Das Geheimnis der schwarzen Dame - Arturo Pérez-Reverte - E-Book
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Das Geheimnis der schwarzen Dame E-Book

Arturo Pérez-Reverte

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Beschreibung

Die Restauratorin Julia stürzt sich nach einer gescheiterten Beziehung in die Arbeit. Im Madrider Prado soll sie am Gemälde eines flämischen Meisters aus dem 15. Jahrhundert arbeiten; darauf ein in eine Schachpartie versunkener Ritter und sein Herr, im Hintergrund die edle Dame in schwarzem Samt. Schon bald legt Julia eine geheimnisvolle Inschrift frei, die viele Fragen aufwirft. Fragen nach der Liebe und einer fünfhundert Jahre alten Schuld. Und als ihr Ex-Freund plötzlich stirbt, bleibt Julia keine Wahl: Sie muss – auch um sich selbst zu retten – Das Geheimnis der schwarzen Dame lösen …

Mit gefühlvoller Dringlichkeit erzählt Arturo Pérez-Reverte von der Spurensuche einer jungen Frau. Er verknüpft die Liebe zur Malerei und den sehnsuchtsvollen Glanz einer vergangenen Zeit zu einem unverwechselbaren Spannungsroman.

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Die Restauratorin Julia stürzt sich nach einer gescheiterten Beziehung in die Arbeit. Im Madrider Prado soll sie am Gemälde eines flämischen Meisters aus dem 15. Jahrhundert arbeiten. Schon bald legt Julia eine geheimnisvolle Inschrift frei, die viele Fragen aufwirft. Fragen nach der Liebe und einer fünfhundert Jahre alten Schuld. Und als ihr Ex-Freund plötzlich stirbt, bleibt Julia keine Wahl: Sie muss – auch um sich selbst zu retten – das Geheimnis der schwarzen Dame lösen …

Mit gefühlvoller Dringlichkeit erzählt Arturo Pérez-Reverte von der Spurensuche einer jungen Frau. Er verknüpft die Liebe zur Malerei und den sehnsuchtsvollen Glanz einer vergangenen Zeit zu einem unverwechselbaren Spannungsroman.

Arturo Pérez-Reverte, geboren 1951 im spanischen Cartagena, ist einer der erfolgreichsten Autoren Spaniens. Sein Werk wurde in 41  Sprachen übersetzt, sein Roman Der Club Dumas ist ein Weltbestseller und wurde von Roman Polanski mit Johnny Depp in der Hauptrolle unter dem Titel Die neun Pforten

ARTURO PÉREZ-REVERTE

Das Geheimnis derschwarzen Dame

Roman

Die spanische Originalausgabe erschien 1990 unter dem TitelLa tabla de Flandes bei Alfaguara, Madrid.

Die vorliegende Übersetzung erschien erstmals 1994 im Rowohlt Verlag.

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs it 4382.

© Insel Verlag Berlin 2015

© 1990 by Arturo Pérez-Reverte

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Christian Guy/Corbis, FinePic®

Umschlag: Zero Werbeagentur, München

Für Julio und Rosa,

I. Die Geheimnisse des Meisters Van Huys

Gott rückt den Spieler, dieser die Figur. Welcher Gott jenseits Gottes eröffnet das Spiel?

J. ‌L. Borges

Ein verschlossener Umschlag ist ein Geheimnis, das andere Geheimnisse birgt. Dieser Umschlag hier war groß, dick, aus festem Papier, mit dem aufgeprägten Siegel des Labors in der linken unteren Ecke. Julia wog das Kuvert in der Hand, bevor sie es öffnete, suchte dabei einen Brieföffner zwischen all den Pinseln und Fläschchen mit Farbe und Firnis, weit entfernt davon zu ahnen, in welchem Maße dies alles ihr Leben verändern sollte.

Eigentlich wußte sie bereits, was sich in dem Umschlag befand. Oder glaubte es zu wissen, wie sie später erfahren mußte. Vielleicht spürte sie deshalb keine besondere Regung, bis sie die Filme hervorzog und dann auf dem Tisch ausbreitete. Nun aber schaute sie doch irgendwie verwirrt und hielt den Atem an. Sie begriff, Die Schachpartie würde mehr werden als nur ein Routineauftrag. In ihrem Beruf, ob bei Gemälden, Möbelstücken oder Einbänden alter Bücher, waren die unverhofften Entdeckungen nicht selten. Sechs Jahre hatte sie Originalkunstwerke restauriert, das bedeutete viel Erfahrung mit Pinselstrichen, Korrekturen, Retuschen und Übermalungen und Fälschungen. Doch bis zu diesem Tag war sie noch nie auf einen unter den Farbschichten eines Bildes verborgenen Text gestoßen. Hier aber hatten Röntgenstrahlen eine aus drei Wörtern bestehende Inschrift enthüllt.

Sie griff nach dem zerknitterten Päckchen filterloser Zigaretten, steckte sich eine an und betrachtete gebannt die Röntgenfilme. Es war wirklich alles zu sehen auf diesen Positiven in der Größe 30 × 40. Die Untermalung dieses flämischen Tafelbilds des fünfzehnten Jahrhunderts, in all ihren Einzelheiten erkennbar, mit verdaccio, ebenso die Holzmaserung und die Fugen der drei Eichenbretter, aus denen die Tafel bestand als Träger für die Grundierung der Farbschichten und die Lasuren, die der Künstler aufgetragen hatte, bis das Werk vollendet gewesen war. Und unten auf dem Bild war da nun jener verborgene Satz, den Röntgenstrahlen fünf Jahrhunderte später an den Tag gebracht hatten. Gotische Lettern hoben sich von dem Weiß und dem Schwarz der Folie klar ab. Zu lesen stand da:

QUIS NECAVIT EQUITEM

Julia, die in Latein recht beschlagen war, konnte den Text auch ohne Wörterbuch übersetzen. Quis war ein Fragepronomen und hieß Wer; necavit, von necare, töten; und equitem der Akkusativ Singular von eques, Ritter. Also: Wer tötete den Ritter. Eine Frage, eindeutig erkennbar am quis, und das nun verlieh dem Satz etwas Geheimnisvolles:

WER TÖTETE DEN RITTER?

Gelinde gesagt ein verwirrender Satz. Julia nahm einen langen Zug, hielt die Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand, während sie mit der linken die Folien auf dem Tisch zurechtlegte. Irgendwer, vielleicht der Maler selbst, hatte dem Bild eine Art Rätsel beigegeben und es mit einer Farbschicht übermalt. Oder jemand anderes, später. Das genaue Datum konnte auf eine Zeitspanne von fünfhundert Jahren eingegrenzt werden, und beim Gedanken daran mußte Julia insgeheim lächeln. Die Ermittlung würde ihr nicht allzugroße Schwierigkeiten bereiten. Immerhin gehörte so etwas zu ihrem Handwerk.

Sie nahm die Filme und stand auf. Graues Licht, durch die große Dachluke in den Mansardenraum gefiltert, erhellte das Ölbild auf der Staffelei: Die Schachpartie, von Pieter Van Huys im Jahre 1471 auf Holz gemalt. Julia blieb vor dem Bild stehen, versenkte sich für eine Weile darin. Es stellte eine häusliche Szene dar, im minutiösen Realismus des Quattrocento; es war eines jener Interieurs, bei denen die großen flämischen Meister neue Techniken anwendeten und so die Grundlagen der neuzeitlichen Malerei schufen. Hauptmotiv waren zwei Ritter mittleren Alters und von edlem Aussehen, die sich, in eine Partie vertieft, an einem Schachbrett gegenübersaßen. Etwas im Hintergrund, zur Rechten, vor einem gotischen Fenster, das ein Stück Landschaft einrahmte, saß eine schwarz gekleidete Dame und las in einem Buch, das in ihrem Schoß ruhte. Die Szene war abgerundet durch gewissenhaft ausgeführte Details, wie sie für die flämische Schule typisch waren, festgehalten mit einer ans Manische grenzenden Perfektion: die Möbel und Verzierungen, der Fußboden aus weißen und schwarzen Fliesen, die Musterung des Teppichs, hier und da sogar ein unscheinbarer Riß in der Wand oder der Schatten eines winzigen Nagels an einem der Deckenbalken. Ebenso minutiös dargestellt waren die Figuren auf dem Schachbrett und nicht minder die Gesichtszüge der Personen, ihre Hände und die Bekleidung; all das war erstaunlich realistisch und in auffallend kräftigen Farben gemalt, auch wenn der ursprüngliche Firnis mit der Zeit etwas gedunkelt war.

Wer tötete den Ritter? Julia musterte die Röntgenaufnahme in ihrer Hand und dann das Bild, auf dem man mit dem bloßen Auge von der verborgenen Inschrift nichts sehen konnte. Selbst eingehende Prüfung mit der binokularen Lupe brachte nichts zutage. Julia ließ die große Jalousie des Dachfensters herunter, verdunkelte den Raum, stellte eine auf einen Dreifuß montierte Quarzlampe vor die Staffelei: Fielen deren ultraviolette Strahlen auf ein Bild, brachten sie die älteren Farbschichten und Firnisse zum Fluoreszieren, während neuere Schichten dunkel oder schwarz blieben; so wurden Übermalungen oder nachträgliche Korrekturen erkennbar. Hier aber sah man nur eine fluoreszierende Oberfläche, die sich gleichmäßig über die verdeckte Schrift zog. Sie stammte also vom Künstler selbst, war auf jeden Fall unmittelbar nach Ausführung des Bildes aufgetragen worden.

