Die Welt so stille - Jessica Weber - E-Book

Die Welt so stille E-Book

Jessica Weber

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Beschreibung

Mitten im Grauen des Deutsch-Dänischen Krieges erwächst eine zarte Freundschaft zwischen einem dänischen Soldaten und einem kleinen deutschen Mädchen. Herzogtum Schleswig, 1864: Die zehnjährige Line reißt von zu Hause aus, wo sie von ihrer alleinstehenden Mutter drangsaliert wird. Sie gerät in einen Proviantwagen der preußischen Armee, und die Irrfahrt durch die Wirren des Deutsch-Dänischen Krieges beginnt. Der Däne Mads zieht in den Krieg, um eine alte Schuld zu sühnen. Seine geliebte Frau Bodil muss er allein zurücklassen. Doch schon bei den ersten Gefechten wird er verletzt und verliert den Anschluss an seine Truppe. Line wird zufällig zur Lebensretterin für Mads, und es beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die sich in den darauffolgenden Monaten ein ums andere Mal beweisen muss. Mit dem Kampf um die Düppeler Schanzen entscheidet sich nicht nur der Ausgang des Krieges, sondern auch ihrer beider Schicksal …

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Jessica Weber

Die Welt so stille

Historischer Roman

Weber, Jessica: Die Welt so stille. Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-634-6

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-633-9

Print: ISBN 978-3-86282-632-2

Lektorat: Laura Künstler, acabus Verlag

Satz: Laura Künstler, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für Tante Gerda

Danke für Familienforschung und spannende Geschichten. Schade, dass du dieses Buch nicht mehr erleben durftest.

Prolog

Angeln, Herzogtum Schleswig

22. April 1853

»So dankst du es dem Herrn, dass er dich in seinen Dienst genommen hat.« Die Alte schnaubte. »Lässt dich kaum einen Monat nach deiner Ankunft schwängern, fällst wochenlang aus und hast dann ein Blag am Hals, das der Herr auch noch durchfüttern kann!«

Catharina ballte die Fäuste und setzte zu einer scharfen Erwiderung an, da überwältigte sie die nächste Wehe. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, doch ein gequältes Stöhnen konnte sie nicht unterdrücken.

»Du musst pressen, Weib. Mach, dass das Ding aus dir rauskommt, damit wir alle bald zurück an die Arbeit können.«

Catharina presste, hatte jedoch nicht das Gefühl, dass die Geburt auch nur ein Stück voranging. Als sie wieder zu Atem kam, entfuhr es ihr: »Sie sind doch nur neidisch, weil Sie keine Kinder haben.«

Die Wirtschafterin, die die Aufsicht über alle Mägde auf dem Gutshof hatte, hockte sich neben dem schmalen Bett nieder und funkelte Catharina zwischen zusammengekniffenen Lidern an.

»Nur weil ich nicht für jeden die Beine breitgemacht habe wie du, du nutzlose Hure! Ich weiß nicht, warum dich die Herrschaften nicht längst davongejagt haben.«

»Weil ich eine gute Arbeiterin bin!«

In den Schweiß, der Catharina über das Gesicht lief, mischten sich Tränen des Schmerzes und der Wut.

»Bis jetzt vielleicht.« Hohn troff aus der Stimme der Alten. »Aber mit einem Gör am Rockzipfel bestimmt nicht mehr!«

In dem Augenblick schwang die Tür der winzigen Kammer auf. Vom Flur her drang Lampenschein in das abgedunkelte Zimmer, und vor dem hellen Hintergrund erschien die Gestalt einer hochgewachsenen Frau. Catharina konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Sie sah es erst, als sich die Person näherte.

»Freifrau Auguste«, stieß die Wirtschafterin hervor und knickste umständlich. »Haben Sie sich verirrt? Ich bringe Sie gleich zu den Herrschaften.«

»Bitte lassen Sie uns allein«, sagte die Besucherin schroff, streifte ihren Pelzmantel ab und ließ ihn achtlos auf einen Stuhl fallen. »Ich habe mit der Magd Catharina zu reden.«

Sie wartete, bis die Alte die Tür der Kammer hinter sich geschlossen hatte, dann trat sie dicht an Catharinas Lager heran. Die wurde im selben Augenblick von der nächsten Wehe erfasst, und dieses Mal konnte sie den Schrei nicht zurückhalten. Die Angst vor dem, was nun kommen würde, ließ sie schwach werden.

Die Besucherin wartete ruhig die Wehe ab, und als sich Catharinas Blick wieder klärte, sah sie das kalte Lächeln auf dem Gesicht der Adligen.

»Es tut weh, nicht wahr? Doch diese Schmerzen sind nichts gegen die, die ich dir zufügen werde, wenn du je ein Wort über den Vater dieses Blags verlierst.« Sie beugte sich so dicht über Catharina, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. »Ich hoffe, ich habe mich deutlich ausgedrückt. Kein Wort, niemals!«

Catharina schluchzte auf und nickte.

Die Besucherin richtete sich auf.

»Gut. Im Gegenzug dafür übernehme ich die Patenschaft für das Kind. Immerhin ist es … mit meinem Sohn verwandt.« Bis auf das kurze Zögern sagte sie die Worte ohne Ausdruck in der Stimme, doch Catharina sah dem Gesicht der Frau deutlich an, dass die Sache sie in Wahrheit alles andere als kalt ließ. »Es soll meinen Vornamen tragen. Ich lasse dir ein Taufkleid bringen. Darüber hinaus will ich nichts mehr mit ihm oder dir zu tun haben. Halte dich von meiner Familie fern!«

Sag das deinem Mann, dachte Catharina, dann kehrten die Schmerzen zurück, und sie dachte gar nichts mehr. Sie presste und presste, schrie und schrie, und endlich schien sich in ihrem Unterleib etwas zu bewegen. Hechelnd holte sie Atem, stieß dann hervor: »Ich brauche Hilfe. Jemand muss das Kind rausziehen!«

»Ich schicke dir gleich die Alte. Eines noch: Wie heißt der Knecht, mit dem du es letztes Jahr ebenfalls getrieben hast?«

Catharina blieb keine Zeit, sich über die derbe Sprache der Edelfrau zu wundern, die nicht zu dem feinen Kleid und dem Pelz passen wollte. »Carl Dittmann heißt der«, sagte sie rasch.

»Gut. Wir brauchen einen glaubhaften Zeugen für den Eintrag ins Taufregister. Ich bezahle die Witwe Franzen, damit sie aussagt, er sei der Kindsvater.«

»Carl bringt mich um!«, entfuhr es ihr. »Und er kann es auch gar nicht sein, ich kenn den doch erst seit acht Monaten.«

»Was wissen denn Männer von solchen Dingen? Er ist der Vater, so wird es im Kirchenbuch stehen, und du nimmst mit ins Grab, dass es nicht so ist. Verstanden?«

Catharinas Antwort ging in ihrem nächsten Schmerzensschrei unter. Sie spürte Wärme und Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Die Besucherin wandte sich angewidert ab, nahm ihren Pelz und verschwand. Catharina war allein mit ihrer Angst, sie presste und würgte, zitterte, schwitzte und schrie.

Endlich kam die Wirtschafterin zurück, griff ihr zwischen die Beine und zog. Catharina fühlte sich, als risse sie entzwei. Dann, plötzlich, war alle Schwere verschwunden. Ein letzter Krampf, ein Schwall und ein schmatzendes Geräusch, dann war es vorüber. Sie fühlte sich gänzlich leer, endlich wieder leicht nach all den Monaten. Ein wahnsinniges Kichern stieg in ihr auf.

