Der Traum von Amerika - Jessica Weber - E-Book

Der Traum von Amerika E-Book

Jessica Weber

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Beschreibung

Hinter dem Horizont liegt die Hoffnung

Hamburg, 1907: Leni hat einen Traum. Sie will tanzen, am liebsten am Theater in New York. Zusammen mit ihrem Bruder, ihrer kleinen Schwester und dem sympathischen Viktor, der immer schon Teil der kleinen Familie war, arbeitet sie hart, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Als sie gemeinsam endlich genug Geld gespart haben, kaufen sie sich vier Fahrkarten, um mit dem Schiff nach Amerika auszuwandern. Doch Leni ahnt nicht, welch schwere Prüfungen noch auf sie warten - denn nicht alle werden Amerika erreichen. Und Leni kämpft: darum, ihre Familie zusammenzuhalten, gegen die widerstreitenden Gefühle Viktor gegenüber und um ihr eigenes Glück. Wird sie ihr Ziel am Ende erreichen?

Ein mitreißender historischer Roman über die Hoffnungen und Gefahren der Auswanderung nach Amerika und eine junge Frau, die gegen alle Widerstände ihren eigenen Weg geht.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

1

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Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Hamburg, 1907: Leni hat einen Traum. Sie will tanzen, am liebsten am Theater in New York. Zusammen mit ihrem Bruder, ihrer kleinen Schwester und dem sympathischen Viktor, der immer schon Teil der kleinen Familie war, arbeitet sie hart, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Als sie gemeinsam endlich genug Geld gespart haben, kaufen sie sich vier Fahrkarten, um mit dem Schiff nach Amerika auszuwandern. Doch Leni ahnt nicht, welch schwere Prüfungen noch auf sie warten – denn nicht alle werden Amerika erreichen. Und Leni kämpft: darum, ihre Familie zusammenzuhalten, gegen die widerstreitenden Gefühle Viktor gegenüber und um ihr eigenes Glück. Wird sie ihr Ziel am Ende erreichen?

JESSICA WEBER

1

Hamburg, Spielbudenplatz, März 1907

Ich will aber die Menschen aus Wachs sehen!«

Leni seufzte, packte Rias Hand fester und zog die kleine Schwester an dem lang gestreckten Gebäude der Wilhelmshalle, in dem sich auch das Panoptikum befand, vorbei. Sie bereute bereits, dass sie sich wie so oft hatte überreden lassen, auf dem Heimweg von Rias Volksschule den Weg über den Spielbudenplatz zu nehmen. Die Schilder und Reklamen an den Gebäuden, die Theater, Varietés und Kaffeehäuser, das Lichtspielhaus, die Ahnung von Prunk hinter den hohen, glänzenden Fenstern – all dies weckte Begehrlichkeiten, und das nicht nur bei Achtjährigen, die auf Sensationen wie die wächsernen Körper von Kaisern und Kindsmörderinnen aus waren. Auch in Lenis Brust zwickte der Neid auf die fein gekleideten Herrschaften, die in die Etablissements des Vergnügungsviertels drängten. Dabei hatte dieser Teil Hamburgs nicht einmal einen besonders guten Ruf, machten doch Freudenhäuser einen großen Teil des Gewerbes in der Umgebung aus. Aber die Theater, besonders die mit Tanzdarbietungen … Wie gern hätte Leni wieder einmal eins besucht. Es war schon viel zu lange her, dass sie eine der kostenlosen Aufführungen von reisenden Ensembles gesehen und sich neue Tanzschritte abgeschaut hatte. Zwar hatte sie immer ein schlechtes Gewissen, nie etwas in den Hut zu werfen, der im Anschluss an die Vorführung herumgereicht wurde, aber dafür applaudierte sie jedes Mal besonders ausdauernd. Vielleicht kam ja bald mal wieder eines in die Stadt, und …

»Ach, komm schon, Leni!«, quengelte Ria und unterbrach damit ihre Gedanken. »Die Suse war letztes Wochenende mit ihren Eltern im Panoptikum, und sie sagt, man muss es gesehen haben.«

»Man muss gar nichts, nur weil andere es sagen, und wir haben kein Geld für den Eintritt«, erklärte Leni und kam sich vor wie eine Grammophonplatte, bei der die Nadel an immer derselben Stelle hakte und ein Stück zurücksprang. Wieder und wieder die alte Leier.

»Kein Geld für dies, kein Geld für das!« Auch Rias erboste Erwiderung war stets dieselbe. »Dabei kostet der Eintritt gerade mal fünfundzwanzig Pfennig.«

Leni verdrehte die Augen. »Fünfundzwanzig für dich, fünfzig für mich. Benno dreht uns die Hälse um, wenn wir ein Drittel seines Tageslohns für Unnützes ausgeben.« Das war eine Lüge, denn ihr Bruder war viel zu gutmütig dazu – was Ria auch genau wusste.

»Das ist nicht unnütz, sondern lehrreich«, gab Ria in altklugem Tonfall zurück. »Sie haben sogar eine Abteilung, in der Teile des menschlichen Körpers ausge…«

»Genug!«, unterbrach Leni die Schwester schroff und fühlte flammende Hitze in ihre Wangen schießen. Sie wusste, was im sogenannten anatomischen Museum ausgestellt wurde, und nicht umsonst durften Frauen dieses nur an einem Tag in der Woche und auch nur ohne männliche Begleitung besuchen. »Komm, lass uns nach Hause gehen. Wir müssen das Essen vorbereiten. Du weißt, wie hungrig Benno und Viktor immer nach der Arbeit sind.«

Auch diese fast täglich wiederholten Worte ließen Leni wieder an eine kaputte Grammophonplatte denken. Was sie zum nächsten Gedanken führte, dem an die ersehnte Apparatur, mit der man zu jeder Zeit Musik abspielen konnte. Daheim, ohne in ein Tanzcafé, ein Konzert oder eine Aufführung gehen zu müssen. Hätte Leni genug Geld gehabt, dann hätte sie es nicht für Wachsfiguren oder Bonbons ausgegeben. Nein, ein Grammophon hätte sie gekauft, diesen Apparat mit einem riesigen Trichter an einem viereckigen Kasten. Sie hatte einmal die Vorführung eines solchen Wundergeräts vor einem Geschäft mit angesehen. Man musste nur die Platte auflegen, dann ordentlich kurbeln, um diese in Bewegung zu setzen, den Tonarm mit der Nadel aufsetzen, und schon ertönte wie von Zauberhand Musik. Wie wunderbar es wäre, ihre winzige, schäbige Wohnung mit Klängen zu füllen! Nicht mit den alten, den Walzern und Polkas, sondern mit neuen Tönen aus Frankreich, England oder – Amerika! Wann immer Leni Zeit erübrigen und Ria in Bennos Obhut lassen konnte, drückte sie sich vor den Tanzlokalen und Singspielhäusern herum, aus denen die fröhlichen Klänge drangen. Unwillkürlich begann sie, die Melodie von Ta-ra-ra Boom-de-ay zu summen, eines englischen Music-Hall-Liedes.

»Schön, dass du gute Laune hast«, keifte Ria und zerrte ihre Hand aus Lenis. »Ich bin es ja nur, die von ihren Kameradinnen ausgelacht wird, weil sie nie etwas anderes tun darf als Putzen und Lernen. Dabei nützt all die Plackerei nicht mal was!« Ria ballte die kleinen Hände zu Fäusten. »Ich bin sowieso zu dumm für die Schule.«

Das Summen blieb Leni im Hals stecken. Sie räusperte sich und bemühte sich um einen sanften Tonfall. »Sag so etwas nicht, Ria. Du bist nicht dumm.«

»Bin ich wohl!« Tränen traten in die blauen Augen der kleinen Schwester. Sie wischte sie unwirsch mit dem Ärmel ihres schlichten Schulkleides ab und trat mit Wucht gegen einen lockeren Pflasterstein. »Fräulein Eggers hat es gesagt. Sie überlegen, ob sie mich in die Hilfsklasse für schwachsinnige Kinder stecken.«

»Wie bitte?« Lenis Herz stolperte. »Schwachsinnig – du? Das ist … Wie kommen die darauf?«

Ria schniefte. »Weil ich einfach nicht besser werde. Sosehr ich übe, das Lesen und Schreiben will mir nicht gelingen. Ich kann das M nicht vom W unterscheiden, mein P und mein D haben die Bäuche zur falschen Seite. Andere Mädchen erkennen ein einmal gelerntes Wort auf den ersten Blick, aber ich muss es jedes Mal Buchstabe für Buchstabe lesen.« Wieder rieb sich Ria über die Augen. »Die Schule ist blöd, die anderen sind blöd. Du bist blöd!« Sie schlug nach Leni, fuhr herum und rannte los.

»Ria, warte!« Leni setzte der Schwester nach und bekam sie gerade noch zu fassen, ehe sie in einer Menschentraube verschwinden konnte. »He, was soll das? Was habe ich dir getan?« Sie wollte Ria in ihre Arme ziehen, doch die Kleine wehrte sich, und so gab Leni es auf.