Julia knipste die Lampe aus, zog die Jalousie des Dachfensters auf, und das stahlgraue Licht des Herbstmorgens fiel wieder auf die Staffelei, füllte den Raum, in dem man lauter Bücher sah und Regale mit Farben, Pinseln, Firnissen, Lösungsmitteln, außerdem Schreinerwerkzeug und Waagen, alte Skulpturen, Bronzen, Rahmen und Gemälde, die mit dem Gesicht zur Wand lehnten, auf einem mit Farbe beklecksten kostbaren Perserteppich. In einer Ecke, auf einer Louis-quinze-Kommode, stand eine Stereoanlage, und daneben stapelweise Platten: Don Cherry, Mozart, Miles Davis, Satie, Lester Bowie, Michael Hedges, Vivaldi. Von der Wand warf ein golden gerahmter, stellenweise blinder venezianischer Spiegel Julia ihr Bild zurück. Sie trug das Haar schulterlang, und um die noch ungeschminkten großen dunklen Augen lagen leichte Schatten. Schön wie ein Modell des Leonardo, pflegte César zu sagen, wenn der Spiegel wie jetzt ihr Gesicht einrahmte, ma più bella. Obwohl sich César bei Jünglingen wohl besser auskannte als bei Madonnen, wußte Julia, daß es absolut treffend war. Sie selber betrachtete sich gern in diesem goldgerahmten Spiegel, denn es war ihr dann, als befände sie sich auf der anderen Seite einer magischen Pforte, die, über Zeit und Raum hinweg, ihr Bildnis in der Verkörperung einer italienischen Renaissanceschönheit wiedergab.

Beim Gedanken an César mußte sie lächeln. Das war seit jeher so, seit ihren Mädchenjahren – ein inniges Lächeln, manchmal schelmisch und komplizenhaft. Sie legte die Röntgenfilme auf den Tisch, drückte die Zigarette in einem schweren Benlliure-Bronzeaschenbecher aus, setzte sich vor die Schreibmaschine und tippte:

»Die Schachpartie«:

Öl auf Holz. Flämische Schule. Datierung: 1471.

Maler: Pieter Van Huys (1415 – 1481).

Bildträger: Drei feste Eichenbretter, verleimt, durch Schwalbenschwänze mangelhaft verstärkt.

Größe: 60 x 87 cm (drei gleichgroße Bretter à 20 x 87 cm). Dicke 4 cm.

Zustand des Bildträgers: Begradigung nicht erforderlich. Keine Spuren von Holzschädlingen.

Zustand der Farbschicht: gute Haftung. Keine Farbveränderungen. Alte Kratzer feststellbar; keine Blasen oder Schollenbildung.

Firnis: keine Schäden durch Feuchtigkeit feststellbar. Auffallend gedunkelt und blind. Neuauftragen nötig.

In der Küche fauchte die Kaffeemaschine. Julia erhob sich, ging hinüber und goß sich eine große Tasse Kaffee ein, ohne Milch und Zucker. Sie trug die Tasse in der einen Hand und trocknete sich die andere Hand an dem weiten Männerpullover ab, den sie über dem Pyjama trug. Ein leichter Druck mit der Kuppe des Zeigefingers, und im Raum ertönten die Klänge von Vivaldis Konzert für Laute und Viola d'amore, schwangen durch das graue Licht des Morgens. Julia schlürfte von dem starken, bitteren Kaffee, der ihr die Zungenspitze verbrühte. Barfuß ging sie über den Teppich, zurück zur Schreibmaschine, um ihren Bericht weiterzutippen:

Prüfung mittels UV- und Röntgenstrahlen:

Gravierende Eingriffe, Korrekturen oder nachträgliche Retuschen nicht feststellbar. Die Röntgenstrahlen lassen eine Inschrift aus der Entstehungszeit des Gemäldes erkennen, in gotischen Lettern, erkennbar auf den Positiven. Mit dem bloßen Auge ist die Schrift nicht zu sehen. Die Übermalung kann ohne Schaden für das Gemälde entfernt und so die Schrift freigelegt werden.

Julia zog das Blatt aus der Maschine und steckte es mit zwei Röntgenbildern in einen Umschlag. Im Sitzen trank sie den noch warmen Rest Kaffee und steckte sich eine weitere Zigarette an. Ihr gegenüber, auf der Staffelei, saßen vor der am Fenster in ein Buch vertieften Dame die beiden Spieler über ihrer Schachpartie, die nun schon fünf Jahrhunderte dauerte, von Pieter Van Huys so kühn und wunderbar dargestellt, daß man hätte meinen können, die Figuren befänden sich außerhalb des Bildes und seien dreidimensional, wie auch die anderen dort abgebildeten Gegenstände. Es war derart realistisch, daß die von den alten flämischen Meistern beabsichtigte Wirkung voll erreicht wurde: Der Betrachter war in das malerische Ensemble einbezogen, glaubte, zum Bild zu gehören, das Teil der Wirklichkeit war oder die Wirklichkeit ein Teil des Gemäldes. Diesen Anschein vermittelte auch das Fenster rechts im Bild, das den Blick in eine Landschaft jenseits der Szenerie bot, und außerdem ein runder Spiegel an der Wand zur Linken, der schemenhaft die zwei Spieler und das Schachbrett wiedergab, vom Betrachter aus gesehen perspektivisch verzerrt, gleichsam diesseits der Szene, mit dem verblüffenden Effekt, daß sich hier drei Ebenen – Fenster, Zimmer und Spiegel – in eins fügten. Als sähe sich der Betrachter, so dachte Julia, zwischen den zwei Spielern im Bild gespiegelt.

Sie erhob sich, trat vor das Bild und stand mit verschränkten Armen da, reglos, vertieft in die Betrachtung des Bildes. Sie zog nur hin und wieder an der Zigarette und kniff wegen des Rauchs die Augen halb zu. Den Spieler zur Linken mochte man auf fünfunddreißig schätzen. Nach der Mode jener Zeiten war sein braunes Haar in Höhe der Ohren gestutzt; die Nase war kräftig, adlerhaft, das Gesicht ernst und konzentriert. Er trug einen wamsartigen Rock, dessen Zinnoberrot den Jahrhunderten wundervoll widerstanden hatte. Seine Brust zierte das Goldene Vlies, und über der rechten Schulter prangte eine kunstvoll gestaltete Spange, deren filigrane Feinheiten bis ins kleinste Detail herausgearbeitet waren, sogar die winzigen Lichtreflexe der Edelsteine. Der Mann stützte den linken Ellenbogen und die rechte Hand auf den Tischrand vor dem Spielbrett. In den Fingern hielt er eine Schachfigur, einen wohl soeben geschlagenen weißen Springer. Neben seinem Haupt wies ihn in gotischen Lettern eine Inschrift aus: FERDINANDUS OST. D.

Der andere, schlankere Spieler mochte um die Vierzig sein. Er hatte eine hohe Stirn und fast schwarzes Haar, das an den Schläfen angegraut war, dargestellt durch feinste bleiweiße Striche. Dieses Detail, sein Gesichtsausdruck und die Körperhaltung ließen ihn vorzeitig gealtert erscheinen. Sein Blick gefaßt und würdevoll, doch statt kostbarer höfischer Kleidung trug er einen leichten Brustharnisch und über den Schultern, rings um den Hals, einen Kragen von glänzendem Stahl, der ihm etwas unverkennbar Martialisches gab. Er saß noch tiefer über das Schachbrett gebeugt als sein Gegner, in der Haltung dessen, der das Spiel studiert, dem Anschein nach unaufmerksam für alles rings um ihn, die Arme auf der Tischkante verschränkt. Das Ausmaß seiner Konzentration war erkennbar an den senkrechten Furchen über der gewölbten Braue. Er starrte die Figuren an, als böten sie ein schwieriges Problem, zu dessen Lösung er selbst den letzten seiner Gedanken aufbieten müsse. Die Inschrift für ihn lautete RUTGIER AR. PREUX.

Die Dame saß am Fenster, räumlich abgesetzt von den beiden Spielern. Der schwarze Samt ihres Gewandes, dem eine geschickte Beimengung an weißer und grauer Lasur in den Falten Volumen gab, schien in den Vordergrund zu drängen. Ihre wirklichkeitsgetreue Darstellung stand im Wettstreit mit der gewissenhaften Zeichnung des Teppichfadens, mit der so makellos genauen Hervorhebung der Verfugungen und Maserungen des Deckengebälks sowie den Feinheiten der Fliesen des Fußbodens. Julia beugte sich über das Bild, um es besser in Augenschein zu nehmen. Sie erschauerte vor Bewunderung. Nur ein Meister vom Range des Van Huys hatte aus dem Schwarz eines Gewandes so viel machen können: Farbe aus Nichtfarbe, das hätten nur ganz wenige so hinbekommen, bei ihm aber sah alles so echt und so wahr aus, daß man das Scheuern des Samtes auf dem mit Kissen aus gepunztem Leder bedeckten Schemel zu hören meinte.

Sie betrachtete das Gesicht der Frau. Schön war diese Dame und sehr blaß, nach dem Geschmack von damals, mit einer Haube aus weißer Gaze, unter der sie ihre an den Schläfen zurückgekämmte Haarpracht zusammenhielt. Aus den weiten Ärmeln des Gewandes ragten die von hellgrauem Damast bedeckten Arme, mit langen feinen Händen, die ein Stundenbuch hielten. Das Licht von draußen verlieh dem geöffneten Buchverschluß ebensolchen metallischen Glanz wie dem goldenen Ring, der einzigen Zierde ihrer Hände. Sie hatte die Augen gesenkt, die bestimmt blaue waren, mit einem Ausdruck von Bescheidenheit und gefaßter Tugend, wie es für die Frauenbildnisse jener Zeit typisch war. Das Licht – von draußen und aus dem Spiegel – hüllte die Frau in die gleiche Atmosphäre wie die Schachspieler, hielt sie aber diskret beiseite, hob die perspektivischen Verkürzungen und die Schatten bei ihr stärker hervor. Die ihr geltende Inschrift lautete BEATRIX BURG. OST. D.