»Ein Mädchen«, sagte die Alte. »Auch das noch.«

»Lebt es?«, fragte eine Stimme von der Tür her. Da erst bemerkte Catharina, dass die Freifrau zurückgekehrt war. Sie wollte ihr Kind ansehen, konnte den Blick aber nicht vom Gesicht der Besucherin wenden.

Ein Klatschen ertönte, dann ein dünnes Quäken.

»Es lebt.«

Die Adlige nickte, sah Catharina noch einmal scharf an, wandte sich um und ging.

»Sag schon, was wollte die hier?«, fuhr die Wirtschafterin sie an, schob ihr das Hemd hoch und legte das Kind auf ihre Brust. Catharina sah zum ersten Mal den hellen Haarflaum, die weit geöffneten Augen und den winzigen Mund ihrer Tochter. Sie wusste, sie hätte so etwas wie Liebe empfinden sollen, doch sie war nur erschöpft und sehnte sich nach Schlaf.

»Die Patenschaft übernehmen«, murmelte sie und gähnte.

Die Alte legte ein Laken über Mutter und Kind, dann sah sie Catharina forschend ins Gesicht.

»Dafür kommt sie den weiten Weg von Herrenhaus Angeln hierher? Um die Patin vom Blag einer Magd zu werden? Warum sollte sie das tun?«

»Wohltätigkeit, was weiß denn ich?«

Catharina schloss die Augen. Sie spürte, wie das Kind an ihrer Brustwarze saugte. Das Gefühl war unangenehm, und sie hätte sich dem kleinen, gierigen Mund am liebsten entzogen. Ihr Verstand jedoch, wenn auch nicht ihr Herz, sagte ihr, dass sie das Saugen zulassen musste. Dass es Sünde war, ein Kind abzulehnen.

Doch was sollte aus ihm werden? Tochter einer unverheirateten Magd und eines Knechts, der all sein Geld im Eber versoff. So jedenfalls würde es im Kirchenbuch stehen. Die Wahrheit war nicht besser. Sie konnte nur hoffen, dass die edle Patin es ihr ermöglichte, weiterhin auf dem Gutshof zu arbeiten. Sonst blieb ihr und dem Kind nur das Armenhaus.

Mit diesem Gedanken im Kopf und dem Schmatzen des Säuglings im Ohr schlief Catharina ein.

1

Haderslev, Herzogtum Schleswig

Dezember 1863

»For helvede, Mads! Du bist verrückt!«

»Liebste, das bin ich nicht. Ich muss gehen. Es ist meine Pflicht.«

»Du bist Maurer und kein Soldat.« Bodil strich sich eine lange Haarsträhne aus der Stirn. »Was willst du im Krieg?«

»Es ist ja noch gar kein Krieg«, beschwichtigte ihr Mann sie, »und wahrscheinlich kommt auch keiner. Die neue Verfassung bringt den Deutschen Bund gegen unsere Regierung und den König auf, deshalb müssen wir Schleswigs Südgrenze sichern. Das ist alles.«

»Das ist gewiss nicht alles! Die Preußen lassen sich doch Schleswig nicht einfach wegnehmen. Es wird Krieg geben, Mads. Und dann werde ich allein sein!« Tränen traten ihr in die Augen, und Mads zog sie in seine Arme.

»Du bist viel zu klug, Liebste.« Er küsste sie auf die Stirn. »Kannst du nicht genauso unwissend sein wie Ferdinands Inge? Die macht ihm keinen Ärger.«

»Ferdinand Rasmussen hat dir also diesen Floh ins Ohr gesetzt? Kein Wunder.« Sie befreite sich aus der Umarmung und drehte ihrem Mann den Rücken zu. »Dem Drachen, den der zu Hause hat, würde ich auch entkommen wollen. Und dann die ganzen Kinder, die ihm die Haare vom Kopf fressen …« Bodil schluckte die Tränen hinunter, die in ihr aufstiegen. Auch sie hätte gern ein Kind gehabt. Nun jedoch wollte der Mann, den sie liebte, in den Krieg ziehen.

Mads trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sei mir nicht böse. Ich möchte auch einmal etwas Wichtiges tun.«

Bodil fuhr herum. »Ist es nicht wichtig, anderen Menschen Häuser zu bauen? Ist es nicht wichtig, eine Frau und eine Familie und ein Heim zu haben?«

Doch sie verstummte, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie wusste, gegen die Sehnsucht nach Anerkennung war sie machtlos. Es war ihr nicht möglich gewesen, das wiedergutzumachen, was sein Vater versäumt hatte. Nun wollte er aller Welt beweisen, dass er, Mads Jessen, doch einen Wert besaß.

Sie seufzte. »Wofür willst du überhaupt kämpfen? Für die Dänen und gegen die Deutschen? Ja, wir hier oben nahe der Grenze fühlen uns dem dänischen Königreich nah, doch wir haben auch deutsche Freunde, und schließlich sind wir alle Schleswiger, nicht wahr? Ich dachte, du siehst das genauso wie ich. Sind unsere Freunde plötzlich unsere Feinde?«

Er zögerte, dann sagte er leise: »Natürlich nicht. Darum geht es auch gar nicht.«

»Worum dann? Dass du nicht zurückbleiben willst, wenn Ferdinand und die anderen gehen?«

Er antwortete nicht. Sie sah ihm an, dass sie einen Teil der Wahrheit herausgefunden hatte, doch das war nicht alles. Seine Miene verschloss sich.

Bodil hob die Schultern. »Du Dummkopf. Wenn du nicht zurückkommst, glaub nicht, dass ich um dich trauern werde.«

»Das sollst du auch gar nicht … oder vielleicht doch, ein ganz klein wenig.«

Bodil sah in das Gesicht ihres Mannes. Sie liebte den wachen Blick aus den haselnussbraunen Augen und die Art, wie seine dunkelblonden Haare nach allen Seiten abstanden, ganz egal, wie sorgfältig er sie kämmte. Sie liebte es, wenn er staubig von der Arbeit heimkam und vor der Tür seine Schuhe auszog, um ihren frisch gewischten Flur nicht zu beschmutzen. Und sie liebte es, wenn er sie in die Arme nahm, seine weichen Lippen auf ihre presste und ihr ganz nah war. Sie konnte ihm nie lange böse sein.

Resigniert lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Na gut, ein ganz klein wenig würde ich trauern.«

»Ich werde dir keinen Grund dazu geben. Ich komme zurück, Bodil. Versprochen.«

Am nächsten Tag ging Mads nicht zur Arbeit, sondern zur Musterungsstelle. Bodil hoffte den ganzen Tag, er würde nicht angenommen werden. Doch er war ein gesunder, junger Mann, und soweit sie wusste, brauchte der dänische König jeden Soldaten. Sie konnte sich nur schwer auf ihre Hausarbeit konzentrieren, lief immer wieder auf und ab und sah aus dem Fenster hinaus auf die von Schneematsch bedeckte Skibbrogade, bis es dunkel wurde.

