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Wie versteckst du dich, wenn alle hinsehen? Lea hat alles, was sie sich wünschen könnte: Als Tourmanagerin begleitet sie eine erfolgreiche Band quer durchs Land, hat Freundinnen, die immer zu ihr halten, und führt ein Leben, um das sie viele beneiden. Doch hinter ihrem Lachen verbirgt Lea schon lange ein Gefühl, das sie kaum erklären kann: Dass etwas falsch mit ihr ist. Dass ihr Körper zu viel Raum einnimmt. Und sie sich wie ein ungebetener Gast im eigenen Leben fühlt. Sie ist geübt darin, Scham, Schuldgefühle und Schmerzen zu verbergen – vor der Crew, vor ihren Freundinnen und vor Ben, einem Musiker, dessen Nähe sie sich mehr wünscht, als sie sich eingestehen will. Als eine schockierende Diagnose alles verändert und ein intimer Moment viral geht, steht Lea plötzlich ungewollt im Rampenlicht. Jetzt muss sie sich entscheiden: Weiter verstecken – oder den mutigsten Schritt ihres Lebens wagen und endlich zu sich selbst stehen?
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jana Crämer
Das große Comeback
Roman
Für dich
Als ich die Backstage betrat, schlug mir der Geruch von nassem Beton, altem Gaffa und süßlichem Deo entgegen, das jemand sehr großzügig als Raumspray zweckentfremdet hatte. Ich blieb einen Moment stehen. Nicht wegen der Luft. Sondern wegen der Mischung aus Chaos und Vertrautheit, die mich wie eine Umarmung traf, auf die ich nicht vorbereitet war.
Obwohl wir erst vor fünfundzwanzig Minuten angekommen waren, tobte um mich herum bereits der absolute Tourauftakt-Ausnahmezustand.
Ich sah mich um und stand mitten im kreativen Schlachtfeld. Auf der Couch: drei Gitarren. Lang ausgestreckt, als hätten sie den Raum längst für sich beansprucht. Rechts vom runden Tisch in der Mitte glänzte ein fettiger Abdruck auf dem Boden. Pizza, eindeutig. Und der Sneaker-Abdruck darin? Größe 44. Wahrscheinlich Pauls.
Rucksäcke und Taschen lagen verteilt – vorzugsweise auf den wenigen Sitzgelegenheiten. Im Waschbecken auf der Toilette: ein durchweichtes Shirt, halb eingeweicht, halb vergessen.
Fehlte eigentlich nur noch ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen zu Hause«. Aber da sich mein Handy automatisch ins WLAN eingeloggt hatte, war es überflüssig. Wir waren zurück. Und wie bereits letztes Jahr klebte ich als erste Amtshandlung den aktuellen Tour-Sticker neben all die anderen an die Klotür – die längst wie ein stilles Gästebuch wirkte. Voller Erinnerungen an Bands, die längst weitergezogen waren – und an Abende, die hier trotzdem noch in den Wänden hingen.
Ich ließ den Blick durch den Raum wandern. Alles wirkte enger – voller, dichter, überladener als im letzten Jahr. Oder brauchte ich einfach nur mehr Platz? Ich sah zum Spiegel, der schräg an der Wand hing. Die braunen Haare hatte ich zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden, ein paar widerspenstige Wellen hatten sich am Ansatz gelöst. Der Stoff meines Shirts spannte über der Hüfte, dort, wo mein Körper am meisten forderte. Und obwohl ich die Jeans am Morgen noch als geht schon irgendwie abgesegnet hatte, zeigte mir der Spiegel die ungefilterte Wahrheit. Meine Wahrheit.
Eingepfercht zwischen gestapelten Cases versuchte ich, in meinem Kopf Platz zu schaffen für alles, was noch nicht erledigt war, aber dringend passieren musste: der Interviewtermin um 17:45 Uhr. Die zwei noch nicht beglichenen Hotelrechnungen. Ersatz für den Techniker, der am Tag zuvor abgesagt hatte. Und das Reel.
»Lea?«
Finn tauchte im Türrahmen auf – kurze Hose, Hoodie, Cap falsch rum, das sonnengebleichte, schulterlange Haar lockte sich im Nacken. Er sah aus wie aus einem Surferfilm gefallen und streckte mir mit großen, blauen Kulleraugen sein Handy entgegen: »Magst du’s bitte posten? Ich krieg das mit dem Text nicht so schön hin.«
Ich nahm es, reichte ihm stattdessen meins – und hätte schwören können, mein Dackelblick stand seinem in nichts nach. »Während du ’ne Story drüben auf der Bühne machst?«
Er grinste, zuckte mit den Schultern und atmete so schwer aus, als würde die Last der Welt auf seinen Schultern ruhen.
»Na, wenn’s denn sein muss.«
Ich lachte, obwohl meine Beine vom bloßen Stehen dumpf und stechend, wie unter Strom brannten. Als Finn zurück Richtung Bühne verschwunden war, überlegte ich kurz, eine Tasche vom Stuhl zu nehmen, um mir einen Sitzplatz zu verschaffen, ließ mich aber doch nur langsam in die Hocke sinken. Der Druck verlagerte sich, zog tiefer, schmerzte auf neue Weise. Aber für einen Moment fühlte sich genau das wie Erleichterung an. Ich atmete durch, öffnete Instagram und finalisierte das Reel.