»Was du mir getan hast?« Ria schnaubte und stampfte mit dem Fuß auf. »Du schickst mich zur Schule und erlaubst mir nicht die kleinste Freude.« Sie deutete auf die Menschenmenge vor sich, die sich vor einem mindestens drei Meter hohen, fahnengeschmückten Kasten versammelt hatte. »Bestimmt darf ich mir auch mal wieder nicht das Kaspertheater angucken.«

Leni rang mit sich. Sie wollte nicht immer die Böse sein, die alles verbot. Und das Puppenspiel kostete immerhin kein Geld. Sie mussten allerdings wirklich nach Hause und kochen. Benno und Viktor arbeiteten hart auf der Baustelle und durften ein pünktliches Abendessen erwarten. Dann dachte sie an die kränkende Bemerkung der Lehrerin und beschloss, der Schwester die kleine Freude zu gönnen, damit sie sich ein wenig besser fühlte.

Sie seufzte und hob die Hände. »Also gut, sieh dir den Kasper an.«

»Ehrlich? Danke, Leni!« Ria schenkte ihr ein winziges Lächeln, in dem unleugbar Triumph mitschwang, drehte sich um und verschwand in der Menge.

»Warte! Du …« … kannst nicht einfach weglaufen, hatte Leni sagen wollen, doch es war zu spät. Die kleine Schwester hatte sich längst zwischen den Menschen durchgequetscht, und Leni würde es ihr gewiss nicht gleichtun und sich damit lächerlich machen. Oder die umstehenden Männer auf schmutzige Gedanken bringen, indem sie sich zu nah an sie drängte. Oft genug hatte sie es getan und nichts als hämische Bemerkungen oder rüde Annäherungsversuche geerntet.

Außerdem lief Ria ständig einfach weg. Dass es gefährlich war, schien ihr gleichgültig zu sein, und alle Predigten nützten nichts. Immerhin hatte Ria bisher jedes Mal zu ihr zurückgefunden. Also blieb Leni, wo sie war, und wartete das Ende des Stückes ab.

Sie lehnte sich an den dünnen Stamm des noch kahlen Baumes, neben dem sie stand, und hätte am liebsten auf ihn eingeschlagen. Sie verfluchte sich, vor Rias Tränen eingeknickt zu sein. Sie verabscheute das Kaspertheater und hätte dazu stehen sollen, dass sie die kleine Schwester diesen Darbietungen nicht aussetzen wollte. Die hölzernen Gesichter der Puppen mit ihren aufgemalten, starren, auch bei oftmals dargestellten Gräueltaten unverändert grinsenden Fratzen verursachten ihr stets eine Gänsehaut. Dazu die schaurigen Stimmen der unsichtbaren Puppenspieler und die Handlung, die häufig recht brutal war für ein Unterhaltungsprogramm, das doch neuerdings vorgab, kindgerecht zu sein.

Eben verprügelte der Kasper auf seiner hölzernen Bühne unter dem Johlen und Stampfen der Zuschauer eine fremdländisch aussehende Figur. Leni wandte den Blick ab und ließ ihn über die Gebäude des Spielbudenplatzes schweifen. Einmal mehr überkam sie die Sehnsucht, eines der Theater zu besuchen, das Eden zum Beispiel, dessen Schriftzug sie in wenigen Metern Entfernung an der Fassade lesen konnte. Ein echtes Schauspiel zu sehen, mit Menschen auf der Bühne, die ihre Gesichtszüge passend zur Situation veränderten. Erneut wandte sie sich zum Puppentheater um. Der grinsende Kasper schlug auf die inzwischen liegende Figur ein. Leni biss sich auf die Unterlippe und zwang sich zur Ruhe. Es musste ja gleich vorbei sein.

Als der winzige Vorhang fiel und sich die Menge der Zuschauer langsam auflöste, atmete sie auf. Sie stieß sich von dem Baumstamm ab und ging ein paar Schritte in Richtung Puppenbühne. Angestrengt hielt sie Ausschau nach Ria, konnte die Schwester jedoch nicht entdecken. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Die Lücken zwischen den Menschen wurden größer, sodass sie sich nun doch zu dem Holzkasten aufmachte. Ihre Schwester war nirgends zu sehen. Leni drehte sich um sich selbst, blickte hierhin, dorthin – ohne Erfolg.

»Ria?«, rief sie erst zögerlich, dann aus voller Kehle. »Ria!«

Wieder drehte sie sich, lief panisch ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung.

»Kann ich helfen, meine Dame?« Ein Mann zog den Hut vor ihr. Leni schüttelte nur den Kopf und beachtete ihn nicht weiter. Sie wollte an ihm vorbei, da er ihr im Blickfeld stand, doch er setzte nach. »Was ist denn passiert?«

Unwirsch richtete sie den Blick auf ihn. Er musste in Bennos Alter sein, war jedoch feiner gekleidet. Sicher einer der reichen Städter, die gern die anrüchigen Etablissements in diesem weniger wohlhabenden Stadtteil besuchten.

Nun wackelte er auch noch vielsagend mit den Augenbrauen. »Ich kann Ihnen vielleicht helfen.«

»Nein, danke!«, fuhr ihn Leni an und drängte sich an ihm vorbei. »Ria?«

Noch immer war sie nicht zu sehen. Was, wenn auch sie eine unliebsame Begegnung gehabt hatte? Es gab Männer, die nicht davor zurückschreckten … Sie verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken, dennoch musste sie gegen die Tränen ankämpfen. Warum hatte sie nicht besser auf das Mädchen achtgegeben? Sie schluchzte auf.

Plötzlich trat Ria hinter der hölzernen Puppenbühne hervor. Sie strahlte übers ganze Gesicht und hatte eine Puppe unter dem Arm und im Mund irgendeine Süßigkeit. »Was hast du denn, Leni?«, nuschelte sie, kaute so inbrünstig, dass es knackte und Leni um ihre Zähne fürchtete, dann schluckte sie. »Heulst du?«

Leni hätte sie am liebsten geschlagen und gleichzeitig abgeküsst. Sie zwang sich, nichts dergleichen zu tun. Sie zitterte ohnehin vor Erleichterung und Wut, und ihr wurden die Knie weich. Sie atmete tief und schluchzend ein, pustete die Luft dann langsam aus, um sich zu beruhigen.

»Wo warst du, und woher hast du das?«, brachte sie heiser hervor und wies auf die Puppe.

»Sie kam hinter die Bühne, als das Stück zu Ende war«, antwortete statt ihrer Schwester ein älterer Mann, der neben sie getreten war. »Wollte sehen, wer sich hinter den Figuren verbirgt. Nun, das bin wohl leider nur ich.« Er zog eine verblichene Schiebermütze vom fast kahlen Kopf und deutete eine Verbeugung an. »Und da Ariane nun mein Geheimnis gelüftet hat, musste ich sie ja mit etwas Süßem bestechen, damit sie niemandem verrät, was für ein alter Kauz hinter dem pfiffigen Kasper und der klugen Grete steckt.« Er sah Ria an und zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte zurück.

»Ria, es ist nicht richtig, so neugierig zu sein«, presste Leni hervor, immer noch um einen ruhigen Tonfall bemüht, was ihr jedoch schwerfiel. Was alles hätte passieren können! Ria hatte zu viel Vertrauen in fremde Menschen. »Entschuldige dich bei dem Herrn und gib die Puppe zurück.«

Ria schüttelte vehement den Kopf und umklammerte die Figur. Die bemalte Fratze linste unter ihrem Arm hervor und schien Leni böse anzugrinsen. Sie erschauderte, griff nach der Handpuppe, riss sie aus Rias Umarmung und hielt sie dem überrascht dreinblickenden Puppenspieler hin.

»Wir können dieses Geschenk nicht annehmen«, erklärte Leni mit fester Stimme. Ria kreischte auf und begann, sie wüst zu beschimpfen. Leni packte sie fest am Arm, ignorierte sie ansonsten jedoch.

»Lassen Sie Ihrer Schwester doch die Freude«, erwiderte der Mann freundlich, nahm die Puppe jedoch an. »Ich kann diesen Kasper ohnehin nicht mehr verwenden, sein Kopf hat einen Sprung.« Er deutete auf einen Riss, der sich quer über die rot bemalte Wange der Figur zog wie eine grässliche Narbe. Leni lief es eiskalt den Rücken herunter.

»Sie ist mir weggelaufen und verdient keine Belohnung«, sagte sie barsch. »Leben Sie wohl.« Sie zog die heulende Ria hinter sich her die Straße entlang. »Was hast du dir dabei gedacht?«, fuhr Leni sie an, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. »Du weißt genau, dass du mir nicht weglaufen sollst. Und schon gar nicht darfst du Geschenke von Fremden annehmen! Du kennst deren Absichten ni…«

Ein Ruck an ihrem Arm brachte sie beinahe zu Fall. Ria hatte sich auf den Boden geworfen wie ein Kleinkind und funkelte Leni von unten her an.