Julia trat zwei Schritte zurück und faßte das Bild als Ganzes ins Auge. Ein Meisterwerk, ohne jeden Zweifel, das bestätigten die beglaubigten Gutachten. Ein hoher Ausgangspreis bei der Versteigerung bei Claymore im kommenden Januar war sicher. Vielleicht würde die verborgene Inschrift bei entsprechender historischer Dokumentation ihn noch kräftig in die Höhe treiben. Zehn Prozent des Erlöses für Claymore, fünf Prozent für Menchu Roch, den Rest für den jetzigen Besitzer des Bildes. Abzüglich des einen Prozents für Versicherung und inbegriffen die Honorare für Restaurierung und Reinigung.

Julia zog sich aus und stellte sich unter die Dusche, bei geöffneter Tür, von Vivaldis Klängen in den Wasserdampf begleitet. Die Restaurierung der Schachpartie könnte ihr einen ordentlichen Gewinn bringen. Wenige Jahre nach ihrem Studium genoß sie unter den Restauratoren, die von Museen und Antiquitätenhändlern am meisten begehrt waren, bereits einen sehr guten Ruf. Sie arbeitete methodisch und gewissenhaft, legte außerdem auch als Malerin einiges Talent an den Tag, und man wußte, daß sie jedem Original mit Hochachtung begegnete, mit einer geradezu ethischen Haltung, die ihre Kollegen nicht immer teilten. In jener schwierigen und heiklen inneren Beziehung zwischen einem Restaurator und seinem Werk, wenn es in rauhem Kampf zu entscheiden gilt, ob man eher konservieren oder erneuern soll, hielt sich die junge Frau stets an die Grundauffassung: Ein Kunstwerk läßt sich nie ohne erhebliche Verluste in den Zustand von einst zurückversetzen. Die Alterung, die Patina, auch gewisse Veränderungen in den Farben und Firnissen, leichte Beschädigungen, Übermalungen und Retuschen, sie waren, fand Julia, etwas Substantielles, sie gehörten zum Werk. Vielleicht war das der Grund dafür, daß die von ihr bearbeiteten Gemälde nicht mit vorgeblich originären ungewöhnlichen Farben und Lichteffekten prangten – neu kolorierte Hofdamen nannte César sie –, sondern in aller Feinheit die erlittenen Spuren der Zeit bargen.

In einen Bademantel gehüllt trat sie aus dem Bad, wobei ihr das Wasser aus den Haaren auf die Schultern tropfte. Sie entzündete die fünfte Zigarette dieses Tages und zog sich dann vor dem Gemälde an: kastanienfarbener Faltenrock, Lederjacke, flache Schuhe. Sie musterte sich zufrieden im venezianischen Spiegel, wandte den Blick dann wieder auf die ernst dreinschauenden Schachspieler, zwinkerte ihnen zu, doch die verzogen keine Miene. Wer tötete den Ritter? Dieser Satz ging ihr, während sie den Bericht zum Gemälde und die Röntgenaufnahmen in ihrer Tasche verstaute, wie ein Rätsel im Kopf herum. Beim Verlassen der Wohnung schaltete sie die Alarmanlage ein und drehte den Schlüssel zweimal im Schloß. Quis necavit equitem. Wie auch immer, das hatte irgendeine Bedeutung. Während sie die Treppen hinabstieg, mit den Fingern über das messingbeschlagene Geländer streichend, wiederholte sie leise die drei Wörter. Sie war in der Tat ganz gebannt von dem Gemälde und der verborgenen Inschrift; doch das war nicht alles. Da war noch diese Furcht; wie einst, als das kleine Mädchen, das am obersten Absatz der Treppe stand, Mut aufbringen mußte, um den Kopf durch die Tür in den finsteren Dachboden hineinzustecken.

»Gib's zu, er ist wirklich eine Schönheit. Reines Quattrocento!«

Menchu Roch meinte nicht eines der Bilder in ihrer Galerie. Ihre klaren, stark geschminkten Augen waren auf den breitschultrigen Max gerichtet, der sich an der Bar des Cafés mit einem Bekannten unterhielt. Max, ein Meter fünfundachtzig, das Kreuz eines Schwimmers unter einem Jackett von edlem Schnitt, hatte sich sein langes Haar im Nacken mit einem dunklen Seidenband zum Zopf zusammengebunden. Seine Bewegungen waren gemessen und geschmeidig. Menchu, bevor sie sich die Lippen am beschlagenen Rand ihres Martiniglases befeuchtete, ließ ihren Blick über Max gleiten, schätzend, mit Besitzerstolz. Er war ihr neuester Liebhaber.

»Reines Quattrocento«, wiederholte sie und schien diese Worte ebenso zu genießen wie ihren Drink. »Sieht er nicht aus wie eines dieser wundervollen italienischen Bronzestandbilder?«

Julia stimmte mißmutig zu. Sie waren seit Ewigkeiten Freundinnen, doch immer wieder überraschte Menchu sie mit ihrer Oberflächlichkeit, durch die alles, was sie über Kunst sagte, irgendwie falsch klang.

»Sämtliche dieser Bronzen, ich meine die Originale, kämen dich billiger.«

Menchu lachte hämisch auf.

»Billiger als Max … Ganz ohne Zweifel.« Sie tat einen langen Seufzer, während sie an der Olive aus ihrem Martini knabberte. »O ja, Michelangelo ließ seine Skulpturen nackt, er brauchte sie nicht erst mit seiner American Express einzukleiden.«

»Niemand zwingt dich, seine Rechnungen zu bezahlen.«

»Das ist ja das Schreckliche, meine Liebe.« Die Galeristin klimperte theatralisch mit den Lidern. »Niemand zwingt mich. Oder?«

Sie leerte ihr Glas, wobei sie kokett den kleinen Finger abspreizte. Menchu, den Fünfzig näher als den Vierzig, war der Auffassung, jede Kleinigkeit handele von Sex, selbst die feinsten Schattierungen eines Kunstwerkes. Vielleicht trat sie den Männern deshalb so berechnend und gierig entgegen, als ob es den Verkaufswert eines Gemäldes abzuschätzen gälte. Die Besitzerin der Galerie Roch war in ihrem Freundeskreis dafür bekannt, daß sie keine Gelegenheit ausließ, sich in den Besitz eines Bildes, eines Mannes oder eines Beutelchens Kokain zu bringen. Noch war sie attraktiv, auch wenn gewisse »ästhetische Anachronismen«, wie César es bissig zu formulieren pflegte, nicht zu übersehen waren. Menchu konnte sich nicht damit abfinden, daß sie alt wurde, grundsätzlich nicht. Als würde sie sich selbst herausfordern, begegnete sie dem Alter mit berechnender Vulgarität, übertrieb es in der Wahl ihres Make-ups, ihrer Kleidung, ihrer Liebschaften. Um ihre Auffassung, Kunst- und Antiquitätenhändler seien lediglich bessere Lumpensammler, zu bestätigen, kehrte sie eine nicht gerade professionelle Unkultur hervor: Sie ließ vereinbarte Treffs platzen, mokierte sich offen über die mehr oder weniger illustren Kreise, in denen sie sich bewegte. Sie kokettierte damit ebenso dreist, wie sie prahlerisch behauptete, den fulminantesten Orgasmus ihres Lebens beim Masturbieren vor einer katalogisierten und numerierten Reproduktion von Donatellos David gehabt zu haben; eine Episode, die César in seiner raffinierten Grausamkeit das einzige bißchen guten Geschmacks nannte, das Menchu Roch in ihrem Leben je offenbart hatte.

»Was unternehmen wir in Sachen Van Huys?« fragte Julia.

Menchu schaute nochmals auf die Röntgenfilme zwischen ihrem Glas und der Kaffeetasse ihrer Freundin. Sie hatte blauen Lidschatten aufgelegt und trug ein extrem kurzes Kostüm. Ohne Böswilligkeit überlegte Julia, daß Menchu vor zwanzig Jahren in Blau sicherlich sehr hübsch ausgesehen hatte.

»Keine Ahnung«, sagte die Galeristin. »Bei Claymore wollen sie das Bild so versteigern, wie es ist … Man sollte mal prüfen, ob diese Inschrift den Wert steigert.«

»Meinst du?«

»Aber ja! Wie auch immer, du hast hier wirklich einen großen Fang gemacht.«

»Besprich das doch mal mit dem Besitzer des Bildes.«

Menchu steckte die Filme in den Umschlag zurück und schlug ein Bein über das andere. Zwei junge Männer, die am Nebentisch Aperitifs tranken, musterten verstohlen ihre gebräunten Schenkel. Julia rutschte etwas unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Normalerweise belustigte es sie, wenn sich Menchu vor den Männern zur Schau stellte, manchmal aber fand sie es doch übertrieben. Sie schaute auf die rechteckige Omega, die sie auf der Innenseite des linken Handgelenks trug. Dies war wirklich nicht der rechte Zeitpunkt, feine Unterwäsche zu präsentieren.