Als Mads endlich nach Hause kam, erkannte Bodil ihn kaum wieder. Er war nicht staubig wie sonst, sondern blitzsauber, und obwohl er kein großer Mann war, schien er ihr mit einem Male weit über den Kopf zu ragen, und das lag nicht allein an der Kappe, die er trug. Er hielt sich aufrecht wie sonst nie in der neuen dunkelblauen Uniform mit den spiegelblanken Knöpfen, den Rücken kerzengerade und die Schultern gestrafft. Er zog die Stiefel nicht aus, bevor er eintrat. Feuchte Abdrücke markierten seinen Weg in die von Kerzen beleuchtete Stube hinein.

Bodil schossen die Tränen in die Augen, als sie den stolzen Ausdruck in seinem Gesicht sah. Mit ihren gerade einmal fünfundzwanzig Jahren war sie nur ein halbes Jahr älter als Mads, doch in diesem Augenblick sah er für sie aus wie ein kleiner Junge, der ein neues Spielzeug bekommen hatte. Sie mochte es ihm nicht verderben.

So setzte sie sich mit ihm an den Ofen und ließ ihn erzählen, von der Musterung, wie sie den Lars nicht angenommen hatten, Mads und die anderen Freunde aber schon, und wie glücklich er darüber war.

»In drei Tagen brechen wir auf, dann erhalte ich auch mein Gewehr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß es ist! Und es ist nicht leicht, es zu laden, aber das werden wir alles lernen.«

Bodil versuchte, sich ihren Mann mit einer Waffe vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Ihr war, als säße da ein Fremder an ihrer Seite, und als er die Kappe abnahm und sie sein kurz geschorenes Haar sah, schnürten ihr die unterdrückten Tränen die Kehle zu. Sie unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, ihm die Sache auszureden.

»Willst du das wirklich tun? Denkst du, du kannst einen Menschen töten, dem du von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehst? Du bringst es nicht einmal fertig, eine Maus zu erschlagen, die sich in unser Korn geschlichen hat!«

»Eine Maus ist ja auch ein unschuldiges Geschöpf.«

»Und Menschen sind das nicht? Nur weil irgendein König sie zu Soldaten macht?«

Mads blickte schweigend auf seine gefalteten Hände hinab, und Bodil schöpfte Hoffnung.

»Du bist kein Mann, der einen Krieg erträgt, Mads. Ich bitte dich, lass das sein. Wenn du eingezogen worden wärest, hättest du keine Wahl. Aber so …«

»Ich muss es tun, Bodil.« Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Nie war ich meinem Vater gut genug, er hat nur meinen Bruder geliebt und hält mir immer wieder vor, der Falsche sei gestorben.«

»Das kann dir gleich sein!«

»Ist es aber nicht. Mein Vater hat im letzten Krieg nicht gekämpft. Er wollte, doch er war untauglich, nachdem er sich mit dem Stecheisen die böse Beinverletzung zugezogen hatte und humpelte. Wenn ich nun ein guter Soldat werde, vielleicht sogar eine Auszeichnung erhalte, habe ich endlich eine Sache besser gemacht als er.«

»Warum bedeutet dir das so viel? Du musst ihm nicht beweisen, dass du etwas wert bist! Genügt es nicht, dass ich es weiß, meine Eltern und unsere Freunde?«

»Ich weiß, das sollte genügen. Aber …« Er seufzte, wollte sich wie gewohnt das struppige Haar raufen und hielt irritiert inne, als seine Hand die kurzen Stoppeln berührte. »Ich bin es meinem Bruder schuldig.«

»Was hat das nun wieder zu bedeuten? Dein Bruder war zehn Jahre alt, als er starb. Was hat das mit diesem Krieg zu tun?«

Mads nahm ihre Hände in seine. »Ich habe es dir nie erzählt und auch sonst niemandem. Ich bin schuld an Augusts Tod.«

»Das glaube ich dir nicht. Du warst noch ein Kind, jünger als er!«

»Ja. Und ich war wütend, weil Vater ihn wieder einmal vorgezogen hatte. Er durfte zur Schule gehen, und ich musste immer nur arbeiten, obwohl es doch geschrieben steht, dass alle Kinder den Unterricht besuchen sollen. Ich durfte nur lesen und schreiben lernen, das genügte für den dummen Mads. Der kluge August dagegen prahlte jeden Abend mit seinem Wissen, wurde über die Maßen gelobt. Ich war neidisch. Eines Tages war es besonders schlimm. Vater hat mich geschlagen, weil ich bei Tisch eingeschlafen bin. Dabei war die Arbeit an dem Tag so anstrengend gewesen, und Augusts endlose Erzählungen aus der Schule waren so ermüdend. Es war Winter, ich bin fortgelaufen, hinaus auf den See, der teilweise zugefroren war. August kam mir nach, wollte mich zurückholen.« Mads stockte, tat zwei tiefe Atemzüge und fuhr fort. »Er war älter und viel schwerer als ich. Er brach ein, und ich konnte ihm nicht helfen.« Mads vergrub das Gesicht in den Händen. »Er hatte nie schwimmen gelernt, immer nur an die Schule gedacht. So versank er vor meinen Augen im Haderslev Dam, während ich nur dastehen konnte.«

Nun wurde Bodil ernstlich wütend. »Und das gibt dir keinen Anlass, an deinem Vater zu zweifeln? Er ist schuld, nicht du, den er ungerecht behandelt hat! Er hat dich doch dazu getrieben!«

»Was nützt mir das?« Mads ließ seine Hände sinken, schluckte schwer. Er war bleich geworden. »Ich sehe immer Augusts Gesicht vor mir, die aufgerissenen Augen und den zum letzten Schrei verzerrten Mund.«

»Das ist wohl kaum ein triftiger Grund, Menschen zu töten!« Die Angst um ihren Mann ließ Bodils Stimme härter klingen als beabsichtigt.

»Das will ich doch gar nicht. Ich will Leben retten! Wenn ich nur einen jungen dänischen Soldaten vor dem Tod bewahren kann, ist meine Schuld vielleicht endlich gesühnt.«

»Dann lass dich zum Lazaretthelfer ausbilden. Dort kannst du Leben retten!« Bodil kämpfte verzweifelt um ihren Mann, doch sie sah ihm an, dass er seine Entscheidung längst getroffen hatte. Keins ihrer Worte vermochte etwas auszurichten, und bald fand sie keine mehr.

So schwiegen sie beide, hielten sich an den Händen, bis das Feuer im Ofen heruntergebrannt war. In dieser Nacht liebten sie sich wortlos, leidenschaftlicher noch als sonst. So als wäre es das letzte Mal. Als Mads schließlich erschöpft in Bodils Armen lag und sein Kopf auf ihrer Brust ruhte, betete sie, endlich ein Kind empfangen zu haben. So würde sie nicht alles verloren haben, wenn ihr Mann nicht zurückkehrte.

2

Angeln

Januar 1864

»Arlina Auguste Dittmann! Komm sofort her!«

Line verdrehte die Augen. Die Stimme ihrer Mutter konnte sich anhören wie ein Peitschenknall, und das verhieß nie etwas Gutes. Ebenso wenig, dass sie ihren vollen Namen benutzte. Schnell lief Line zur Tür des Dienstbotentrakts, vor der Catharina Thomsen stand, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Wo warst du?«

Line trat von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte mit ihren beinahe elf Jahren die Körpergröße ihrer Mutter fast erreicht, doch die herrische Stimme machte, dass sie sich winzig klein fühlte.

