Das Lexikon der Tabubrüche - Arne Hoffmann - E-Book

Das Lexikon der Tabubrüche E-Book

Arne Hoffmann

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Beschreibung

Was sagt mehr über eine Kultur als ihre Tabus. Insofern dienen Tabubrüche immer einer politischen Veränderung. Das erkannten schon die 68er, die eine weitgehende Enttabuisierung der Gesellschaft forderten, da Tabus immer nur zur Sicherung der herrschenden Ordnung dienten. Heute finden viele Tabubrüche vor allem von rechts statt, während uns das Internet eine Gesellschaft vorgaukelt, in der die letzten Tabus verloren gegangen sind. Tatsächlich aber sind viele Tabus immer noch wirkmächtig und führen dazu, bei bestimmten Themen eine sichere Distanz beizubehalten. Dieses Lexikon deckt auf, welche Tabus gebrochen wurden, welche überlebt haben und welche neu entstanden sind. Wie sich Tabubrüche vollzogen und welche gesellschaftlichen Folgen sie bewirkt haben. Und es stellt die Frage: Wann ist ein Tabubruch sinnvoll – ja notwendig und wann sollten wir festhalten an einem Tabu?

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2. erweiterte und aktualisierte Auflage April 2018

©opyright 2015 by SALAX und Arne Hoffmann

Cover By Nicole Laka

eBook-Gestaltung by Nicole Laka

eISBN: 978-3-944154-58-9

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

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SALAX

Postfach 1313

64703 Erbach

www.salax-verlag.de

VORWORT

Things fall apart: the centre cannot hold;

Mere anarchy is loosed upon the world,

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

The ceremony of innocence is drowned

«THE SECOND COMING», W. B. YEATS, 1919

Picasso wird von dem Kommandanten der nationalsozialistischen Besatzungstruppen in Paris zu sich gerufen. Dieser zeigt dem Künstler eine Reproduktion seines berühmten Gemäldes der Stadt Guernica, nachdem sie im spanischen Bürgerkrieg von deutschen Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde. «Haben Sie das gemacht?», fragt der Kommandant in einem bedrohlichen Tonfall. «Nein», antwortet Picasso. «Das waren Sie.»

HISTORISCHE ANEKDOTE

«Es ist immer eine anfänglich sozial keineswegs hochgeachtete Gruppe, die das Tabu verletzt, den tabuisierten Raum so weit entdämonisiert und sicher macht, dass auch die Mehrheit ihn zu betreten wagt.»

ALEXANDER MITSCHERLICH

«Man muss immer die richtige Gruppe hassen, um im Trend zu bleiben.»

ROBERT ANTON WILSON

Diese vier Zitate zeigen sehr gut die wesentlichen Punkte, um die es geht, wenn von Tabubrüchen die Rede ist. Am Anfang steht oft die Klage, heutzutage sei offenbar alles erlaubt, und das würde ganz bestimmt zum Untergang aller gesellschaftlichen Werte führen. Diese Befürchtung allerdings hört man mindestens seit der griechischen Antike. Mozarts Opern waren bei der Uraufführung Skandale, die Bilder Caspar David Friedrichs grenzten an Gotteslästerung, den Ma1er William Turner hielt man geradezu für irre. Aber andere Künstler und Denker zitieren das schockierende Werk in ihren eigenen, imitieren es, der Effekt lässt nach, verursacht schließlich nurmehr ein Gähnen. Der Impressionismus sorgte in seiner Zeit für Aufruhr, heute ist er ein Tapetenmuster.

Ähnlich ist es im Bereich der Wissenschaft. Denken wir etwa an Galileo Galilei. Er entwickelte ein astronomisches Fernrohr, betrachtete damit den Sternenhimmel und stellte so fest, dass die Theorie von Kopernikus richtig war: Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt, wie man die ganze Zeit geglaubt hatte. Als Galilei seine gesammelten Fakten in einem Buch veröffentlichte («The Starry Messenger»), wurde er der Ketzerei beschuldigt. Daraufhin bat er eine Gruppe Jesuitenpriester zusammen und forderte sie auf, selbst durch sein Teleskop zu schauen, um sich ein Bild zu machen. Sie alle lehnten ab, bis auf einen, und auch der konnte nicht glauben, was er da sah. Er befand, es läge nur am Fernrohr, ohne das Gerät wäre alles in Ordnung. Für die anderen Priester aber war schon der Blick durch dieses Fernglas ein unumstößliches Tabu.

In der Geschichte der Menschheit verschieben mutige Pioniere die Grenze weiter und weiter nach vorne, und was früher das Niemandsland außerhalb jeder Zivilisation war, ist mittlerweile ein Teil der Innenstadt.

Es gibt aber auch gegenläufige Bewegungen und neue Tabus entstehen, wo früher keine waren. Beispielsweise wurde zu dem Zeitpunkt, als die Neuauflage dieses Lexikons vorbereitet wird (das Original erschien 2003), Stevie Schmiedel von der feministischen Gruppe «Pinkstinks» durch die ebenfalls feministische Bundesfrauenministerin Schwesig (SPD) mit der Kontrolle des Deutschen Werberats beauftragt. Pinkstinks wiederum fordert, «sexistische» Werbung zu verbieten, wobei Reklame unter anderem als «sexistisch» gelten soll, «wenn sie Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet». Werbung, die eine Hausfrau zeigt, die Wäsche in eine Waschmaschine legt, wäre demnach in der Reklame tabu. Wenn man noch in den neunziger Jahren vorhergesagt hätte, dass bald solche Tabus errichtet werden, wäre die Reaktion Unglaube und Verständnislosigkeit gewesen.

Was aber bedeutet der Begriff «Tabu» eigentlich? Ursprünglich stammt dieser Ausdruck aus Tahiti. Im Jahr 1784 brachte ihn der Seefahrer James Cook in unsere Gesellschaft. Die tahitischen Ureinwohner hatten nämlich Cook und seine Männer bei allen Gegenständen, die sie nicht berühren durften, gefragt, ob diese «tabu» seien. Außerdem verwendeten sie das Wort «Tabu» für einen Baum, den sie für so heilig hielten, dass jeder, der ihn berührte, übernatürliche Bestrafung auf sich zog. Während man lange Zeit glaubte, solche Tabus kämen nur bei «primitiven Stämmen» vor, zeigten Völkerkundler wie Mary Douglas und Edmund Leach später, dass auch der industrialisierte Westen, ja, dass jede Gesellschaftsform von ihren ganz eigenen Tabus bestimmt wird.

Es war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der in seiner berühmten Aufsatzsammlung «Totem und Tabu» (1912–1913) die Doppelnatur des Tabus aufzeigte:

Einerseits gehört es zur Sphäre des Heiligen, andererseits zur Sphäre des Unheimlichen, Verbotenen, Gefährlichen und Unreinen. Das Objekt des Begehrens ist häufig gleichzeitig das Objekt, mit dem man nicht in Kontakt kommen darf.

Dieser Kontakt darf oft nicht einmal auf metaphorische, intellektuelle Weise stattfinden. Vor diesem Hintergrund entstehen unterschiedliche Formen von Tabus, beispielsweise Handlungs-, Sprech- und Darstellungsverbote. Am nachvollziehbarsten wird der Unterschied zwischen diesen drei Verbotstypen beim Thema sexueller Missbrauch von Kindern: Dass er ein Handlungstabu darstellt ist klar, denn er ist ein Verbrechen und richtet oft großen seelischen und körperlichen Schaden an. Dass er in unserer Gesellschaft aber auch etwas war, über dessen Existenz nicht einmal gesprochen und das so auch nicht bekämpft werden durfte, kritisierten zu Recht viele Menschen, denen der Schutz der Opfer am Herzen lag. Inwiefern man sexuellen Missbrauch aber in Filmen, Comics und anderen (insbesondere bildlichen) Texten darstellen darf, das ist auch heute noch heiß umstritten.

In unserer Zeit ist «Tabu» immer mehr zum Schmähwort geworden. Im Medienzeitalter über irgendetwas nicht sprechen oder es nicht darstellen zu dürfen, das verstehen in unserem demokratischen und aufgeklärten Zeitalter viele als Entmündigung. Die offene Gesellschaft tut sich schwer mit solchen Verboten. Gleichzeitig aber gibt es eine sehr kontrovers geführte Diskussion um die so genannte politische Korrektheit. Deren Befürworter bekunden mit Nachdruck, dass es sehr wohl Dinge gibt, die man nicht aussprechen darf, um nicht böse Geister zu wecken. Gegner dieser Haltung protestieren immer wieder gegen die mit ihr verbundenen Denk- und Sprechtabus, weil sie darin ihre persönliche Freiheit beschnitten sehen.

Manche haben auch den Eindruck, dass wir mittlerweile in einer Konsensgesellschaft leben, in der wir über wichtige Themen nicht sprechen, nur weil wir jeden Konflikt vermeiden möchten. So machte der Medienwissenschaftler Peter Glotz im Zusammenhang mit der Bioethik-Debatte etwa eine Form von «Angstkommunikation» und einen «neuen Moralismus» aus, der sich von der «Süddeutschen» bis zur «Welt» durch die unterschiedlichsten Medien ziehe und dabei «gelegentlich alle Perspektiven verliert».

So wie vor 50, 100, 1000 Jahren ist moralische Empörung noch immer das Mittel der Wahl, um ein Tabu durchzusetzen. Faszinierenderweise gelang insbesonders Gruppen, die sich als Opfer der Gesellschaft zeigten, durchzusetzen, welche Äußerungen sozial gestattet waren und welche nicht. Vertreter von Behinderten versuchen, Peter Singer aus der Diskussion auszugrenzen, Vertreter der Juden taten dasselbe mit Norman Finkelstein. Mitglieder der Frauenbewegung setzten durch, dass in der Geschlechterdebatte nur noch die weibliche, nein, vielmehr nur noch die feministische Sicht der Dinge gestattet war. Tabuisiert werden vor allem die Positionen derjenigen, die (oft mit Extremfällen als Beleg) in irgendeiner Weise als «Täter» ausgemacht werden konnten: Genforscher, Minderheiten der sexuellen Orientierung, religiöse Splittergruppen und Philosophen mit gewagten Positionen – ihnen allen, so heißt es immer wieder, könnten die Medien und die politischen Parteien doch unmöglich auch noch ein Forum für ihre verquasten Ansichten geben. Die Medien und die Parteien spielen oft mit. Alles andere würde ja auch bedeuten, dass sie selbst auf die Täterseite gestellt würden.