»Der Besitzer macht keine Schwierigkeiten«, sagte Menchu. »Ein reizender kleiner alter Mann im Rollstuhl. Und wenn wir mit der Inschrift seinen Gewinn erhöhen, wird ihm das nur recht sein … Allerdings hat er eine Nichte – sie und ihr Ehemann sind wie die Blutegel.«

Max stand noch immer am Tresen und plauderte. Aber er war sich seiner Pflicht bewußt und schaute in regelmäßigen Abständen herüber, um die zwei Frauen mit einem strahlenden Lächeln zu bedenken. Apropos Blutegel, dachte Julia, verkniff es sich aber, eine Bemerkung zu machen. Im übrigen hätte es Menchu wenig ausgemacht. Wenn es um Männer ging, legte sie selbst einen erstaunlichen Zynismus an den Tag. Julia dagegen, ausgesprochen taktvoll, trieb es nie auf die Spitze.

»Noch zwei Monate bis zur Versteigerung«, sagte Julia und ignorierte Max einfach. »Das ist zu knapp, wenn ich den Firnis entfernen, die Inschrift freilegen, die nötige Dokumentation zu dem Bild und seinen Figuren besorgen und dann noch den Bericht abfassen soll. Das dauert. Ich brauche möglichst bald das Einverständnis des Besitzers.«

Menchu stimmte zu. Alles Berufliche blieb von ihrer Frivolität unbehelligt; da verhielt sie sich scharfsinnig wie eine kluge Maus. Bei der anstehenden Transaktion war sie Vermittlerin, weil sich der Eigentümer des Van Huys auf dem Markt nicht so gut auskannte. Sie war es, die mit der Niederlassung von Claymore in Madrid die Versteigerung aushandelte.

»Ich rufe ihn gleich heute an. Don Manuel heißt er, er ist siebzig und sagt, daß es ihn entzückt, mit einem hübschen Mädchen zu tun zu haben, das so gut verhandeln kann.«

Julia sprach noch einen weiteren Punkt an. Sollte die Inschrift auf die Geschichte der abgebildeten Personen Bezug nehmen, würde Claymore dies ausschlachten und den Preis erhöhen. Vielleicht könnte Menchu einiges mehr an Material auftreiben.

»Nicht viel.« Die Galeristin verzog den Mund und überlegte. »Wir haben nur das Bild, also los, Mädchen. Ran ans Werk!«

Julia kramte lange in ihrer Tasche, zog endlich eine Zigarette hervor und schaute ihre Freundin an.

»Wir könnten Álvaro hinzuziehen«, erwog sie.

Menchu wölbte die Brauen. Nun sei sie aber wie versteinert, rief sie prompt, versteinert wie das Eheweib Noahs, oder Lots, oder wer auch immer jener Trottel gewesen war, der sich in Sodom gelangweilt hatte. Oder zur Salzsäule erstarrt war. Oder was auch immer.

»Jedenfalls mußt du mir erzählen.« Ihre Stimme wurde heiser vor Neugierde, denn sie ahnte heftige Gefühlsregungen. »Álvaro und du, ihr hattet schließlich mal …«

Sie ließ den Satz unvollendet, mit einem Ausdruck jähen und übertriebenen Kummers, wie jedes Mal, wenn sie vermutete, daß andere Leute wehrlose Opfer irgendwelcher Gefühle wurden. Julia widerstand eisern ihrem Blick.

»Er ist der beste Kunsthistoriker, den wir kennen … Und hier geht es nicht um mich, sondern um das Bild.«

Menchu tat, als denke sie ernsthaft nach; dann nickte sie. Es war Julias Angelegenheit, klar. Eine intime Angelegenheit, in der Art Mein liebes Tagebuch, so etwas eben. Aber sie an Julias Stelle würde das nicht tun. In dubio pro reo, wie dieser pedantische César immer sagte, die alte Glucke. Oder hieß es in pluvio?

»Wirklich, über Álvaro bin ich hinweg.«

»Es gibt Leiden, meine Hübsche, die lassen sich nicht kurieren. Und ein Jahr ist da nichts, Schätzchen.«

Julia konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Vor über einem Jahr hatten Álvaro und sie eine lange Liaison beendet, und die Galeristin wußte davon. Irgendwann hatte sie sogar ohne es zu wissen ausgesprochen, was letztlich zur Trennung geführt hatte. Mädchen, ein verheirateter Mann entscheidet sich, wenn es darauf ankommt, immer für die Angetraute, denn er befürchtet, daß es mit Geburten und Windelwaschen wieder von vorne losgeht. »So sind sie nun mal«, hatte Menchu geschlußfolgert, die Nase über dem feinen weißen Pulverstreifen, zwischen zwei Sniffs, »ekelhaft treu im Grunde. Schnief. Diese Hurensöhne!«

Julia stieß eine dicke Rauchwolke hervor, dann trank sie gemächlich ihren Kaffee aus, bemüht, keinen Tropfen zu verschütten. Ein sehr bitteres Ende war das damals gewesen, nach den letzten Worten und dem lauten Türknall. Und noch war es nicht verwunden, das wurde ihr immer wieder bewußt, wenn sie daran dachte. Und sie hatte es auch bei den späteren drei oder vier zufälligen Begegnungen gemerkt, auf Konferenzen oder in Museen, obwohl beide sich mustergültig benommen hatten. »Siehst prächtig aus, laß es dir gutgehen«, irgend so etwas hatte er gesagt. Immerhin hielten sie sich für zivilisierte Menschen, und abgesehen von einem Stückchen gemeinsamer Vergangenheit waren sie durch ihren Beruf verbunden: durch die Kunst. Sie waren, kurz gesagt, Leute von Welt. Und erwachsen.

Julia spürte, daß Menchu sie beäugte, sich schon auf neuerliche Techtelmechtel freute, bei denen sie als taktische Beraterin fungieren würde. Klagte doch die Galeristin, daß Julias sporadische Liebschaften nach dem Bruch mit Álvaro kaum noch einen Kommentar wert waren: »Du wirst prüde, meine Liebe«, sagte sie immer wieder zu ihrer Freundin, »und das ist gräßlich langweilig. Kehr um, du brauchst die Leidenschaft, den Strudel …« So besehen stellte bereits die Erwähnung von Álvaro interessante Möglichkeiten in Aussicht.

Julia merkte das alles, ließ sich aber nicht aus der Fassung bringen. Menchu war eben Menchu, und sie war immer so gewesen. Freunde wählt man sich nicht aus, sie erwählen einen. Entweder man weist sie ab, oder man akzeptiert sie ohne Einschränkung. Das hatte sie auch bei César erfahren.

Die Zigarette war fast aufgeraucht, und sie drückte sie im Aschenbecher aus. Dann sagte sie mit einem müden Lächeln: »Álvaro ist mir egal. Mich interessiert der Van Huys.« Sie hielt einen Moment inne, suchte nach Worten und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »An diesem Bild ist irgend etwas Besonderes.«

Menchu hob die Schultern, sie schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

»Nimm es ruhig und gelassen, Mädchen. Ein Bild ist doch nichts weiter als Leinwand, Holz, Farbe, Firnis … Das einzige, was zählt, ist, was es dir in die Tasche bringt, wenn es den Besitzer wechselt.« Sie starrte auf Max' breite Schultern und zwinkerte. »Der Rest, das sind alberne Geschichten.«

Während jener Zeit mit Álvaro hatte Julia ihn immer als typischen Vertreter seines Berufsstandes gesehen, in seinem Auftreten ebenso wie in der Kleidung: freundlich, um die Vierzig, englische Tweedjacketts, gepunktete Krawatten. Außerdem rauchte er Pfeife, was sie vollends schwach machte – all das begeisterte sie in einem Maße, daß sie damals, in der ersten Vorlesung – Die Kunst und der Mensch war an jenem Tag sein Thema gewesen – eine gute viertel Stunde kein Ohr für seine Worte gehabt hatte, baff darüber, daß ein noch so jung aussehender Mann Professor sein konnte, ein richtiger Professor. Nach der Vorlesung, als er sich bis zur nächsten Woche verabschiedete und alle auf den Gang hinausdrängten, war sie an ihn herangetreten, im vollen Bewußtsein dessen, was geschehen würde: Es war die ewig sich wiederholende, wenig originelle Geschichte, das klassische Techtelmechtel zwischen Lehrer und Schülerin, schon angebahnt bevor Álvaro in der Nähe der Tür auf den Hacken eine halbe Drehung machte und Julia erstmals zulächelte. In alledem – das zumindest fand die junge Studentin, als sie das Für und Wider der Sache abwog – war etwas Unvermeidbares, die Anzeichen eines köstlichen klassischen Fatums, es waren schicksalhaft vorgezeichnete Wege, ein Standpunkt, dem sie leidenschaftlich zugetan war, seit sie auf dem Gymnasium die glanzvollen familiären Verwicklungen jenes genialen Griechen übersetzt hatte, des Sophokles. Erst später hatte sie beschlossen, César von der Sache zu erzählen, dem Antiquitätenhändler, der ihr seit Jahren – beim ersten Mal hatte Julia noch Söckchen getragen und Zöpfe gehabt – in Liebesdingen der Vertraute und Tröster war. César hatte in diesem Falle lediglich die Achseln gezuckt und in bewußt unbeschwertem Ton auf die geringe Originalität ihrer Geschichte hingewiesen, »die, meine Beste, in dreihundert Romanen und ebensovielen Filmen widerlich kitschig abgehandelt wurde, vor allem«, und hier verzog er abschätzig den Mund, »in französischen und amerikanischen, was, da wirst du mir recht geben, Prinzessin, die Sache in ein wahrhaft gräßliches Licht setzt.« Mehr hatte César nicht gesagt. Von ihm kamen weder ernste Vorhaltungen noch väterliche Ermahnungen, die im übrigen, das wußten beide, ohnehin nicht fruchten würden. César hatte keine Kinder und würde sie nie haben, doch er besaß die besondere Gabe, Situationen wie diese richtig einzuschätzen. Irgendwann im Leben hatte der Antiquitätenhändler die Gewißheit erlangt, daß der Mensch nur durch eigenen Schaden klug wird, also tat er das einzige, was dem Beschirmer – und das war er – möglich und angemessen war: Er setzte sich zu seinem Schützling, ergriff dessen Hand und hörte sich unendlich gütig die Geschichte an, den Verlauf der Liebe und der Schmerzen, während die Natur ihren unvermeidbaren Lauf nahm.