»Ich muss ja Dinge von Fremden nehmen, um mal etwas Freude zu haben. Du erlaubst mir nie irgendwas. Immer nur sparen, sparen, sparen. Ich hab es satt!«

Bleierne Müdigkeit überkam Leni. Ja, auch sie hatte es oft genug satt. Und sie verstand ihre Schwester. An jeder Straßenecke warteten Vergnügungen, die mit Geld zu kaufen waren, und es war ja nicht so, als hätten sie keines. Das wusste Ria ebenso gut wie sie. Wie sollte ein Kind Verständnis dafür aufbringen, dass die vielen Münzen, die sie an verschiedenen Stellen in der Wohnung verbargen, nicht zum Ausgeben bestimmt waren?

Sie musste mit Benno sprechen. Ria so kurz zu halten, brachte diese in Gefahr, wie die Situation mit dem Puppenspieler deutlich zeigte. Sie mussten sich überlegen, wie viel Geld sie erübrigen konnten, um Ria hin und wieder eine kleine Freude zu machen.

Keines, schoss es ihr durch den Kopf. Sie konnten nichts erübrigen, nicht eine Mark.

Eine Mark für Amerika.

Jeden Samstag dieselben Worte, Jahr für Jahr. Inzwischen war es ihr Bruder, der sie aussprach, doch die Stimme, die Leni dabei hörte, war noch immer die ihres Vaters.

Leni erinnerte sich kaum noch daran, wie er ausgesehen hatte, aber seine Stimme war ihr im Gedächtnis geblieben, hallte in ihr wider und gab ihr Kraft, wenn sie meinte, keine mehr aufbringen zu können. So wie in diesem Augenblick, da ihre wütende Schwester vor ihr auf dem Pflaster lag.

Sie seufzte, hockte sich zu Ria und strich ihr über das wirre blonde Haar. »Komm bitte, Liebes. Wenn Benno und Viktor vor uns zu Hause sind, werden sie sich Sorgen machen.«

»Ist mir gleich«, blaffte Ria und rührte sich selbst dann nicht, als ein Kutscher, der um sie herumfahren musste, sie von seinem Bock aus anpöbelte.

»Mach mir nichts vor«, sagte Leni, als das Gefährt vorbeigerattert war. »Du willst bestimmt nicht, dass sie sich um uns ängstigen. Du himmelst die zwei doch an.«

»Ja, aber dich kann ich nicht ausstehen!«

Leni ballte die Fäuste. Sie ist ein Kind, fuhr sie sich im Stillen an. Hab Geduld mit ihr.

Doch wenn Leni eines nicht mehr aufbringen konnte nach dem langen Tag, so war es Geduld. Ihre Schwester war mit ihren acht Jahren schon so aufsässig, dass es Leni vor der kommenden Zeit graute, bis Ria endlich erwachsen sein würde. Und die Ungerechtigkeit, dass das Kind alle Wut an ihr ausließ und nie an den Männern, die genauso – oder sogar in noch größerem Maße – die Entscheidungen über ihrer aller Leben trafen, erzürnte sie.

»Auf jetzt, Ariane!«, fuhr sie die Schwester an. »Sofort!«

»Du hast mir gar nichts zu befehlen, Helene«, rief Ria. »Du bist nicht meine Mutter!«

Leni kannte diese Worte zur Genüge, dennoch versetzten sie ihr jedes Mal einen Stich.

»Ich hab mich auch nicht darum gerissen, dich aufgehalst zu bekommen!«, gab sie patzig zurück, ehe sie sich bremsen konnte. Sofort überkam sie das wohlbekannte Schuldgefühl. Ihre Mutter hatte sie schließlich nicht absichtlich verlassen. Und es war nur natürlich, dass Ria eigensinnig war. Sie hatte seit ihrem ersten Lebensjahr keine Eltern mehr, und Leni hatte vermutlich viele Fehler in ihrer Erziehung gemacht. »Entschuldige«, sagte sie rasch und mit so viel Wärme in der Stimme, wie sie aufbringen konnte, ohne sie zu empfinden. Zu wissen, dass das Verhalten der Schwester verständlich war, half nicht gegen die Wut auf sie.

»Nein«, zischte Ria, gab Leni einen Schubs, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Hintern fiel, sprang auf und stapfte in Richtung Millerntor davon.

Leni rappelte sich auf, klopfte sich den Straßendreck vom Rock und folgte der Schwester, schloss aber nicht ganz zu ihr auf. Sie befürchtete, der Streit würde noch heftiger werden, wenn sie einander zu nahe kamen. Für den Moment reichte es ihr, Ria im Auge zu behalten, damit sie ihr nicht wieder abhandenkam.

2

Hamburg, Hof im Großen Bäckergang, März 1907

Und der letzte Beutel.« Klirrend ergossen sich die Münzen auf den wackligen, zerkratzten Tisch. Benno grinste bis über beide Ohren.

»So viel Geld!« Ria streckte ihre Hand nach dem glänzenden Haufen aus.

Leni schlug ihr spielerisch auf die Finger. »Hände weg, Ariane.« Sie ließ ihre Stimme streng klingen, was ihr angesichts der atemberaubenden Freude schwerfiel. Endlich! Endlich genug. Wenn sich Benno nicht verzählt hatte. Ihr Bruder fing gleich an, Türmchen zu bauen, um die Summe noch einmal zu kontrollieren.

»Das gehört uns allen, Helene«, gab Ria ebenso barsch zurück, nur schien sie im Gegensatz zu Leni nicht zu spaßen. »Ich verstehe sowieso nicht, wieso ihr allein entscheiden dürft, was wir damit machen.«

»Weil wir erwachsen sind und du nur Süßigkeiten und seidene Zopfbänder davon kaufen oder ins Panoptikum rennen würdest. Wir dagegen werden dafür sorgen, dass wir alle eine bessere Zukunft haben.«

»Eigentlich gehört der ganze Reichtum sowieso mir.« Benno feixte. »Ihr könnt euch freuen, wenn ich mit euch teile.«

Lenis Kehle schnürte sich augenblicklich zu. »Ach ja?«, stieß sie hervor. »Dir gehört es also? Weil du den ganzen Tag arbeiten gehst und ich nur ein paar Stunden putzen gehen kann, weil ich ansonsten für euch einkaufe, koche, eure dreckige Wäsche wasche und dieses feuchte, schäbige Loch von einer Behausung in Ordnung halte, so gut es geht?« Leni wusste, er meinte es nicht ernst, dennoch hatten sich die Worte ihres Bruders wie eine Ohrfeige angefühlt. »Weil ich nur unsere Schwester erziehe und …«

»Mich erzieht niemand!«, rief Ria. »Das dürfen nur Eltern, und die hab ich nicht.«

»Geschwister dürfen das auch«, gab Benno zurück. »Und das müssen sie sogar. Denkst du, sie wollen unerzogene Blagen in Amerika haben?«

»Ich will ja gar nicht nach Amerika«, maulte Ria. »Was soll ich da überhaupt machen?«

»Erst mal dasselbe wie hier«, sagte Benno. »Zur Schule gehen, spielen …«

Ria schnaubte. »Die Schule schaffe ich doch hier schon nicht. Und ich kann nicht mal die Sprache, die sie da sprechen.«

»Die wirst du lernen. Du hättest längst anfangen sollen, so wie Leni es auch tut, aber du willst ja nicht. Dabei hab ich extra das Lehrbuch für euch gekauft.«

Leni bezweifelte, dass Benno das Büchlein mit dem Titel Englisch ohne Lehrer – Hilfsbuch für Auswanderer tatsächlich gekauft hatte, denn Bücher waren teuer. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie er es ihnen beschafft hatte, aber sie liebte es, darin zu lesen und die unbekannten Wörter zu lernen. Auf Wiedersehen zum Beispiel hieß goodbye und wurde ›gut bei‹ ausgesprochen.

»Ich kann nicht lernen, weil ich die ganze Zeit helfen muss!« Rias kurzer Zeigefinger stach anklagend in Lenis Richtung. »Ist gar nicht wahr, dass du die Arbeit in der Wohnung allein machst.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich …«, versuchte Leni zu beschwichtigen, aber Ria unterbrach sie mit einem weiteren Schnauben, und sie gab es auf. Sie wünschte, ihr Bruder hätte sie häufiger unterstützt, aber Benno vergötterte Ria und wies sie so gut wie nie zurecht. Es blieb stets an Leni hängen, die Böse zu sein.

