Das Los, das man zieht - Arturo Pérez-Reverte - E-Book

Das Los, das man zieht E-Book

Arturo Pérez-Reverte

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Mai 1937 erhält Falcó einen neuen Auftrag: nach Paris reisen, Picassos Vertrauen gewinnen, dabei die Fertigstellung seines bedeutendsten Bildes sabotieren. Eine gefährliche Mission. Denn in Paris sind die, die weltvergessen feiern, die Künstler, Sammler, Tänzerinnen, nicht zu unterscheiden von denen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu sterben … Im großen Finale seiner Spionagetrilogie erzählt Arturo Pérez-Reverte meisterhaft vom Einsturz der alten Welt, von Helden und Agenten und von ihrem erbitterten Kampf am Vorabend der großen Katastrophe.
Über einen Mittelsmann wird Falcó in Paris eingeführt, als vermögender Sammler bei einem Abendessen. Sein Gegenüber, Leo Bayard, seines Zeichens Intellektueller, berühmter Kampfpilot und glühender Kommunist, hofft auf finanzielle Unterstützung seines Propagandafilms und verschafft Falcó Zugang. Zu den Galerien, zu den Ausschweifungen in Bars und Varietés, zum Atelier des großen Picasso und zum Gemälde Guernica. Wären da nur nicht die hübsche Frau an Bayards Seite, die Störfeuer von Stalins Agenten und die grobschlächtigen französischen Faschisten, die Falcós Pläne immer wieder durchkreuzen … Packende Spionageunterhaltung eines brillanten Erzählers.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 443

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Arturo Pérez-Reverte

Das Los, das man zieht

Aus dem Spanischen von Petra Zickmann

Insel Verlag

Für Lorenzo Pérez-Reverte, Soldat der Republik,der mit sechzehn Jahren in den Krieg zog,mit neunzehn zurückkehrteund vor seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag starb.

Es gibt Helden im Bösen wie im Guten.

La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen

Ein Bild ist eine Summe von Zerstörungen.

Pablo Picasso

Inhalt

1. Die Nächte von Biarritz

2. Der Schein trügt nicht

3. Von Lämmern und Wölfen

4. Kommunist und Torero

5. Romane und Spione

6. Das Antiquariat in der Rue Mondétour

7. Ein Charvet-Kunde

8. Ein guter Mann ist schwer zu finden

9. Kohlschwarz und stahlgrau

10. Hochkarätige Lügen

11. Rocambole im Hotel Meurice

12. Kirschroter Lippenstift

13. Von Profi zu Profi

14. Die Dächer von Paris

15. Schatten der Vergangenheit

16. Von Federn und Pistolen

17. Eine Unterhaltung

18. Epilog

1. Die Nächte von Biarritz

Unter der Pergola der Terrasse sah man fünf weiße Flecken und einen roten Punkt. Die Flecken waren eine Hemdbrust und ein Kragen, zwei gestärkte Manschetten und das Einstecktuch in der Tasche einer Smokingjacke. Der rote Punkt die Glut einer Zigarette zwischen den Lippen eines Mannes, der regungslos in der Dunkelheit saß.

Von drinnen hörte man gedämpfte Stimmen und Musik. Der abnehmende Mond stand über dem schwarzsilbernen Meer zwischen dem blinkenden Leuchtturm rechts und der schwach erhellten oberen Altstadt links.

Es war ein klarer, milder Abend, an dem kaum ein Wind wehte. Fast Mitte Mai.

Lorenzo Falcó zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, ließ sie fallen und trat sie aus. Wieder schaute er über das Meer und den dunklen Strand, ehe er die Augen auf die finsterste Stelle richtete, wo in diesem Moment dreimal eine Taschenlampe aufflammte. Nachdem er das Signal bestätigt hatte, durchquerte er erneut den verwaisten, mit Chrom und karminrotem Lack verzierten Salon, wo große Spiegel zwischen den Wandlampen im Art-decó-Stil seine schlanke Gestalt reflektierten.

Der Spielsaal war gut besucht, und Falcó ließ den Blick über die Gäste an den achtzehn Tischen gleiten. In letzter Zeit hatte sich die Klientel des städtischen Kasinos gewandelt. Von den wilden Jahren der schnellen Autos, der Jazz-Hysterie, der spanischen Granden und angelsächsischen Millionäre, Luxus-Kokotten und russischen Aristokraten im Exil war in Biarritz nicht viel übrig. In Frankreich regierte die Volksfront, die Arbeiter hatten Anspruch auf bezahlten Urlaub, und wer jetzt dort an einer Havanna saugte oder den perlenbehängten Hals reckte, um eine Partie Chemin de fer oder Trente et quarante zu verfolgen, gehörte einer wohlhabenden Mittelschicht an, die Seite an Seite mit den Übriggebliebenen einer vergangenen Epoche saß. Und niemand plauderte mehr von der Sommersaison in Longchamp, dem Winter in Sankt Moritz oder der letzten Verrücktheit der Schiaparelli, vielmehr sprach man über den Spanienkrieg, die Bedrohung der Tschechoslowakei durch Hitler, die Schnittmuster der Marie-Claire für die heimische Konfektion oder die gestiegenen Fleischpreise.

Falcó fand den Mann, den er suchte, auf Anhieb, denn der hatte sich nicht vom Baccara-Tisch wegbewegt: korpulent, mit vollem grauem Haar und einem Smoking von sehr gutem Schnitt. Er saß immer noch neben derselben Frau – seiner Gattin – und beugte sich ihr zu, während er leise mit ihr redete und die Jetons befingerte, die sich vor ihm auf dem grünen Tuch stapelten. Er schien mehr zu verlieren als zu gewinnen, aber Falcó wusste, dass dieser Herr es sich leisten konnte. In der Tat konnte er sich beinahe alles leisten. Er hieß Tasio Sologastúa und gehörte zu den reichsten Menschen von Neguri, dem noblen Stadtviertel von Bilbao, dem Herzen des baskischen Großbürgertums.

Falcó sah zum Nachbartisch. Zwischen den Neugierigen stand Malena Eizaguirre und beobachtete von dort das Ehepaar. Sie sahen sich an, er deutete verstohlen auf seine Armbanduhr, und sie nickte leicht. Wie unabsichtlich trat Falcó neben sie. Mit ihrem kurz geschnittenen, modisch gewellten Haar und den großen schwarzen Augen war Malena nicht übermäßig attraktiv, rundlich, dreißig Jahre alt, mit regelmäßigen Zügen, doch verlieh ihr die weiße Abendrobe von Madame Grès aus gerafftem Chiffon ein klassisches, griechisch anmutendes Flair.

»Sie haben sich nicht von der Stelle gerührt«, sagte sie.

»Das sehe ich. Hat die Frau viel verloren?«

»Das Übliche. Jetons zu fünfzehntausend Francs, einen nach dem anderen.«

Falcó schmunzelte. Edurne Lambarri de Sologastúa liebte Baccara, Juwelen, Nerzmäntel und überhaupt alles Kostspielige. Genau wie ihre beiden Töchter – Izaskun und Arancha, zwei hübsche, leichtlebige baskische Gören –, die sich um diese Tageszeit, wie gewohnt, zum Tanzen im Miramar aufhalten dürften. Er schaute noch einmal auf die Uhr. Zwanzig nach elf.

»Ich denke, sie werden bald gehen«, sagte er.

»Ist alles bereit?«

»Ich habe vor einer Weile angerufen und eben das Signal gesehen«, langsam ließ er den Blick umherschweifen. »Siehst du die Leibwächter?«

Malena wies mit dem Kinn auf einen kräftigen Dunkelhaarigen mit niedriger Stirn und Boxernase in einem Smoking, der ihm um die Taille zu eng war. Ein wenig abseits des Baccara-Tisches an eine Säule gelehnt, behielt er Sologastúa mit hündischer Ergebenheit im Auge.

»Nur den da. Der andere ist sicher draußen beim Chauffeur.«

»Zwei Autos, wie üblich?«

»Ja.«

»Umso besser. Je mehr wir sind, desto lustiger wird's.«

Er sah sie schmal lächeln, sie beherrschte ihre Nervosität gut.

»Bist du immer so hartgesotten? Du nimmst wohl nie etwas ernst.«

»Manchmal schon.«

Malenas Lächeln wurde breiter. Sie wirkte angespannt, aber entschlossen. Der Tod ihres Vaters und ihres Bruders – ermordet bei dem Blutbad, das die Roten am 25. September an Bord des Gefängnisschiffes Cabo Quilates in der Ría de Bilbao angerichtet hatten – war mit ein Grund für ihre Entschiedenheit. Tochter einer gut situierten und traditionell karlistischen Familie, hatte sie während des Militärputsches tapfer die Aufständischen unterstützt, indem sie geheime Botschaften des Generals Mola von Pamplona nach San Sebastián übermittelte. Nachdem das mit ihrem Vater und ihrem Bruder geschehen war, hatte sie darum gebeten, bei Direktaktionen eingesetzt zu werden. Falcó und sie arbeiteten nun schon seit geraumer Zeit zusammen an der Planung dieser Operation. Sie ist gut, dachte er. Verlässlich, gewissenhaft und couragiert.