Die Macht des Tabus liegt in der öffentlichen Beschämung desjenigen, der dagegen verstößt. So wie man in den siebziger Jahren nicht über die Isolationsfolter von Terroristen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim sprechen durfte und Heinrich Böll als einziger Prominenter wagte, freies Geleit für Baader-Meinhof einzufordern (und dafür auch reichlich Prügel bezog), so zeichnet man auch heute vor allem diejenigen Bürger mit Preisen für Zivilcourage aus, die sich ohnehin nur in sicheren Gewässern bewegen. Auch die staatlichen Zensoren setzen ihre Verbote durch, indem sie sich auf die Moral berufen: den Schutz von Schwächeren (Kindern) oder der Gesellschaft insgesamt.

Die Schlüsselformulierung, um ein Werk zu indizieren, lautet immer noch, dass es «sittlich desorientierend» sei, also gegen die gesellschaftlichen Grundtabus verstoße. Es verwundert nicht, dass viele der von Zensoren angegriffenen Werke zur künstlerischen Avantgarde gehören, ob in Literatur oder Film. Denn ein solches Infragestellen der bestehenden Werte war immer die Aufgabe von Kunst. Andererseits, das muss man einräumen, macht ein Tabubruch an sich noch keine Kunst aus.

Zum Wechsel des neuen Jahrtausends beklagen viele Kulturkritiker einen völligen Verlust an Tabus in unserer Gesellschaft. Der letzte noch denkbare Tabubruch könne nur darin bestehen, die alten Tabus wieder zu respektieren, finden nicht nur Konservative. Fast vierzig Jahre nach dem Beginn der sexuellen Revolution ist auch das Allerintimste bis hin zu ungewöhnlichen sexuellen Randbereichen in Nachmittags-Talkshows zu besichtigen. Etliche Zeitschriften, Kinofilme und Fernsehbeiträge kokettieren marktschreierisch mit angeblich immer neuen Tabubrüchen, in der Hoffnung, so von einem größeren Publikum wahrgenommen zu werden. «Wenn nicht wieder alles täuscht», schrieb die Satirezeitschrift «TITANIC» deshalb schon

im Oktober 1994, «wird zur Zeit und durchaus sonderbarerweise äußerst vielerlei 1) als Tabu bezeichnet, 2) als solches dann eiskalt gebrochen, oder auch 3) wildentschlossen ein ganz neues verlangt – und umgekehrt. Vermutlich ist es aber nur der Anfang.»

Medienkritische Journalisten wie Christoph Türcke sprechen in diesem Zusammenhang von «vordergründiger Tabubrecherei», von inszenierten Gewagtheiten, die in Wahrheit ohne Konsequenzen bleiben, die gesellschaftliche Ordnung vielleicht gerade erst bestärken. Denn solche Tabubrecher, so Türcke, seien allzu oft «darauf bedacht, dass ja nicht das Nervensystem einer Weltwirtschaftsordnung angegriffen werde, über deren Tabucharakter Rechenschaft abzulegen bei ernstlichem ‹Denken ohne Geländer› der erste Schritt sein müsste. Dabei wäre genau zwischen unnötiger und unvermeidlicher Unterdrückung zu unterscheiden, folglich zwischen unnötigen Tabus und unerlässlichen.»

Wenn wir es wirklich mit einer völlig tabufreien Medienwelt zu tun hätten, wie manche behaupten, dann wäre beispielsweise eine Fernsehserie um einen transsexuellen Anwalt, eine pädophile Detektivin und einen sympathischen Drogendealer, die gemeinsam einen verbrecherischen Juden jagen, kein Problem. Genauso wenig das Lifestyle-Magazin, das Kannibalismus als alternativen Trend für Gourmets behandelt. Der echte Tabubruch ist genau der Moment, wo der postmoderne Medienzirkus mit seinem unaufhörlichen gegenseitigen Spiegeln und Zitieren für einen Moment aufgebrochen wird und etwas Neues hineingelangt.

Aber so wie verschiedene historische Perioden und verschiedene Kulturen oft ganz unterschiedliche Tabus aufweisen, so gilt das mindestens zum Teil auch für unterschiedliche Medien. Was im Kino geht, geht im Fernsehen oft noch lange nicht. Und was in den traditionellen Medien tabu ist, weil diese von so vielen Konsumenten wie möglich akzeptiert werden müssen, ist im Internet durchaus möglich.

Und nicht nur, was die viel beschrieenen Darstellungen von Sex und Gewalt angeht. Auch neue politische Thesen und Konzepte (wie beispielsweise die der Männerbewegung) lassen sich im Web problemlos verbreiten und finden regen Zulauf, während in den traditionellen Medien noch der eisige Mantel des Schweigens darüber gelegt wird. Das Web entzieht sich stark den nicht-staatlichen Zensurinstanzen (Chefredaktion, Werbekunden); jeder kann mit den geringsten Hindernissen seine Meinung verbreiten, Bestätigung finden, Gruppen gründen. Auch die Kontrollinstanzen des persönlichen Umfelds (Eltern, Freunde oder Kollegen) haben erst einmal nichts zu sagen.

Dass in unterschiedlichen Medien unterschiedliche Tabus gelten, zeigt sich aber auch im Bereich der Popmusik. Atomic Kitten singen auf CD «You Can Make Me Whole Again», aber auf der Bühne schon mal «You Can Fuck My Hole Again». The Beautiful South hingegen verkünden im Radio «Don’t Marry Her, Take Me», auf CD jedoch «Don’t Marry Her, Fuck Me» (und ersetzen im Text «Sandra Bullock» durch «sweaty bollocks»). Dieses Spiel kennt man spätestens seit Geier Sturzflugs «Bruttosozialprodukt» – ein Lied der achtziger Jahre, in dem die Müllabfuhr mal «den ganzen Plunder», mal «sich einen runter» holte.

Tabus auf ihre Berechtigung abzuklopfen ist allerdings selbst bereits tabu. Sie sind Selbstverständlichkeiten, für die man keine weitere Begründung mehr braucht. Politisch kann das durchaus ein Problem darstellen, denn solch eine Vereinfachung macht eine differenzierte Analyse und erst recht eine sachliche Auseinandersetzung oft unmöglich. Tabus bedeuten «gehorchen, ohne zu fragen», wie es der Sozialpsychologe Stephan Rudas einmal formulierte. Es ist insofern kein Wunder, dass die 68 er-Generation einen Umsturz der überkommenen Tabus einforderte, weil sie damit Strukturen gesellschaftlicher Unterdrückung verband. Für die Konservativen hingegen waren Tabus die vernünftigen und notwendigen Grenzen, die überhaupt erst eine funktionierende Gesellschaft ermöglichten. Gerade weil sie neuralgische Punkte waren, mussten sie geschützt werden. Heutzutage kann man in dieser Hinsicht links und rechts manchmal leicht verwechseln.

Typischerweise halten sich Tabus in bestimmten Sphären auf, die hier nur stichwortartig aufgeführt werden können.

Sexualität: Ungewöhnliche Praktiken wie Zoophilie oder Sadomasochismus.Gewöhnliche Praktiken, die aber aus unterschiedlichen Gründen als anrüchig oder verwerflich gelten (etwa Selbstbefriedigung, das Betrachten von Pornographie, das Aufsuchen von Prostituierten). Inzest und Pädophilie, insbesondere mit Frauen in der Täterrolle. Sexualität im Alter oder mit Behinderung. Offene/derbe Benennung der Sexualorgane («Fotze»). Öffentlicher sexueller Verkehr, auf welche Weise auch immer. Einer gerade erst getroffenen Person mitteilen, dass man gerne wilde, leidenschaftliche Liebe mit ihr machen möchte.Religion: Respektlosigkeit gegenüber den religiösen Gefühlen anderer, etwa durch Satire oder allzu scharfe Kritik.Tod: Mit einem Sterbenskranken offen über sein Ende sprechen. Sterbehilfe. Auch beim Reden über gerade Verstorbene werden beschönigende Wendungen («Abschied genommen») benutzt.Körper: Schlechten Atem oder Körpergeruch haben. Auf Zahnprothesen, Perücken oder andere «Ersatzteile» angewiesen sein. Übergewichtig sein. Zerstörung der Körpergrenzen durch extreme Gewaltanwendung oder durch Ausscheidung, einschließlich Menstruation. Krankheiten der Verdauungs- und Ausscheidungsorgane. Gentechnik und Klonen.Politik: Von den Werten der politischen Korrektheit abweichen, wenn es etwa um Umwelt- oder Minderheitenschutz geht. Politische Grundwerte wie das eigene Vaterland oder Demokratie in Frage stellen (auch: «Soldaten sind Mörder»). Hohe Amts- und Würdenträger durch den Kakao ziehen. Weitgehend abgelehnte Konzepte preisen (Kommunismus, Gottesstaat). Befreundete Nationen wie die USA oder Israel allzu nachdrücklich kritisieren (etwa als «Terroristenstaaten»). Der eigenen Regierung sehr scharfe Vorwürfe machen. Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse, die nicht ins gesellschaftliche Weltbild passen, bleiben lange unveröffentlicht (Beispiele in diesem Lexikon).Geld: Andere nach ihrem Einkommen fragen. Darüber sprechen, dass man selbst von Sozialhilfe lebt.Gefühle: Sozial unerwünschte Gefühle wie Gier, Hass oder Selbstmitleid offen zeigen. Keine Gefühle zu haben, die sozial erwartet werden (Liebe zu den eigenen Eltern oder Kindern). Männer, die Schwäche und Hilflosigkeit zugeben. Gefühlsüberschwang in der Öffentlichkeit. Verhalten im Zusammenhang mit Kontrollverlust oder Ignorieren sozialer Normen: Angeberei und völlig undiplomatische Ehrlichkeit. «Kindisches» Gebaren bei Erwachsenen. Schlechtes Benehmen (zum Beispiel Nasebohren, Rülpsen, Genitalien-Kratzen, Fluchen) in der Öffentlichkeit.«Versagen»: Berufliche Erfolglosigkeit. Einsamkeit. Bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter noch keinen Partner gehabt zu haben. Impotenz. Geistesschwäche. Analphabetismus. Selbstmord.