»So viel Geld«, wiederholte Ria. »Eine Tüte Bonbons kostet nur ein paar Pfennige.« Sie ergriff eine Münze. »Wenn ich schon nach Amerika muss …«

»Nein«, sagte Leni. »Leg das zurück. Sonst kommt Benno durcheinander, und wir müssen alles noch einmal zählen.«

»Ach komm, Leni«, sagte Benno erwartungsgemäß. »Eine Tüte Bonbons …«

»Nein!« Leni spürte Tränen in ihre Augen steigen. »Ich habe jahrelang dafür gesorgt, dass ihr zwei das Geld nicht sofort wieder ausgebt, damit werde ich jetzt nicht aufhören, wo wir so kurz vor dem Ziel stehen. Leg das zurück, Ariane!«

Ria warf die Münze mit Schwung auf den Tisch, von wo sie abprallte und durchs Zimmer flog. »Du bist gemein!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Bitte.« Die ruhige Stimme gehörte Viktor. Leni hatte nicht bemerkt, dass Bennos Freund ins Zimmer getreten war. »Streitet euch doch nicht.« Er bahnte sich seinen Weg an der an quer durchs Zimmer gespannten Leinen hängenden Wäsche vorbei, setzte sich neben Leni an den Tisch und legte einen Geldbeutel darauf ab. »Wir kaufen die Fahrkarten, und wenn dann noch etwas übrig ist, feiern wir mit Bonbons.«

Nun fiel auch noch er ihr in den Rücken! »Als ob es mit den Karten getan wäre!« Sie hasste sich dafür, dass ihre Stimme schwankte. Aber es war Waschtag gewesen, sie hatte Stunden über den Heißwasserbottichen geschwitzt und war so müde! Und sie hatte sich so gefreut, als Benno das Geld auf den Tisch geschüttet und gemeint hatte, es sei genug für ihre drei Fahrkarten. Der Traum ihrer Eltern, den sie nun ohne diese verwirklichen würden. Die ganzen Jahre des Sparens, die schäbige Hinterhofwohnung im Großen Bäckergang. Alles für ihre Zukunft fernab von Europa. In dem Land jenseits des Meeres. Amerika! Wie verheißungsvoll das klang. Und nun schien es, als wäre sie die Einzige, der es wichtig war, mit den bestmöglichen Voraussetzungen dort anzukommen. Sie diskutierten ernsthaft über Bonbons! Leni konnte es nicht fassen. »Die lassen uns nicht rein in Amerika, wenn wir nicht genügend Bargeld dabeihaben!«

»Helene«, sagte Viktor sanft. Es klang wie ›Chelene‹, und sie mochte es nicht, wenn er sie so nannte.

»Leni«, fauchte sie, sprang auf und trat ans Fenster.

»Leni. Ich habe etwas mehr Geld gespart, als ich benötigen werde. Eine Tüte Bonbons wird nicht schaden.«

»Ich will aber nicht, dass du uns von deinem Geld etwas kaufst«, sagte sie, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Unten im Hof stritten sich die Söhne der Petersens von gegenüber lautstark. Der eine Knabe hatte den anderen am Hemd gepackt und schüttelte ihn kräftig durch. Manchmal wünschte sich Leni, mit ihren Geschwistern ebenso verfahren zu können. Und mit Viktor gleich dazu.

»Du tust auch für mich so viel«, fuhr dieser fort. »Ich darf hier bei euch wohnen, du wäschst meine Kleidung …«

»Dafür bezahlst du genug.«

»Sicherlich nicht. Ihr seid meine Familie, das ist unbezahlbar.«

Gegen ihren Willen rührten seine Worte Leni. Der Freund war schon so lange bei ihnen, dass es ihr tatsächlich vorkam, als seien sie verwandt. Seine Familie war auf dem Gutshof in der Probstei, der ländlichen Gegend einige Kilometer außerhalb Kiels, zurückgeblieben, auf dem sie zusammen mit Lenis Eltern gearbeitet hatte, und Viktor – gerade einmal zehn Jahre alt – war mit ihnen zuerst nach Kiel und 1895 nach Hamburg gezogen. Im Laufe der Zeit hatte Lenis Vater nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch ihn mit dem Wunsch angesteckt, Europa zu verlassen.

Nur sollte der Vater diesen Traum nicht mehr verwirklichen können. Ein Arbeitsunfall auf der Baustelle hatte ihn vor bald acht Jahren unvermittelt aus dem Leben gerissen und damit alles verändert. Die Unfallversicherung zahlte ihnen als Hinterbliebenen zwar eine Rente, diese war aber jahrelang größtenteils von ihrem Vormund eingestrichen worden. Dieser – ihr einziger männlicher Verwandter, irgendein Cousin des Vaters – hatte ihnen monatlich einen Betrag zukommen lassen, der eben zum Leben ausreichte. Vor drei Jahren hatte endlich Benno die Vormundschaft für sie und Ria übernehmen dürfen, und die Abhängigkeit von dem Onkel, den Leni vielleicht zweimal in ihrem Leben gesehen hatte, war vorüber gewesen.

Kaum ein Jahr nach dem Tod des Vaters war auch die Mutter gestorben, während Benno und Viktor gerade das erste Jahr ihres aktiven Wehrdienstes ableisteten. Sie hatte sich nie von Rias Geburt erholt, denn sie war schon etwas älter, und die Schwangerschaft hatte sie ausgelaugt. Sie war häufig krank gewesen, und der Tod ihres Mannes hatte sie endgültig gebrochen. Es war ein Wunder, dass sie noch so lange durchgehalten hatte.

Benno hatte nur einen kurzen Urlaub gewährt bekommen, um die Mutter zu beerdigen und eine Frau zu finden, die bei Leni und Ria einzog. Diese allerdings hatte wenig getan, außer Leni herumzukommandieren und ihr Gehalt einzusacken, und Leni war heilfroh gewesen, als die Wehrpflicht zu Ende gewesen war und ihr Bruder und Viktor heimgekehrt waren. Die jungen Männer hatten in Hamburg rasch Arbeit gefunden. Die Speicherstadt, der riesige neue Lagerhauskomplex, dessen Bau ihren Vater das Leben gekostet hatte, wuchs und wuchs – noch immer. Fünf Jahre schon lebten sie zusammen in der winzigen Wohnung, als wären sie wirklich eine Familie, hatten Sorgen und Wünsche geteilt.

Leni riss sich aus ihren Gedanken und drehte sich zum Tisch um. »Danke, Viktor, aber ich möchte dir nichts schulden.«

»Das weiß ich.« Über das hübsche, glatt rasierte Gesicht des jungen Mannes huschte ein Ausdruck von Traurigkeit. »Aber es ist mein Geld, und wenn ich Ariane eine Freude machen kann, dann tue ich das auch.«

»Siehst du?«, trumpfte Ria auf. »Viktor ist netter zu mir als meine eigenen Geschwister!«

»Weil er jederzeit gehen kann, wenn du ihm lästig wirst«, sagte Leni. »Wir aber müssen dich weiter ertragen, und dabei hilft es nicht, wenn du dich wie eine verzogene Göre beträgst. Du wirst es überleben, keine Bonbons zu essen.«

»Während ihr euch gestritten habt, habe ich unser Geld nachgezählt.« Benno grinste breit und wies auf die Türmchen vor ihm. »Achthundertdreiunddreißig Mark. Es reicht für die Fahrkarten und die anderen Formalitäten, für die Einmietung in den Auswandererhallen und um die Einreisekontrolle zu bestehen, bei der wir Bargeld vorweisen müssen.«

Achthundert Mark. Eine unvorstellbare Summe. Mehr als der Jahresverdienst eines Arbeiters, wenn er keinen Pfennig ausgeben würde. Benno hatte von der kleinen Rente des Vaters und seinem Einkommen die Familie ernähren müssen, die Wohnung bezahlen. Manchmal hatte es kaum zum Überleben gereicht. Es hatte ganze Monate gegeben, in denen sie nichts hatten sparen können. Doch diese Zeiten waren nun vorbei. Sie hatten es geschafft!

Dennoch war Lenis Freude vergangen. Der Streit mit den Geschwistern und Viktor nagte an ihr. Sie war wahrlich nicht gern die Spielverderberin, doch wäre sie es nicht schon jahrelang gewesen, wären sie nie dorthin gekommen, wo sie jetzt waren. Und niemand schien dies zu würdigen.

»Können wir mit dem vielen Geld nicht auch hier in Hamburg gut leben?«, fragte Ria. »Eine schönere Wohnung bekommen und Kleider und Bonbons? Warum müssen wir nach Amerika gehen, wo wir wieder arm sein werden, weil wir alles Geld für das Schiff ausgeben?«

Benno zupfte spielerisch an einem der geflochtenen blonden Zöpfe seiner Schwester. »Wir müssen gehen, weil unsere Leni dort eine berühmte Tänzerin wird. Und auch du kannst in Amerika alles werden, was du willst.«

»Ich will ja gar nichts werden.« Ria schob die Unterlippe vor. »Und tanzen kann Leni auch hier.«

»Die Mutter und der Vater wollten, dass wir auswandern«, sagte Benno und brachte damit das Argument an, das Ria jedes Mal einlenken ließ. Leni sah hinüber zum Regal, auf dem in einem winzigen silbernen Bilderrahmen eine verblasste Fotografie ihrer Eltern stand. »Weil sie wussten, dass wir es dort besser haben würden.«

»Es ist ungerecht, dass sie nicht mehr mit uns kommen können«, flüsterte Ria, stand auf und trat an das Regal.