»An der See«, flüsterte sie. »Ich mag es so, zuzusehen, wie es über ihr langsam hell wird.«

»Du hattest bei Sonnenaufgang die Hühner zu füttern. Jetzt ist es Mittag!«

»Ich habe sie gefüttert, bevor ich gegangen bin, Frau Mutter.«

»Du schleichst dich im Dunklen in den Hühnerstall, nur um dich dann davonzumachen?«

Und in die Speisekammer, dachte Line und musste sich ein Lachen verbeißen. Sie hatte am Strand gesessen, den Wellen gelauscht und das stibitzte Brot gegessen, und es hatte ihr so gut geschmeckt, wie es ihr in Gesellschaft ihrer Familie nie schmeckte.

»Was grinst du so?«

Geschickt wich Line dem Schlag aus, von dem sie gewusst hatte, dass er kommen würde. Inzwischen beherrschte sie es meisterhaft. Sie sprang aus der Reichweite der Mutter und rief: »Warum schimpfen Sie immer nur mich und nie die Grete und die Fie? Ich habe meine Pflichten getan, und trotzdem sind Sie böse mit mir!«

»Margarethe ist ein folgsames Mädchen und Sophie noch viel zu klein zum Unsinnmachen. Nur du bereitest mir ständig Ärger!«

»Aber ich habe doch …«

»Sei still und widersprich nicht, oder willst du schuld sein, dass uns die Herrschaften vom Gutshof verjagen? Du machst mir Schande!«

Das schaffst du schon allein, dachte Line erbost. Drei Kinder von drei Männern, wenn das nicht Schande genug ist! Jedenfalls sagten das die Leute im Dorf.

In ihren Gedanken siezte sie ihre Mutter nie. Es kam ihr seltsam vor, dass sie von allen geduzt, mit Weib oder Mädchen angesprochen wurde, nur ihre Töchter waren gezwungen, sie zu siezen.

Weitere Erwiderungen lagen auf Lines Zunge, und es fiel ihr schwer, sie zu hüten. Es führte jedoch zu nichts, die Mutter noch ärgerlicher zu machen. Wäre sie aus Sorge wütend gewesen, wäre es etwas anderes. Immerhin war kalter Winter, und Line war stundenlang fortgeblieben. Sie wusste jedoch, dass sich Catharina nicht um sie sorgte. Ihre Älteste war ihr gleichgültig, sie liebte nur Grete und Sophie.

»Geh jetzt und pass auf deine Schwestern auf. Dazu wirst du ja wohl in der Lage sein!«

»Ich bin zu sehr vielem in der Lage.«

Line war schon fast an ihrer Mutter vorbei auf dem Weg in das Gebäude, deshalb sah sie den Schlag diesmal nicht kommen. Sie meinte, ihr Kopf würde in Stücke zerspringen, so hart traf sie die flache Hand der Mutter am Hinterkopf.

»Halt dein vorlautes Maul, sonst jage ich dich eigenhändig vom Gut, und du kannst zusehen, wo du dich als Magd verdingst! Alt genug bist du allemal!«

Tränen schossen Line in die Augen, vor Wut, Schmerz und Angst gleichermaßen. An der Mutter hing sie nicht, doch sie kannte kein anderes Zuhause als den Gutshof und liebte ihre jüngeren Schwestern innig. Schnell lief sie los, damit die Mutter sie nicht weinen sah. In der winzigen Kammer warteten Grete und Sophie schon auf sie.

»Line, wo warst du? Frau Mutter war so wütend!«

»Ach Grete«, sagte Line und zupfte ihre Schwester an den langen, geflochtenen Zöpfen, dann legte sie ihre warme Überkleidung ab. »Ich kann es ihr doch nie recht machen. Ich war spazieren, sonst nichts.«

»Warum nimmst du mich nie mit? Ich bin schon sieben. Ich will nicht immer allein mit der Fie bleiben!«

»Ich bin fast elf.« Line schlüpfte aus den zu großen Lederstiefeln, die sie zu Weihnachten von den Herrschaften bekommen hatte. Sie passten ihr nur mit drei Paar Wollsocken. »Ich laufe viel zu weit für dich.« Line packte Grete und kitzelte sie am Bauch. »Auf deinen kurzen Beinchen hältst du nie mit mir Schritt!«

Grete kicherte und wand sich aus Lines Griff, dann nahmen beide je einen Arm der kleinen Sophie und schwangen sie hoch in die Luft. Das Mädchen gluckste fröhlich, und Lines Herz wurde schwer. Niemand hatte sie je geherzt und mit ihr gespielt. Sie hatte es für normal gehalten, doch nach der Geburt von Grete und besonders nach der von Fie war ihr bewusst geworden, dass ihre Mutter auch liebevoll sein konnte. Nur nicht zu ihr. Nie zu Line.

Sie wusste, auch an diesem Tage würden ihr ihre vorlauten Bemerkungen noch Ärger einbringen. Und der ließ nicht lange auf sich warten. Am Nachmittag betrat Catharina die Stube, gab ihren jüngeren Töchtern je einen Keks und sagte zu Line: »Raus mit dir. Du hilfst Berta beim Schlachten. Und diesmal wirst du die Hühner nicht nur rupfen und ausnehmen, sondern selbst das Beil schwingen!«

Line war wenig zimperlich, was Blut, Gedärme und andere unappetitliche Dinge anging, doch in diesem Augenblick stieg Übelkeit in ihr auf. Es war schlimm genug, beim Schlachten zuzusehen und das zuckende, kopflose Huhn entgegenzunehmen, und nun sollte sie selbst … Sie wusste genau, dass die Mutter sie nur dazu zwang, um sie zu bestrafen. Sie wollte sich wehren, da es nicht zu ihren Aufgaben gehörte, die gewöhnlich die Gutsherrin ihr erteilte. Da jedoch fügte Catharina mit höhnischer Stimme hinzu: »Du sagst doch, du bist zu vielem in der Lage. Nun beweise deine großen Worte auch!«

Line straffte die Schultern. Ja, sie würde es beweisen. Sie würde noch allen zeigen, was in ihr steckte. Um sich zu beruhigen, begann sie, das Abendlied zu summen. Das tat sie immer, wenn ihr etwas Unangenehmes bevorstand. In ihrem Kopf formte sie die Worte der zweiten Strophe, die sie am liebsten hatte.

Wie ist die Welt so stille …

Es war selten still um sie herum. Der weitläufige Gutshof summte zu jeder Tageszeit vor Betriebsamkeit, und wenn die tägliche Arbeit getan und sie in ihrer Kammer war, plapperten Grete und Fie ohne Unterlass. Schon deshalb liebte sie das Lied mit seiner sanften Melodie und den friedlichen Worten, das sie in ihrem einzigen Schuljahr gelernt hatte.

Mit jedem Schritt zum Schlachtplatz wurde sie ruhiger. Ihr war, als entferne sie sich von sich selbst. Sie fühlte sich eigenartig, so als sei sie gar nicht mehr Line, sondern eine Fremde. Sie betrachtete sich von außen: das für sein Alter große Mädchen mit der schmalen, aber robusten Statur, die unter vielen Lagen dicker wollener Kleidungsstücke verborgen war. Immer weiter ging sie, immer lauter summte sie das alte Lied, bis es ihren Kopf vollständig erfüllte.

So ertrug sie es, die Köpfe der sich sträubenden Hühner auf den Hauklotz zu legen, das Beil hinabfahren zu lassen und das hellrote Blut in den matschigen, schmutzig-weißen Schnee tropfen zu sehen. Erst als sie später die blutige Schürze ausgewaschen und ihre Hände gründlich geschrubbt hatte, war sie wieder gänzlich bei sich. Sie betrachtete sich im Spiegel, lächelte sich zu und fühlte sich, als sei sie an diesem Nachmittag mindestens eine Handbreit gewachsen.