»In Liebesdingen, Prinzeßchen«, pflegte César zu sagen, »soll man nie mit Ratschlägen oder Lösungen kommen, allenfalls mit einem sauberen Taschentuch im rechten Augenblick.«

Und eben das tat er, als alles zu Ende war, an jenem Abend, als sie wie eine Mondsüchtige zu ihm kam, das Haar noch feucht, und dann auf seinen Knien einschlief. Das geschah aber lange nach jener ersten Begegnung auf dem Korridor der Fakultät, wo es bedeutsame Abweichungen vom vorgeschriebenen Drehbuch nicht gegeben hatte. Das Ritual nahm danach seinen Fortgang auf festgetretenen und voraussagbaren, jedoch unverhofft befriedigenden Pfaden. Julia hatte schon manches Liebesabenteuer hinter sich, aber bis zu dem Nachmittag, als sie dann mit Álvaro erstmals im schmalen Bett eines Hotels lag, hatte sie nie den Drang verspürt, innerlich so zerrissen und voll Schmerz Ich liebe dich zu sagen, sich verdutzt Worte stammeln zu hören, die ihr zuvor nie über die Lippen gekommen waren, und dies in einem ihr unbekannten Ton, der sich sehr nach Gestöhn und Klage anhörte. Eines Morgens, als sie mit dem Kopf an Álvaros Brust erwachte, strich sie sanft ihr Haar von seinem Gesicht, betrachtete den Schlafenden lange, horchte auf das leise Herzpochen unter ihrer Wange, bis er die Augen aufschlug und ihr zulächelte. Da war sich Julia absolut sicher, daß sie ihn liebte. Sie wußte, daß sie später andere Geliebte haben würde, jedoch für keinen das würde empfinden können, was sie für Álvaro empfand. Es vergingen achtundzwanzig Monate, die sie fast Tag für Tag bewußt durchlebte, dann kam der Moment des schmerzlichen Erwachens, sie mußte César bitten, sein berühmtes Taschentuch hervorzuziehen. »Dieses schreckliche Tuch«, hatte er wie immer theatralisch gesagt, halb im Scherz, aber hellsichtig wie eine Kassandra, »dieses Tuch, das wir schwenken, wenn wir einander für immer Lebewohl sagen.« Das, im wesentlichen, war jene Geschichte gewesen.

Ein Jahr hatte gelangt, um die Wunden vernarben zu lassen, nicht aber um die Erinnerungen auszulöschen. Erinnerungen, auf die Julia allerdings auch nicht verzichten mochte. Sie war recht schnell gereift, und dieser moralische Prozeß hatte auch ihre anstandslos aus Césars Lehren entnommene Überzeugung geformt, das Leben sei wie ein teures Restaurant, in dem einem am Ende stets die Rechnung präsentiert wird, was aber kein Grund sei, dem glücklich und voller Wonne Genossenen abzuschwören. Über all das sinnierte Julia, während Álvaro über den Tisch gebeugt Bücher aufschlug und sich Notizen auf weiße Kärtchen machte. Äußerlich schien er fast unverändert, bis auf ein paar graue Fäden im Haar. Der Blick war wie immer gefaßt und klug. Diese Augen und die feingliedrigen langen Hände mit den runden, glänzenden Nägeln hatte sie damals besonders gemocht. Sie betrachtete diese Hände, während die Finger die Seiten glätteten oder den Füller führten, und sehr gegen ihren Willen vernahm sie ein fernes Raunen aus Melancholie, was, so befand sie nach kurzem Nachdenken, nur zu verständlich war. Schon flammten in ihr nicht mehr die Gefühle von einst auf; diese Hände aber hatten ihren Körper liebkost, noch spürte sie bis ins Feinste deren Berührung und Wärme auf der Haut. Folgende Liebschaften hatten ihre Spur nicht auslöschen können.

Sie versuchte, ihre stürmischen Gefühle zu bändigen. Sie wollte auf keinen Fall der verführerischen Erinnerung erliegen. Aber das alles war ohnehin zweitrangig, sie war nicht gekommen, um Sehnsüchte aufzufrischen, also konzentrierte sie sich auf die Worte ihres einstigen Geliebten und nicht auf ihn selbst. Nach den ersten Momenten der Verlegenheit hatte Álvaro sie nachdenklich gemustert und gefragt, was für eine wichtige Angelegenheit sie nach so langer Zeit zu ihm führte. Er lächelte warm, wie ein alter Freund oder einstiger Kommilitone, gelöst und aufmerksam, gab sich zuvorkommend, gefaßt und effektiv, erfüllt von Schweigen und von leise vorgebrachten Überlegungen, die ihr an ihm so vertraut waren. Nach der anfänglichen Überraschtheit hatte er erst wieder verwirrt ausgesehen, als Julia ihm mit den Fragen zu dem Gemälde kam; von der verborgenen Inschrift allerdings, das hatte sie mit Menchu verabredet, erwähnte sie nichts. Ja, er kenne den Maler, dessen Werk und dessen Zeit genau, hatte Álvaro bestätigt, wußte aber nichts von der geplanten Versteigerung und auch nicht, daß Julia die Restaurierung übernommen hatte. Ihre Farbfotos von dem Gemälde brauchte er nicht; er schien gut vertraut mit jener Zeit und den dargestellten Figuren. Im Augenblick suchte er ein Datum, sein Zeigefinger folgte den Zeilen eines alten Kompendiums mittelalterlicher Geschichte, er war ganz vertieft und dachte, so schien es, nicht im geringsten an die gemeinsame Vergangenheit, die Julia zwischen ihnen schweben spürte wie das Grabtuch eines Gespenstes. Vielleicht ergeht es ihm wie mir, dachte sie. Vielleicht hatte Álvaro ja von ihr den Eindruck, daß sie jenen Dingen ebenfalls fern und gleichgültig gegenüberstand.

»Da ist er«, sagte er jetzt, und Julia klammerte sich an den Klang seiner Worte wie eine Schiffbrüchige an eine Planke, stellte aber erleichtert fest, daß sie nicht beides zugleich konnte: in der Stimme von jetzt den Mann von einst hören. Ohne Schmerz spürte sie, daß die Nostalgie zurückblieb, von ihr abfiel, und die Erleichterung hierüber mochte so offenkundig sein, daß er sie überrascht anschaute, bevor er sich wieder der aufgeschlagenen Buchseite widmete. Mit einem einzigen Blick las Julia die Überschrift: Die Schweiz, Burgund und die Niederlande im 14. und 15. Jahrhundert.

»Da!« Álvaro wies auf einen Namen im Text. Dann zeigte sein Finger auf Julias Foto von dem Gemälde. »FERDINANDUS OST. D. lautet die Beschriftung zum Spieler der linken Seite, dem im roten Gewand. Van Huys malte die Schachpartie 1471, also besteht nicht der geringste Zweifel: Es handelt sich um Ferdinand Altenhoffen, Herzog von Ostenburg, Ostenburgensis Dux, geboren 1435, gestorben … ja, hier steht es, gestorben 1474. Etwa fünfundreißig Jahre alt mag er gewesen sein, als er für den Maler posierte.«

Julia hatte sich ein Kärtchen vom Tisch genommen und notierte die Daten.

»Wo lag dieses Ostenburg? In Deutschland?«

Álvaro schüttelte den Kopf. Er schlug einen historischen Atlas auf und zeigte auf eine Landkarte.

»Ostenburg war ein Herzogtum, das etwa so groß war wie die Rodovingia Karls des Großen … Es war hier, an den Grenzen zu Frankreich und Deutschland, zwischen Luxemburg und Flandern. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert kämpften die ostenburgischen Herzöge um ihre Unabhängigkeit, wurden dann aber geschluckt, zunächst von Burgund, dann von Österreichs Maximilian. Die Linie der Altenhoffen erlosch eben mit diesem Ferdinand, dem letzten Herzog von Ostenburg, der auf diesem Gemälde Schach spielt … Soll ich dir hiervon Kopien machen?«

»Da wäre ich dir sehr dankbar.«

»Kein Problem.« Álvaro lehnte sich in seinem Stuhl zurück, holte aus einer Schreibtischschublade eine Dose Tabak und stopfte sich die Pfeife. »Logischerweise kann die Dame am Fenster mit der Beschriftung BEATRIX BURG. OST.D. nur die Herzogin Beatrix von Burgund sein, seine Ehefrau. Hier steht es … Beatrix von Burgund heiratete Ferdinand Altenhoffen 1464, im Alter von dreiundzwanzig Jahren.«

»Aus Liebe?« fragte Julia, wobei sie mit einem vagen Lächeln das Foto betrachtete. Auch Álvaro lächelte, wenn auch etwas gezwungen.