»Da hast du recht«, sagte Benno sanft.

Leni sagte nichts. Ja, es war ungerecht, dass die Eltern gestorben waren, ehe sie ihren Lebenstraum verwirklichen konnten. Niemanden jedoch kümmerten die anderen Ungerechtigkeiten. Zum Beispiel diejenige, dass Leni mit zwölf Jahren die Mutterrolle für ein Kleinkind und wenig später auch noch die Haushaltsführung für zwei junge Männer hatte übernehmen müssen. Dass sie nicht länger zur Schule hatte gehen können, geschweige denn Tanzunterricht nehmen, damit sich ihr Traum wirklich erfüllen konnte. Alles, was sie wusste und konnte, hatte sie sich selbst beigebracht. Würde es genügen? Manchmal zweifelte sie daran, dann wieder klammerte sie sich an den Traum. Es musste gelingen! Welche Aussicht hatte sie sonst? Sie konnte lesen, schreiben und etwas rechnen, und sie hatte begonnen, Englisch zu lernen. Das war alles und würde nicht ausreichen, um einen Beruf zu ergreifen, der über Hilfsarbeiten hinausging.

Und Frauen, die keinen Beruf hatten, heirateten gewöhnlich. Bei dem Gedanken überlief es Leni eiskalt. Heiraten, Kinder bekommen. Wieder von vorn anfangen. Windeln wechseln, Brei kochen, füttern, durchwachte Nächte, Kinderkrankheiten, Sorgen. Sie betrachtete Ria, die den Bilderrahmen vom Bord genommen hatte, ihn an ihre Brust presste und immer noch eine Flunsch zog. Sie kannte keine andere Mutter als Leni, und dennoch schien ihr das Bild der Toten wichtiger zu sein als die Wirklichkeit. Die innigen Momente zwischen ihnen waren selten geworden.

Leni seufzte und zwang sich zu einem Lächeln. »Also gut. Ich erlaube, dass Viktor dir Bonbons kauft.«

Benno klatschte in die Hände und sprang auf. »Fein, dann ist das ja geklärt. Nun lasst uns feiern!« Ehe Leni protestieren konnte, hakte er die Wäscheleinen ab und warf sie mitsamt den noch feuchten Kleidungsstücken auf sein schmales Bett, das in einer Ecke des Zimmers stand. Er nahm Ria den Bilderrahmen ab, stellte ihn weg und ergriff ihre Hände. »Darf ich zum Tanz bitten, meine Dame?« Er wirbelte Ria im Kreis, und sie brach in helles Lachen aus.

Leni fing Viktors Blick auf. Er war ebenfalls aufgestanden und hatte zögerlich eine Hand in ihre Richtung gestreckt. Sein Wunsch sprach überdeutlich aus seinen Augen, doch sie konnte sich nicht überwinden, zu ihm zu gehen.

Benno schob den Tisch mit so viel Schwung zur Seite, dass die Münztürme klirrend in sich zusammenfielen. Die Stühle wurden ebenfalls fortgeräumt, dann rief er: »Komm, Leni, tanz für uns! Viktor, gib den Takt vor!«

Der Freund setzte sich verkehrt herum auf einen der Stühle, begann zu summen und klopfte einen schnellen Rhythmus auf die Lehne. Leni kannte das Lied nicht, aber das war ihr gleichgültig. Sie konnte zu jeder Melodie tanzen, wenn sie sie einige Augenblicke lang gehört hatte. Sie stellte sich in die Mitte der winzigen freien Fläche, verbeugte sich spielerisch und spürte, wie ein Lächeln ihre Mundwinkel hob. Diese Wirkung hatte Musik stets auf sie. Sie streckte die Arme zur Seite, dann in die Höhe, drehte dabei die Handgelenke in der beinahe beschwörenden Bewegung, die sie bei den dunkelhaarigen Frauen der reisenden Tanzgruppen gesehen hatte. Sie wiegte die Hüfte, drehte sich auf ihren bestrumpften Zehenspitzen um sich selbst, schneller und schneller, streckte abwechselnd die Beine, sprang ab und landete wieder. Sie schloss die Augen und ließ sich von dem Rhythmus mitreißen. Rias Lachen klang in ihren Ohren, Benno begann, die Melodie mit lautem »Lalala« mitzuträllern, und alle Sorgen fielen von Leni ab. Sie wirbelte herum, verlor sich völlig in ihrem Tanz aus abgeschauten und selbst ausgedachten Schritten, bis sie unsanft gegen die Wand prallte, die Augen aufriss und keuchend stehen blieb.

Ria klatschte und schien zur Abwechslung einmal nicht böse auf Leni zu sein, Benno grinste übers ganze Gesicht, und Viktor sah sie so bewundernd an, dass ihr noch heißer wurde.

»Großartig, Schwesterchen«, rief Benno. »Und es ist mehr als deutlich, dass du größere Bühnen brauchst, um dich auszuleben. Bald ist es so weit! Amerika, wir kommen!«

Als Leni am Abend auf ihrer Strohmatratze lag, malte sie sich aus, über die Bühnen New Yorks zu tanzen. Natürlich wusste sie nicht, ob dort überhaupt Stücke aufgeführt wurden, bei denen Tänzerinnen zum Einsatz kamen, die keine Ballettausbildung hatten. Aber das war ja das Schöne an Träumen – sie mussten nicht mit der Wirklichkeit mithalten. Nicht, solange es nicht an die Erfüllung ging. Nun, da sie genug Geld hatten, würden sie den nächsten Schritt unternehmen können. Die Aussicht brachte Lenis Herz zum Rasen und ließ sie in dieser Nacht noch lange nicht zur Ruhe kommen. Ihre Gedanken kreisten um Amerika. Ein Arbeitskollege des Vaters auf der Baustelle hatte regelmäßig Briefe von einem ausgewanderten Vetter erhalten, und noch heute konnte sich Leni an den schwärmerischen Wortlaut erinnern.

Es gibt hier so viel Land, das bestellt werden will. Städte, in denen Platz ist, sodass sie wachsen können, ohne dass man sich in ihnen drängen muss. Der Himmel ist weiter hier drüben …

Anders, als ihr Vater es geplant hatte – ein Stück Land, das er gemeinsam mit Benno bewirtschaften konnte, nicht als Leibeigene wie auf dem Gutshof in der Probstei, sondern allein für das Auskommen ihrer Familie –, wollte Leni gar nicht tiefer in dieses gelobte Land hinein, und der Himmel interessierte sie nicht. Das Ziel ihrer Träume war New York, diese riesige, bunte, laute Stadt, in deren Hafen die Überseedampfer ihre unzähligen Passagiere ausspuckten. Sie hatte schon so viel darüber gehört. Über die Musik, die dort gespielt wurde, die Theater, angeblich größer und schöner als die in Hamburg. Darüber, dass es dort niemanden kümmerte, woher eine Person stammte, wenn sie es nur schaffte, sich aus eigener Kraft etwas zu erarbeiten. Anders als in Europa, wo die Abstammung alles war. Anders als in Hamburg, wo nicht einmal jeder zehnte Einwohner das Bürgerrecht besaß und Frauen dieses vollständig verwehrt blieb.

Achthundertdreiunddreißig Mark für Amerika. Ein Vermögen. Waren ihrer aller Träume dies wert?

3

Hamburg, Hof im Großen Bäckergang, April 1907

Komm jetzt, Ria.« Leni zog an der Hand ihrer Schwester, die sich immer noch den Kopf nach dem Hof verdrehte und sich dagegen sträubte, weggezerrt zu werden.

»Ich hab mich noch nicht von Frau Petersen verabschiedet!« Ria schniefte. »Und von Rolf und Fritz.«

»Du hast dich dreimal verabschiedet. Jetzt müssen wir gehen. Außerdem hast du die Jungen doch gar nicht gemocht. Du hast dich unentwegt beschwert, dass sie dich geärgert haben.«

»Wohl mag ich die!« Ria versuchte, ihre Hand zu befreien. »Benno zieht auch an meinen Zöpfen und ärgert mich, trotzdem mag ich ihn. Übrigens viel lieber als dich!«

»Natürlich.« Leni verdrängte den Stich, den ihr Rias Worte versetzten. Sie war es schließlich gewohnt, die ungeliebte Schwester zu sein. Sie ließ nicht locker, ignorierte Rias Gegenwehr und sah Benno an, der neben ihr ging. »Hast du die Papiere?«

Ihr Bruder grinste und klopfte auf den kleinen Lederkoffer, den er in der Hand hielt. »Weißt du, wie oft du mich das schon gefragt hast? Mindestens so oft in den letzten zehn Minuten, wie sich Ria von den Petersens verabschiedet hat.«

»Ich weiß. Ich mache mir eben Sorgen.«

»Zu viele, wie immer. Unsere Pässe habe ich schon vor langer Zeit besorgt, und der Agent der Reederei hat alles Weitere für uns geregelt.«

»Na hoffentlich«, gab Leni zurück. »Er hat es sich ja teuer genug bezahlen lassen.«

Benno überhörte ihre Worte. »Sobald wir am Hauptbahnhof in den Zug gestiegen sind«, fuhr er fort, »passiert alles wie von selbst, bis wir in New York an Land gehen.«

»Schön wär’s«, murmelte Leni. »Jetzt lass die Zickereien und komm!«, fuhr sie Ria an, die sich immer noch wehrte und vor sich hin maulte.