Wie anfangs gesagt, stellt ein Tabubruch immer eine Grenzverletzung oder -verschiebung dar. Aber interessanterweise haben auch die Themen, auf die sich ein Tabubruch bezieht, sehr häufig etwas damit zu tun, dass die Grenze zwischen zwei Gegensätzen gestört wird. Das kann die Grenze zwischen Mann und Frau sein (Transgender), zwischen Leben und Tod (Sterben), zwischen Liebe und Gewalt (Sadomasochismus), Kind und Erwachsenem (Pädophilie), Wissenschaft und ein dem ersten Anschein nach «magischen» Weltbild (Parapsychologie), Opfer und Täter (Finkelstein-Debatte) oder einfach die Grenze zwischen dem menschlichen Körper und seiner Außenwelt. Insofern verwundern zwei Dinge nicht: dass Tabubrüche in Grenzperioden am ehesten legitim sind (nie gibt es so viele Sendungen über Transsexuelle wie an Silvester) und dass ein Tabubruch häufig zunächst auf der humoristischen Ebene erfolgt: beispielsweise zu Karneval oder in der Satire. Wie der Witz stellt der Tabubruch eine verkehrte Welt dar. Homosexuelle wie Transgender erschienen zunächst häufig als komische Figuren in unseren Medien. Erst nach und nach kommt die gesellschaftliche Mehrheit mit dieser «Störung» zurecht und gemeindet die Abweichler ein.

Wie genau verläuft aber so ein Prozess? Wie spielt sich ein bestimmter Tabubruch ab, und wie reagiert die Öffentlichkeit? Welche bleibenden Folgen haben bestimmte ­Tabubrüche bewirkt? Welche Tabus haben sich verschoben oder verschieben sich gerade? Diese und viele andere Fragen wird das vorliegende Lexikon beantworten.

A

Die Ärzte

Berliner Punk/Rock/Sodapop-Trio und mittlerweile «beste Band der Welt», bestehend aus Farin Urlaub (Jan Vetter), Bela B. (Dirk Felsenheimer) und Rod (Rodrigo Gonzales), die ihre Lieder zu einem großen Teil den unterschiedlichsten Tabubrüchen widmete. So geht es in «Claudia» um 4 Zoophilie, in «Hannelores Tag ist grau, denn Helmut K. schlägt seine Frau» um Gewalt in der Partnerschaft, in «Bitte, bitte!» um 4 Sadomasochismus und in «Geschwisterliebe» um 4 Inzest.

«Aimee & Jaguar»

Deutscher Liebesfilm, 1999, unter der Regie von Max Färberböck nach der Vorlage des Erfolgsromans von Erika Fischer mit demselben Titel. Erzählt wird die Entwicklungsgeschichte von der anfangs biederen deutschen Ehefrau und Mutterkreuzträgerin Lilly Wust (Juliane Köhler), die im Dritten Reich ihre Kinder versorgt, während ihr Mann an der Front ist, und dabei den Nationalsozialismus wie selbstverständlich unterstützt. Aus diesem Leben lässt sie sich herausreißen, als sie über ihre Haushaltshilfe die junge, hübsche Felice (Maria Schrader) kennenlernt, die mit ihrem bohemienhaften, lebensfreudigen Umfeld einen großen Reiz auf sie ausübt. Spätestens als Felice versucht, Lilly auf erotischer Ebene näherzukommen, muss diese erkennen, sich in ihre neue Freundin verliebt zu ­haben, woraufhin sich die beiden unter den Namen Aimee und Jaguar zärtliche Briefe und Gedichte schreiben. Allein Felices häufiges Verschwinden für mehrere Tage, das diese nie erklärt, befremdet Lilly mehr und mehr. Schließlich fordert sie eine Erklärung. Zu ihrem Schreck erfährt sie, dass Felice jüdisch und im Untergrund gegen die Nationalsozialisten tätig ist. Dennoch ringt Lilly sich dazu durch, sich von ihrem Mann zu trennen und mit ihrer Geliebten eine Lebensgemeinschaft einzugehen, die allerdings tragisch endet. Der Film eröffnete 1999 die Berlinale und erbrachte den Hauptdarstellerinnen einen silbernen Bären. Bemerkenswert erscheint, dass diese «Liebe im Widerstand» nicht romantisch überhöht wird, sondern auch kritische Aspekte in Lillys Verhalten und ihrer nachträg­lichen Verklärung dieser Beziehung thematisiert werden. 4 Homosexualität

Alexandre, Claude

Pariser Kunst- und Theaterfotografin (geboren 1940), die sich in vielen erotischen Aufnahmen mit Grenzbereichen der menschlichen Sexualität beschäftigt. Eine gelungene Zusammenstellung liefert etwa ihr Fotoband «Gewalt und Zärtlichkeit. Fotografien aus dem Liebesleben in Paris», der im Konkursbuch Verlag erschienen ist.

«Alice Cooper»

Ursprünglich Name einer Rock-Band, dann reduziert auf ihren Frontmann Vincent Damon Furnier, geboren am 4. Februar 1948 in Detroit, Michigan, aufgewachsen als Sohn einer stark christlich-religiösen Familie (Vater und Großvater waren Prediger) in Phoenix, Arizona.

Nach einem Studium an der Kunstakademie gründete Furnier unter dem musikalischen Einfluss der Beatles mit seinen Freunden Glen Buxton, Neal Smith, Dennis Dunaway und Michael Bruce zunächst die Band The Spiders, deren Konzept in einer dadaistischen Durchmischung von Rock und Theater bestand. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre benannte sich die Band in The Alice Cooper Group um. Als Grund dafür gab Furnier an, er halte sich für eine wiedergeborene Hexe dieses Namens aus dem 17. Jahrhundert. Tatsächlich sollte diese Suggestion von 4 Transgender, ebenso wie die dazu passenden Auftritte mit geschminkten Gesichtern und in Frauenkleidern, eher die zu dieser Zeit in höchster Blüte stehende Flower-Power-Bewegung konterkarieren, außerdem das Publikum schockieren und provozieren – so wie es Jahre zuvor eben die Beatles getan hatten.

Cooper verstand sich und seine Band dabei aber als weitgehend unpolitisch (auch wenn er sich später scherzhaft um das Amt des US-Präsidenten bewerben sollte), weil Rock und Politik für ihn zwei getrennte Bereiche darstellten. Ihm ging es stattdessen um schräg-makabre Darbietungen zwischen Horror, Trash und Karneval, womit im Zeitalter der harmoniesüchtigen Hippies eine Selbstinszenierung als gesellschaftlicher Außenseiter verbunden war. Dies wirkte sich auf die Musikbranche so stark aus, dass Cooper in Los Angeles bei Clubs wie Plattenfirmen nur schwer einen Fuß in die Tür bekam, was sich erst durch seine Bekanntschaft mit Frank Zappa änderte. Zappa war gerade von der Unkonventionalität der Band begeistert und zeigte sich als einziger bereit, sie unter Vertrag zu nehmen und auf seinem Label «Straight Records» Ende der Sechziger zwei Cooper-Alben erscheinen zu lassen. 1971 machte die Band Bekanntschaft mit dem Produzenten Bob Ezrin, der ihr für das Album «Love It to Death» erstmals einen charakteristischen, wiedererkennbaren Hardrock-Sound verpasste, was prompt zu einem ersten Hit («Eighteen») führte. Charakteristisch war neben dem neuen akustischen Image und den phantasievollen Bühnenauftritten (beispielsweise mit Rauchbomben, angedeuteten Kinderschändungen, Messerstechereien, einer Guillotine und einer Boa Constrictor als Teil der Show) vor allem Coopers Begeisterung für Tabubrüche jeglicher Art in seinen Texten. Diese rangierten von exzessiver Gewalt («Dead Babies») über Geistesgestörtheit («Ballad of Dwight Fry») bis zur Nekrophilie («I Love the Dead» und «Cold Ethyl»). In «Black Juju» schildert Cooper nach Art eines Hörspiels das Erwachen eines Zombies, in «Refrigerator Heaven» lässt der krebskranke Ich-Erzähler seinen Körper einfrieren. Der Vorwurf des 4 Satanismus blieb nicht aus, und Coopers immer noch als Prediger tätiger Vater musste seiner Gemeinde versichern, dass sein Sohn keineswegs schwarze Messen feire.

1974 führten diverse Exzesse zu einer Auflösung der Band und Cooper startete mit seiner Solo-Karriere durch. Inzwischen war er allerdings zum Alkoholiker geworden und musste eine Entziehungskur beginnen. Er verband das Unangenehme mit dem Nützlichen und ließ sich statt in eine normale Entzugsklinik in eine Nervenheilanstalt einliefern. Die schweren Störungen seiner Mitpatienten benutzte er als Inspiration und konzipierte von dort aus das Album «From the Inside». Trotz solcher kreativen Einfälle nahm seine Beliebtheit in den achtziger Jahren kontinuierlich ab. Kritiker waren zwiegespalten darüber, dass Cooper in seinen Texten als Ich-Erzähler unaufhörlich die befreiende Erfahrung der eigenen Gewalttätigkeit feierte, um sich dann jedesmal traurig und desillusioniert davon abzuwenden und Gewalt als selbstzerstörerisch zu geißeln. Im Jahr 2000 schockte Cooper manche seiner Fans noch einmal mit seinem öffentlichen Bekenntnis zum Christentum. In einem ausschlaggebenden Interview bekundete er, immer ein gläubiger Mensch gewesen zu sein, vor allem aber seine plötzliche Heilung von der Alkoholsucht als persönliches Wunder erlebt zu haben. Seine frühere Einstellung, in seinem Leben soviel Sex, Party und Alkohol wie möglich mitzunehmen, lehne er inzwischen als schädlich ab. Was die Welt angehe, erkenne er momentan einen neuen Hunger nach Werten, der zu einem spirituellen Erwachen führen werde. In diesem Zusammenhang kritisierte er den Schock-Rocker Marilyn 4 Manson, für den Cooper früher offenbar als zentrales Vorbild gedient hatte, und dabei insbesondere für dessen Selbstinszenierung als Antichrist. Cooper legte Wert darauf, Rock’n’Roll-Star und Christ zugleich sein zu können.