»Du weißt, wenige dieser Ehen wurden aus Liebe geschlossen … Die Heirat kam auf Betreiben des Onkels von Beatrix zustande, also Philipps des Guten, des Herzogs von Burgund; ein Zweckbündnis mit Ostenburg, und zwar gegen Frankreich, das sich beide Herzogtümer einverleiben wollte.« Nun vertiefte auch er sich in das Foto, seine Pfeife zwischen den Zähnen. »Ferdinand von Ostenburg«, fuhr er fort, »hatte Glück, Beatrix war schön. So zumindest steht es in den Burgundischen Annalen von Nicolas Flavin, dem wichtigsten Chronisten jener Zeit. Dein Van Huys scheint der gleichen Meinung gewesen zu sein. Offenbar hat er sie schon vorher gemalt, denn Pijoan zitiert ein Dokument, dem zufolge Van Huys eine gewisse Zeit Hofmaler in Ostenburg war … 1463 spricht Ferdinand Altenhoffen ihm eine Pension von jährlich einhundert Pfund zu, zahlbar je zur Hälfte an Johannis und Weihnachten. Im selben Dokument wird er beauftragt, Beatrix, damals noch die Verlobte des Herzogs, zu malen, bien au vif.«

»Gibt es weitere Hinweise?«

»Sehr viele. Van Huys wurde eine bedeutende Persönlichkeit.« Álvaro zog eine Mappe mit Karteikarten aus einem Aktenschrank hervor. »Jean Lemaire, in seiner Couronne Margaridique, die er zu Ehren der Margarethe von Österreich verfaßte, der Statthalterin der Niederlande, stellt einen Pierre de Brugge (Van Huys) sowie Hughes von Gent (Van der Goes) und Dieric von Löwen (Dieric Bouts) neben jenen Maler, den er als den König der flämischen Maler bezeichnet, und zwar Johannes (Van Eyck). In dem Poem heißt es wörtlich Pierre de Brugge, qui tant eut les traits utez, also ›der die Striche so sauber zog‹ … Das wurde fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod des Van Huys geschrieben.« Álvaro sichtete aufmerksam weitere Unterlagen. »Hier sind noch ältere Verweise. Zum Beispiel ist in den Inventarien des Königreiches Aragón festgehalten, daß Alfons V., der Großmütige, Werke von Van Huys, Van Eyck und weiteren abendländischen Meistern besaß, die allesamt verlorengingen … 1454 erwähnt ihn außerdem Bartolomeo Fazio, ein enger Vertrauter von Alfons V., in seinem Buch De viribus illustris, und nennt ihn Pietrus Huyus insignis Pictor. Andere Verfasser, vor allem Italiener, bezeichnen ihn als Magistro Piero Van Hus, pictori in Bruggia. Da ist auch ein Zitat von 1470, in dem Guido Rasofalco ein in seinem Besitz befindliches Gemälde nennt, das ebenfalls verlorenging, eine Kreuzigung. Er vermerkt: Opera buona di mano di un chiamato Piero di Juys pictor famoso in Fiandra. Ein weiterer, nicht namentlich genannter italienischer Autor bezieht sich auf ein Bild des Van Huys, das erhalten blieb, und zwar Ritter und Teufel. Er vermerkt: A magistro Pietrus Juisus magno et famoso flandesco fuit depictum … Du kannst hinzufügen, daß im sechzehnten Jahrhundert Guicciardini und Van Mander ihn erwähnen und im neunzehnten Jahrhundert James Weale in seinen Büchern über die großen flämischen Maler.« Er sammelte die Karten zusammen, steckte sie achtsam in die Mappe und legte sie wieder in den Aktenschrank. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schaute Julia lächelnd an. »Zufrieden?«

»Sehr.« Die junge Frau hatte alles aufgeschrieben und prüfte noch einmal ihre Notizen. Dann hob sie den Blick, strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute Álvaro überrascht an. »Man könnte meinen, du hättest die Lektion vorbereitet; ich bin geradezu geblendet«, sagte sie.

Das Lächeln in seinem Gesicht verblaßte, er wich ihrem Blick aus, starrte auf den Tisch, als hätte eine der Karteikarten plötzlich seine Aufmerksamkeit erregt.

»Das gehört zu meinem Metier«, bemerkte er. Es klang zerstreut, wie eine Ausflucht. Ohne daß sie genau wußte warum, war ihr plötzlich unwohl.

»Ja, du bist einfach ein ausgezeichneter Kunsthistoriker …«, sie musterte ihn einige Sekunden lang neugierig und vertiefte sich dann wieder in ihre Notizen. »Wir haben viele Verweise auf den Maler und auf zwei der Figuren …«, sie beugte sich über das Foto vom Gemälde und wies mit dem Finger auf den zweiten Spieler. »Aber über den hier wissen wir nichts.«

Álvaro, im Begriff, seine Pfeife anzuzünden, zögerte mit der Antwort. Falten lagen auf seiner Stirn.

»Es ist schwierig, eine verläßliche Aussage über ihn zu machen.« Er stieß eine Rauchwolke hervor. »Die Inschrift ist vage, aber man könnte schon gewisse Schlüsse ziehen – RUTGIER AR. PREUX«, er machte eine Pause und betrachtete den Pfeifenkopf, als hoffte er, darin die Bestätigung für seinen Gedanken zu finden. »Rutgier kann Roger, Rogelio oder Rugiero heißen, je nach dem, es gibt mindestens zehn Varianten dieses damals sehr verbreiteten Namens … Preux könnte ein Beiname oder der Familienname sein, dann allerdings befänden wir uns in einer Sackgasse, denn es ist kein Preux vermerkt, dessen Taten Aufnahme in die Chroniken gerechtfertigt hätten. Allerdings wurde der Begriff preux im späten Mittelalter auch als ehrende Bezeichnung verwendet, sogar substantivisch, in der Bedeutung von Tapferer, Ritterlicher. Lanzelot und Roland, um dir nur zwei berühmte Beispiele zu nennen, trugen diesen Beinamen … Wenn man in Frankreich und England einem Ritter die Rüstung anlegte, ermahnte man ihn soyez preux, seid mutig und treu. Eine Titulierung also, die der Blüte der Ritterschaft vorbehalten war.«

Ohne es zu merken, hatte Álvaro, weil es nun mal zu seinem Beruf gehörte, einen belehrenden, fast dozierenden Ton angenommen, was früher oder später immer geschah, wenn es um ein Thema seines Fachs ging. Julia registrierte das etwas verwirrt; es rührte alte Erinnerungen auf, noch warme Asche einer Zuneigung, die in Zeit und Raum ihren Platz gehabt hatte, ihren Charakter zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Reste eines anderen Lebens und anderer Gefühle, inzwischen verschlissen, wie ein Buch in ein Regal gestellt, auf daß sich Staub darauf lege, ohne die Aussicht, je wieder aufgeschlagen zu werden, aber trotzdem gegenwärtig.

In solchen Situationen, das wußte Julia, half nur Verdrängen, sie mußte ihre Sinne auf das Unmittelbare lenken. Reden, nach Einzelheiten fragen, auch wenn sie noch so belanglos waren. Sich über den Tisch beugen, sich auf die Notizen konzentrieren. Sich einreden, sie säße hier vor einem gewandelten Álvaro, was gewiß auch zutraf. Sich einreden, es habe alles in ferner Zeit stattgefunden, an fernem Ort. So handeln und fühlen, als gehörten die Erinnerungen nicht ihnen beiden, sondern anderen Personen, von denen sie hatten erzählen hören und deren Schicksal sie kaltließ.

Eine Lösung war eine Zigarette. Julia zündete sich eine an. Der Rauch, der ihre Lungen füllte, versöhnte sie mit sich, gab ihr ein bißchen von ihrem Gleichmut zurück. Sie inhalierte genüßlich, gab sich mit jenen ritushaften Gesten Beruhigung. Dann schaute sie Álvaro an, bereit weiterzumachen.

»Was steckt also dahinter?« fragte sie. Ihre Stimme war nun gefaßt, und sie wurde wieder ruhiger. »Also, wenn Preux nicht ein Beiname ist, dann bietet vielleicht die Abkürzung AR. den Schlüssel.«

Álvaro stimmte zu. Mit seinen vom Pfeifenrauch umspielten Augen suchte er in den Seiten eines anderen Buchs, bis er dort auf einen bestimmten Namen stieß.

»Hör dir das an. Roger von Arras, geboren 1431, im selben Jahr, in dem die Engländer in Rouen Jeanne d'Arc verbrennen. Seine Familie ist verschwägert mit den Valois, die Frankreich regieren. Er wurde auf Schloß Bellesang geboren, nahe dem Herzogtum Ostenburg.«

»Könnte er der zweite Spieler sein?«

»Gut möglich. AR wäre dann in der Tat die Abkürzung für Arras. Und Roger d'Arras, der ist nun wirklich in sämtlichen Chroniken jener Zeit vertreten. Während des Hundertjährigen Krieges kämpft er an der Seite des französischen Königs Karls VII. Siehst du … Er ist bei der Eroberung der Normandie und der Guyenne dabei. 1450 kämpft er in der Schlacht von Formigny und drei Jahre später in der von Castillon. Hier, schau dir dieses Bild an. Er könnte einer von diesen Kriegern sein, vielleicht der mit dem geschlossenen Visier, der mitten im Gefecht dem König von Frankreich sein Pferd anbietet, weil dessen Pferd getötet wurde, und der zu Fuß weiterkämpft …«

»Ich bin verblüfft, Professor!« Sie verhehlte ihre Überraschung nicht. »Dieses hübsche Bild vom Krieger in der Schlacht … Du hast doch immer gesagt, die Phantasie sei der Krebs der historischen Genauigkeit.«

Álvaro lachte herzhaft.