3

Danewerkstellung bei Schleswig

Januar 1864

Liebste Bodil,

wir sind am Danewerk angekommen. Die uralten Wallanlagen sind beeindruckend. Sie reichen weiter, als man blicken kann, und sie sind hoch und scheinen unüberwindlich. In ihrem Verlauf von der Schlei bis zu den sumpfigen Flussniederungen im Westen wurden mehr als zwanzig der ringförmigen Befestigungswerke angelegt, die man Schanzen nennt. Innerhalb ihrer Wälle verbringen wir unsere Zeit, von dort aus richten sich unsere Kanonen gen Süden.

Unser Regiment wurde den östlichen Schanzen nahe der Stadt Schleswig zugeteilt. Leider gibt es nicht genügend Unterkünfte für uns alle. Ich könnte versuchen, dich zu beruhigen, doch das würde deine Klugheit beleidigen. Wir schlafen in den nackten Dachbalken halb fertiger Baracken, um nicht am Boden festzufrieren. Es ist kalt, nass und ungemütlich, und überall stinkt es nach Pferdemist. Meine Kleider sind klamm und starren vor Dreck. Ich wünsche mich zurück in unsere Stube mit dem Ofen und deinem leckeren Essen. Ich möchte meine Finger in deinem rabenschwarzen Haar vergraben und sie wärmen, denn ich habe kaum noch Gefühl darin, so eisig sind sie. Wir Kameraden versuchen, uns gegenseitig das Heimweh zu vertreiben, doch es ist nicht einfach.

Wie fröhlich sind sie losgezogen! Ich sage nicht ›wir‹, denn ich war nicht froh, dich und die Heimat zu verlassen. Ich musste es tun. Die anderen aber – Ferdinand, Ludvig, Peter und all die vielen Jungen von überallher aus Schleswig und dem Königreich –, wie sie sangen und mit forschen Schritten vorangingen! Doch schon nach wenigen Tagen sind alle Lieder verstummt. Dumme Kinder waren wir, als wir aufbrachen. Und obwohl noch nicht ein Schuss gefallen ist, habe ich das Gefühl, dass wir in dieser unwirtlichen Umgebung schneller erwachsen werden, als uns lieb ist.

Noch ist kein Schuss gefallen, das ist die Wahrheit. Doch wir haben Nachricht erhalten, dass die Preußen und Österreicher ein Ultimatum gestellt haben. Unsere Führung wird nicht darauf eingehen, wir werden das Herzogtum Schleswig nicht räumen. Es kann sein, dass wir kämpfen müssen. Zunächst aber tun wir alles, um die Stellung auszubauen und die Unterkünfte fertigzustellen. Wir sind den ganzen Tag schwer beschäftigt.

Sorge dich nicht zu sehr. Wir haben Zwieback, Speck, Kaffee und Tabak, mehr braucht ein Mann nicht zum Überleben. Außer der Liebe und den Gedanken der Daheimgebliebenen.

Du fehlst mir. Vergiss mich nicht.

Mads ließ die Schreibfeder sinken. Seine eisigen Finger erlaubten ihm nicht, noch länger zu schreiben, und es war auch alles gesagt. Er sah Bodil vor sich, wie sie sich an den Ofen setzte, langsam den Brief entfaltete und jedes seiner Worte in sich aufsog. Er wusste, sie würde sich sorgen, doch er konnte sie nicht belügen. Jedenfalls nicht zu sehr. Es stimmte, sie hatten Kaffee und die anderen Dinge, jedoch in allzu kleinen Mengen. Schon bald würde nicht mehr ausreichend von allem vorhanden sein. Das Wetter wechselte zwischen Schneetreiben, Frost und eisigem Regen, sodass die Kleidung kaum je die Gelegenheit bekam, zu trocknen. Noch fühlte sich Mads gesund, von den Kameraden aber waren bereits einige an Fieber und bellendem Husten erkrankt.

Am schlimmsten waren die Nächte. Wenn er erst einmal schlief, war es tief und traumlos, doch bis dahin war es ein langer Weg. Er zitterte so sehr, dass er fürchtete, vom Dach zu fallen und sich den Hals zu brechen. Schließlich waren sie keine Vögel, die es gewohnt waren, in irgendwelchen Ästen sicher zu ruhen, ganz egal, wie stark der Wind war, der die Bäume rüttelte. Sie waren nur Menschen, dumme Menschen, die weder Federkleid noch Fell hatten, um sich vor dieser Witterung zu schützen. Was taten sie nur hier? Mehr als einmal stellte sich Mads diese Frage, bevor er einschlief.

Am Tage blieb kaum Zeit, über diese Dinge nachzugrübeln. Er als gelernter Handwerker war einer der gefragtesten Männer des gesamten Danewerks. Zwar wurden die Baracken und Geschützstellungen aus Holz hergestellt, nicht gemauert, doch auch der Umgang mit diesem Material lag ihm, da er seinem Vater oft in der Werkstatt hatte helfen müssen und die Handgriffe vertraut blieben.

So hämmerte und sägte, maß und berechnete er und war so beschäftigt, dass alle bösen Gedanken vergingen. Beinahe fühlte er sich wie zu Hause bei der Arbeit und konnte sogar für eine Weile vergessen, warum sie hier waren. Nur in den stillen Momenten vor dem Einschlafen oder kurz nach dem Wachwerden, wenn er wie jetzt an Bodil schrieb, verfluchte er sich für seine Entscheidung.

Wie würde es ihm erst gehen, wenn es tatsächlich zum Kampf kam? Er spürte schon jetzt, wie ihn das Wetter und die Anspannung zermürbten. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ein Soldat sein zu wollen? Es machte August nicht wieder lebendig, sich selbst zu quälen und sein eigenes Leben möglicherweise vorzeitig zu beenden. Das hätte sein Bruder nicht gewollt, und auch wenn der Vater diese Strafe für angemessen halten würde, war sie es nicht!

Doch nun war er hier, er war Teil einer Einheit, für seine Kameraden ebenso verantwortlich wie sie für ihn. Er hatte sich freiwillig gemeldet, nun musste er zu seinem Wort stehen. Mads seufzte, faltete und adressierte das beschriebene Blatt und machte sich auf, es bei der Poststelle abzugeben. Dort traf er auf seinen Freund Ferdinand, der ebenfalls einen Brief aufgab.

»Schreibst du deiner Bodil, Mads?«

»Natürlich. Und du schreibst an Inge?«

Ferdinand lachte. »Nein. An meine Mutter. Inge schert sich nicht um Briefe von mir, das hat sie mir deutlich gesagt.«

»Sie war bestimmt nur traurig über dein Fortgehen. Sie würde sich sicherlich freuen, von dir zu hören.«

»Meine Mutter freut sich mehr. Sie hat es jetzt nicht leicht ohne Mann in der Bäckerei. Immerhin konnte ich erreichen, dass sie den Betrieb allein weiterführen darf, bis ich zurück bin. Ich hoffe, Inge hilft ihr in der Backstube.«

Wie Mads die Ehefrau des Freundes kannte, war er sich da nicht so sicher, nickte jedoch bekräftigend. Was würde es nützen, Ferdinand noch zusätzlich zu beunruhigen?