Alkoholismus

Durch dauerhaften übermäßigen Genuss von Alkohol hervorgerufene seelische und körperliche Suchtkrankheit. Man nimmt an, dass sie durch ein Bündel seelischer, sozialer und biologischer Ursachen hervorgerufen wird. Zu den körperlichen Faktoren gehört ein genetischer Defekt des Enzyms Alkoholdehydrogenase, das normalerweise Alkohol abbaut, sowie die in Stress-Situationen verstärkte Ausschüttung des Hormons Hydrocortison bei den Erkrankten, was diese durch Alkoholkonsum ausgleichen möchten. Dazu kommt, dass Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft akzeptiert wird und dass die Lebensumstände vor allem in den Industriestaaten häufig Stress und soziale Isolation bedingen. Die «Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren» (DHS) schätzt hierzulande etwa acht Millionen Menschen als stark alkoholgefährdet ein. Tatsächlich alkoholabhängig waren 2001 der Drogenbeauftragten der Deutschen Bundesregierung sowie der DHS zufolge 1,5 bis 1,6 Millionen Menschen, die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Berlin geht gar von 2,5 Millionen aus. Rund 73.000 Bundesbürger kommen jährlich durch Alkohol zu Tode. Die immense Zunahme an Süchtigen in den letzten Jahrzehnten (nach dem Zweiten Weltkrieg waren es 200.000 Erkrankte) weist darauf hin, welche große Rolle die gesellschaftlichen Bedingungen spielen. Insbesondere die Zahl der Frauen, Jugendlichen und Kinder unter den Betroffenen steigt weiter an.

Je klarer der Öffentlichkeit jedoch wird, dass Alkoholismus nicht lediglich einen untauglichen Versuch der Problembewältigung, sondern ein vielschichtiges Krankheitsbild darstellt, desto weniger werden die Erkrankten gesellschaftlich ausgegrenzt und diskriminiert. Die weichende Tabuisierung führt dazu, dass die Betroffenen ihr Problem weniger verbergen müssen, da es ja nicht länger auf ihr persönliches Versagen zurückzuführen ist – also etwa auf Willensschwäche oder Labilität. Die Behandlung kann früher aufgenommen werden und führt so auch zu größeren Heilerfolgen. Zu diesen Erfolgen trägt bei, dass inzwischen im Alkoholismus das Hauptproblem gesehen wird, das zu bekämpfen ist, anstatt ihn nur als Symptom oder Konsequenz tiefer liegender Störungen wahrzunehmen. Allerdings kann Alkoholmissbrauch wiederum hinter anderen Problemen verborgen liegen, etwa hinter psychischen und körperlichen Beschwerden, Partnerproblemen, Gewalt in der Familie, sexuellem Missbrauch und der Vernachlässigung von Kindern. Im Januar 2003 wies die DHS darauf hin, dass Bund, Länder und Gemeinden jährlich nur zehn Millionen Euro zur Aufklärung über Suchtgefahren aufwendeten, während die Alkohol- und die Tabakindustrie 890 Millionen Euro für Werbung ausgäben. Marion Caspers-Merk, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, kritisierte, dass aufgrund von Lücken im Hilfesystem viele Suchtkranke zu spät behandelt und gefährdete Jugendliche durch die bestehenden Hilfen kaum erreicht würden.

Die bekanntesten Kinofilme, die Alkoholismus zum Inhalt haben, drehten sich lange Zeit häufig um männliche Erkrankte: «Barfly» (mit Mickey Rourke), «Leaving Las Vegas» (mit Nicolas Cage) sowie «Shining» (mit Jack Nicholson). Trinkerinnen wurden dargestellt in «When a Man Loves a Woman» (mit Meg Ryan), in «28 Tage» (mit Sandra Bullock), aber auch schon 1966 in «Wer hat Angst vor Virginia Woolfe ?» (mit Elizabeth Taylor und Richard Burton).

Alternative für Deutschland (AfD)

2013 gegründete deutsche Partei, die in den folgenden Jahren in mehrere Landesparlamente einzog. Sie wird rechts von den Unionsparteien verortet. Einer Emnid-Umfrage vom Januar 2017 zufolge halten sie 59 Prozent der Deutschen für rechtsextrem, 26 Prozent sind anderer Ansicht. Dem Parteienforscher Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin zufolge positioniert sich die AfD gewollt mehrdeutig, weshalb sie sich nicht mit einem bestimmten Etikett fassen lasse: «Die AfD vereint derzeit Strömungen von konservativ bis rechtsextremistisch, von jedem ein bisschen.»

Im Januar 2017 berichtete unter anderem die «Tagesschau» über ein Strategiepapier der AfD, demzufolge man «vor sorgfältig geplanten Provokationen nicht zurückschrecken» dürfe, um im Gespräch zu bleiben: Die Partei müsse «ganz bewusst und ganz gezielt immer wieder politisch inkorrekt sein». Weiter heißt es in diesem Papier: «Die AfD lebt gut von ihrem Ruf als Tabubrecherin und Protestpartei. Sie braucht sich dessen nicht zu schämen, sondern muss sich selbstbewusst zu ihrer Aufgabe bekennen, dem Protest in Deutschland eine politische Richtung und ein Gesicht zu geben.» Die geschilderten Provokationen, so fasste der «Merkur» diese Strategie zusammen, sollten dafür sorgen, dass die AfD von den etablierten Parteien ausgegrenzt werde. Der offenkundige Vorteil: Das erspart es ihr, sich konstruktiv an Problemlösungsversuchen zu beteiligen, während sie sich gleichzeitig als ausgestoßenes Opfer der Mächtigen inszenieren kann. Das AfD-Strategiepapier stellt klar: «Je nervöser und je unfairer die Altparteien auf Provokationen reagieren, desto besser. Je mehr sie versuchen, die AfD wegen provokanter Worte oder Aktionen zu stigmatisieren, desto positiver ist das für das Profil der AfD.» Ausdrücklich geraten wird zu einer «Eskalation der Konflikte». Je kontroverser sich die AfD positioniere, desto weniger könnten die Medien sie ignorieren.

Im Berliner «Tagesspiegel» nennt Matthias Meisner einige Beispiele für die Strategie des wohl kalkulierten Tabubruchs: «Marcus Pretzell, Ehemann von Parteichefin Frauke Petry und AfD-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen, hat das kurz nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz mit seinem Tweet (‹Merkels Tote›) getan. Und die Berliner Landeschefin und Europaabgeordnete Beatrix von Storch wollte gar an den Grenzen auf flüchtende Frauen mit Kindern schießen lassen.» (Warum in unserer Gesellschaft nur das Schießen auf Frauen und Kinder, aber nicht auf Männer tabuisiert ist, wäre ein eigenes Thema wert.) Die Website der ZDF-Nachrichtensendung «heute» nennt als Beispiele für Provokationen der AfD unter anderem Beatrix von Storchs Etikettierung des Islams als verfassungsfeindliche Ideologie (um am nächste Tag zurückzurudern und zu erklären, die AfD ­stehe «uneingeschränkt für die Religionsfreiheit und das Recht zur freien Ausübung des Glaubens») sowie Alexander Gaulands Behauptung, die Bürger wollten einen schwarzen Fußballspieler wie Jerome Boateng nicht als Nachbarn haben (um danach zu erklären, der Name sei ihm «untergejubelt» worden). Grundsätzlich fällt auf, dass AfD-Politiker immer wieder behaupten, missverstanden oder falsch zitiert worden zu sein, mit der Maus beim Schreiben ausgerutscht zu sein und dergleichen mehr. Dadurch entsteht eine doppelte Kodierung ihrer Botschaften: Besonders weit rechts stehende Wähler können die erstgenannte Botschaft als die eigentliche Botschaft verstehen und sich davon angesprochen fühlen, während sie das danach erfolgende Dementi als verständlichen Selbstschutz der Partei interpretieren. Das lediglich rechtskonservative Lager hingegen kann sich auf das Dementi berufen und sich darüber empören, dass die AfD immer wieder so unvorteilhaft dargestellt und von den Leitmedien hinters Licht geführt werde. Dass Journalisten der Leitmedien tatsächlich einer rot-grünen Perspektive zuneigen und Menschen, die diese Perspektive nicht teilen, oft tatsächlich in ein möglichst schlechtes Licht rücken, erleichtert diese Strategie.

«Ich glaube, es ist inzwischen völlig egal, was die AfD sagt», befand der Politikwissenschaftler Michael Lühmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung am 1. Februar 2016 im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Es gehe nur noch darum, sich gegen den Mainstream der Politik stark zu machen. Da sei «noch jeder Tabubruch recht», weil man «sich dann an der Gegenwehr der anderen Parteien, die dann eben natürlich empört sind, berauschen» könne. Der Rechtsextremismus-Forscher Alexander Häusler argumentierte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk ähnlich: «Man setzt einen gesellschaftlichen Tabubruch in die öffentliche Diskussion, wartet die Reaktionen ab, die Kritik, und wenn die Kritik kommt, stellt man sich als Opfer von angeblicher Meinungsfreiheit dar und versucht, dann diese Debatte auf erhöhter Stufenleiter fortzusetzen. Diese klassische populistische Eskalationsstrategie betreibt die AfD aktuell, und sie versucht, damit den Diskurs immer weiter nach rechts außen zu verschieben, und das hat natürlich Folgen für die politische Kultur.»

Im September 2016 warnte das Bundeskriminalamt (BKA) vor Enttabusierungen, denen die AfD den Weg bereitet habe. Die Partei biete für die rechte Hetze im Internet «den ideologischen Nährboden und verleiht ihr einen legalen Anstrich» erklärte BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit dem Berliner «Tagesspiegel». Vielen Hetzern werde das Gefühl gegeben, «sich mit ihrer Weltanschauung in einem gesellschaftsfähigen Rahmen zu bewegen. Das erleichtert es, sich radikal im Netz zu bewegen. Und das ist gefährlich.» In diesem Zusammenhang machte Münch auf die enorm gestiegene Zahl von Gewalttaten gegen Flüchtlinge aufmerksam.

Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) schilderte Anfang 2017 im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), was er an der Strategie der AfD bedenklich findet: «Ich glaube schon, dass ein großer Teil des Spitzenpersonals der AfD beflügelt worden ist von dem Erfolg, den der permanente Tabubruch hatte. Und natürlich ist das Problem beim permanenten Tabubruch: Man kann jedes Tabu nur einmal brechen. Das heißt: Man muss immer noch weiter nachlegen. Jetzt ist die AfD in einer Situation, wo selbst Leute, die einstmals eher gereifte Konservative waren – ein Herr Gauland – offen rechtsextremes Zeug erzählen. Da fragt sich Höcke: Was muss ich denn jetzt noch als nächstes auspacken, um noch eins nachlegen zu können? Das Perfide daran ist: Es setzt ja eine Gewöhnung ein. Und das ist die große Gefahr für die Demokratie.»

Literatur: Amann, Melanie: Angst für Deutschland. Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert. Droemer 2017; Bender, Justus: Was will die AfD? Eine Partei verändert Deutschland. Pantheon 2017. Bensmann, Marcus: Schwarzbuch AfD. Correctiv 2017

Internet: Feldmann, Julian: Chronik: Rechtsextreme Vorfälle in der AfD 2016. Online unter http://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Chronik-Rechtsextreme-Vorfaelle-in-der-AfD-2016,afd892.html.