Viktor blieb stehen und ließ die Griffe des Handkarrens los, der mit ihrem gemeinsamen Gepäck beladen war. Viel war es nicht für vier Personen, bloß zwei kleine Korbkoffer und einige Stoffsäcke. Den Rest ihrer spärlichen Habe hatten sie verkauft. Viktor schnappte sich Ria, die spitz loskreischte, hob sie hoch und setzte sie zuoberst auf das Gepäck. »Eure Kutsche ist bereit, Prinzessin«, sagte er und verbeugte sich. Ria kicherte. »Festhalten, es geht los!«

»Hü, Pferdchen!«, rief Ria und klammerte sich an den Koffer, auf dem sie saß. Leni sah ihre Schwester im Geiste schon aufs Straßenpflaster klatschen. Zum Glück waren die Sachen gut mit Gurten verschnürt. Trotzdem setzte sie zum Protest an.

»He«, unterbrach Benno sie sanft und strich ihr über die Wange. »Hör auf, dich zu sorgen.«

»Wie macht man das, wenn man seit fast acht Jahren nichts anderes tut?«

»Ich weiß, Liebes. Für dich war dies alles am schwersten. Du warst selbst noch ein Kind und musstest dennoch für eines sorgen, als wärest du seine Mutter.« Er seufzte, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie hinter Viktor und Ria her. »Wie oft habe ich darüber nachgedacht, mir eine Frau zu suchen, nur um dich zu entlasten. Aber du weißt ja …«

Ja, sie wusste, wovon er sprach. Und seit sie vor einigen Jahren erkannt hatte, dass sich ihr Bruder nichts aus Frauen machte, hatte sie aufgehört, ihm übel zu nehmen, dass er nicht heiratete und seiner Frau die Mutterrolle für ihre Schwester übertrug.

Eine Zeit lang hatte sie angenommen, Benno sei in Viktor verliebt, da sie beide mit ihren vierundzwanzig Jahren noch ungebunden waren, doch dies hatte sich nicht bestätigt. Zumal der Freund eindeutig Interesse an Frauen hatte – was Leni zuweilen Sorgen machte, denn Viktor sah in ihr offenbar mehr als eine Schwester. Bisher hatte sie ihn jedoch erfolgreich auf Abstand gehalten.

Es hatte andere Männer in Bennos Leben gegeben, immer heimlich, denn ihnen drohte Strafverfolgung, und Leni wusste, ihr Bruder erhoffte sich von Amerika auch in dieser Richtung mehr Freiheit. Sie wünschte es ihm, auch wenn sie sich kaum vorstellen konnte, dass es in dem Land so viel anders sein würde als in Deutschland. Schließlich würden die Auswanderer natürlich auch ihre Anschauungen mit in die Neue Welt nehmen …

Sie passierten den gewaltigen, spitzen Turm von Sankt Nikolai und die stattlichen Gebäude von Börse und Rathaus, und Leni betrachtete alles noch ein letztes Mal ganz genau. Es war ein ungewöhnlich sonniger Tag, und das Wasser der Binnenalster glitzerte. Obwohl sie diesen Tag lange herbeigesehnt hatte, wurde ihr Herz schwer. An Kiel erinnerte sie sich kaum – sie waren nach der Fertigstellung des Kanals, an dem ihr Vater mitgebaut hatte, nach Hamburg gekommen, als sie nicht älter gewesen war als Ria heute –, Hamburg jedoch war ihre Heimat geworden. Sie meinte, jede Straße und jedes Gebäude zu kennen. Und nun würde sie die Stadt für immer verlassen. Sie bemerkte, dass auch Viktor sich immer wieder umsah. Benno hingegen schritt forsch voran. Ihn schien nichts an diesem Ort zu halten.

Keine halbe Stunde nach ihrem Aufbruch erreichten sie den Hauptbahnhof und wurden von dem hohen, dunklen Gebäude verschluckt. Sie entluden den Karren, den Viktor rasch an einen ankommenden Reisenden mit schwerem Gepäck verkaufte, und bestiegen den Zug, der sie zu den gerade erst erweiterten Auswandererhallen der Hapag-Reederei auf der Veddel bringen würde. Sie standen in dem Ruf, die Zeit bis zur Abfahrt für die Auswanderungswilligen ausgesprochen angenehm zu gestalten. Leni wusste nicht, was sie von den Gerüchten halten sollte, waren diese doch vor allem von den Agenten der Reederei gestreut worden, um Leute anzulocken, die den Aufenthalt teuer bezahlen würden. Denn billig waren Unterkunft und Verpflegung dort nicht – zwei Mark pro Tag für Erwachsene, die Hälfte für Kinder. Allerdings unerlässlich, um an Bord eines Überseedampfers gelassen zu werden.

Der Zug war überfüllt, und nur wenige der Menschen schienen aus Hamburg zu kommen wie sie selbst. Sie waren größtenteils gekleidet wie Landarbeiter, die meisten sahen aus, als hätten sie bereits eine tagelange Reise hinter sich, und vermutlich war das auch der Fall.

Sie blieben im Gang zwischen den Sitzreihen stehen. Ria hatte ihre Gegenwehr aufgegeben, sie schien verängstigt. Sie drängte sich an Leni, als hätte sie Angst, in der Menschenmenge von ihr getrennt zu werden. Leni wusste, die Innigkeit wäre schnell wieder vorbei, doch sie genoss den seltenen Moment und schlang die Arme um ihre Schwester.

»Alles ist gut, Kleines«, raunte sie ihr zu und küsste sie auf den blonden Schopf. Ria nickte schweigend und umklammerte ihr Bündel.

Ein Pfeifen ertönte, der Zug ruckelte los, und die unerwartete Bewegung riss Leni beinahe von den Füßen. Viktor packte sie im letzten Moment und zog sie an sich. Sie ließ es ebenso geschehen, wie sich Ria ihre Umarmung gefallen ließ. Als wäre dieser Moment des Abschieds von dem Ort, der so viele Jahre lang ihre Heimat gewesen war, ein Augenblick abseits der Wirklichkeit. Viktor war durch die Jahre der harten körperlichen Arbeit ebenso kräftig wie Benno, und Leni spürte seine Muskeln selbst durch die vielen Lagen Kleidung, die sie alle trugen, um möglichst wenig schleppen zu müssen.

Sobald der Zug ruhiger fuhr, machte sie sich allerdings von Viktor los, lächelte ihn aber an. Der gewohnt traurige Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, aber auch er bemühte sich um ein Lächeln.

Die Fahrt dauerte nicht lange, und mit der Masse der anderen Reisenden strömten sie aus dem Zug und auf das Gebäude zu, in dessen unmittelbarer Nähe er gehalten hatte.

»Was passiert jetzt?«, fragte Ria mit dünner Stimme.

»Wir warten, bis wir an der Reihe sind, eingelassen zu werden«, sagte Benno. »Und dann wird man uns schon erzählen, was wir zu tun haben.«

»Und wie lange müssen wir warten?«

»Ach Ria, das weiß ich doch nicht.« Auch Benno schien nun langsam nervös zu werden, denn seine Antwort war unwirsch wie selten gewesen. »Ich wandere auch zum ersten Mal aus, weißt du?«

Ria schniefte und schwieg. Viktor kramte in einem seiner Bündel und zog eine aus Zeitungspapier gefaltete Tüte hervor. »Ein Bonbon?«, fragte er und hielt sie Ria hin.

Die Kleine strahlte und griff hinein. »Danke, Viktor.« Sie schob sich das Bonbon in den Mund und verzog das Gesicht. »Zitrone«, sagte sie und lutschte entzückt. »Sauer. Und süß.«

»Wie das Leben.« Viktor grinste und hielt Leni die Tüte hin, doch sie schüttelte den Kopf. »Bitte«, sagte er. »Das wird dich beruhigen.«

»Ich bin ruhig«, gab sie zurück.

»Du lügst«, sagte Benno und griff seinerseits zu. »Danke, mein Freund. Du hast recht. Wir können alle etwas zur Beruhigung vertragen. Hmmm, Kirsche.«

Als sich auch Viktor eine der Süßigkeiten nahm und alle um Leni herum genüsslich lutschten, verfluchte sich Leni innerlich für ihre Sturheit. Immerhin gab Ria Ruhe. Und sie hatte sich artig bedankt. Das tat sie nie, wenn Leni ihr etwas gab, aber es war schließlich wichtiger, dass sie es bei anderen Leuten konnte. Das zeigte Leni, dass ihre Erziehung nicht völlig schiefgelaufen war.