»Betrachte das als unwissenschaftlichen Gefallen, dir zuliebe. Deine Neigung, von den baren Fakten abzuschweifen, werde ich nie vergessen. Ich weiß noch, als wir beide, du und ich …«

Er brach ab, unsicher geworden, denn Julia schaute auf einmal sehr ernst. Heute waren Erinnerungen fehl am Platz. Álvaro merkte das.

»Entschuldige«, sagte er leise.

»Vergiß es.« Julia drückte energisch ihre Zigarette aus und verbrannte sich dabei an der Glut die Finger. »Es ist meine Schuld.« Sie schaute ihn beherrscht an. »Also, was ist jetzt mit unserem Krieger?«

Álvaro, sichtlich erleichtert, nahm den Faden wieder auf. Roger von Arras, erklärte er, sei nicht lediglich Krieger gewesen, sondern vielerlei mehr. Zum Beispiel ein mustergültiger Ritter. Geradezu ein Exempel eines mittelalterlichen Edelmanns. In seinen freien Stunden auch Dichter und Musiker. Sehr geschätzt am Hofe seiner Vettern, der Valois. Der Beiname Preux sei ihm höchst angemessen, er habe ihm gepaßt wie ein Handschuh.

»Hatte er irgendeine Beziehung zum Schachspiel?«

»Davon ist nichts bekannt.«

Julia machte sich weitere Notizen, völlig begeistert von der Geschichte. Plötzlich hielt sie inne und schaute Álvaro an.

»Eins verstehe ich nicht«, sie biß auf den Knopf ihres Kugelschreibers, »warum sollte besagter Roger von Arras in einem Bild des Van Huys beim Schachspiel mit dem Herzog von Ostenburg festgehalten sein?«

Álvaro rutschte auf seinem Stuhl hin und her, verlegen, wie von einem plötzlichen Zweifel befallen. Er zog stumm an seiner Pfeife, starrte die Wand hinter Julia an, als fechte er einen inneren Kampf aus. Dann verzog er den Mund zu einem vorsichtigen Lächeln.

»Was er, außer um Schach zu spielen, im Bild zu suchen hat, weiß ich nicht.«

Er hob die Hände und gab so zu verstehen, daß er mit seiner Weisheit am Ende war. Julia spürte jedoch, daß er sie mit ungewöhnlicher Vorsicht ansah, als beschäftige ihn ein Gedanke, den er nicht auszusprechen wagte. »Allerdings«, fügte er hinzu, »weiß ich, weil es ebenfalls in den Büchern steht, daß Roger von Arras nicht in Frankreich starb, sondern in Ostenburg.« Nach kurzem Zögern wies er auf das Foto von dem Gemälde. »Ist dir an dem Datum irgendwas aufgefallen?«

»1471. Was ist daran besonders?« fragte sie neugierig.

Álvaro blies gemächlich den Rauch aus, wobei er ein trockenes Pfeifen von sich gab, das klang wie ein kurzer Lacher. Nun musterte er Julia, als suchte er in ihren Augen die Erwiderung auf eine Frage, die er nicht einmal sich selbst zu stellen wagte.

»Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte er endlich. »Entweder ist das Datum falsch oder die zeitgenössischen Chronisten lügen oder dieser Ritter ist nicht der auf dem Bild ausgewiesene Rutgier Ar. Preux …« Er griff zu einem weiteren Buch, der Chronik der Herzöge von Ostenburg, blätterte kurz und legte es dann vor Julia hin. »Das hat Ende des fünfzehnten Jahrhunderts Guichard de Hainaut geschrieben, ein Franzose und Zeitgenosse der hier festgehaltenen Vorkommnisse … Hainaut zufolge starb unser Mann am Dreikönigstag des Jahres 1469, zwei Jahre bevor Pieter Van Huys die Schachpartie malte. Verstehst du? … Roger von Arras konnte für dieses Bild nicht posieren. Als es gemalt wurde, war er bereits tot.«

Er begleitete sie bis zum Parkplatz der Fakultät und übergab ihr die Mappe mit den Kopien. Da sei fast alles drin, sagte er: historische Referenzen, ein auf den neuesten Stand gebrachter Katalog der Werke von Van Huys, Bibliographisches … Er versprach ihr, auch noch einen chronologischen Abriß sowie weiteres Material zu schicken, sobald er dafür etwas Zeit hätte. Dann, die Pfeife im Mund und die Hände in den Jackettaschen, musterte er sie, als gälte es noch etwas zu sagen und als schwankte er, ob er es tun solle. Er hoffe, behilflich gewesen zu sein, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

Julia bejahte mit einem Kopfnicken, allerdings sichtlich verwirrt. Die letzten Einzelheiten wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Und da war noch ein weiterer Punkt.

»Ich bin wirklich beeindruckt, Professor … In weniger als einer Stunde hast du das Leben der Figuren auf einem Gemälde rekonstruiert, mit dem du dich vorher nie beschäftigt hast.«

Álvaro wandte kurz den Blick ab und ließ ihn über das Universitätsgelände schweifen. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung.

»Das Bild war mir nicht völlig unbekannt.« Sie meinte, in seiner Stimme einen Zweifel herauszuhören, und das beunruhigte sie. Darum lauschte sie seinen Worten nun besonders aufmerksam. »Unter anderem«, fuhr er fort, »gibt es davon ein Foto im Prado-Katalog von 1917 … Da hing die Schachpartie nämlich ungefähr zwanzig Jahre. 1923 forderten die Erben das Bild zurück.«

»Das wußte ich nicht.«

»Jetzt weißt du es.« Er konzentrierte sich auf die Pfeife, die auszugehen drohte. Julia musterte ihn argwöhnisch. Sie kannte ihn einfach zu gut und wußte, daß ihn irgend etwas beunruhigte. Etwas, das er nicht auszusprechen wagte.

»Du hast mir etwas vorenthalten, Álvaro. Was ist es?«

Reglos und gedankenverloren zog er an der Pfeife. Dann wandte er sich ihr langsam zu.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ich meine, jedes Detail, das dieses Bild betrifft, ist wichtig für mich.« Sie musterte ihn ernst. »Ich setze in dieser Sache viel aufs Spiel.«

Sie sah Álvaro nervös am Mundstück der Pfeife kauen, dann machte er ausweichende Gesten.

»Du bringst mich in Verlegenheit. Dein Van Huys scheint seit neuestem in Mode zu sein.«

»In Mode?« Sie platzte schier vor Neugierde, und mit einemmal war ihr, als wanke der Boden unter ihren Füßen. »Du willst sagen, es hat dich vor mir schon jemand in dieser Sache angesprochen?«

Álvaro lächelte nun vage, als bereue er es, zuviel gesagt zu haben.

»Gut möglich.«

»Wer?«

»Das ist es ja. Ich darf es dir nicht sagen.«

»Sei nicht albern.«

»Nein, es geht nicht. Wirklich nicht.« Er schaute sie mit einem um Nachsicht bittenden Blick an.

Julia atmete tief ein, sie wollte die seltsame Leere, die sie im Innersten spürte, auffüllen. Irgendwo vernahm sie da drinnen ein Alarmsignal. Doch nun sprach Álvaro wieder, sie lauschte, lauerte auf ein Indiz. Er würde sich das Bild selber gern mal kurz anschauen … falls sie nichts dagegen habe.

»Und überhaupt, ich kann dir alles erklären … zu gegebener Zeit«, schloß er.

Vielleicht war das alles ein Trick, überlegte die junge Frau, eine Finte, um sie wiederzusehen. Sie biß sich auf die Unterlippe. Die alten Gefühle und die Erinnerungen wurden spürbar, das hatte nichts mehr damit zu tun, weshalb sie eigentlich hergekommen war.

»Wie geht es deiner Frau?« fragte sie wie beiläufig, einem verborgenen Drang folgend. Schelmisch hob sie etwas den Blick, um zu sehen, ob er erstarrte, ob es ihm peinlich war.

»Danke, gut«, antwortete er trocken. Die Pfeife zwischen den Fingern schien seine Aufmerksamkeit sehr in Anspruch zu nehmen. Er musterte sie wie einen ihm gänzlich fremden Gegenstand. »Sie ist zur Zeit in New York, bereitet da eine Ausstellung vor.«

Ein flüchtiges Bild tauchte in Julias Erinnerung auf: eine attraktive Blondine in einem maßgeschneiderten dunkelbraunen Kostüm, die aus einem Auto stieg. Kaum fünfzehn Sekunden eines mühevoll behaltenen, in der Erinnerung fast schon verblaßten Films. Doch diese hatten so scharf wie ein Seziermesser das Ende ihrer Jugend und den Rest ihres Lebens markiert. Álvaros Frau war wohl in der Öffentlichkeitsarbeit tätig, bei einer Kulturbehörde, befaßt mit Ausstellungen. Eine Zeitlang hatten ihre vielen Reisen die Dinge erleichtert. Álvaro erwähnte sie nie, Julia ebensowenig, doch für beide war die andere immer präsent, gleichsam ein Gespenst. Und das Phantom, als flüchtiges Gesicht irgendwann für fünfzehn Sekunden zufällig in Erscheinung getreten, hatte die Partie gewonnen.

»Ich hoffe, es steht gut mit euch.«

»Schlecht jedenfalls nicht. Ich meine, ganz und gar nicht schlecht.«

»Ah ja.«

Sie gingen einige Schritte, stumm und ohne einander anzuschauen. Julia schnalzte mit der Zunge, neigte den Kopf, lächelte ins Leere.

»Na ja, spielt ja auch keine große Rolle mehr …« Sie pflanzte sich unvermittelt vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und fragte mit schelmischer Miene: »Wie gefalle ich dir denn jetzt?«

Er musterte sie von Kopf bis Fuß, unsicher, mit leicht verkniffenen Augen.