Amendt, Günter

Renommierter deutscher Sexualforscher (1939–2011). Seine Bücher «Sex Front» und «Sex Buch» wurden 1998 ebenso wie das von Amendt mitgestaltete Jugendmagazin «extrem» unter dem Vorwurf der Verbreitung von Kinderpornographie beschlagnahmt. Einige LKA-Beamte, ein Staatsanwalt und ein Amtsrichter hatten Anstoß an einem Foto genommen, das zwei Kinder bei Doktorspielen, also der gegenseitigen Erforschung ihrer nackten Körper, zeigte. Dabei hatte der Junge eine Erektion. Der zuständige Richter erkannte in dieser Inszenierung eine rechtswidrige Tat.

Quelle mit Abbildung des strittigen Fotos: Roland Seim und Josef Spiegel (Hrsg.): Der kommentierte Bildband zu «Ab 18». Münster 1999

«American Beauty»

Gesellschaftssatire, USA 1999, unter der Regie von Sam Mendes. Dieses Drama um den Niedergang einer typischen US-amerikanischen Mittelstandsfamilie zentriert sich vor allem um deren Vater Lester Burnham (Kevin Spacey). Aus seiner Beziehung zu seiner verbittert-zickigen Frau Carolyn (Annette Bening) ist jede Liebe gewichen, auch für seine Tochter Jane (Thora Birch) stellt er weder Ratgeber noch Vorbild mehr dar. Stattdessen hält sie ihn für einen bemitleidenswerten Verlierer: eine Zuordnung, die Lester für sich selbst bald übernimmt. Das jedoch ändert sich, als er Janes attraktive Freundin Angela (Mena Suvari) kennen lernt, die bald ins Zentrum seiner erotischen Tagträume rückt – ob bei der 4 Selbstbefriedigung unter der Dusche oder andernorts. Lester erlebt einen persönlichkeitsverändernden zweiten Frühling, gibt seinen Job auf, fängt an, Hasch zu rauchen und hört wieder Pink Floyd – ein Abweichen von der ihm aufgezwungenen Rolle, das die innerfamiliären Konflikte nur verschärft.

Gleichzeitig entwickelt sich auch ein Konflikt nach außen, nämlich mit der benachbarten, noch weit gestörteren Familie Fitts, in welcher der Vater, ein Colonel im Berufs- wie im Privatleben, noch Autorität ausübt: etwa indem er von seinem Sohn Ricky alle sechs Monate Urinproben für Drogentests verlangt. Ricky ist tatsächlich ein Drogendealer, aber auch ein Voyeur, der mit seiner Videokamera Jane Burnham beobachtet. Das findet diese zunächst irritierend, schließlich aber wächst ihre Faszination ...

«American Beauty» verkettet mehrere gesellschaftliche Tabuhandlungen (Drogenmissbrauch, Voyeurismus, Ehebruch und zumindest ansatzweise pädophile Phantasien eines Mittvierzigers), inszeniert sie aber nicht als moralisch verwerflich. Elke Bankertt urteilt in der «Bonner Illustrierten» über Mendes Vorgehen: «Seine nüchterne Art, den heiligen amerikanischen Tabus den Boden unter den Füßen zu entziehen, schlägt ein wie eine Bombe. Er macht sich dabei Kevin Spaceys göttliche Gesichtslosigkeit zunutze, die die Variationen vom gutmütigen Spießer bis hin zum krisengeschüttelten Pädophilen spielend überwindet. (...) Spaceys Darstellung eines lüsternen Vaters im zweiten Frühling ekelt und reizt zugleich, ist bemitleidenswert, politisch unkorrekt und das Großartigste an Schauspielkunst im Kino der Gegenwart.»

Der Film erhielt drei Golden Globes und acht Nominierungen bei der Oscarverleihung 2000, wo er schließlich fünffach ausgezeichnet wurde: für Regie, Hauptdarsteller, Drehbuch, Kamera und als bester Film des Jahres.

«American Psycho»

Radikaler Gewaltthriller (New York 1991, dt. Köln 1993) des US-amerikanischen Literaten Bret Easton Ellis, in dessen Hauptfigur Patrick Bateman (eine Anspielung unter anderem auf Norman Bates aus Hitchcocks 4 «Psycho») sich zwei ikonographische Gestalten der «unmoralischen» achtziger Jahre vereinen: der Wall-Street-Yuppie und der Serienmörder. Bateman wird als ein superreiches Mitglied der New Yorker Oberschicht gezeigt, der vor lauter Reichtum nichts anderes mehr zu tun hat, als sich über die erlesensten Restaurants, Kleidungsstücke und Accessoirs en detail zu informieren, um mit dem so gewonnenen Wissen und Besitz seine Bekannten zu übertrumpfen, an deren Namen und Gesichter er sich allerdings nie erinnert, zwischendurch seinen «Hardbody» zu stählen und hin und wieder ein paar Menschen grausam abzuschlachten, die im Gedächtnis ihrer Mitmenschen ebenfalls keine Spuren hinterlassen haben und die deshalb auch niemand vermisst: von Obdachlosen über sexuelle Gespielinnen bis hin zu anderen Yuppies. Dass Batemans verschobene Wahrnehmung und Gewichtung der Werte kein individuelles Problem darstellt, wird in manchen Szenen satirisch deutlich – etwa, als er von einem zufällig vorbeikommenden Bekannten beim Verladen einer Leiche in seinen Kofferraum ertappt wird, sich dieser Bekannte aber nur für die Qualität des zum Transport ­verwendeten Kleidersacks interessiert. Welcher beruflichen Beschäftigung Bateman eigentlich nachgeht, erfährt der Leser nie.

Ellis’ Roman stellt die Verbindung von Sexualität und Gewalt in einer rücksichtslosen Brutalität dar, wie kaum ein anderes literarisches Werk zuvor. Eine Szene, die anfangs an die Ästhetik gängiger SM-Erotik erinnert, kippt im Verlaufe weniger Zeilen in deren vollständige Dekonstruktion um: «In meinem Schlafzimmer liegt Christie noch auf dem Futon, an die Bettpfosten gefesselt, mit Kordel verschnürt, die Arme über dem Kopf, ausgerissene Seiten aus dem ‹Vanity Fair› vom letzten Monat in den Mund gestopft. An eine Batterie angeschlossene Jumperkabel sind an ihre Brüste geklemmt, die langsam braun werden.» (S. 402) Wie Patrick Bateman, der Ich-Erzähler der Geschichte, sich junge Call-Girls in seine Wohnung lockt und sie dann auf grauenvolle Weise foltert und tötet, so lockt Bret Easton Ellis, der Autor, den Leser hinein in die Handlung, um ihn mit der Gewalttätigkeit seiner Schilderungen zu konfrontieren: «Tiffany leckt hungrig Torris Pussy, nass und schimmernd, und Torri greift nach unten und knetet Tiffanys große, feste Titten. Ich beiße fester, an Tiffanys Fotze kauend, und sie verkrampft sich. ‹Ganz locker›, sage ich beruhigend. Sie fängt an zu jaulen, will wegrutschen und kreischt schließlich laut auf, als sich meine Zähne in ihr Fleisch graben. Torri denkt, Tiffany würde kommen, und presst ihre eigene Fotze härter auf Tiffanys Mund, ihre Schreie erstickend, aber als ich zu Torri hochschaue, das Gesicht voller Blut, den Mund voller Fleisch und Scham­haare, und das Blut aus Tiffanys zerfetzter Fotze auf die Bettdecke schießt, spüre ich, wie eine Welle plötzlichen Horrors sie überläuft.» (S. 420).

Ellis’ alle bisherigen Grenzen sprengende Darstellungsweise führte noch vor der Veröffentlichung seines Romans zu einer Debatte über die Notwendigkeit von Zensur. Einige Frauen in dem Verlag, in dem «American Psycho» ursprünglich erscheinen sollte, protestierten derartig lautstark gegen die Gewaltszenen des Werkes, dass die Verlagsleitung einen Monat vor dem Vertrieb des Buches in den Handel von seiner Veröffentlichung zurücktrat. Als Ellis einen anderen Verleger fand, organisierte die US-amerikanische Frauenrechtsorganisation NOW einen nationalen Boykott sämtlicher Titel des Verlages sowie einen umfassenden Telefonterror gegen Mitglieder seiner Chefetage. Vom Inhalt «American Psychos» war diesen Feministinnen nichts weiter bekannt als einige wenige vorveröffentlichte und aus dem Kontext gerissene Stellen wie die oben zitierten, in denen allerdings die Höhepunkte der Grausamkeiten geschildert wurden.

Im renommierten «New York Times Book Review» betitelte daraufhin der Rezensent Roger Rosenblatt seine Besprechung des Buches «Snuff This Book! Will Bret Easton Ellis Get Away With Murder?» (auf deutsch etwa: «Murkst dieses Buch ab! Kommt Bret Easton Ellis mit Mord davon?»). Frauenrechtlerinnen wie Tara Baxter bliesen in dasselbe Horn und erklärten, dass American Psychos wie Bret Easton Ellis ein wesentlicher Bestandteil des Patriarchats seien und man mit ihnen «auf schnelle und angemessene Weise» verfahren solle. Ellis selbst zeigte sich in Interviews und anderen Stellungnahmen zu dieser Debatte befremdet. Wie es in einer sachlichen Analyse des Romans sowie anhand von Ellis’ vorhergehenden Erzähltexten («Less than Zero», «The Rules of Attraction») unschwer herauszuarbeiten gewesen wäre, handelt es sich bei ihm um einen konservativen Autor, der eben jene Dinge in seinen Büchern pointiert darstellt und beklagt, die er als gesellschaftliche Verfallserscheinungen wahrnimmt. Er gehört damit in jene aus der Underground-Literatur hervorgegangene literarische Strömung der «Blank Generation», die etwa auch Catherine Texier, Mary Gaitskill, 4 Hubert Selby, Kathy Acker und Jay McInerney umfasst. Diese zeichnete sich durch die radikale Kritik an der Dekadenz insbesondere der achtziger Jahre aus, wobei sie hauptsächlich das im Schatten entmoralisierter Wirtschaftspolitik immer dunkler werdende Alltagsleben, Konsumterror und Medienüberflutung, den wachsenden Geschlechterkonflikt und die Verbindung des Sexuellen mit dem Finanziellen sowie von Eros und Thanatos angesichts der «Lustseuche» AIDS zu ihren Hauptthemen machte. Ellis’ Einschätzung nach müsse die sexuelle und moralische Freizügigkeit der amerikanischen Gesellschaft unweigerlich zu solchen Monstern wie Patrick Bateman führen. Demnach ist er in keiner Weise mit einem umstürzlerischen Autor wie 4 de Sade zu vergleichen. «Like David Lynch, Ellis is merely ‹weird on top› not ‹wild at heart›», hält die Literaturwissenschaftlerin Elizabeth Young in ihrem «Shopping in Space» (New York 1993) fest (4 Lynch, David).