»Sie stehen auf«, sagte sie.

Falcó sah zu dem Tisch. Tasio Sologastúa und seine Frau hatten sich erhoben und strebten auf die Kasse zu, um ihre Jetons zu wechseln. Es war die Zeit, zu der die beiden, nach ihrem gewohnten Abendessen im Le Petit Vatel und einer Weile im Spielkasino, in ihre Villa in Garakoitz zurückzukehren pflegten. Der Leibwächter stieß sich entspannt von der Säule ab und folgte ihnen. Falcó strich Malena mit zwei Fingern leicht über die Hand.

»An die Arbeit«, sagte er.

Die Frau hakte ihren Gatten unter, und arglos machten sie sich auf den Weg zur Garderobe.

»Pünktlich wie die Maurer«, bemerkte Malena und schlang eine bordeauxrote Wollstola um die nackten Schultern. »Jeden Abend um dieselbe Uhrzeit.«

Sie schien zufrieden, dass alles so exakt nach Plan verlief. Als Falcó nach einem kurzen Intermezzo in Katalonien – einem Eilauftrag des Admirals – wieder in Biarritz eingetroffen war, beobachtete sie die Sologastúas bereits seit vier Wochen. Das Ehepaar hatte letztes Jahr mit seinen Töchtern die Grenze passiert, unmittelbar bevor die nationalen Truppen den Übergang bei Irun besetzten. Tasio Sologastúa, prominentes Mitglied des PNV – der Partei der baskischen Nationalisten, die zwar katholisch und konservativ, aus praktischen Gründen jedoch mit der Republik alliiert war –, stellte eine der wichtigsten Stützen der autonomen Regierung des Baskenlandes im Ausland dar. Von seinem goldenen Exil aus, wo ein simples Menü dreimal so viel kostete wie ein Abendessen mit Champagner in einem guten Restaurant in Francos Spanien, war sein Einfluss bis in die nationalistischen Kreise des französischen Südwestens spürbar, und über seine Konten in Großbritannien und der Schweiz finanzierte er beträchtliche Waffenlieferungen, die mit Kurs auf baskische Häfen verschifft wurden. Wie Falcó dank seiner alten Schmugglerkontakte bestätigen konnte – die Vergangenheit ist niemals vollständig ausgelöscht –, hatte Sologastúa die baskische Kriegsflotte mit acht Kanonen, siebzehn Mörsern, zweiundzwanzig großkalibrigen Maschinengewehren, fünftausendachthundert Gewehren und einer halben Million Schuss Munition ausgerüstet und zwei bewaffnete Fischkutter für die baskische Behelfsmarine gechartert. Nicht gerade eine Sammlung von Zinnsoldaten. Und auf jeden Fall genügend Motive für die franquistischen Geheimdienste, ihn zu entführen oder umzubringen. Darin bestand, in ebendieser Reihenfolge, die Lorenzo Falcó übertragene Mission.

Im Licht der Lampen unter dem großen Vordach des Eingangs blieben sie stehen, während der Gehilfe des Portiers ihren Wagen holte. Von dort sahen sie eines von Sologastúas Autos, einen eleganten Lincoln Zephyr, vom Parkplatz kommen, während das andere, ein bescheidenerer Ford, mit eingeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor auf dem Vorplatz wartete. Das Ehepaar ließ sich auf dem Rücksitz des Lincoln nieder, der Leibwächter im Smoking half dem Chauffeur, die Türen zu schließen, und stieg dann in den Ford. Hintereinander fuhren sie an, vorweg der Lincoln, der Kies knirschte unter den Reifen, als Falcós und Malenas Peugeot 301 vor dem Portal bremste, eine geräumige, antriebsstarke Limousine, speziell ausgewählt für die Operation. Mit aller Selbstverständlichkeit setzte sich Malena ans Steuer, während Falcó an den Portier und seinen Gehilfen Trinkgelder verteilte, dann auf dem Beifahrersitz Platz nahm und die Tür zuzog.

»Bereit?«, fragte er.

Sie hatte eine Hand auf dem Lenkrad und legte den ersten Gang ein. Im Schein der Eingangsbeleuchtung sah Falcó, dass sie die Schuhe ausgezogen und den Rock ihres langen Kleides bis über die Schenkel hochgezogen hatte, um es beim Fahren bequemer zu haben.

»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte sie.

Falcó schaute noch einen Moment auf ihre Beine, ehe er amüsiert nickte.

»Na dann, auf, auf zum fröhlichen Jagen!«

Der Wagen ruckte an, und er konnte Malena noch leicht verkrampft lächeln sehen, bevor sie die Lichter des Kasinos hinter sich ließen. Von Weitem folgten sie dem Ford, der den Lincoln eskortierte und in den Kurven mit den Scheinwerfern anstrahlte. Sie fuhren entlang der leeren, schwach erleuchteten Straßen hinauf zur Atalaya und der Place Clemenceau und anschließend hinunter zur Küstenstraße in Richtung Saint-Jean-de-Luz.

»Perfekt«, meinte Falcó. »Wie jeden Abend.«

»Ja.« Malenas Profil zeichnete sich in der Dunkelheit ab, wann immer eine nahe Mauer die Lichter des Peugeots reflektierte. »Wir Basken lieben die Routine.«

»Routine ist tödlich.«

»Ja«, sie lachte leise. »Sieht ganz danach aus.«

Ihre Stimme, stellte Falcó fest, klang unaufgeregt. Sie fuhr sicher und geübt, hielt den richtigen Abstand, um weder aufzufallen noch die Beute aus den Augen zu verlieren. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen und waren auf der geraden, von Pinien gesäumten Uferstraße, das mondglänzende Meer zu ihrer Rechten.

»Noch zwei Kilometer«, verkündete Malena.

Falcó öffnete das Handschuhfach und nahm die FN Browning 9 mm und den Heissefeldt-Schalldämpfer heraus. Tastend zog er das Magazin aus der Pistole, vergewisserte sich, dass es voll war, steckte es wieder an seinen Platz und ließ eine Kugel in die Kammer gleiten, ohne zu entsichern. Anschließend schraubte er das Rohr des Schalldämpfers auf.

»Da vorne rechts ist die Abzweigung, dann kommt die Brücke von Garakoitz«, sagte Malena.

Jetzt lag in ihrer Stimme doch eine gewisse Anspannung. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, und der Peugeot wurde langsamer. Vor ihnen, in einer Entfernung von etwa hundert Metern, bewegten sich die Scheinwerfer der beiden anderen Autos nicht mehr.

»Polizeikontrolle«, konstatierte Falcó, die Waffe im Schoß. »Halt an, ganz ruhig.«

Gemächlich rollten sie weiter und stoppten hinter dem zweiten Fahrzeug. Im Licht des ersten sah man vor einer steinernen Brücke eine mobile Schranke auf zwei Böcken und den Schriftzug Gendamerie in einem blau-weiß-roten Kreis. Zwei dunkel uniformierte Beamte, ein großer und ein kleiner, standen zu beiden Seiten des Lincoln. Der kleinere bückte sich zum Fenster auf der Fahrerseite. Im Gegenlicht waren die Silhouetten der Leibwächter auf den Vordersitzen des dahinter stehenden Fords zu erkennen.

»Lass den Motor laufen«, sagte Falcó.

Er öffnete die Tür. Die Pistole in der Faust, aber mit lang herabhängendem Arm, damit man sie nicht gleich sah, stieg er aus. Er atmete dreimal tief durch und löste mit dem Daumen den Sicherungshebel. Ohne Eile ging er zwischen den beiden Autos hindurch auf die Fahrerseite des Fords, wobei er den Chauffeur und seinen Kollegen fest im Blick behielt, aber aus dem Augenwinkel auf die Polizisten achtete. Sanft pochte er mit den Fingerknöcheln der linken Hand an die Scheibe. Dabei lächelte er wie jemand, der nur eine harmlose Frage hat. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter, und Falcó schoss ihm ins Gesicht.

Die Browning hatte keinen starken Rückstoß, aber sie zuckte in seiner Hand wie eine Schlange nach dem Zubeißen. Darum musste er sie ein wenig senken, um auf den zweiten Leibwächter zu zielen, den mit der platten Nase, der sich verzweifelt wand, weil sein Kollege gegen seine Schulter gesunken war, und unter der Jacke nach etwas kramte, vermutlich nach einer Waffe.