Sie verlor jegliches Zeitgefühl, während sie warteten. Die Sonne verschwand hinter Wolken, und ein kalter Frühlingswind wehte von der Elbe her. Leni zog ihr wollenes Tuch enger um ihre Schultern. Stück für Stück näherten sie sich dem Eingang und wurden schließlich eingelassen. Das Gepäck mussten sie bis auf Bennos Köfferchen mit den Papieren und die Bündel mit einigen wenigen persönlichen Gegenständen gleich abgeben, damit es desinfiziert – wie auch immer diese Prozedur aussehen sollte – und bis zum Abreisetag aufbewahrt werden konnte. Sie leisteten sich den Luxus, das Gepäck bis zu ihrem Zielhafen befördern zu lassen, sodass sie sich bis zur Ankunft nicht mehr damit belasten mussten.

Dann hieß es weiter anstehen. Leni ließ ihren Blick schweifen. An einer Wand waren in riesigen Lettern Wörter aufgemalt, die wohl einen Leitspruch darstellen sollten:

Mein Feld ist die Welt.

Leni verstand nicht ganz, was es zu bedeuten hatte und wer es war, der so über sich selbst dachte. Nur dass es jemand sein musste, der nach Großem strebte.

»Ich muss mal«, quengelte Ria leise, und Leni musste zugeben, dass auch sie froh gewesen wäre über die Möglichkeit, den Abort aufzusuchen. Wo sich dieser wohl befand in dem gewaltigen Gebäudekomplex? Je mehr ihr bewusst wurde, dass sie sich so bald nicht würde erleichtern können, desto stärker wurde der Druck ihrer Blase. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie die anderen Auswanderungswilligen betrachtete. Auf deren Gesichtern unter Hüten, Kopftüchern oder wirrem, von Wind und unruhigem Schlaf zeugendem Haar spiegelten sich ihre eigenen Gefühle überdeutlich wider: Unsicherheit, Furcht, Müdigkeit, aber auch Vorfreude. Letztere wurde allerdings mit dem Fortschreiten der Zeit immer geringer. Als eine Frau, deren Miene sie betrachtet hatte, plötzlich mit hochgezogenen Augenbrauen zurückstarrte, senkte Leni den Blick und wagte auch nicht, noch einmal in ein Gesicht zu sehen. So verschwammen die Menschen in der großen Halle vor ihren Augen zu einer Masse aus Grau und Braun, schmutzig wirkende, trist gekleidete Gestalten wie sie selbst, und der Anblick wurde nur selten unterbrochen von strahlend weißen Tupfern blitzsauberer, gestärkter Kleidung, die sicherlich zu den Angestellten der Reederei gehörte.

Auch die Töne um sie herum vermischten sich zu einem Gemurmel, aus dem keine Wörter herauszuhören waren. Ohnehin sprachen längst nicht alle Menschen in der Halle Deutsch, sodass Leni sie auch dann nicht verstanden hätte, wenn ihre Konzentration noch vorhanden gewesen wäre. Da dies nicht der Fall war, ließ sie die Gesprächsfetzen, die an ihr Ohr drangen, zu einem Summen im Hintergrund ihrer kreisenden Gedanken werden.

Was erwartete sie? Würden sie die Herausforderungen der kommenden Tage meistern?

Endlich durften sie zu einem langen Tresen vortreten, hinter dem mehrere Herren in einer Art Uniform und mit Schirmmützen saßen. Benno ging voraus, schließlich war er ihr Vormund und sollte für sie alle sprechen. Leni versuchte, Ria zu beruhigen, die nun ernstlich Angst zu haben schien und sich an ihre Hand klammerte. Außerdem sah sie furchtbar müde aus, was kein Wunder war. Leni fühlte sich selbst vollkommen erschöpft.

»Pässe, Visa, Fahrkarten«, schnarrte der Mann hinter dem Tresen, ein unfreundlich dreinblickender Herr mit einem gewaltigen Schnauzer.

Benno beeilte sich, ihm das Verlangte auszuhändigen. Ohne die Miene zu verziehen, prüfte der Mann die Papiere. Leni beobachtete Benno. Die übliche sorglose Fröhlichkeit, die er sich trotz aller Schwierigkeiten stets bewahrte, war vergangen. Falten überzogen seine Stirn. Es würde doch wohl keine Probleme geben? Der Agent hatte ihnen doch die richtigen Papiere besorgt?

Schließlich machte der Schnauzbärtige einige Eintragungen auf einer Liste. Dann begann er, Benno Fragen zu stellen: Name, Alter, Familienstand, Geburtsort, letzte Anschrift, Religion. Ob er lesen und schreiben könne und den Wehrdienst abgeleistet habe. Leni bewunderte die Ruhe, mit der Benno trotz seiner augenscheinlichen Nervosität alle Fragen beantwortete, ohne zu zögern.

Als der Angestellte zum Punkt ›Familienangehörige‹ kam, wies Benno auf sie. »Meine Schwestern.« Er nickte Leni auffordernd zu.

»Reimann«, sagte Leni rasch. »Helene Margarethe und Ariane Rosemarie.«

»Alter?«, fragte der Angestellte und sah dabei weiterhin Benno an.

»Neunzehn und acht«, sagte Leni bemüht höflich, auch wenn es ihr schwerfiel. Dieser Mensch ignorierte sie einfach! Natürlich war es üblich, dass Frauen übergangen wurden, dennoch gefiel es ihr nicht. »Ledig. Letzte Anschrift, Religion und Reiseziel wie bei unserem Bruder.«

Der Schnauzbärtige gab nicht zu erkennen, ob das die Auskünfte gewesen waren, die er hatte hören wollen. Schweigend machte er weitere Eintragungen und reichte schließlich die Papiere sowie drei gelbe Kärtchen an Benno zurück. »Hier sind Ihre Kontrollscheine. Passen Sie jederzeit gut darauf auf.« Er klang mahnend. »Sie berechtigen Sie zu dem Erhalt von Mahlzeiten, einem Schlafplatz und Ihren Schiffskarten.«

Benno hielt Leni zwei der gelben Kärtchen hin. Ria streckte die Hand aus, doch Leni schnappte sie ihr weg.

»Danke«, sagte sie, ohne die Scheine genauer anzusehen.

Der Schnauzbart räusperte sich und wies zur Seite. »In den Wartesaal. Sie werden zur ärztlichen Untersuchung aufgerufen.«

Benno nickte und marschierte los, und Leni stolperte hinter ihm her in die angezeigte Richtung, Ria an der Hand. Die verrenkte sich den Kopf. »Kommt Viktor nicht mit?«

»Der kommt nach«, versicherte Benno, und Leni hoffte, dass er recht hatte. In Momenten wie diesem fühlte sie überdeutlich, dass der Freund zur Familie gehörte, und ihre Familie wollte sie um alles in der Welt zusammenhalten.

Die Sitzplätze im Wartesaal waren bereits besetzt, aber immerhin erspähte Leni sofort die Türen, die mit »Aborte« gekennzeichnet waren. Rasch zog sie Ria in die Richtung, und sie meinte, noch nie so froh gewesen zu sein, ein Klosett aufzusuchen. Als sie erleichtert – im wahrsten Sinne des Wortes – zurück in den Wartesaal gingen, stand Viktor bei Benno, und die Anspannung fiel für einen Moment von Leni ab. Genau so lange, bis ihr die bevorstehende ärztliche Untersuchung einfiel. Sie waren doch alle gesund! Warum machte sie sich also Sorgen?

»Ich bin müde«, ertönte Rias dünne Stimme, und zur Abwechslung klang die Schwester einmal nicht maulig oder aufsässig, sondern wie ein verzweifeltes kleines Mädchen.

»Das sind wir alle«, sagte Benno und strich über Rias wirre Zöpfe. »Bestimmt bekommen wir bald Schlafplätze zugewiesen.«

Bald, dachte Leni. Als ob!

Ria schien genauso gut zu wissen wie sie, dass Benno ihre Situation schönredete. Sie begann zu weinen – wiederum nicht vor Wut oder aus Berechnung wie üblich. »Meine Beine tun weh.« Sie schluchzte auf. »Und ich hab Hunger.«

Viktor hielt Ria noch einmal die Bonbontüte hin, doch die Kleine schüttelte nur den Kopf. Wenn sie Süßigkeiten ablehnte, musste es ihr wahrlich schlecht gehen. Mitgefühl überkam Leni. Sie setzte sich an Ort und Stelle auf den Boden und bedeutete Ria, sich auf ihren Schoß zu setzen. Die Schwester kam der Aufforderung nach und kuschelte sich an Lenis Brust, die Tränen rannen ihr jedoch weiterhin aus den Augen, und immer wieder schluchzte sie.