Ellis Werke wurden aber in weiten Kreisen offensichtlich nur auf der Oberflächenebene rezipiert, der tieferliegende Gehalt nicht wahrgenommen. Eine Ausnahme davon bildeten lediglich einige Literaturwissenschaftler, die sich in sehr kurzer Zeit sehr ausführlich mit diesem Werk beschäftigten und auf eine Unzahl diskutierenswerter Themenkomplexe stießen: so etwa Ellis’ Kritik an Paul Feyerabends Credo der Postmoderne: «anything goes!», seine Auseinandersetzung mit der dekadenten US-amerikanischen Gesellschaft unter Reagan und Bush, die Dekonstruktion des menschlichen Körpers, die Deindividualisierung der Protagonisten, intertextuelle Verweise, das Spiel mit dem unzuverlässigen Erzähler und Dutzende von anderen Unterpunkten. Dass ein Rezensent der «Zeit» Ellis’ Hauptwerk als einen der wichtigsten Romane der vergangenen Jahrhunderthälfte charakterisiert, verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Dennoch stand «American Psycho» von Januar 1995 bis März 2001 in Deutschland als einzigem Land der Erde auf dem Index. Erst nachdem der Verlag gegen diesen Beschluss der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften geklagt hatte, darf Ellis’ Roman gemäß einem Urteil des Oberverwaltungsgerichtshofs Münster wieder offen im Buchhandel ausliegen.

Eine Verfilmung dieses Textes wurde lange Zeit für sehr heikel, wenn nicht generell undurchführbar gehalten. Als Regisseur war unter anderem Oliver Stone, als Hauptdarsteller Leonardo di Caprio im Gespräch. Im Jahr 2000 wagte sich Mary Hannon an dieses Unterfangen und löste das Problem, wie die extremen Gewaltakte auf die Leinwand gebracht werden konnten, indem sie sich nur auf Andeutungen wie Blutspritzer und ähnliches beschränkte und sich ansonsten auf die Darstellung von Patrick Batemans kalt-steriler Yuppie-Existenz konzentrierte. Hannons Film wirkt auf Zuschauer, die mit dem Originaltext und seiner Sekundärliteratur gut vertraut sind, satirisch außerordentlich gelungen und erheiternd, wurde aber von dem Massenpublikum, das mit vielen Anspielungen nichts anfangen konnte, als allzu blutleer und damit nichtssagend-langweilig empfunden. Im Jahr 2002 erschien unter der Regie von Morgan Freeman und mit Mila Kunis sowie William Shatner in den Hauptrollen eine filmische Fortsetzung direkt auf Video und DVD. Darin avancierte eine weibliche Überlebende von Batemans Killerorgien auf dem College selbst zur Serienmörderin.

Amputiertenfetischismus

4 «Crash»

Angot, Christine

4 «Inzest»

«Annie Sprinkle’s Herstory of Porn: Reel to Real»

(Untertitel: «Based upon the stage show directed by Emilio Cubeiro») Autobiographische Dokumentation über das Leben der feministischen Pornodarstellerin und Performance-Künstlerin Annie Sprinkle unter der Regie von ihr selbst und Scarlot Harlot (4 Pornographie).

Vor dem Hintergrund Dutzender von Videoclips breitet Sprinkle das Panorama ihrer drei Jahrzehnte währenden Tätigkeit in der Erotik-Branche aus: Diese beginnt mit an männliches Publikum gerichteten Low-Budget-Produktionen, die sich von Jahr zu Jahr bizarrer entwickelten und Elemente wie Vergewaltigungsszenen, Sich-Erbrechen, Zwerge und Schamlippen-Piercen in sich aufnahmen. Sprinkle schildert eindringlich die inneren Konflikte, die bei diesen Aufnahmen in ihr tobten. In den Achtzigern brachte Sprinkle ihr erstes eigenes Video auf den Markt, das zugleich als der erste von einer Frau produzierte Pornofilm gilt: «Deep Inside Annie Sprinkle» zeigt seine Titelfigur, wie sie sich neben den männlichen Besuchern eines zwielichtigen Kinofilms, die einen ihrer früheren Filme betrachten, provokativ selbst befriedigt; andere Szenen setzen sich mit dem weiblichen Orgasmus, tantrischer Sexualität oder erotischen Stillleben auseinander.

In den Neunzigern führte Sprinkle aufgrund der AIDS-Gefahr das Konzept des Safer-Sex in die Porno-Branche ein (das nur von wenigen anderen Produzenten aufgegriffen wurde) und etablierte in diesem Genre außerdem neue Themen wie Blutspiele, transsexuelle Erotik, postnukleare Sexualität, Gruppenselbstbefriedigung von Frauen oder die so genannte Metabation (Masturbation als Meditation).

Sprinkle beschließt ihre Dokumentation mit dem Statement: «Die Antwort auf wirklich üble Pornographie ist nicht keine, sondern bessere Pornographie.»

Internet: anniesprinkle.org.

«Apocalypse Culture»

Von Adam Parfrey herausgegebene Textsammlung in zwei Bänden, 1987 und 2000. Beide Bände wirken auf den ersten Blick wie die Sammlungen der Weltanschauungen von psychisch oder sozial stark herausgeforderten Menschen, die nichts weiter als provozieren wollen, stellen tatsächlich jedoch einen (umstrittenen) Abriss des gesellschaftlichen Unterbewusstseins vor allem der USA, aber auch der westlichen Welt insgesamt dar. Das erste Buch, das sich rasch zum Underground-Klassiker entwickelte, griff einige der Aspekte auf, die sich bereits in den Achtzigern im Randbereich der öffentlichen Wahrnehmung bewegten und in den Neunzigern auch in die Mainstream-Medien einsickerten (so etwa Verschwörungstheorien, Ufologie, Serienkiller-Philosophie und Body Modification). Mit am bekanntesten wurde es indes durch sein Interview mit der Leichenfetischistin Karen Greenlee (4 Nekrophilie). Fünfzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung sind einige Leser immer noch schockiert, andere hingegen eher gelangweilt. Der Nachfolgeband «Apocalypse Culture II» steht ganz in der Tradition seines Vorgängers und enthält unter anderem Porträts des japanischen Kannibalen Issei 4 Sagawa und des Charles-Manson-Komplizen Bobby Beausoleil, einen Bericht über die Ein-Mann-Gruppe «Juden für Hitler», eine Interpretation des Songs «American Pie» durch die rechtsextremen Aryan Nations, die Gedankengänge eines Pädophilen (4 Pädophilie), Briefe an Anton La Vey ( 4 Satanismus), Liebesgedichte des Reagan-Attentäters Hinckley an Jodie Foster sowie die Berichte zweier Frauen, die behaupten, Sexsklavinnen der US-Regierung zu sein. Praktisch ist eine herauskopierbare «necrocard», deren Träger damit sein Einverständnis signalisieren kann, nach seinem Tode anderen bei sexuellen Experimenten zu helfen. In ihrem Unterschriftsfeld können auch verschiedene Einschränkungen («nur homosexuell», «nur heterosexuell» oder «keine Verstümmelungen während des Geschlechtsakts») angekreuzt werden.

«Asphalt Cowboy»

(Originaltitel: Midnight Cowboy), USA 1969, unter der Regie von John Schlesinger, nach einem Drehbuch von Waldo Salt nach der literarischen Vorlage von James Leo Herlihy. Hauptfigur ist der aus Texas stammende Landbursche Joe Buck (Joe Voight), der, statt weiter seine Zeit als Tellerwäscher zu verbringen, nach New York zieht, um dort reichen Frauen als Cowboy-Callboy zu Diensten zu sein. Da er jedoch nicht der Erste mit diesem Einfall ist, stößt er auf einen einigermaßen übersättigten Markt. In einem Cafe lernt er den kleinen Gauner Enrico Rizzo (Dustin Hoffman) kennen, der ihn für zwanzig Dollar über seine Kontakte angeblich in einen Kreis vermögender Kundinnen vermitteln kann. Dies entpuppt sich allerdings als Schwindel, Rizzo setzt sich stattdessen mit dem Geld ab. Seine immer desaströser geratende finanzielle Situation zwingt Joe schließlich, sogar Männer als Freier anzunehmen. Durch einen Zufall stößt er wieder mit Rizzo zusammen ...

Schlesingers Drama um zwei Männer im Dschungel der Großstadt war ein gewagtes, aber letztlich mit Erfolg gekröntes Unterfangen. Wurde der Film durch ein X-Rating zunächst nur erwachsenen Zuschauern zugänglich, was einen Einbruch an den Kinokassen hätte bedeuten können, erhielt er trotz seiner Darstellung heikler Thematik die volle Anerkennung der Kritik. Unter anderem wurde er 1970 mit drei Oscars (bester Film, beste Regie und bestes adaptiertes Drehbuch) ausgezeichnet, die beiden Hauptdarsteller wurden für den Oscar immerhin nominiert. Der von Nilsson vorgetragene (und inzwischen von The Beautiful South gecoverte) Song «Everybody’s Talking» errang internationale Berühmtheit, so wie John Barrys musikalische Untermalung dieses Films insgesamt Furore machte.

Die Tabubrüche von «Asphalt Cowboy» spielen sich vorrangig auf der sexuellen Ebene ab. War 1970 schon die Darstellung von 4 Homosexualität an sich ein Tabu, so gilt dies noch heute, wenn es um Themen wie männliche Prostitution geht (4 «Lindenstraße»). Ein anderes bis heute erhalten gebliebenes Tabu, das dieser Film aufgreift, ist die Vergewaltigung von Männern: Wie Joe in seinen Träumen immer wieder durchlebt, wurden er und seine große Liebe in seiner Jugend von Fremden gewaltsam zum Verkehr gezwungen. Generell stellt der Film Sexualität im Vergleich zu seiner Zeit sehr freizügig dar, verzichtet jedoch auf dramatisch-aufdringliche Inszenierungen, sondern bleibt zurückhaltend und einfühlsam, um gerade dadurch den Zuschauer besonders zu berühren. Ein zweiter Tabubruch liegt in der Angst vieler Menschen wohl vor allem in der US-amerikanischen Gesellschaft, vereinsamt auf der Straße zu landen und sich weder Essen noch ein Obdach leisten zu können. Wenn der Film hier eine schier ausweglose Welt bedrückender Verzweiflung zeichnet, nähert er sich stellenweise den Grenzen des für den Zuschauer Erträglichen.