Sie gaben ihre Briefe ab und gingen gemeinsam zurück zu den Kameraden, um zu frühstücken und ihr Tagwerk zu beginnen.

4

Angeln

2. Februar 1864

Der Mutter ging es nicht gut. Sie hatte sich in der Frühe übergeben und war gar nicht erst aufgestanden. Grete und Fie spielten friedlich mit ihren Puppen, und Line nutzte die Gelegenheit, sich davonzumachen. Ihre morgendlichen Pflichten waren getan, sodass sie ohne schlechtes Gewissen ihrer Wege gehen konnte.

Der Tag war frostig und trübe. Die Sonne hatte sich bisher nicht gezeigt, und vom Wald her schlich dichter Nebel über die Felder und in das Dorf. Line zog fröstelnd ihre Schals enger um sich. Sie fühlte sich seltsam. Normalerweise konnte sie es kaum erwarten, den Gutshof zu verlassen und durch die Gegend zu streifen. An diesem Tag jedoch war sie nicht in der Stimmung dafür. Sie versuchte es eine Weile, doch sobald ihre Kleider klamm wurden, hatte sie keine Freude mehr an ihrer Freiheit. Mit hängendem Kopf schlich sie zurück auf den Hof.

»He, Line!« Claus, der Knecht, der nach Johanns Tod eingestellt worden war, kam auf sie zu. »Hast du nichts zu tun? Du kannst mit mir runter nach Kappeln fahren, die Herrschaften haben Gäste zum Abendessen und wünschen Fisch.«

Lines Stimmung hellte sich augenblicklich auf. Sie mochte Claus, obwohl sie bei seinem Anblick stets an Johann und dessen trauriges Ende denken musste. Doch das war schließlich nicht die Schuld des neuen Knechts. Der war ein netter, junger Kerl, wenn er Line auch ein wenig einfältig vorkam.

»Gern. Ich suche die besten Fische aus!«

»Weiß ich. Darum nehm ich dich doch mit. Sag du der Herrin Bescheid, ich spanne an.«

Bald zuckelten sie im Pferdekarren die holprige Landstraße entlang nach Süden. Der Nebel wurde immer dichter, es schneite leicht, und Line wunderte sich, dass Claus und das Pferd nicht die Orientierung verloren. Das kräftige Kaltblut jedoch trabte zielstrebig voran durch die menschenleere Landschaft. Erst als sie sich gegen Mittag der Schlei näherten, nahm die Betriebsamkeit auf den Straßen zu.

»Wer sind diese Männer, Claus?«, wisperte Line und zeigte auf eine Gruppe Uniformierter.

»Dänische Soldaten. Die sind hier überall.«

»Dänen?« Line riss die Augen auf. »Echte Dänen aus dem Königreich oder Schleswiger wie wir?«

»Solche und solche, glaub ich.«

»Und was tun die hier?«

»Es wird erzählt, dass es Krieg gibt. Na ja, uns werden sie schon in Ruhe lassen.«

»Krieg? Warum denn bloß?«

»Keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern. »Kümmert mich auch nicht.«

Damit war die Angelegenheit für Claus erledigt. Line aber musterte die Männer mit den dunkelblauen Mänteln und Kappen, den hellblauen Hosen und den hohen, glänzend schwarzen Stiefeln argwöhnisch. Sie trugen Gewehre in den Händen, und an ihren Gürteln hingen lange, schmale Klingen, die in dem dumpfen Licht des Nebeltages matt schimmerten.

Bevor sie nach Kappeln einfuhren, passierten sie Wälle und Zäune, hinter denen sich die Soldaten gesammelt hatten. Line war zuletzt im vergangenen Herbst in Kappeln gewesen und konnte sich nicht erinnern, damals schon solche Dinge hier gesehen zu haben. Claus zügelte das Pferd und ließ es langsam durch den schmalen Durchlass in den Wällen gehen. Das gab Line die Gelegenheit, sich alles noch genauer anzusehen. Die Soldaten saßen oder standen vor einfachen Unterständen und Hütten, die kaum genug Schutz vor dem Wetter bieten konnten. Und da waren dicke, schwarze Rohre auf riesigen Rädern, die ihre Öffnungen bedrohlich auf sie richteten.

»Was ist das?«, flüsterte Line und zeigte auf eines der seltsamen Gefährte.

»Eine Kanone«, sagte Claus, als wäre es etwas ganz Gewöhnliches, während er das Pferd wieder antrieb. »Sie stopfen Kugeln rein und Schießpulver, und dann – bumm!«

Das Frösteln, das Line überlief, kam nicht allein von der feuchten Kälte, die ihr unter die Kleider gekrochen war. Schnell begann sie, das Abendlied zu summen, und als sie am Hafen Halt machten und die Verkaufsstände der Fischer aufsuchten, hatte sie sich beruhigt. Claus hatte bestimmt recht. Wer sollte ihnen schon etwas anhaben wollen?

Sie suchte fünf schöne, fette Dorsche aus und handelte die Fischersfrau noch herunter, als Claus bereits den geforderten Preis zahlen wollte. Stolz auf sich und ihr Geschick kletterte sie wieder auf den Pferdewagen. Claus sah sie von der Seite bewundernd an.

»Schade, dass du noch so jung bist, mein blondes Engelchen. Dich könnte ich mir als mein Weib vorstellen.«

»Halt die Klappe, Claus. Ich heirate nicht. Und von einem Engel bin ich meilenweit entfernt.«

»Aber sicher heiratest du. Und warum dann nicht mich? Ich kann noch ein paar Jahre warten.« Er sagte es so freundlich, dass Line wusste, vor ihm brauchte sie keine Angst zu haben. Sie musste lachen.

»Da kannst du warten, bis du schwarz wirst.«

»Meinetwegen.« Claus lachte ebenfalls, und sie machten sich auf den Heimweg.

Line ließ ihren Blick auf der Schlei ruhen, bis sie sie hinter sich gelassen hatten. Sie war kein Fluss, sondern ein Meeresarm, das wusste Line. Ihr gefiel das ruhige Gewässer, das das flache Land durchschnitt. Es war an manchen Stellen unüberwindbar breit, an anderen wieder so schmal, dass man meinte, ohne Mühe ans gegenüberliegende Ufer schwimmen zu können. Line hatte es noch nie versucht, doch es war eines der Dinge, die sie sich für den kommenden Sommer fest vorgenommen hatte. An diesem Tag jedoch trieben Eisschollen im Wasser, und die ufernahen Bereiche waren gefroren.

Als sie wieder die dänischen Stellungen mit den Kanonen passierten, kehrte das mulmige Gefühl in Lines Bauch zurück. Die Soldaten unterhielten sich leise, doch einzelne Worte drangen an Lines Ohr.

Krieg.

Kämpfen.

In ihrem einzigen Schuljahr war der Großteil des Unterrichts auf Dänisch abgehalten worden, sodass sie die fremde Sprache fast so gut zu verstehen gelernt hatte wie ihre eigene. Naturtalent hatte ihr Lehrer sie genannt. Es hatte ihr nichts genützt. Die Mutter hatte jeden weiteren Schulbesuch verboten, obwohl Line wusste, dass Kinder eigentlich bis zur Konfirmation in die Schule gehen mussten. So stand es geschrieben, doch die Mutter hatte angegeben, Line bei der Arbeit und für die Aufsicht über ihre Schwestern zu benötigen, und schon war keine Rede mehr von der Schule gewesen. Und das, obwohl doch diese seltsame Patin, die sie nie getroffen hatte, ihr mindestens für ein weiteres Jahr alle Kosten bezahlt hätte. Obwohl sie noch so vieles hätte lernen können, was ihr vielleicht ermöglicht hätte, später einmal mehr zum Auskommen ihrer Familie beizutragen.