»Nein!«, hörte er ihn flehen. »Nein!«

Im Licht der Scheinwerfer konnte Falcó die entsetzt aufgerissenen Augen sehen, die auf das Metallrohr des Schalldämpfers starrten, ehe die Pistole in seiner Hand ein zweites Mal losging und in den Hemdkragen des anderen ein Loch von der Größe einer Münze riss. Noch bewegte sich der Mann und versuchte, die Tür zu öffnen, was ihm gerade gelungen war, als Falcó ein zweites Mal abdrückte, sodass er halb aus dem Wagen rutschte.

Als Falcó wieder zu dem Lincoln hinüberblickte, hatte sich auch dort die Lage verändert. Die vordere linke Tür stand offen, und der kleinere der beiden Gendarmen zerrte die Leiche des Fahrers heraus. Der andere hielt eine Taschenlampe und eine Pistole in der Hand, mit der er auf den Rücksitz zielte, wo sich Tasio Sologastúa und seine Frau erschrocken aneinanderklammerten. Falcó ging hin, öffnete eine der hinteren Türen und setzte dem Mann die Mündung des Schalldämpfers an den Kopf.

»Steigen Sie aus. Nur Sie. Ihre Frau bleibt drin.«

Die Taschenlampe des großen Polizisten erleuchtete alles sehr deutlich: das verzerrte Gesicht des baskischen Finanziers, die ängstliche Miene seiner Gattin. Plötzlich begann sie zu schreien. Ein gellendes, durchdringendes Kreischen. Falcó beugte sich über den Mann, und indem er weiterhin auf ihn zielte, versetzte er der Frau einen Faustschlag an die Schläfe, dass sie besinnungslos gegen das Seitenfenster fiel.

»Steigen Sie aus«, sagte er noch einmal bedächtig zu Sologastúa. »Oder wir bringen Ihre Frau gleich mit um.«

Der Mann gehorchte. Als Falcó ihn an den Wagen drängte, um in seinen Taschen nachzusehen, ob er bewaffnet war, spürte er Sologastúas Zittern. Malena wendete derweil den Peugeot. Im Licht der Scheinwerfer sah Falcó für einen Augenblick die Leiche des Chauffeurs, die mit durchschnittener Kehle im Straßengraben ausblutete.

»Was ist los?«, brachte Sologastúa endlich hervor.

»Sie sind Gefangener der Nationalen.«

Der andere brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Dann übertraf seine Empörung beinahe seine Angst.

»Humbug«, sagte er. »Wir sind in Frankreich.«

»In Iparralde, ja«, gab Falcó zu. »Nördliches Baskenland.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie auf eine kleine Reise schicken.«

»Wohin?«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Falcó packte ihn am Jackenkragen und schob ihn, die Waffe immerzu auf seinen Kopf gerichtet, auf den Peugeot zu. Hinter ihnen fuhren die beiden Gendarmen die anderen Autos von der Straße und stellten sie zwischen den Pinien ab.

»Und meine Frau?«, fragte Sologastúa.

»Machen Sie sich um die keine Sorgen. Niemand wird ihr etwas antun.«

Verwirrt ließ er sich vorwärts treiben. Doch als er vor dem Kofferraum des Peugeots stand, den Malena soeben geöffnet hatte, hielt er abrupt inne.

»Ihr Schweine«, sagte er.

Falcó versetzte ihm einen Stoß. Malena hatte eine Rolle breites Heftpflaster aus dem Kofferraum genommen. Damit fesselten sie Sologastúa die Hände auf den Rücken und banden ihm die Beine zusammen. Er wehrte sich zunächst, weshalb Falcó ihm in den Solarplexus boxte, nicht übertrieben, nur so fest, dass er in die Knie ging.

»Wenn es um Geld geht, ich kann …«, fing der Finanzier an, als er wieder Luft bekam.

Malena schnitt ihm mit zwei Schichten Heftpflaster das Wort ab. Gemeinsam hievten sie ihn hoch und legten ihn in den Kofferraum. Dann ging Malena zur Fahrerseite und kam mit einem Fläschchen Chloroform und einem großen Wattebausch zurück, den sie mit abgewandtem Gesicht und angehaltenem Atem tränkte und anschließend dem Gefangenen auf die Nase drückte. Eine halbe Minute später regte sich Sologastúa nicht mehr. Falcó verbarg ihn unter Decken, einem kleinen Koffer und einem Picknickkorb und schloss die Klappe, während Malena sich wieder ans Steuer setzte. Schließlich wandte sich Falcó den beiden Polizisten zu, die die Leichen und die Absperrung von der Straße geschafft hatten.

»Wie geht es unserer Frau Millionärin?«, erkundigte er sich auf Spanisch.

Im matten Licht des schmalen Mondes sah Falcó, wie sich die Männer der Uniformen entledigten und sie ins Gebüsch warfen.

»Sie ist noch bewusstlos«, sagte der Kleinere.

Falcó nickte zufrieden.

»Wenn sie nicht Auto fahren kann, steht ihr nach dem Aufwachen ein schöner Spaziergang bevor.«

Der andere lachte.

»Sie wird ohnehin zu Fuß gehen müssen, weil beide Autos einen Motorschaden und zerstochene Reifen haben. Wie gefällt dir das?«

»Großartig.«

»Bis sie zu Hause ist oder ein Telefon gefunden hat, seid ihr längst in Irun.«

Falcó holte sein Schildpattetui und das silberne Parker Beacon hervor und steckte sich eine Zigarette an.

»Das war saubere Arbeit«, bemerkte er und ließ dabei den Rauch aus seinem Mund entweichen.

Der andere stimmte ihm zu.

»Dieses Mädchen da hat seine Sache gut gemacht«, sagte er.

»Ja.«

»Ausgesprochen gut.«

Im Licht des Feuerzeugs sah Falcó auf seine Armbanduhr. Es war höchste Zeit.

»Wir sollten zusehen, dass wir wegkommen«, sagte er. »Braucht ihr irgendetwas?«

»Nein. Alles bestens.«

»Dann gute Fahrt.«

»Danke, ebenso, mein Hübscher.«

Ehe er die Flamme erlöschen ließ und zu dem Peugeot ging, konnte Falcó noch kurz die Krötenaugen und das grausame Lächeln von Paquito Araña sehen.

Bis zur Grenze waren es zwölf Kilometer. Wenn man Saint-Jean-de-Luz hinter sich gelassen hatte, schlängelte sich die Straße durch Pinienhaine und entlang der Klippen, unterhalb deren das Meer schwarz glänzte wie Gagat. Falcó und Malena Eizaguirre hatten seit der Brücke kein Wort gewechselt. Er zündete eine Player's an und schob sie der Frau zwischen die Lippen. Dann nahm er sich auch eine.

»Soll ich mal eine Weile fahren?«

»Nein, ist schon gut.«

Ein Lichtreflex glitt über Malenas Profil. Sie hatte die Zigarette im Mund und beide Hände am Lenkrad.

»Ich habe noch nie gesehen, wie jemand getötet wird«, sagte sie.

Sie schwiegen einen Moment. Falcó rauchte und blickte auf die von den Scheinwerfern erhellte Straße. Am rechten Rand zogen die roten und weißen Farbstreifen vorüber, mit denen die Leitplanken und Steine an Steilhängen markiert waren.

»Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt«, fügte sie dann hinzu.

Er sah sie verwundert an.

»Was meinst du mit ganz anders?«

»Nicht so selbstverständlich. Ich dachte immer, es müsse Leidenschaft oder Affekt dabei sein. Das vorhin hatte fast etwas Bürokratisches.«

Sie schaltete einen Gang herunter, als sie sich einer engen Kurve näherten. Die Reifen quietschten, und Falcó dachte, dass Sologastúa im Kofferraum hin- und hergeworfen wurde und gut daran täte weiterzuschlafen.

»Du hast so ruhig gewirkt. Ist das immer so bei dir?«

»Nicht immer.«

»Ich glaube nicht, dass sie meinen Vater und Iñigo, meinen Bruder, auf diese Weise getötet haben. Ich vermute eher einen aufgehetzten Mob. Kommunistische Horden. Du weißt schon.«

»Gut möglich«, nickte Falcó. »Es gibt viele Arten zu töten.«

»Wer dich beobachtet, möchte glauben, du beherrschst sie alle.«

Darauf folgte ein weiteres Schweigen. Falcó hatte sich ihr zugewandt und betrachtete sie forschend.

»Hättest du es fertiggebracht? Hättest du im Notfall abgedrückt?«

»Ich denke schon.« Sie hob die Schultern unter der Stola. »Ich bin schließlich Requeté. Karlistin.«

Eine Weile sagte keiner etwas.