«Audition»

Horrorthriller, Japan 1999, des Regisseurs Takashi 4 Miike. Sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau macht sich der Geschäftsmann Aoyama (Ryo Ishibashi) auf die Suche nach einer neuen Partnerin. Sein bester Freund, ein Filmproduzent, bringt ihn auf den Gedanken, dazu das Vorsprechen mehrerer Kandidatinnen für die Hauptrolle einer angeblich geplanten Fernsehserie zu benutzen. Allerdings fällt eine Bewerberin nach der anderen durch – bis die anmutige Asami (Shiina Eihi) ihren Auftritt hat und einen selbstgeschriebenen Text über verlorene Kindheitsträume und den Tod vorträgt. Ayoma ist hingerissen, eine romantische Liebesbeziehung bahnt sich an. Doch nach einer gemeinsam verbrachten Nacht und der dringenden Aufforderung, nur sie zu lieben, verschwindet seine Traumfee. Aoyoma und sein Freund machen sich auf die Suche und stoßen in Asamis Lebensgeschichte auf mehrere verschwundene Männer und verstümmelt aufgefundene Leichen. Bald stellt sich heraus, dass die gebildete Schönheit sich an Männern rächt, weil sie selbst einmal von einem Mann gequält wurde, und dass Aoyama ihr nächstes Opfer sein wird.

Da Miikes Werk die Folterung seiner männlichen Hauptfigur zeigt, war die Reaktion von Kinobesuchern und Kritik eher gespalten. Zwar wurde der Film mit mehreren Ehrungen ausgezeichnet, darunter dem Publikumspreis beim Fantasy-Filmfest in Toronto sowie dem Preis der internationalen Filmkritik auf dem Internationalen Filmfestival von Rotterdam, wo die europäische Uraufführung stattfand, aber bei letzterer Veranstaltung verließen auch zahlreiche Zuschauer den Vorführsaal. Miike selbst stellte «Audition» als einen Film vor, «den einige von Ihnen nicht mögen werden». In der Tat waren ähnlich extreme Darstellungen im europäisch-amerikanischen Unterhaltungskino bislang kaum vorstellbar. Eben deshalb wird das Werk aber auch vielfach anerkennend gewürdigt, sei es in feministischen Interpretationen, sei es in der Fangemeinde des Horrorfilms.

Azzarello, Brian

US-Comicautor, der vor allem durch seine bei DC erscheinende Serie «100 Bullets» bei Fans und Kritikern gleichermaßen für Aufsehen und Begeisterung sorgte. Unter anderem erhielt diese Serie den begehrten und hoch anerkannten Eisner-Award. Was Tabubrüche betrifft, geht Azzarello indes als Texter der «Hellblazer»-Comicserie (Ausgaben 146 bis 175), die zuvor von Autoren wie Jimmy Delano und Garth Ennis geprägt worden war, einige Schritte weiter. Beschrieb Azzarello in dem Fünfteiler «Hard Times» sehr eindringlich die Gewaltstrukturen innerhalb eines US-amerikanischen Gefängnisses bis hin zu Vergewaltigungen der Häftlinge (4 männliche Opfer von sexuellen Nötigungen und Vergewaltigungen), rankte sich die Handlung in «Good Intentions» um eine Dorfgemeinschaft, deren Mitglieder nach Schließung eines Bergwerkes fast durchgehend der Arbeitslosigkeit anheimfielen und sich daraufhin nur noch durch das Herstellen sodomistischer SM-Pornographie für das Internet ernähren konnten (4 Zoophilie). Der von der Kritik gefeierte Vierteiler «Highwater» zeigte die Verbindungen zwischen US-amerikanischen Neonazis und Kreisen fundamentalistischer Christen auf; in dem Mehrteiler «Ashes and Dust» (März bis August 2002) schließlich ging es um die augenscheinliche Ermordung des Titelhelden der Serie in einem SM-Club (4 Sadomasochismus). In anderen Ausgaben sind Azzarellos Tabubrüche weniger pointiert, gehen aber immer noch darüber hinaus, was noch vor wenigen Jahren im Mainstream zulässig gewesen wäre. Ähnlich erfolgreiche Vorgänger des für erwachsene Leser bestimmten Labels «Vertigo» des DC-Verlages, so etwa Grant Morrison oder Neil Gaiman, spielten hier die Rolle von Wegbereitern. Das Comic-Fanzine «Wizard» kürte Azzarello zum besten Autor 2001.

B

«Baby Doll»

Erotisches Südstaaten-Drama, 1956, nach zwei Theaterstücken von Tennessee Williams (von diesem zu einem Drehbuch zusammengeführt) und unter der Regie von Elia ­Kazan. Die beiden Künstler hatten bereits bei der Verfilmung von Williams’ Werken «A Streetcar Named Desire» (dt. «Endstation Sehnsucht») und «A Cat on a Hot Tin Roof» (dt. «Die Katze auf dem heißen Blechdach») zusammengearbeitet und damit Kinogeschichte geschaffen.

«Baby Doll» erreicht laut zahlreichen Kritikerstimmen trotz Oscar-Nominierungen unter anderem für Carroll Baker in der Titelrolle bei weitem nicht dieses Niveau. Die Handlung des Films ist auch eher dürftig: Baby Doll ist verheiratet mit dem deutlich älteren Archie Lee (Karl Malden), der aber versprochen hat, seine Finger von ihr zu lassen, bis sie 19 ist. Dessen Rivale im Baumwollgeschäft Silva kennt solche Skrupel nicht und versucht, das Mädchen zu verführen. Es kommt zu einem eskalierenden Konflikt zwischen den beiden Männern.

Was den Film ebenso berühmt wie zu seiner Zeit umstritten machte, war zum einen seine Erotik und Sinnlichkeit, zum anderen die Inszenierung von Baby Doll als Kindfrau «Lolita». In der Eingangsszene bohrt Archie Lee ein Loch durch die Wand, um seine Frau dadurch zu betrachten, wie sie in einem wiegen-ähnlichen Kleinkinderbett liegt und an ihrem Daumen lutscht. Eben jene Pose wurde für die Filmplakate verwendet. Prompt kam es zu empörten Zeitungskommentaren. So bezeichnete etwa das «Time Magazine» das Werk als «den möglicherweise schmutzigsten amerikanischen Film, der jemals legal zu sehen war». Die «Legion of Decency», eine Organisation der Römisch Katholischen Kirche innerhalb der USA, verdammte ihn als unmoralisch, behinderte so seinen Vertrieb und brachte viele Kinos dazu, die angekündigten Vorführungen auszusetzen. Nichtsdestotrotz erzielte der Film einen guten Kassenerfolg.

«Babylon 5»

Science-Fiction-Serie, 1993–1998, in der eine erotische Beziehung zweier weiblicher Hauptfiguren, Susan Ivanova (Claudia Christian) und Talia Winters (Andrea Thompson), mehr als nur angedeutet wird (4 Homosexualität).

«Baise-moi»

(dt. eigentlich «Fick mich», wurde allerdings für die englische Fassung auch als «Rape me» übersetzt) Roadmovie, Frankreich 2000, unter der Regie Virginie Despentes und Coralie Trinh This. Despentes, geboren 1969 in Nancy, arbeitete in Massagesalons und als Stripperin in Peep-Shows, bevor sie die mit autobiographischen Elementen durchsetzte Romanvorlage zu «Baise-moi» (in Deutschland zunächst unter «Wölfe fangen» veröffentlicht) 1999 bei dem hochrenommierten französischen Literaturverlag Gallimard unterbringen konnte und damit aus dem Stand einen Bestseller landete. Gemeinsam mit der in Frankreich ebenfalls sehr bekannten, damals 24-jährigen Pornodarstellerin Coralie Trinh Thi setzte sie ihn innerhalb von nur einer Woche in ein Drehbuch um. Da beide Frauen mit dem Genre Porno keinerlei Probleme hatten, bedurfte es keiner langen Überlegungen, auch die Sexszenen in ihrem Film authentisch darstellen zu lassen, also tatsächlichen Geschlechtsverkehr mit der Handkamera in Großeinstellungen abzufilmen und die Hauptdarstellerinnen dabei nicht doubeln zu lassen. Mit dem Einzug des pornographischen Darstellungsstils ins Mainstream-Kino war indes ein gravierender Tabubruch verbunden, der zu einer der größten internationalen Zensurdebatten der letzten Jahre führen sollte.

Zunächst zur Handlung: Die ehemalige Pornodarstellerin Manu (Raffaëla Anderson) und die Prostituierte Nadine (Karen Bach) lernen sich in einer französischen Vorstadt kennen, in der Gewalt an der Tagesordnung ist. So wird Nadine Opfer einer Vergewaltigung und rächt sich – allerdings nicht an dem Täter, sondern an ihrem Bruder, den sie deshalb erschießt, weil er nicht einfühlsam genug reagiert. Nadine bringt fast gleichzeitig ihre Mitbewohnerin um, weil diese ihr vorwirft, dass sie ihrem drogensüchtigen Freund hörig sei. Die beiden Frauen treffen am Bahnhof aufeinander, machen sich dann aber doch per Auto auf zu einer Überlandtour, auf der eine exzessive Gewalttat die andere ablöst. Immer wieder machen sie fremde Männer erst an, um sie dann umzubringen. Aber auch Frauen und ein Kind werden zum Opfer des Paares. Der Höhepunkt ihrer immer willkürlicheren Serienmorde bildet ein an Sadismus kaum zu übertreffendes Massaker in einem Swinger-Club. Die beiden Frauen leben ihre homoerotische Beziehung nie direkt körperlich aus, sondern nur über Dritte, etwa wenn sie die Männer tauschen oder einander beim Sex zusehen. Nachdem Manu bei einem Überfall erschossen wird, verbrennt Nadine die tote Komplizin an einem See, um wenig später mit ihrem Revolver an der Schläfe von einem gewaltigen Polizeiaufgebot umzingelt und verhaftet zu werden.

