, nun, da Ihr in herrschaftlichen Häusern verkehrt?«

Seine Worte versetzten ihr einen unerwarteten Stich. Hatte sie sich verändert, seit sie zu Margriet ging?

»Das ist nicht lustig, Langohr.«

Er küsste sie auf die Wange, nahm ihre Hand und führte sie aus dem Hof. Am Binnenhafen blieben sie stehen und betrachteten eine Weile schweigend die Schiffe. Richards Worte ließen Lisbeth jedoch keine Ruhe, und sie fragte: »Wie hast du das gemeint?«

Richard sah auf sie herab. »Ich wollte dich nur necken.«

»Das glaube ich dir nicht.«