»Diese Republik aus Irren und Mördern war ein einziges Chaos«, fuhr sie dann fort. »Die Marxisten haben ihre Revolution vorbereitet, und wir sind ihnen mit unserer zuvorgekommen. Wo warst du am achtzehnten Juli?«

»Weiß ich nicht mehr. Unterwegs.«

Jetzt war es Malena, die ihm das Gesicht zudrehte und zu ergründen versuchte, ob er es ernst oder ironisch meinte. Dann richtete sie den Blick erneut auf die Straße. Wieder schaltete sie vor einer Kurve, wieder quietschten die Reifen. Zum Glück sind sie neu, dachte Falcó und hielt sich an der Griffschlaufe fest. Eigens für diesen Anlass aufgezogene Michelins.

»Ich bin Soldat in diesem Krieg«, erklärte sie. »Wie du. Wie diese beiden als Gendarmen verkleideten Kameraden.«

Falcó schmunzelte. Wer Paquito Araña als Kameraden bezeichnete, kannte ihn augenscheinlich wenig. Das war, als wollte man ihn selbst so nennen. Nach Haarpomade und Rosenwasser duftend, war der Killer eine Woche zuvor für die Schlussphase der Operation im Südwesten Frankreichs eingetroffen. Dienstbereit und ohne weitere Fragen zu stellen, als für die praktische Durchführung unbedingt nötig.

»Vielleicht bin ja eines Tages ich an der Reihe«, sagte Malena nachdenklich.

»Zu töten?«

Er hörte sie verhalten lachen, während sie den Gang wechselte. Jetzt hielt sie die Zigarette zwischen zwei Fingern der rechten Hand, die auf dem Steuer lag.

»Zu sterben.«

Falcó zog lange an seiner Zigarette. Die Frau warf ihm kurze Seitenblicke zu, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Straße zu wenden. Diese war jetzt abschüssig und weniger kurvig. Die schroffen Hänge lagen hinter ihnen, und die Scheinwerfer beleuchteten schattenhafte Pinien, die sich gegen den mondhellen Himmel abzeichneten.

»Ich habe mich nicht aus Rache dem bewaffneten Kampf angeschlossen«, murmelte sie, nachdem sie lange geschwiegen hatten.

Sie drehte das Fenster herunter. Als sie ihre Kippe hinausschnippte, wehte der Fahrtwind ein paar Funken ins Wageninnere.

»Ich war schon bei der Vorbereitung der Nationalen Erhebung dabei«, erklärte sie. »Lange bevor mein Vater und mein Bruder ermordet wurden. Dies ist ein Kreuzzug gegen den atheistischen Marxismus und den Separatismus.«

Falcó nickte gleichmütig. Sie hatten die ersten Häuser von Hendaye erreicht. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf das Ortsschild.

»Die Absicht, Schaden anzurichten, ist ziemlich hilfreich«, resümierte er in sachlichem Ton, als wäre damit alles gesagt.

»Die Absicht, Schaden anzurichten«, wiederholte Malena und klatschte mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Das klingt gut. Hast du Gewissensbisse, wenn du tötest, oder tötest du dafür zu oft? Kann man zu oft töten?«

Er antwortete nicht sofort, als dächte er nach. In Wahrheit brauchte er nicht nachzudenken.

»Man kann«, sagte er.

»Und hinterlässt es unangenehme Erinnerungen?«

»Mitunter.«

»Ich frage mich, wie du mit all diesen Toten klarkommst.«

Falcó drückte die Zigarette in den Aschenbecher, öffnete das Fenster und warf den erloschenen Stummel hinaus.

»Gut.«

Es dauerte eine Weile, bis Malena wieder sprach.

»Du bist ein seltsamer Typ, weißt du?«, seufzte sie. »Beunruhigend, besser gesagt. Ich glaube, es wäre besser für mich, die Zusammenarbeit mit dir zu beenden.«

»Noch hast du einen schwierigen Teil vor dir.«

»Was willst du damit sagen?«

Falcó zeigte auf ein Schild, das die Scheinwerfer in diesem Moment anstrahlten: Douane française. Dann nahm er die Browning aus dem Handschuhfach und prüfte, ob eine Kugel in der Kammer steckte, ehe er die Waffe wieder zurücklegte.

»Wir sind da.«

Das Schilderhaus der Gendarmerie befand sich neben einer brennenden Laterne auf der linken Straßenseite. Gegenüber erleuchtete eine identische Laterne das weiße Zollgebäude. Jenseits der rot und weiß gestreiften Schranke – heruntergelassen, um die Fahrzeuge aufzuhalten – spannte sich die internationale Brücke, gerade und düster, an deren anderem Ende man die fernen Lichter der spanischen Zollgrenze ausmachen konnte.

»Stell den Motor nicht ab, solange sie dich nicht dazu auffordern, und steig nicht aus«, sagte Falcó. »Und wenn es Probleme gibt, trittst du aufs Gaspedal, durchbrichst die Absperrung und fährst bis auf die andere Seite, ohne nach hinten zu sehen.«

»Und du?«

»Um mich mach dir mal keine Sorgen. Für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes geschieht, tust du, was ich dir gesagt habe. Mit mir oder ohne mich. Verstanden?«

»Ja.«

Sie hatte den Wagen etwa zehn Meter vor der Schranke angehalten, wie ihr der Gendarm, der vor dem Schilderhaus eine elektrische Taschenlampe schwenkte, bedeutet hatte. Falcó zählte drei weitere, einen an der Schranke und zwei an der Tür zum Zollgebäude.

»Schalt das Licht aus, und dreh das Fenster runter.«

Malena tat, wie ihr geheißen, und ließ den Motor laufen. Der Gendarm mit der Lampe näherte sich der Fahrerseite. Ehe das Licht des Wagens erlosch, konnte Falcó die Ärmelabzeichen eines Unteroffiziers erkennen.

»Guten Abend«, grüßte er sie auf Französisch. »Ihre Papiere, bitte.«

Falcó beugte sich über Malena hinweg und reichte ihm zwei Pässe. Falsche Namen, falsche Adressen in San Sebastián, echte Fotos. Beide abgegriffen, mit den nötigen Stempeln und angemessen unschuldigem Aussehen. Herr und Frau Urrutia. Ein achtbares, anständig gekleidetes, gutbürgerliches Ehepaar in einem ordentlichen Auto. Nichts zu verbergen.

»Es ist spät«, sagte der Gendarm, jetzt auf Spanisch, und prüfte die Dokumente im Schein der Lampe. »Woher kommen Sie um diese Zeit?«

»Aus dem Kasino in Biarritz«, antwortete Falcó ruhig.

Der Blick unter dem Schirm des Käppis war penetrant.

»Glück gehabt?«, erkundigte sich der Gendarm.

Er sprach Spanisch mit starkem Akzent und gekrächzten Rs. Falcó zuckte mit den Achseln.

»Glück ist etwas Relatives, wie Einstein sagen würde.«

»Interessieren Sie sich für Einstein?«

»Danielle Darrieux interessiert mich mehr.«

Es war der vorgesehene Dialog, wie er erleichtert feststellte. Genau wie verabredet. Die Taschenlampe beleuchtete eine Sekunde lang Malenas Beine, das Abendkleid hatte sie noch immer bis über die Knie hochgestreift. Dann wanderte der Lichtkreis durch das Innere des Wagens, bis er auf Falcós Gesicht fiel.

»Haben Sie etwas zu verzollen?«

Falcó schüttelte den Kopf.

»Wir haben nur einen Picknickkorb dabei und einen kleinen Koffer mit ein paar persönlichen Sachen.«

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Machen Sie den Motor aus.«

Malena drehte den Zündschlüssel, und das sanfte Brummen des Peugeots verstummte.

»Öffnen Sie bitte den Kofferraum.«

Die Stimme des Gendarmen hatte streng und unpersönlich geklungen. Malenas nervösen Blick meidend, stieg Falcó aus und klappte den Jackenkragen hoch. Durch die Nähe des Flusses Bidasoa und des Meeres herrschte eine feuchte Kälte.

Obschon alles nach Plan zu verlaufen schien, blieb er wachsam. Angespannt und bereit, zu kämpfen oder zu fliehen oder zu beidem nacheinander. Die Gendarmen an der Tür wirkten genauso verschlafen und unbekümmert wie der an der Schranke, dachte er mit einem prüfenden Rundblick. Doch sie hatten Gewehre über der Schulter. Sollte etwas schiefgehen und Malena weisungsgemäß mit dem Auto davonrasen, stünden seine Chancen, ans andere Ende der Brücke zu gelangen, ziemlich schlecht. Selbst wenn er rannte, konnten sie ihm, trotz der schwachen Beleuchtung beiderseits, auf halbem Weg in den Rücken schießen. Die Kugeln lenkte der Teufel.