In diesem Augenblick aber, hier auf dem Wagen mit Claus, wünschte Line, sie würde die Sprache der Soldaten nicht verstehen.

Preußen.

Kämpfen.

Krieg.

Tod.

Das Schlimmste war, dass sie ihre Furcht in den Augen der jungen Männer widergespiegelt sah. Claus mochte noch so sehr behaupten, der Krieg ginge sie nichts an – Line glaubte ihm nicht. Der Knecht begann, ein fröhliches Lied zu pfeifen, doch sie hörte nur die Stimmen der Soldaten, sogar noch, als sie sie längst hinter sich gelassen hatten.

Line war froh, dass Claus pfiff und vor sich hinplapperte, ohne eine Antwort von ihr zu erwarten. Sie saß zusammengekauert auf dem Wagen, ihre Wollschals eng um sich geschlungen, doch das Frösteln wollte nicht nachlassen. Immer wieder sah sie die Waffen vor sich, die mannshohen Gewehre, die langen, scharfen Klingen. Sie stellte sich vor, wie diese in die Körper der Feinde drangen, sie aufschlitzten und tot zusammenbrechen ließen.

Line fragte sich, wer diese Feinde waren. Wen wollten diese Dänen töten?

Sie wusste, dass es im Norden ein Land gab, das das dänische Königreich genannt wurde. Und dass Schleswig, ihre Heimat, irgendwie zu diesem Königreich gehörte und irgendwie auch wieder nicht. In der Schule wurde Dänisch gesprochen und gelehrt, und es gab viele Menschen, die es auch im Alltag sprachen. So wie sie und ihre Mutter Deutsch und wieder andere Friesisch sprachen, das sich seltsam anhörte und Line neugierig machte, es zu lernen.

Sie hob erneut an, Claus nach dem Krieg zu fragen, doch er machte nur eine abwehrende Handbewegung und fuhr mit dem Pfeifen fort. Auf einmal meinte Line, es keinen Augenblick länger ertragen zu können. Sie hielt sich die Ohren zu und begann, ihr eigenes Lied zu summen, aber dieses Mal machte es die Furcht nicht kleiner.

Und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.

Doch dieser Nebel war nicht wunderbar. Er war beängstigend. Line fühlte sich, als würde ihr die Luft zum Atmen genommen, als würde sich weiße, feuchte Watte überall um sie herum befinden und ihre Fasern in ihren Mund dringen, in ihre Nase und ihren ganzen Körper.

Kaum dass sie den Gutshof erreichten, sprang sie vom noch fahrenden Karren und lief in ihre Kammer.

5

Danewerkstellung

2. Februar 1864

Sie hatten es geahnt, schon tagelang. Angespannte Erwartung hatte in der Luft gelegen, seit die Nachricht vom abgelehnten Ultimatum die Danewerkstellung erreicht hatte. Mads hatte in den Gesichtern seiner Kameraden die gleichen Gefühle gesehen, die sich zweifellos auch auf seinem zeigten – Furcht vor dem Ungewissen, gemischt mit einer nervösen Aufregung und aufgesetzter, teils ausufernder Heiterkeit. Ruhelos hatten sie in jeder freien Minute auf den Schanzen gestanden und in die Ferne gespäht.

Nun war aus der Ahnung Gewissheit geworden. Die ersten Schüsse dieses Krieges waren gefallen, als die Preußen am Vortag die Eider überquert hatten und gegen die dänischen Stellungen vorgerückt waren. Weitere Angriffe würden folgen. Mads und die anderen standen in vorderster Linie und würden die Feinde am Vordringen in den Norden hindern!

So hatten die Offiziere es ihnen heute beim Frühstück gesagt. Sie hatten alles darangesetzt, Begeisterung in ihren Untergebenen zu wecken, und bei vielen war es gelungen.

Mads aber fragte sich, wer diese Feinde waren und was sie zu ihren Feinden machte. Waren es nicht junge Männer wie er? Die meisten würden nicht einmal einen persönlichen Grund haben, in diesen Krieg zu ziehen, sondern waren schlicht einberufen worden. Was gab ihnen das Recht, die Waffen gegeneinander zu erheben?

Er hatte seinen Kaffee getrunken, der schon kalt gewesen war, kaum dass Mads ihn in den Becher gefüllt hatte. Nachdenklich hatte er die Kameraden betrachtet, von denen nicht alle zu ihren Familien zurückkehren würden. Er war ein kleiner Junge gewesen, als der Dreijährige Krieg unzählige Opfer gefordert hatte, und sah sie noch vor sich: die verstümmelten Männer, die weinenden Witwen, die vielen neuen Kreuze auf den Friedhöfen. Wie viele würden es dieses Mal sein?

Als fernes Donnergrollen aufzog, dachten sie zunächst an ein Gewitter. Dann aber kam der Reiter: »Die Preußen greifen Missunde an! Erst mit der Infanterie, dann mit Kanonen, jetzt wieder mit Fußsoldaten. Das Dorf brennt schon, doch unsere Stellung hält stand!«

Das Dorf brennt schon …

Mads sah die Menschen vor sich, deren Häuser in Flammen aufgingen. Frauen wie seine Bodil, die niemandem etwas zuleide getan hatten, Kinder wie das, das er sich sehnlichst wünschte. Ihm blieb jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Der Krieg war da, keine drei Meilen von ihnen entfernt. Seine Truppe wurde versammelt, es folgten Waffenübungen, stundenlang. Immer wieder zogen sie ihre Bajonette und gingen aufeinander los. Sie übten das schnelle Laden ihrer Gewehre, bis sie es im Schlaf hätten tun können – das Pulvertütchen aufreißen, den Inhalt in den Lauf schütten, feststopfen, dann die Kugel hineinpressen. Immer wieder zielten sie, schossen auf Holzzäune. Der Pulverdampf färbte ihre Gesichter schwarz, während ihre Kameraden in Missunde um ihr Leben kämpften. So wie sie selbst es am folgenden Tag tun würden. Denn so lautete ihr Befehl: hinaus auf den Königshügel, dem Feind entgegen.

Mads hatte die unbewaldete Anhöhe im Vorfeld des Danewerks schon in den Tagen ihrer Ankunft erklommen. Es war ein eisiger, aber klarer Tag gewesen, und kurz hatte sich sogar die Sonne gezeigt. Man hatte weit ins Land blicken können, über die flachen Felder bis zu den Dächern der Stadt Schleswig. Die nahen seeähnlichen Noore und die Schlei, über die diese mit dem Meer verbunden waren, hatten ruhig dagelegen, das Sonnenlicht hatte ihre Oberfläche zum Glitzern gebracht. Und nun sollten sie diese friedliche Landschaft mit Kampf und Tod überziehen.

Mads fragte sich, wie weit sie am folgenden Tag würden blicken können. Der Nebel hüllte alles ein, als seien die Wolken vom Himmel gekommen und hätten sich auf der Erde niedergelassen. Bis zum Abend wurde die Sicht nicht besser.