»Ich will nach Hause.«

Ich auch, dachte Leni im ersten Moment, dann jedoch sah sie die feuchte, enge Wohnung vor sich und besann sich eines Besseren. »Wir müssen nur noch eine kleine Weile durchhalten, dann haben wir ein neues Zuhause, das viel, viel schöner als das alte ist«, behauptete sie und legte eine Sicherheit in ihre Stimme, die sie selbst nicht verspürte.

Ria ging ihr nicht auf den Leim, sondern schnaubte. »Das kannst du gar nicht wissen«, sagte sie, wieder ganz die Alte. Sie befreite sich aus Lenis Umarmung und rückte von ihr ab. »Mach mir doch nichts vor.« Energisch rieb sie sich die Augen, als sei sie wütend auf die Tränen, die unaufhörlich strömten. »Du hast keine Ahnung, wie unser nächstes Zuhause aussehen wird.«

»Nein, aber solange wir zusammen sind …«

Ein erneutes Schnauben, und Leni gab es auf. Lieber sollte Ria wütend auf sie sein, als dass sie sich der Verzweiflung ergab.

4

Hamburg-Veddel, Auswandererhallen, April 1907

Immer wieder wurden andere Wartende aufgerufen, während sie in dem stickigen Wartesaal ausharren mussten. Leni schwitzte erbärmlich unter den vielen Schichten Kleidung. Nach einer Ewigkeit war endlich der Name ›Reimann‹ zu hören. Mühsam kam Leni auf die Füße. Benno hatte bereits die Hand gehoben, und eine Frau in weißem Kleid kam auf sie zu.

»Ärztliche Untersuchung«, erklärte die Angestellte knapp. »Erst die Damen.« Sie winkte sie mit sich zu einem Stehpult, an dem ein Mann im langen, weißen Kittel stand. Dann entfernte sie sich und überließ Leni und Ria ihrem Schicksal.

Der Reihe nach wurden die Wartenden von dem Herrn begutachtet. Ria schien neben Leni zu erstarren, sie drückte sich eng an sie. »Ich will das nicht«, flüsterte sie. Ihre Tränen waren zwar versiegt, aber auch der Trotz war wieder vergangen.

»Ich kann mir auch Schöneres vorstellen«, sagte Leni. »Aber das müssen wir nun über uns ergehen lassen.« Als sie an der Reihe waren, schob sie Ria nach vorn. »Du zuerst«, sagte sie und bemühte sich um eine ermutigende Stimme. »Dann hast du es gleich hinter dir.«

»Den Mund auf«, sagte der Arzt. Er hätte freundlicher klingen können, aber er war auch nicht so barsch wie der Schnauzbärtige hinter dem Tresen. Eher gleichgültig. Leni verstand ihn. Es war gewiss während des Medizinstudiums nicht sein Traum gewesen, täglich in unzählige Münder zu blicken. Immerhin mussten sie sich für ihre Zähne nicht schämen, da sie sie immer gründlich pflegten.

Ria presste die Lippen zusammen und starrte auf den Boden vor sich.

Leni hob Rias Kinn an. »Schau, Kleines. Ich mache es vor.« Sie öffnete den Mund, und der Arzt drückte ihre Zunge mit einem Stäbchen nieder und blickte in ihren Rachen.

»In Ordnung«, konstatierte er.

»Siehst du? Nichts passiert.« Leni stupste Ria an, die widerstrebend den Mund einen winzigen Spalt öffnete.

Der Arzt seufzte. »Wenn du nicht hilfst, muss ich dich zwingen. Oder hinauswerfen.«

Durch diese Worte schien Ria endlich die Verzweiflung zu überwinden und ihre Kratzbürstigkeit wiederzufinden. Sie schnaubte verächtlich und riss den Mund bis zum Anschlag auf. Leni atmete erleichtert auf.

Der Arzt unterdrückte ein Schmunzeln und besah sich Rias Rachen. »Sehr schön. Nun die Augen.« Er zog ihr Unterlid herunter.

»Aua!«, rief Ria und riss die Hand hoch, und Lenis Herz setzte aus. Ihre Schwester zügelte sich aber im letzten Moment und schlug doch nicht zu.

»Ziemlich gerötet«, sagte der Arzt, ungerührt von dem Ausbruch der Kleinen. »Hast du geweint?«

»Nein«, keifte Ria.

»Doch«, beeilte sich Leni zu beteuern. Sie hatte davon gehört, dass viele Auswanderungswillige aufgrund von Augenkrankheiten abgewiesen wurden. »Bestimmt eine Stunde lang. Ihre Augen sind gesund.«

»Du bist gemein«, fauchte Ria. »Du alte Petze!«

»Es ist nötig, dass wir hier ehrlich sind, ob es dir nun gefällt oder nicht. Außerdem ist nichts dabei, zu weinen, wenn man traurig ist oder Angst hat.«

»Da hat deine Mutter recht«, sagte der Arzt.

»Die ist nicht meine Mutter!«, rief Ria. »Nur meine Schwester.«

»Zum Glück«, entfuhr es Leni, was ihr sofort leidtat. Ria verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte erneut.

»Nun, nun«, sagte der Arzt sichtlich amüsiert. Er wirkte gleich viel lebendiger. Offensichtlich stellten sie mit ihrem Geschwisterstreit eine Abwechslung dar. Leni konnte nicht behaupten, dass sie sich darüber freute.

Der Arzt wandte sich Leni zu und zog auch ihr die Lider herab. »Sehr schön«, sagte er. »Nun jede drei Kniebeugen bitte.«

Wider Erwarten sträubte sich Ria nicht, sondern vollführte nicht nur drei, sondern mindestens zwanzig Kniebeugen, obwohl sich der Arzt längst Leni zugewandt hatte. Als auch sie die Übung beendet hatte, machte der Arzt eine Eintragung auf ihren Karten und entließ sie, und Leni sah sich nach Benno um, konnte ihn aber nicht entdecken.

»Hier entlang«, sprach eine Angestellte sie an. Leni hätte nicht sagen können, ob es dieselbe war wie zuvor. Zu viele Menschen, zu viele Eindrücke. Dazu das gleiche weiße, gestärkte Kleid, das alle Helferinnen trugen und das nicht weniger wie eine Uniform aussah als die Kleidung der Herren mit den Schirmmützen.

»Wohin gehen wir?«, fragte Ria die Frau. »Wo sind mein Bruder und unser Freund?«

Die Angestellte tat, als hätte sie sie nicht gehört, und stapfte los.

»Komm mit«, sagte Leni zu Ria und beeilte sich, der Frau zu folgen. »Wir verlieren Benno nicht und treffen ihn bestimmt bald wieder. Und wir werden schon sehen, was nun passiert.«

Sie wurden zu einem weiteren Pult mit einem Mann dahinter geführt. Die Angestellte übergab ihm einige Papiere und verschwand.

»Die Vermessung«, sagte der Mann und zeigte auf ein Metallgestell zu seiner Linken, das aus einer Bodenplatte, einem Zentimetermaß und einem Schieber bestand.

Leni trat auf die Platte.

»Andersherum«, befahl der Angestellte.

Sie drehte sich mit dem Rücken zu der Skala, der Mann hantierte über ihr, und sie fühlte den Schieber auf ihrem Kopf landen.

»Ein Meter einundsechzig. Danke.« Der Mann notierte ihre Größe.

Leni trat vor und schob Ria in Richtung des Messgeräts. Sie sträubte sich natürlich erneut, und Leni musste alle verbliebene Geduld zusammennehmen, um sie nicht anzufahren. »Es ist nichts dabei«, sagte sie in bemüht ruhigem Tonfall. »Nun mach schon.« Warum musste jede einzelne Station dieses Tages so ein Kampf sein, und wie viele standen ihr noch bevor? Ihr schwirrte der Kopf, und sie musste alle Kraft aufbringen, nicht selbst trotzig zu werden und sich schreiend auf den Boden zu werfen. Wer sagte eigentlich, dass sie sich stets erwachsen verhalten musste? Wann war sie zuletzt ein Kind gewesen, das sich wie eines hatte benehmen dürfen, ohne bestraft zu werden? Du weißt nicht, wie gut du es hast!, hätte sie ihrer Schwester am liebsten an den Kopf geworfen. Dann wiederum hatte Leni zumindest für einige Jahre Eltern gehabt – ein Privileg, das Ria verwehrt geblieben war.

Ihre Schwester hatte inzwischen nachgegeben und war an den Messstab getreten.

»Ein Meter sechsundzwanzig.« Wieder zückte der Angestellte seinen Federhalter, tauchte ihn in das Tintenfass, schrieb und hob den Blick. »Danke.«

Leni sah sich um, ob wieder eine Helferin sie in Empfang nehmen würde, doch sie konnte niemanden entdecken. »Wohin gehen wir jetzt?«

»Dort entlang zum Duschen und Desinfizieren.« Der Mann wies zum hinteren Teil der großen Halle. »Durch die Tür und über den Hof. Alles Gute.«

»Danke«, sagte Leni und streckte die freie Hand nach Ria aus. Diese wich aus.