Er schaute auf das Metallgeländer der Brücke und die Schatten der Bäume zu seiner Linken hinter dem Schilderhaus. Er hatte sich zuvor bei Tageslicht sorgsam umgesehen. Dort Zuflucht zu suchen, wäre eine Möglichkeit. Die andere, einfachere, war, sich festnehmen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wenn Malena die andere Seite erreichte, konnten ihm die Franzosen nicht viel anhaben. Ein unbedeutender Zwischenfall, ein Versehen, nichts Ungewöhnliches mit dem Spanienkrieg in so unmittelbarer Nähe. Nichts, was sich vom nationalen Konsulat nicht mit etwas geschickt verteiltem Geld regeln ließe.

Er trat vor das Heck des Wagens, den Gendarmen neben sich. Während er den Drehgriff des Kofferraumdeckels betätigte und diesen langsam anhob, fühlte er sein Blut in den Schläfen pochen und überlegte kühl, wie er den Gendarmen unschädlich machen könnte, falls es kritisch würde.

Im Strahl der Taschenlampe waren der Korb, der Koffer und die Decken zu sehen. Weiter nichts. Sologastúa rührte sich nicht und schnarchte nicht, wie Falcó aufatmend feststellte. Das Chloroform tat seine Wirkung.

»In Ordnung«, sagte der Gendarm und knipste das Licht aus.

Er machte keine Anstalten, irgendetwas anzufassen. Falcó schloss sachte den Kofferraum, während sein Pulsschlag allmählich zum gewohnten Rhythmus zurückkehrte. Er sah zu den anderen Wachleuten hinüber, die sich nicht vom Fleck bewegt hatten. Alles lief wie geplant. Die fünfzigtausend Francs, die Falcó zwei Tage zuvor der Präfektur von Hendaye überbracht hatte, waren ein wirksames Schmieröl. Dass es unter den Gendarmen ehemalige Feuerkreuzler gab, Angehörige der französischen Faschistenorganisation Croix de Feu, erleichterte die Sache zusätzlich.

»Können wir weiterfahren?«, fragte er.

Der Gendarm gab ihm die beiden Pässe, pfiff, und der auf der Brücke öffnete die Schranke.

»Natürlich, Monsieur. Gute Fahrt.«

Mit mäßiger Geschwindigkeit fuhr der Wagen auf die Brücke, ins Niemandsland.

»Wir haben es geschafft«, sagte Malena verwundert. Noch ungläubig.

Falcó sagte nichts. Den Kopf ans kalte Glas des Seitenfensters gelehnt, wartete er, bis sich das in den letzten Minuten ausgeschüttete Adrenalin in seinem Blut allmählich abgebaut hatte. Es war nicht leicht, nicht einmal angenehm, und dauerte seine Zeit, von einem Zustand in den anderen zu wechseln. Von der kampfbereiten Hochspannung zur anschließenden Erschlaffung. Die Rückkehr zur Normalität.

»Es war das reinste Kinderspiel«, staunte Malena weiter.

Falcó blickte nach rechts, über die zwei Eisenbahnbrücken hinweg, dorthin, wo sich der Fluss verbreiterte und der Mond einen silbrigen Keil zwischen die beiden Gestade trieb. Die Lichter von Irun – sehr wenige, weil die Stadt einige Monate zuvor von den Roten in Brand gesteckt worden war – blinkten vereinzelt, in Abständen, am dunklen Ufer.

»Gleich sind wir in Spanien.«

Malenas Stimme klang bewegt. Patriotisches Feuer, erkannte Falcó. Für Gott, Vaterland und König. Ein mutiges Mädchen, das einen Sieg auskostete. Und Vater und Bruder in dieser Nacht ein wenig Genugtuung verschafft hatte.

»Das hast du gut gemacht«, sagte er.

»Du hast es sehr gut gemacht.«

Der Peugeot war in der Mitte der Brücke. Seine Scheinwerfer erleuchteten in der Ferne das weiße Haus des spanischen Zolls.

»Gib das Zeichen«, riet Falcó. »Damit sie wissen, dass wir es sind.«

Malena knipste das Licht zweimal an und aus.

»Danach werden wir uns trennen«, sagte sie. »Vermute ich.«

»Klar.«

Sie überlegte kurz. Sie schaltete herunter, um die Geschwindigkeit zu verringern.

»Es war mir eine Ehre, mit dir zu arbeiten. Ich war gern Frau Urrutia.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits.«

Noch immer zögerte sie.

»Du bist einer der wenigen Männer«, sagte sie, »die nicht versucht haben, mir näherzukommen, seit ich das hier mache. Und an Gelegenheiten hat es dir wahrlich nicht gemangelt.«

»Ich hoffe, du fühlst dich nicht gekränkt.«

»Um Himmels willen, nein«, sie lachte auf. »Im Gegenteil. Es ist das schönste Kompliment, das es für mich gibt: wenn man mich als Kameradin behandelt.«

»Und das bist du mir gewesen.«

»Ja. Ich habe mir Mühe gegeben.«

Sie rollten über die letzten Meter der Brücke. España stand auf einem Schild. Die Scheinwerfer erleuchteten die Schranke, schon sehr nah, zwischen den beiden steinernen Säulen, die die Staatsgrenze markierten. Jenseits davon warteten mehrere Personen still im matten Schein einer Straßenlaterne.

»Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll«, fügte Malena hinzu.

»Vielleicht ein andermal.«

Sie zauderte kurz, ehe sie erwiderte:

»Vielleicht.«

Die Barriere hob sich, sie legten noch ein kurzes Stück zurück und hielten dann bei den Pfosten, die das Vordach der Zollstation stützten. Die Wartenden näherten sich und umringten das Auto: Uniformen, Trenchcoats, die lackledernen Dreispitze der Guardia Civil. Falcó kurbelte das Fenster herunter, und der Lichtstrahl einer Taschenlampe blendete ihn, dass er die Augen schließen musste.

»Du bist spät, wie immer«, knurrte die barsche Stimme des Admirals.

2. Der Schein trügt nicht

Es war später Vormittag in San Sebastián, die Sonne schien durch die Fenster des Hotels María Cristina auf glänzende Möbel, polierte Stiefel, Uniformen, Lederzeug und teure Kleidung. Voller Militärs und gut situierter Flüchtlinge, kosmopolitisch und elegant, profitierte die Stadt davon, dass die Front weit weg war. In der Bar war das Summen der Gespräche noch dichter als der Tabakrauch. Hinter dem Tresen zwischen den in Regalen aufgereihten Flaschen hingen eine gerahmte Fotografie der Jungfrau María del Coro, eine rot-gelbe Flagge und ein Detektorradio, aus dem die Stimme von Concha Piquer mit Ojos verdes erklang.

Unter dem pikierten Blick des Barmannes ließ Lorenzo Falcó – kastanienbraunes Tweedsakko und beige Flanellhose – den Cocktail stehen, den zu kosten er keine Gelegenheit gehabt hatte, legte drei Peseten auf die Theke, rückte seinen Krawattenknoten zurecht, nahm den Hut vom Nachbarhocker und ging auf die Tür zu, in der soeben der Admiral erschienen war.

»Hör mal«, sagte der Admiral, als Falcó ihn erreicht hatte, und reckte einen Finger.

Falcó blinzelte verwirrt und schaute um sich.

»Was ist denn?«

Der Admiral hielt immer noch den Finger in die Luft, die Stirn in erboste Falten gelegt.

»Die Piquer.«

»Was ist mit der Piquer?«

»Hörst du nicht, was sie singt? Da steh ich in der Tür meines Vaterhauses …«

»Ja, und?«

»Es hat immer geheißen, in der Tür des Freudenhauses.«

Falcó grinste spöttisch.

»Spanien wird moralisch, Señor. Huren kommen in den Coplas nicht mehr vor.«

»O Gott, manchmal bin ich mir gar nicht sicher, ob es so gut ist, wenn wir diesen Krieg gewinnen.«

Der Chef des Nationalen Geheimdienstes war in Zivil, wie üblich: grauer Anzug, Regenschirm, Hut. Obwohl er aus Betanzos stammte, sah er mit dem aschgrauen Schnurrbart und dem Schirm aus wie ein Engländer. Über Falcós Schulter hinweg schaute er sich in der Bar um und zeigte zum Vestibül.

»Gehen wir ein Stück spazieren.«

»Ich glaube nicht, dass Sie den brauchen werden«, Falcó deutete auf den Schirm. »Es ist ein herrlicher Tag.«

Der andere machte eine gleichmütige Geste.

»Ich bin Galicier, was bedeutet, dass ich nicht einmal meinem eigenen Vater traue. Eine Vorsichtsmaßnahme mehr ist eine böse Überraschung weniger. Erst recht in Zeiten wie diesen. Kapiert?«

»Kapiert.«

Das Glasauge und das gesunde Auge des Admirals nahmen Falcó streng ins Visier.