»Du siehst gut aus. Ehrlich.«

»Und du, wie fühlst du dich?«

»Ein bißchen verwirrt …« Er lächelte melancholisch, mit etwas zerknirschter Miene. »Ich frage mich, ob ich vor einem Jahr die richtige Entscheidung getroffen habe.«

»Das wirst du nie erfahren.«

»Wer weiß.«

Er gefällt mir noch, bemerkte Julia. Beklemmung und Verwirrung wühlten sie auf. Sie schaute auf seine Hände, in seine Augen und wußte, daß sie am Rande von etwas wandelte, das sie anwiderte und zugleich anzog.

»Das Gemälde ist bei mir zu Hause«, sagte sie, bemüht, sich auf nichts festzulegen und ihre Gedanken zu ordnen; sie wollte ihre so schmerzhaft erworbene Standhaftigkeit prüfen, ahnte zugleich aber die Gefahren, spürte die Notwendigkeit, auf der Hut zu sein vor ihren Gefühlen und ihren Erinnerungen. Und außerdem, was das wichtigste war, gab es da den Van Huys.

Diese Überlegung schuf ein wenig Klarheit. Also drückte sie die ihr entgegengestreckte Hand, fühlte sich allerdings bei der Berührung, als würde sie wackeligen Boden betreten. Das belebte sie, machte einen dunklen Genuss spürbar. Spontan und zugleich überlegt – als Vorschuß, à fonds perdu, um Vertrauen einzuflößen – gab sie ihm einen flüchtigen Kuß auf den Mund, bevor sie die Tür ihres kleinen weißen Fiat aufschloß und sich hineinsetzte.

»Wenn du das Bild sehen willst, komm doch mal vorbei«, sagte sie mit gespielter Souveränität und startete den Motor. »Morgen nachmittag. Und danke.«

Das dürfte genügt haben. Sie sah im Rückspiegel, wie er ein wenig verloren dastand, nachdenklich und verwirrt winkte er ihr nach, den Campus und das Backsteingebäude der Fakultät als Hintergrund. Sie lächelte in sich hinein, als sie bei Rot über eine Ampel fuhr. Wirst schon anbeißen, Professor, dachte sie. Ich weiß nicht warum, aber irgendwo ist da jemand, der Böses im Schilde führt, und du wirst mir sagen wer, oder ich will nicht mehr Julia heißen …

Auf dem Tischchen vor Julia stand der Aschenbecher voller Kippen. Sie lag auf dem Sofa, im Licht der kleinen Lampe, und las bis tief in die Nacht. Ganz allmählich bekamen die Geschichte des Bildes, der Maler und seine Figuren Konturen. Begierig las sie, es drängte sie, mehr zu erfahren; gespannt verfolgte sie selbst die geringsten Hinweise, forschte nach dem Schlüssel für jene geheimnisvolle Schachpartie vor ihr auf der Staffelei, im Halbdunkel des Arbeitszimmers. Sie las:

»… Im Jahre 1453 aus der Vasallenschaft Frankreichs getreten, bemühten sich die Herzöge von Ostenburg in dem schwierigen Unterfangen, das Gleichgewicht zwischen Frankreich, Deutschland und dem Burgund zu wahren. Ostenburgs Politik weckte den Argwohn Karls VII. von Frankreich, der fürchtete, das vorwärts drängende Burgund, das ein selbständiges Königreich zu werden trachtete, könnte sich das Herzogtum einverleiben. Im Strudel der Palastintrigen, politischen Allianzen und geheimen Pakte verschärften sich Frankreichs Befürchtungen, als 1464 Ferdinand, der Sohn und Erbfolger des Herzogs Wilhelmus von Ostenburg, Beatrix von Burgund heiratete, die Nichte Philipps des Guten und Cousine des künftigen Burgunder Herzogs Karl des Kühnen.

So formierten sich in jenen für Europas künftige Geschicke so entscheidenden Jahren am ostenburgischen Hof zwei in ihren Haltungen unvereinbare, verfeindete Fraktionen: die der Einverleibung Ostenburgs zugetane burgunderfreundliche Partei und auf der anderen Seite die eine Wiedervereinigung mit Frankreich anstrebenden Konspiratoren. Der heftige Streit dieser beiden Kräfte bestimmte die turbulente Regierungszeit Ferdinands von Ostenburg bis zu seinem Tod im Jahre 1474 …«

Sie legte die Unterlagenmappe auf den Fußboden, setzte sich mit angezogenen Beinen auf das Sofa, die Arme um die Knie gelegt. Es war totenstill im Raum. So saß sie eine Weile da, dann erhob sie sich und trat vor das Gemälde. Quis necavit equitem. Sie fuhr, ohne den Lack zu berühren, mit dem Finger über jene Stelle, wo sich unter mehreren Schichten grünen Pigments, mit dem Van Huys das Tischtuch gemalt hatte, die verborgene Inschrift befand. Wer tötete den Ritter? Durch die von Álvaro gelieferten Daten hatte die geheime Botschaft auf dem von der kleinen Lampe erhellten Bild plötzlich etwas Unheilvolles. Julia beugte sich vor, ging so nahe wie möglich heran an jenen RUTGIER AR. PREUX, Roger von Arras oder nicht, und sie war überzeugt: Die Inschrift bezog sich auf ihn. Ohne Zweifel eine Rätselfrage, und in alledem verwirrte sie besonders die Rolle des Schachspiels. Ein Spiel? Vielleicht war es ja wirklich nur ein Spiel.

Sie war so aufgeregt, wie wenn es galt, eine widerspenstige Firnisschicht mit dem Seziermesser zu entfernen. Sie verschränkte die Hände im Nacken, schloß die Augen, öffnete sie wieder, hatte das Antlitz des unbekannten Ritters vor sich, der über der Partie brütete, mit gerunzelter Braue, konzentriert. Er sah gut aus, bestimmt war er ein attraktiver Mann gewesen. Seine Züge waren edel, er hatte etwas Würdevolles, was der Künstler durch den Hintergrund des Bildes geschickt hervorgehoben hatte. Sein Haupt stand überdies trefflichst in Beziehung zu den sich kreuzenden Linien, die den Goldenen Schnitt markieren und das Figurenensemble des Bildes in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen – so hielten es die klassischen Maler seit Vitruvius …

Die Entdeckung ließ sie erschauern. Hätte Van Huys Herzog Ferdinand von Ostenburg hervorheben wollen, dem ja dem Range nach dieser Ehrenplatz zweifelsohne zustand, dann hätte er ihn in den goldenen Schnittpunkt gesetzt und nicht auf die linke Seite des Bildes. Dasselbe galt für Beatrix von Burgund, die hier sogar einen Platz im Hintergrund einnahm, am Fenster und rechter Hand. Man durfte also schließen, daß nicht das herzogliche Paar das Hauptmotiv dieses geheimnisvollen Schachspiels war, sondern RUTGIER AR. PREUX, bei dem es sich möglicherweise um Roger von Arras handelte. Doch Roger von Arras war zu dieser Zeit bereits tot.

Julia schritt vor eines der überquellenden Bücherregale. Sie spähte über die Schulter auf das Gemälde, gebannt, als befürchte sie, daß sich da irgend jemand bewegen könnte. Pieter Van Huys, verfluchter Kerl! dachte sie und sagte es fast laut, du wartest hier mit Rätseln auf, die einem noch fünfhundert Jahre später den Schlaf rauben. Sie griff nach Amparo Ibáñez' Geschichte der Kunst, der die flämische Malerei behandelt, und setzte sich wieder auf das Sofa zurück, das Buch auf dem Schoß. Van Huys, Pieter. Brüssel 1415 – Gent 1481 … Sie zündete sich die wer weiß wievielte Zigarette an.

»… Obwohl Van Huys die Stickerei, den Schmuck und den Marmor als Motive der höfischen Malerei nicht scheut, ist er im Wesen bürgerlich, das ist erkennbar am familiären Ambiente seiner Szenen und an seinem zuverlässigen Auge, dem nichts entgeht. Beeinflußt von Jan Van Eyck, vor allem aber von seinem Lehrer Robert Campin, deren Stile er geschickt verbindet, ist seine Weltsicht eine geruhsam flämische, bei heiterer Darstellung des Wirklichen. Dabei ist er stets auch dem Symbolhaften zugetan, für seine Bilder gibt es oft mehrere Interpretationsmöglichkeiten (die verschlossene Karaffe oder die Wandtür in Jungfrau in der Gebetskapelle suggerieren Marias Jungfräulichkeit; das Spiel der verschmelzenden Schatten im Heim der Familie des Lukas Bremer, etc.). Die Meisterschaft des Van Huys manifestiert sich in den mit scharfen Umrissen gezeichneten Personen und Gegenständen sowie in seiner regen Beschäftigung mit den drängendsten Problemen der Malerei jener Zeit, etwa dem plastischen Aufbau der Szenerie, dem ungebrochenen Kontrast zwischen häuslichem Halbdunkel und Taghelle, oder den Schatten, die immer anders sind, je nach dem Gegenstand, auf den sie fallen.

Erhaltene Werke: Bildnis des Goldschmieds Wilhelm Walhuus (1448), Metropolitan Museum, New York. Die Familie des Lukas Bremer (1452), Uffizien, Florenz. Jungfrau in der Gebetskapelle (ca. 1455), Museo del Prado, Madrid. Der Geldwechsler von Leuwen (1457), Privatsammlung, New York. Bildnis des Kaufmanns Matteo Conzini und Gemahlin (1458), Privatsammlung, Zürich. Das Retabel von Antwerpen (ca. 1461), Wiener Pinakothek. Ritter und Teufel