In Rezensionen wurde der Film häufig als konsequente Fortsetzung von «Thelma & Louise» gesehen, nachdem die Schranken hinsichtlich der offenen Darstellung von Sexualität und der Verherrlichung insbesondere weiblicher Gewalt in den neunziger Jahren noch weiter gefallen seien. Auch «Thelma & Louise» war dafür kritisiert worden, weibliche Gewalt als positive Reaktion gegen eine fast durchgehend bösartig gezeichnete Männerwelt zu propagieren und dabei nicht nur das Konzept der Rache gutzuheißen, sondern sich auch an Menschen zu rächen, die mit den eigentlichen Tätern nur das Geschlecht gemeinsam hatten. «Baise-moi» hielt man entgegen, ein etwas merkwürdiges Konzept von Gleichberechtigung zu verfolgen, wenn der Film Frauen «mit ihren Knarren so phallisch wie jeder Revolverheld» (Christiane Peitz im Berliner «Tagesspiegel», siehe unten) posieren lasse, und Gewalt zu erotisieren, solange die Täter nur weiblich, jung und attraktiv seien. (In Despentes Romanvorlage ist Nadine noch korpulent und Manu trashig.) Verschiedene Rezensenten, unter anderem auf der Homosexuellen-Website «eurogay», warfen den Regisseurinnen vor, die Vergewaltigung als aufgesetzte Begründung herbeizuzerren, so dass das Publikum dem irrsinnigen Amoklauf der «Heldinnen» wenigstens noch einen Ansatz von Verständnis entgegenbringen könne.

Virginie Despentes und Coralie Trin Thi räumen ohne Umschweife ein, dass ihr Film aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf geboren sei. «Baise-moi ist deshalb so roh geworden, weil mir für vieles die Worte und die Erklärungen fehlen», wird Despentes zitiert. Sie fand es beispielsweise einfach lustig, an einem in ihren Augen so erbärmlichen Ort wie einem Swinger-Club ein grausames Massentöten stattfinden zu lassen. Auch ihre Regie-Partnerin spricht erheitert von ihrem Wunsch nach einem Ende mit «viel Fleisch und Blut».

Um ihren Sexismus gegenüber Menschen, die mit dem anderen Geschlecht zur Welt gekommen sind, macht Despentes keinen Hehl: «Es stimmt, dass ich ein ziemlich großes Problem mit Männern habe. Ich habe ein Problem mit allem, was von Natur aus überlegen sein will. Ich habe ein Problem mit allem, was mich niederhalten oder unterdrücken will.» Ihre Protagonistinnen hingegen seien keineswegs schlechte Mädchen, erklärt die Regisseurin: «Sie fühlen sich lebendig, wenn sie töten. Und wenn sie ficken, lassen sie sich einfach nur gehen, fühlen, dass sie existieren.» Insofern möchte sie Nadine und Manu als Avantgarde eines «kriegerischen Feminismus» und ihren Film als «schrillen Schrei gegen Gewalt an Frauen» verstanden wissen. Frauen stellten sich in ihrem Werk der Gewalt ebenso wie der Sexualität.

Nur wenige Kritiker können den Regisseurinnen hier noch folgen. So erkannte die französische «Liberation» in dem Film «ein Roadmovie aus Sex und Blut, feminin, genauer: feministisch, eine bittere Farce mit den Männern als den Schuldigen, den Opfern, den Zielscheiben» und kann sich allein «Männerhass» als Motiv der Filmemacherinnen vorstellen. Bei einem Vergleich dieser und weiterer französischer Besprechungen gelangt der «Tagesspiegel» vom 8.7.2000 zu dem Fazit: «Männer sind Schweine, sagt der Film. Männer sind – arme – Schweine, ist der von der Regisseurin wohl kaum beabsichtigte Subtext, wie er durch die in Frankreich erschienenen Kritiken hindurchscheint.»

In der Tat wird die Bewertung von «Baise-moi» sehr stark durch den ideologischen Hintergrund und die Befindlichkeit der Bewertenden geprägt, auch wenn etwa Nadine Holtwick unter filmrezension.de ihren persönlichen Eindruck folgendermaßen verallgemeinert: «Man spürt die anfängliche Demütigung der Frauen hautnah und kann sich der innerlichen Beklemmung parallel zur aufbauenden Gewalt des Filmes nicht entziehen. ‹Baise-moi› ist belebend und bedrückend zugleich und weist auf, dass Menschen Wärme und eine soziale Struktur brauchen, um innerhalb der human akzeptierten Norm leben zu können. Menschen kreieren ‹UN-Menschen› durch Grausamkeit und Kälte, sodass der Mensch in sämtlichen Facetten letztendlich nicht existieren kann, da die tiefsten Abgründe Selbstvernichtung zur Folge haben.» Alice Schwarzers feministisches Magazin «Emma» feierte das Werk als neue Offenbarung. «Eurogay» hingegen bezeichnete es schon in der Überschrift zu seiner Besprechung als «brutal, sexistisch und wenig glaubhaft». Der sogenannte Frauenfilm sei «in keiner Weise von jener Ware unterscheidbar, die bei der Videothek um die Ecke in der Abteilung für die Kundschaft über 18 Jahren in allen Variationen bereitliegt. Man stelle sich eine mutierte Kreuzung aus ‹Thelma & Louise›, ‹Bonnie & Clyde› und einem Porno vor, der gelegentliche lesbische Untertöne mit sich bringt. (...) Was immer die Filmemacherinnen uns damit versinnbildlichen wollen – eventuell ja tiefen Ekel an allzu großer sexueller Freiheit: Sie gebrauchen dazu Mittel, die lediglich Sensationsgier und Voyeurismus bedienen, aber intellektuell und emotional armselig sind.» Mehr noch spräche gegen den Film indes «seine mangelnde psychologische Glaubwürdigkeit, seine dramaturgischen Patzer und seine erstaunlich unsensible Darstellung sexueller Lust, die man von einer Regisseurin eigentlich nicht erwartet. Um das zu sehen, hätte es nicht bombastischer feministischer Ideologisierungen bedurft, wie sie in der Zensurdebatte im Nachbarland laut wurden. Wenn es aber andererseits um die Verquickungen zwischen Sex und Gewalt geht, bot in den letzten Monaten ‹American Psycho› ein emotional erheblich mitreißenderes filmisches Konzept. (4 «American Psycho»)

Unter der das Problem gekonnt zusammenfassenden Überschrift «Scharf, schärfer, unscharf» gelangt Christiane Peitz im «Tagesspiegel» vom 16.11.2000 zu dem auch zahlreiche andere Kritiken spiegelnden Befund, der Film sei den Skandal keineswegs wert, den er ausgelöst habe: «Die provokante Überschreitung der Grenze zwischen Porno und Film bleibt in ‹Baise-moi› die einzige Regelverletzung. Ansonsten hält er sich an das Mittelmaß filmischer Handlungsmuster samt Initialszene (Vergewaltigung), blutigem Showdown und angeklebtem melodramatischem Ende. Es ist kaum möglich, den Film anders als derart mechanistisch zu beschreiben. Zumal die Musik jeden dramaturgischen Einwand übertönt, wenn der Plot in den Scharnieren knirscht. Dazu ein bisschen Dogma-Ästhetik (Video, natürliches Licht, Laiendarsteller) und eine dicke Portion feministischer Filmtheorie. ‹Baise-moi›, sagen die Filmemacherinnen, gibt den Frauen das Recht auf ihren eigenen Körper zurück und entreißt ihn dem begrenzten Blickfeld der Männer. Klingt gut. Ist aber nicht zu sehen. Denn das Blickfeld des Films bleibt innerhalb der gleichen Begrenzung. Anders als der Körper der vergewaltigten Frau, einer knochigen, hässlichen Schlampe, sind Nadine und Mann jung, makellos, sexy. Die Knochige taucht fortan im Film nicht mehr auf, während die Kamera die Bodies der Heldinnen genauso stilisiert und zurichtet, wie Männer es mögen. Merke: Opfer törnen ab, Täterinnen sind geil. Nur wer um sich schlägt oder schießt, taugt für die Schaulust. Die niederen Instinkte der Vergewaltiger gehorchten der gleichen Logik. Hinzu kommt, dass die Serienmorde von Nadine und Manu mehr schlecht als recht die Actionmuster von B-Pictures kopieren. Ein Möchtegern-Splatter: verbrauchte, billige Bilder, die durch den Anblick von ‹echtem› Sex nicht aufgefrischt werden. Die Provokation zielt ins Leere. (...) Am Ende ist ‹Baise-moi› doch vor allem ein Stück Pornographie.»

Gerade letzterer wegen der drastischen Sexszenen immer wieder erhobene Vergleich («Art House Porn Movie Shocks Even the French» titelte etwa der Londoner «Independent»), spielte auch in der Verbotsbegründung des französischen Staatsrats eine Rolle («extrem gewalttätige und nichtsimulierte sexuelle Szenen»). Er wurde von Verteidigern des Filmes indes mit dem Argument zurückgewiesen, kennzeichnend für Pornos sei, dass sie sexuell stimulierten und Lust verschafften: «Baise-moi» erreiche beim Betrachter aber das genaue Gegenteil (vgl. hierzu auch 4 Selby, Hubert). Nichtsdestotrotz wurde mit «Baise-moi» erstmals seit zwanzig Jahren wieder ein Film in Frankreich auf den Index gesetzt und somit in die Pornokinos und Videotheken verbannt. Die Regisseurinnen selbst zeigten sich überrascht: Schließlich war Despentes’ Romanvorlage selbst weder verboten, noch auch nur angegriffen worden, und die französische Kulturministerin Catherine Tasca hatte den Roadmovie ab 16 für die Kinos freigegeben. Nachdem es aber schon auf den internationalen Filmfestspielen in Cannes Tumulte gegeben hatte (der Film war unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt worden und wegen der starken Mundpropaganda versuchten zu viele Journalisten gleichzeitig, sich ins private Publikum zu mogeln), verbot der französische Staatsrat «Baise-moi» zwei Tage nach seinem Kinostart. Die Kommentare in den Feuilletons überschlugen sich geradezu in der Debatte um Kunstfreiheit und ihre Grenzen und verlangten eine Neudefinition von Pornographie. Filmproduzent Philippe Godeau sprach von einem rechtsradikalen Komplott. Auch die Website zum Film unter www.baisemoilesite.com (mit über einer Million Zugriffen) forderte: «Schreiben Sie uns, damit die Zensur nicht siegt. Bruno Mégret und seine Truppen freuen sich über dieses Verbot.»