»Deiner Antwort fehlt ein unverzichtbares Wort, junger Mann.«

Falcó schmunzelte und setzte seinen Hut auf.

»Kapiert, Señor.«

»So ist es recht. Und jetzt beweg dich, los. Gehen wir an die frische Luft.«

Sie traten auf die Straße, und der Portier nahm die Mütze ab, um Falcó zu begrüßen.

»Seit zwei Wochen wohne ich bereits im Hotel, und dieser Idiot kennt mich nicht einmal«, beklagte sich der Admiral. »Und vor dir katzbuckelt er schon nach zwei Tagen.«

»Ich weiß mich halt beliebt zu machen, Señor. Das liegt an meinem sonnigen Wesen.«

»Und deinen monströsen Trinkgeldern.«

»Ja, wohl auch.«

»Und hinterher bekommt der Buchhalter Schreikrämpfe, wenn er deine Spesenabrechnungen sieht. Und staucht mich zusammen.«

»Erklären Sie ihm, dass ich in Öffentlichkeitsarbeit investiere. Ich schmiere die großartige Maschinerie des Landes. Betrachten Sie es von diesem Standpunkt aus.«

»Von wo auch immer ich es betrachte, sehe ich nichts als deine Gaunervisage. In deinem Fall trügt der Schein keineswegs.«

Sie entfernten sich vom Hotel entlang des linken Urumea-Ufers und gingen auf die letzte Brücke zu. Oberhalb eines Plakates an einer Mauer – Eine Heimat, ein Staat, ein Führer – war der Himmel von einem nahezu falangistischen Blau. Was für ein Wetter, dachte Falcó sarkastisch, als ob Gott klarstellen wollte, auf welcher Seite er stand.

»Wie läuft es mit Sologastúa?«, erkundigte er sich.

Der Admiral sah ihn aus dem Augenwinkel an, schwieg ein paar Schritte lang und sagte dann mit einer Geste, die vieles bedeuten konnte:

»Er zeigt sich kooperativ.«

»Das heißt, er packt aus?«

»Oh ja. Anfangs gab es zwar Reibereien, weil er nur auf Baskisch antwortete, Euskal gudari naiz und Schwachsinn dieser Art, und sich weigerte, die Sprache der Christenmenschen zu sprechen.«

In Falcós Miene zeigte sich nicht das geringste Mitgefühl.

»Aber mittlerweile spricht er sie perfekt, nehme ich an.«

Der Admiral grinste boshaft.

»Erstaunlich flüssig, ja. Und das ist auch gut so, denn er hat uns noch viel zu erzählen. Und dazu animieren wir ihn. In aller Ruhe. Hinterher, wenn diese Gespräche im kleinen Kreis abgeschlossen sind, überstellen wir ihn dem Arm des Gesetzes.«

»Kommt er vor ein Kriegsgericht?«

»Natürlich. Der Kerl hat geglaubt, er bliebe trotz seiner grenzüberschreitenden Spielchen ungeschoren. Er hatte nicht begriffen, dass die Welt der Spionage und Gegenspionage wie ein Vergnügungspark ist: Der Eintritt ist günstig, das Teure sind die Attraktionen.«

»Wem sagen Sie das? Ich darf sie ja genießen.«

Der andere schwang seinen Schirm.

»Man muss mit gutem Beispiel vorangehen«, sagte er. »Die in Bilbao sollen wissen, was sie erwartet, wenn ihr famoser Eiserner Ring in die Brüche geht. Diese tollpatschigen Separatisten müssen für das Gemetzel im Januar büßen.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Beim Nationalen Nachrichtendienst SNIO, dem Servicio Nacional de Información y Operación, wusste man, dass der autonomen baskischen Regierung die Situation entglitten war, nachdem die Nationalen am vierten Januar Bilbao bombardiert hatten. Milizen der Gewerkschaftsorganisationen UGT und CNT, die in die Gefängnisse beordert worden waren, um die Inhaftierten zu schützen, hatten diese stattdessen massenweise erschossen, ohne dass Gudaris oder Ertzainas – Soldaten oder Polizisten – eingeschritten wären: zweihundert ermordete Häftlinge, keine zehn Minuten vom Regierungssitz entfernt.

»Fürs Erste«, bemerkte der Admiral, »haben wir ein paar nationalistische baskische Geistliche über die Klinge springen lassen, damit sie merken, wo es langgeht.«

Dies entlockte Falcó ein Lächeln.

»Im Vatikan sollen sie bloß nicht glauben«, ergänzte er belustigt, »dass das Umbringen von Priestern ein Monopol der Roten sei.«

»Du hast es erfasst. Manchmal bist du gar nicht so dumm, wie du aussiehst.«

Sie schlenderten weiter, blickten auf die Flussmündung und am gegenüberliegenden Ufer auf das Gebäude des Kursaals, das jetzt eine Kaserne der Requetés beherbergte.

»Diese junge Karlistin, Malena, hat sich bewährt in Biarritz«, befand der Admiral.

»Absolut«, pflichtete ihm Falcó bei. »Sie ist mutig und engagiert. Eine gute Kandidatin für die Lucero-Gruppe.«

»Ich weiß. Ich werde an sie denken, obwohl die Fachleute sagen, dass Frauen für den Einsatz als Agenten nicht taugen. Es heißt, sie seien zu emotional, wenn sie unter Druck geraten.« Das gute Auge sah Falcó von der Seite an. »Aber du weißt ja, in wichtigen Dingen liegen die Fachleute immer falsch.«

»Ist sie noch in der Stadt?«

»Wir haben sie im Excelsior untergebracht.«

»Dem in der Calle Guetaria?«

»Ja.«

»Ach, in so einem zweitklassigen Hotel?«

»Na klar. Sie ist kein Star wie du. Außerdem sind Unterkünfte wegen des Krieges knapp. Und sie in deiner Nähe zu lassen, war mir zu heikel.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Der Admiral beobachtete ihn weiter aus dem Augenwinkel.

»Ihr hattet doch hoffentlich nichts miteinander«, sagte er schließlich.

Falcó legte die rechte Hand aufs Herz.

»Um Gottes willen«, wehrte er sich. »Es war eine Mission. Mein Berufsethos …«

»Bring mich nicht zum Lachen. Du und Ethos!«

»Berufsethos habe ich gesagt.«

»Das ist Jacke wie Hose. Für dich gibt es nur zwei Arten von Frauen: die, mit denen du ins Bett gehst, und die, mit denen du ins Bett gehen könntest. Mit deinem Lächeln bringst du jede dazu, sich wie eine Prinzessin oder Filmdiva zu fühlen, während sie dich in Wahrheit nur von der Taille abwärts interessiert.«

»Sie tun mir immer noch unrecht, Admiral. Frauen interessieren mich auch oberhalb der Taille.«

»Ja, bis zu den Brüsten. Ach, scher dich doch zum Teufel.«

In den Straßencafés bestimmten Uniformen und Luxus das Ambiente. Auf der Terrasse des Guria saß plaudernd eine Gruppe Deutscher mit Offizierssternen an der unverkennbaren Mütze der Legion Condor. Falcó wandte sich halb zum Admiral um. Inquisitorisch.

»Stimmt das, was über Guernica gemunkelt wird?«

»Was munkelt man denn?«

»Dass es nicht von den Roten abgefackelt, sondern von uns bombardiert worden sei«, er wies auf die Deutschen. »Von denen, um genau zu sein. Von diesen sauberen blonden Recken.«

Ausdruckslos glitt der Blick des Admirals über die Soldaten. Als nähme er sie gar nicht wahr und ginge davon aus, dass sie auch für den Rest der Welt unsichtbar waren.

»Du darfst dem Gerede nicht glauben. Schließlich arbeitest du in einer Branche, die das Lügen zur Kunstform erhoben hat.«

»Schon klar. Aber es ist von tausend Opfern und deutschen Flugzeugen die Rede.«

Sein Chef hob die Schultern.

»Das ist übertrieben. Als unsere Truppen einmarschierten, haben sie nur hundert Tote bestätigt. Und getan hatten es asturische Bombenleger.«

Falcó sah sich im Vorbeigehen noch einmal kurz nach den Deutschen um. Dann schnalzte er mit der Zunge.

»Diese marxistischen Untiere«, sagte er.

Dem Admiral entging sein Spott nicht. Er bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.

»Gib acht, was du sagst, ich lege jedes deiner Worte auf die Goldwaage, klar? Wie Shylock.«

»Shylock Holmes?«

»Was für ein Banause du doch bist, meine Güte. Halt den Mund.«

Falcó tippte sich mit zwei Fingern an den Hut. Unter der Filzkrempe blitzten vergnügt die stahlgrauen Augen.