Obwohl die Nachricht eintraf, dass es zwar Verluste auf beiden Seiten gegeben habe, Missundes Verteidigung aber standgehalten hatte, wurde es eine unruhige Nacht für Mads und seine Kameraden. An den kalten Wind, der durch die Dachbalken der Baracken pfiff, auf denen sie lagen, hatten sie sich gewöhnt, auch daran, langsam eingeschneit zu werden, die Finger und Nasen nicht mehr zu spüren. Doch es waren die Gedanken an das Kommende, die die Männer keine Ruhe finden ließen.

Im Morgengrauen kletterte Mads als Erster vom Dach, nachdem er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Seine Schritte knirschten auf dem hart gefrorenen Schnee, und er blies in seine Hände, um sie aufzutauen. Er fühlte das dringende Bedürfnis, an Bodil zu schreiben, ein letztes Mal vielleicht, doch da riefen schon die Offiziere ihre Männer zusammen. Ein schnelles Frühstück wurde ausgegeben, die klamme Kleidung so gut es ging am Feuer getrocknet. Der Kaffee war dünn und lauwarm, der Zwieback hatte durch die ständige Feuchtigkeit jede Knusprigkeit verloren. Mads kaute und hatte das Gefühl, an der Pampe in seinem Mund zu ersticken. Doch auch das Schlucken fiel ihm schwer. Die Aussicht auf den Tag schnürte seine Kehle zu.

Dann war es so weit – der Befehl erklang, sie schulterten ihre Tornister, nahmen ihre Waffen in die kältestarren Hände und verließen die schützenden Wälle. Der Schnee fiel mal stärker, mal schwächer vom grauen Himmel. Mads hielt mit den Kameraden Schritt, doch sein eigener Herzschlag pochte ihm so laut in den Ohren, dass er nichts anderes hörte. Er fühlte sich so hilflos, wie er sich bisher nur ein einziges Mal in seinem Leben gefühlt hatte – als sein Bruder August vor seinen Augen versunken war. Er spürte die stetig zunehmende Kälte des Tages so heftig, als triebe er selbst in einem See voller Eisschollen. Nicht einmal das schnelle Gehen brachte ihn dazu, sich wärmer zu fühlen. Er hätte am liebsten das Gewehr weggeworfen, wäre fortgelaufen, nach Hause zu Bodil, hätte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und den Krieg vergessen. Doch das war unmöglich. Seine Vorgesetzten riefen Befehle, und er befolgte sie so wie alle anderen. Sie ließen das schützende Danewerk hinter sich und boten ihre verletzlichen Körper dem Feind dar.

Sie passierten die Vorpostenstellungen bei Bustorf und dem Dorf Wedelspang, dann erklommen sie den Königshügel, bergan über den hart gefrorenen Boden. Mads wurde eingeteilt, mit vier weiteren Soldaten eine Kanone hinaufzuschieben. Es war ein schmales Ding auf Rädern, die ihm bis zur Schulter reichten, doch auf dem unwegsamen Gelände wog das Gefährt so schwer, dass die Männer bereits nach wenigen Metern schnauften. Plötzlich rutschten Mads’ Füße weg, er fiel bäuchlings hin und glitt ein Stück bergab. Panik erfasste ihn – wenn die anderen die Kanone nicht halten konnten, würde sie ihn überrollen!

Die angstvollen Rufe der Männer bestätigten seine Furcht, er hörte schon das Knirschen der Räder dicht an seinem Ohr, wälzte sich herum und rappelte sich auf. Gerade rechtzeitig, um sich auf die Kanone zu stürzen und den Kameraden zu helfen, sie unter Kontrolle zu bringen. Sie schafften es unter Aufbietung all ihrer Kräfte, schoben das Gefährt das letzte Stück den Hügel hinauf und ließen sich keuchend zu Boden fallen, kaum dass sie es sicher positioniert hatten.

Mads’ Arme und Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus durchgeweichtem Zwieback, sie zitterten, und kalter Schweiß durchnässte sein Hemd. Er öffnete seinen Tornister, nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und bemühte sich, ruhig zu atmen. Er folgte mit dem Blick dem Lauf der Kanone, der den Hügel hinab auf die Ebene deutete. Noch war kein Feind zu sehen. Knicks, dicht mit Sträuchern bewachsene Erdwälle, durchzogen das Gelände und boten den dänischen Soldaten Deckung. Am Fuße des Königshügels lag das Dorf Oberselk, in dem ebenfalls Truppen postiert waren.

Mads und seine Kameraden wurden zusammengerufen und ihren Positionen zugeteilt. Sie nutzten die Unebenheiten des Geländes, kauerten sich in Gräben und hinter Anhöhen. Dann warteten sie zitternd auf das, was geschehen würde. Und es geschah.

Trompetenfanfaren, die die Luft durchschnitten, waren das erste Anzeichen, dass es begann. Mads kniete sich hin, spähte über den Rand der Anhöhe und hielt den Atem an. Der Lärm von Schüssen hallte bis zu ihnen hinauf, dann loderte Mündungsfeuer im Dorf Oberselk auf. Die Feinde rückten vor. Von seiner erhöhten Position konnte Mads alles genau beobachten, und was er sah, ließ ihm das Herz schneller schlagen. Immer weiter wurden die Dänen aus dem Dorf und dem umliegenden Gelände zurückgedrängt, immer näher kam der Krieg zu ihm. Er hatte sich etwas beweisen wollen und befand sich nun in einer Lage, aus der es keinen Ausweg gab. Er dachte an Bodil, und Tränen stiegen in ihm auf.

»Bereit machen, Männer!«, rief sein Kommandant. »Die Österreicher sind im Anmarsch.«

Österreicher also. Nicht die Preußen, die am Vortag das Blutbad in Missunde angerichtet hatten. Dort hatten sie nicht siegen können. Würde es den Verbündeten hier gelingen? Sie mussten es verhindern!

So, wie er von seinem Platz aus die Vorgänge in südlicher Richtung beobachten konnte, vermochte man in entgegengesetzter Richtung hinter die dänischen Schanzen zu sehen. Es durfte nicht geschehen, dass den Feinden die Erstürmung gelang!

Doch die österreichischen Kolonnen rückten vor, passierten Knick um Knick und hatten schließlich den Fuß des Hügels erreicht.

»Laden – Feuer!«, ertönten die Befehle, und Mads befolgte sie, wie er es bei den Waffenübungen so oft getan hatte. Er schoss zum ersten Mal auf einen Menschen und war froh, durch den Qualm nicht zu sehen, ob und wen er traf. Laden, feuern, laden, feuern – mechanisch, ohne nachzudenken, vollzog er immer wieder dieselben Handgriffe. Kanonenschüsse krachten neben ihm, Blitze aus Rohren und Gewehrläufen zuckten durch den grauen Nachmittag.

Er wusste nicht, ob es Minuten oder Stunden waren, die sie die Österreicher mit ihren Schüssen auf Abstand hielten. Die Geräusche um ihn herum vermischten sich zu einer grauenerregenden Symphonie aus Schreien, Knallen und Trompetenklängen. Irgendwann stand er auf und folgte den Kameraden ein Stück den Hügel hinab auf den Feind zu.

Nun war es so weit. Mann gegen Mann, Auge in Auge mit dem Feind, der auch nur aus jungen Männern bestand, die aus dem einen oder anderen Grunde keine Wahl hatten, als in diesem Augenblick genau an dieser Stelle zu sein und um ihr Leben zu kämpfen. Denn kämpften sie wirklich um irgendetwas anderes? Um Land, um Macht? Für einen fernen König oder Kaiser? Mads glaubte nicht mehr daran.