»Zu Befehl.«

»Ich bin nicht in Stimmung. Hast du verstanden?«

»Jawohl, Señor.«

»Nicht alles in diesem Krieg ist so simpel wie das, was du tust. Leute ermorden und entführen. Oder sich mit Frauen vergnügen. Ein paar von uns sehen sich gezwungen nachzudenken.«

Sie ließen die Brücke und den Fluss hinter sich und bogen nach links ab in Richtung Paseo de la Alameda, der, seit die Nationalen die Stadt eingenommen hatten, Paseo de Calvo Sotelo hieß. Der Admiral schlenkerte mit ernster Miene seinen Schirm. Dann legte er ihn über die Schulter wie einen Säbel oder ein Gewehr.

»Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Roten so etwas wie in Guernica anzetteln«, sagte er unvermittelt, als sie stehen bleiben mussten, um eine Straßenbahn vorbeizulassen. »Denk an Irun. Oder an die Kirchen, die sie mitsamt Priester und Sakristan darin angezündet haben. Das sind Barbaren. Und natürlich sind sie es gewesen.«

»Wenn Sie es sagen …«

»Und ob ich das sage.« Der Admiral schien einen Moment zu überlegen und fuchtelte wieder mit seinem Schirm. »Was nicht heißt, dass ich in einer Weile nicht das Gegenteil behaupte, wenn es mir angebracht erscheint.«

Falcó studierte ihn aufmerksam. Irgendetwas brütete er aus, und das hatte mit Falcó zu tun. Oder würde mit ihm zu tun haben.

»Verstehe«, sagte er vorsichtig.

»Was, zum Teufel, verstehst du?«, der Admiral schnaubte gereizt. »Einen Dreck verstehst du.«

Sie passierten den Alderdi-Eder-Park, wo an einem Zeitungskiosk La Voz de España und El Diario Vasco mit derselben Schlagzeile aushingen: Die Roten im Norden auf dem Rückzug. Die Sonne strahlte auf den Strand von La Concha, wo die Ebbe den goldenen, feuchten Sand perlmuttern schimmern ließ. Hohe Gebäude säumten entlang der noblen Promenade die halbkreisförmige Küste. Die Altstadt lag zur Rechten, an den Fuß des Hügels Urgull gedrängt. Kinder spielten am Ufer, Familien und Müßiggänger flanierten, als gäbe es keinen Krieg. Der Admiral bedachte sie mit einem scharfen, missbilligenden Blick.

»Sekretärinnen, die Guido da Verona lesen, und Verkäufer, die Liebesbriefe an Claudette Colbert schreiben.« Er kicherte hämisch. »Sie halten das Leben für einen Spaß, die Dummköpfe. Sie wissen nicht, dass man so skrupellos sein muss wie du, um Spaß zu haben.«

Gedankenverloren besah sich Falcó die Leute am Strand.

»Was mich erstaunt«, bemerkte er, »ist nicht die Unordnung, sondern die Ordnung.«

Der Admiral grinste schief.

»Mich auch. Aber das Volk erfasst die Ironie nicht.«

Er hatte den Schirm an ein Geländer gehängt, um seine Pfeife anzuzünden. Erst nach ein paar Zügen begann er wieder zu sprechen.

»Ich habe immer noch keinen schriftlichen Bericht von dir über die Operation in Biarritz. Und über das in Barcelona auch nicht.«

Falcó schmunzelte in sich hinein. Mit das in Barcelona war die Angelegenheit nett umschrieben. Eineinhalb Wochen zuvor war er durch einen dringenden Befehl des Admirals für vier Tage von der Mission in Biarritz abgezogen worden. Er sollte von Perpignan nach Barcelona reisen, um im allgemeinen Durcheinander während der fünftägigen Straßenschlachten, die sich Sturmtruppen und kommunistische Milizen dort mit den Anarchisten und den Trotzkisten des POUM lieferten, die beiden anarchistischen italienischen Aktivisten Camillo Berneri und Francesco Barbieri zu beseitigen. Es war ein Auftrag des italienischen Geheimdienstes, und dem Admiral lag daran, bei seinen Kollegen von der faschistischen OVRA zu punkten. Also war Falcó, ausgestattet mit einem Ledermantel, einem Norton-Motorrad und den gefälschten Papieren eines hohen Polizeioffiziers der katalanischen Regierung, in Barcelona aufgekreuzt und hatte, indem er mit Unterstützung zweier eigens zu diesem Zweck bezahlter Komplizen eine Festnahme vortäuschte, die beiden Italiener aus nächster Nähe in Rücken und Kopf geschossen, als sie aus dem Haus traten. Zwölf Stunden später war er wieder auf der anderen Seite der französischen Grenze in Sicherheit, nachdem er gerade mal eineinhalb Tage in das Attentat investiert hatte. Und der Mord an den zwei Italienern wurde dem Konto der zahllosen Anarchisten und Anhänger der Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit zugeschrieben, die man in jenen turbulenten Tagen verhaftet und in den katalanischen Tschekas gefoltert und exekutiert hatte.

»Mir fehlt die Zeit, Señor. Das muss mit der Maschine geschrieben werden, Sie wissen schon. Und man muss aufpassen, was man hinschreibt und was man weglässt.«

»Ja, ich weiß.« Der Admiral sah ihn unwirsch an. »Immer dasselbe mit dir. Der bürokratische Teil ist nicht deine Stärke.«

»Sobald ich dazu komme, setze ich mich dran. Ehrenwort.«

»Hast du Ehre gesagt?«

»Ja, bei meiner unbefleckten Ehre.«

»Du schämst dich wohl überhaupt nicht. Dir gelingt etwas, was nur wenigen in ihrem Leben gelingt: Du gibst dich genau so, wie du bist, erweckst aber den Anschein, als tätest du nur so.«

Einen Moment lang schwiegen sie beide. Der Chef des SNIO widmete seiner Pfeife vermeintlich mehr Aufmerksamkeit als der Unterhaltung.

»Sagt dir der Name Leo Bayard etwas?«, fragte er plötzlich.

Falcó schaute ihn verwundert an, ehe er nickte. Natürlich, entgegnete er. Bayard war ein kommunistischer Intellektueller, dessen Name häufig in der Zeitung stand. Franzose, weltmännischer Erfolgsautor, Pilot und Abenteurer. Anhänger der Republik.

»Der kämpft in Spanien, nicht wahr? Als Kommandant einer Fliegerstaffel aus Freiwilligen und Söldnern, die er persönlich angeheuert hat und teilweise finanziert.«

»Kämpfte trifft es besser«, der Admiral saugte an seiner Pfeife. »Bayard hält sich nicht mehr in Spanien auf.«

»So? Das habe ich nicht gewusst.«

»Erst seit Kurzem. Sein letzter Einsatz war die Bombardierung unserer Truppen bei der Eroberung von Málaga. Die Staffel genoss große Autonomie und handelte praktisch auf eigene Faust. Aber in letzter Zeit, auf Anordnung aus Moskau, versuchen die Kommunisten, sie zu disziplinieren. Gewinnen wir zunächst einmal den Krieg, sagen sie, und danach kommt die Revolution, oder auch nicht. Mit der Pancho-Villa-Tour ist jedenfalls Schluss. Darum machen sie Jagd auf Trotzkisten und Anarchisten, und zwar mit aller Härte.«

»Ich dachte, Bayard sei Kommunist.«

»Nur Sympathisant. Soweit wir wissen, ist er nicht in der Partei. Ein Reisegefährte, wie sie es nennen. Eine sehr enge Freundschaft, aber ohne Intimitäten. Er ist der Meinung, dass die Heilung aller Leiden Europas Josef Stalin heißt.«

»Und warum ist er weg?«

»Er ist ein hochnäsiger, vornehmer Intellektueller, Literat und so. Ein eingebildeter Windhund, dem es da gefällt, wo etwas los ist. Spanien war sein persönliches Abenteuer, und mit der Staffel hat er seinen privaten Krieg geführt. Darum traf es ihn schwer, sich mit einem Mal einem anderen Franzosen unterstellt zu sehen, André Marty. Er verzichtete daraufhin auf seine Kommandantur und kehrte nach Frankreich zurück.«

Bei dem Namen schnellten Falcós Brauen in die Höhe.

»Ist dieser Marty der Politoffizier der Internationalen Brigaden?«

»Genau der, ja. Ein ungehobelter, bösartiger Verbrecher, der überall Faschisten wittert und mehr von seinen eigenen Leuten als von unseren hat hinrichten lassen. Eine rote Version von Lisardo Queralt. Einer dieser Schurken, die gern hierherkommen, um unseren Tabak zu rauchen, unsere Möbel zu verbrennen und Leute abzumurksen. Sie könnten das ebenso gut zu Hause tun, aber nein. Hier haben sie es leichter. Wir sind der Rummelplatz Europas.«

»Die Italiener und die Deutschen steuern aber auch ihr Quäntchen bei.«

Der Admiral durchbohrte ihn mit dem Blick.

»Spiel hier nicht den Neunmalklugen.«

»Hab ich nicht vor.«

»Das sind Kreuzritter für unsere hehre Sache, ist das klar?«

Falcó nickte. Sein Gesprächspartner konnte ihm nichts vormachen. Hinter dem vorgeblichen Zynismus des Admirals versteckte sich die schmerzhafte Erinnerung an seinen Sohn, der im vergangenen Sommer dem großen Abschlachten der Flottenoffiziere durch die Roten zum Opfer gefallen war.

»Sonnenklar, Señor.«

»Die Fritz und die Guidos sind Kameraden des neuen Morgens. Schreib dir das hinter die Ohren.«

»Schon geschehen.«

Der andere sah ihn immer noch streng an.

»Glaubst du eigentlich an irgendetwas, mein Junge?«

»Ich glaube, dass bei einem Stich in die Leiste, in die Schenkelarterie, kein Knebelverband die Blutung stillt.«

Der Admiral bewegte leicht den Kopf und unterdrückte ein Schmunzeln.

»Wie lange gedenkst du, dieses Leben noch zu führen?«

»Solange die Gesundheit es zulässt.«

Das verhaltene Lachen des Admirals klang leicht schrill.

»Ich kenne wenige Spione und Abenteurer, die sich mit fünfzig nicht wünschten, Dorfapotheker oder städtischer Beamter geworden zu sein.«

»Bis dahin habe ich noch dreizehn Jahre Zeit. Sollten mich derartige Gefühle überkommen, gebe ich Ihnen Bescheid, Señor.«

»Ich bezweifle, dass du die Chance dazu haben wirst. Irgendjemand wird dich abknallen, egal wer. Sie oder wir.«

Wieder nickte Falcó.

»Wo ist Leo Bayard jetzt?«

Der Admiral sah ihn prüfend an, bevor er antwortete.

»In Paris«, sagte er schließlich.

»Und was treibt er da?«

»Spielt den Kriegshelden, schreibt Artikel, hält Vorträge und brüstet sich mit seiner jüngsten Vergangenheit als Freiheitskämpfer. Er will ein Buch und einen Film über seine spanischen Erfahrungen herausbringen und bedrängt die Blum-Regierung, Frankreich solle sich nicht länger abseits halten und endlich Partei für die Republik ergreifen.«

Falcó dachte kurz nach.

»Und welche Rolle habe ich dabei?«

»Die, die du immer spielst. Bayard will uns verarschen, und du wirst ihn verarschen.«

»Und wie?«

»Wir sind schon seit einer Weile damit beschäftigt, ein paar Fallstricke für ihn zu spannen.«

Der Admiral nahm seinen Schirm, und sie schlenderten weiter entlang der Balustrade. Falcó wusste, dass sein Chef bestimmte Dinge lieber unter freiem Himmel besprach, fern der Diensträume und heimlichen Lauscher. Seine Freunde bei der deutschen Abwehr hielten ihn bezüglich der neuesten Abhörtechnik mit versteckten Mikrofonen stets auf dem Laufenden. Selbst außerhalb des Büros vermied es der Leiter des SNIO, sich während einer Unterhaltung länger an ein und demselben Ort aufzuhalten. Weil, wie er Falcó immer wieder einschärfte, ein mobiles Ziel nicht so leicht zu treffen war wie ein statisches. Und sie sich vor Freunden oftmals mehr in Acht nehmen mussten als vor Feinden.

»Die Idee hatte ich letztes Jahr, als mir zugetragen wurde, dass Bayard einige Dewoitine-Flugzeuge als Eskorte für seine Potez-Bomber kaufen wollte, die zu langsam und zu angreifbar sind. Das Geld dafür hatte er in Frankreich aufgetrieben, und anschließend war er in der Schweiz zu Gesprächen mit einem Mittelsmann, der auch für uns arbeitet.«

»Kenne ich den?«

»Ja. Paul Hoffmann. Du hattest in deiner wilden Zeit mal mit ihm zu tun, als du noch für Basil Zaharoff mit Waffen gehandelt hast. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, habt ihr beide in Südamerika fünftausend polnische Gewehre und zweihundert Maschinengewehre verkauft. Bestimmt erinnerst du dich an ihn.«

»Na klar. Ein undurchsichtiger Typ mit einem Faible für teure Huren.«

»Ungefähr so wie du.«

»Und was hat Hoffmann damit zu schaffen?«

»Er hat mir das Schnittmuster für Bayards Totenhemd geliefert«, der Admiral blieb stehen und tippte Falcó das Mundstück seiner Pfeife gegen die Brust. »Und du wirst es zusammennähen.«

Eine Zeit lang standen sie reglos und schauten auf die Bucht. Das Wetter war weiterhin angenehm. Die graue Silhouette eines bewaffneten Trawlers glitt langsam an der Insel Santa Clara vorüber, am Heck die Flagge der Nationalen. Der Admiral zog an seiner Pfeife, Falcó hatte den Hut abgenommen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

»Morgen nimmst du den Express von Hendaye nach Paris«, sagte der Admiral. »Von jetzt an heißt du Ignacio Gazán und bist der Sohn einer steinreichen spanischen Familie, die in Havanna lebt. Anhänger der Republik, Kunstsammler und noch einiges andere, das ich dir später erkläre.«

Falcó blinzelte ungläubig.

»Kunst?«

»Ganz recht.«

»Von Kunst verstehe ich gerade mal genug für eine Zehn-Minuten-Unterhaltung. Allerhöchstens.«

»Mit einer Frau, ja, ich weiß … Aber das kriegen wir schon hin. Die Welt ist voll von millionenschweren Kunstliebhabern, die keine Ahnung haben, wer Kandinsky ist.«

»Und wer ist Kandinsky?«

Jetzt grinste Falcó frech. Der Admiral widmete ihm einen giftigen Blick.

»Es gibt keine Ignoranz, die sich nicht mit einem Scheckbuch kaschieren ließe. Und du wirst ein wunderschönes bei dir haben.«

Falcós Lächeln wurde breiter.

»Das ist Musik in meinen Ohren. Ich habe so eine Vorahnung, dass mir diese Mission gefallen wird.«

»Treib es lieber nicht zu bunt. Wir werden deine Spesenabrechnung bis auf den letzten Franc prüfen.«

Falcó setzte den Hut auf, ein wenig schräg, wie gewohnt.

»Und warum Kunstsammler? Was hat das mit Bayard zu tun?«

»Weil du in Paris einen doppelten Auftrag haben wirst. Zum einen sollst du bis in seinen engsten Kreis vordringen«, kritisch musterte er ihn von oben bis unten, »was dir mit deinem Auftreten eines eleganten Zuhälters, deinem Mangel an Schamgefühl und dem Geld, das du zu bieten haben wirst, nicht schwerfallen dürfte.«

»Wie viel Zeit habe ich dafür?«

»Zwei Wochen.«

Falcó überlegte gleichmütig. Mit professioneller Sachlichkeit.

»Soll ich ihn umbringen?«

»Nicht direkt.«

Der Admiral schwieg einen Moment und sah zu dem fernen Schiff. Dann klopfte er die Pfeife an der Balustrade aus und steckte sie in die Tasche.

»In Wahrheit sollst du dafür sorgen, dass er umgebracht wird.«

»Dass es andere übernehmen, meinen Sie?«

»Ja.«

»Und wie?«

»Mit Charme und Fingerspitzengefühl. Davon hast du ja mehr als genug.«

Gemächlich nahmen sie ihren Spaziergang wieder auf. Nahe der Badeanstalt La Perla vor einem Plakat, das den Film Bengali ankündigte, begegneten sie ein paar Offizieren der Falange: Lederjacken, blaue Hemden und rote Barette. Am Arm hatten sie junge Frauen mit den blauen Schultermänteln des militärischen Sanitätsdienstes. Einer stützte sich beim Gehen auf einen Stock, ein anderer trug einen Arm in einer Schlinge. Die Offensive im Norden verlangte den nationalen Truppen große Blutopfer ab.

»Es war mühsam, sie dazu zu bewegen, die rote Mütze aufzusetzen«, bemerkte der Admiral. »Zuerst haben sie sich geweigert. Karlisten einerseits, Falangisten andererseits, jedes Grüppchen mit seinen Eigenheiten. Das Dekret, das sie alle zur FET y JONS zusammenlegt, war für sie wie ein Tritt in die Eier.«

»Falangistische Requetés klingt ja auch nach einem Widerspruch in sich.«