Obwohl ich’s ein bisschen eklig fand, bewegte ich meine Füße, um zu spüren, wie sehr mich der Boden festhielt. Wenn es noch »Wetten, dass …?« geben würde, wäre meine Wette gewesen, die Konzert-Locations in Deutschland anhand ihrer Fußbodenklebkraft auseinanderzuhalten.
Ich schaute zurück aufs Handy. Anfang wegschneiden. Text verlängern. Mit Emojis garnieren. Drei Hashtags raus, zwei neue rein. Dann ließ ich es noch mal durchlaufen:
Die Band beim Ankommen. Lichtwechsel. Rückblick. Proben-Videos der vergangenen Wochen. Finn am Mikro, Elias am Bass, Paul hinterm Keyboard. Übergang zum heutigen Tag mit einer kurzen Room Tour durch den vierzehn Meter langen Nightliner, mit dem wir die kommenden Wochen unterwegs waren. Dann der Schwenk vom silbernen Doppeldecker mit seinen sechzehn Schlafkojen rüber auf die Location, schließlich ein Zoom aufs Schild »Ausverkauft«. Als Abspann der Bühnenaufbau im Zeitraffer mit den restlichen Tourdates.
Mein Herz schlug schneller, obwohl ich nur tippte. Ich liebte dieses Gefühl, die Fans mit den Videos ein bisschen am Backstage-Leben teilhaben zu lassen, ihnen so den Blick hinter die Kulissen zu schenken, der sie näher dran sein ließ. Ich zeigte ihnen immer genau das, was ich früher von meiner Lieblingsband hätte sehen wollen.
Nachdem ich das Reel gepostet hatte, teilte ich es noch in der Story. Keine fünf Sekunden später erschien bereits der erste Kommentar aus der Community:
Wen treffe ich denn dieses Jahr alles auf Tour wieder?
Von jemand anderem kam als Antwort zurück:
Bin heute Abend dabei, wir stehen schon draussen und warten auf den Einlass. Die Band ist schon im Club. Treffen wir uns in der ersten Reihe?
Ich schmunzelte und merkte, wie sich meine Schultern entspannten. Das war das Schönste: wenn sich die Fans untereinander verabredeten. Man musste sich nicht persönlich kennen, um miteinander verbunden zu sein und sich für zwei Stunden gemeinsam in der Musik zu verlieren.
So wie früher Jule, Sophie und ich, wenn wir zu unserer Lieblingsband fuhren. Das war immer meine Auszeit, meine Flucht aus der Realität. Und wenn ich damals in der ersten Reihe stand, von der alles durchdringenden Druckwelle des Basses eingenommen wurde und die Texte besser auswendig konnte als der Sänger – dann hatten meine Gedanken für einen Abend einfach keine Zeit, sich Sorgen zu machen.
Plötzlich las ich es:
Wer ist die Dicke rechts im Bild?
Mein Finger blieb über dem Bildschirm stehen, dann klickte ich aufs Reel und ließ es noch einmal durchlaufen, kniff die Augen zusammen, damit mir ja keine Szene entging. Mist, das war mir durchgerutscht. Es war nur ein Frame. Ganz am Ende des Videos. Ich saß in der Ecke, halb im Bild, halb hinter einem Case.
Ich löschte den Kommentar, blockierte den anonymen Account, aber das Wort blieb. Wie ein Fleck auf weißem Stoff, den nur ich sehen konnte.
Aus dem Club drang gedämpft Musik nach draußen. Irgendein Popklassiker aus der Umbau-Playlist, wahrscheinlich aus einem dieser 00er-Jahre-Mutmach-Alben, die nie ganz verschwanden. You are beautiful, no matter what they say. Ich hörte die Worte und fühlte – gar nichts. Nur ein kurzes Aufblitzen von Absurdität, das mich innerlich die Augen verdrehen ließ, während ich weiter durch die Kommentare scrollte.
Als ein paar Stagehands, die beim Ausladen und Aufbau mit angepackt hatten, reinkamen, schaute ich auf. Sie grüßten kurz, ehe sie sich Getränke aus dem prall gefüllten Kühlschrank, der hinten links in der Ecke neben dem Fenster stand, nahmen.
Ich stand auf, zog mein Shirt glatt – und sofort war er wieder da: Der Schmerz, der sich in meine Oberschenkel schob wie Luft in eine verklebte Luftmatratze. Langsam. Widerständig. Falsch. Ich lehnte mich unauffällig gegen die Wand und versuchte, das Gewicht von den Fersen zu nehmen, ohne dass es jemand bemerkte. Meine Beine fühlten sich wieder so unbeschreiblich schwer an, als hätte sie jemand mit Blei gefüllt. Ja, als hätte mein Körper etwas gespeichert, was nicht dorthin gehörte, aber sich weigerte, wieder zu gehen. Ich wusste nicht mehr genau, wann es angefangen hatte, ich wusste nur, dass es von Monat zu Monat schlimmer wurde.
Ich atmete tief durch, schnappte mir mein Clipboard vom Case, das ich selbst dort hingelegt und prompt wieder vergessen hatte, und arbeitete mich durch die Setlist, die Lichtstimmungen, den Technikplan, die Presseanfragen, die Fotopässe und die Gästeliste, die mal wieder viel zu lang war. Wie immer.
Jede Zeile ein Haken. Jeder Haken ein bisschen Kontrolle.
Und Kontrolle war jetzt das Einzige, was mir nicht entglitt.
Von draußen vibrierte der Bass durch den Beton – Soundcheck.
Die Band war schon auf der Bühne, ausnahmsweise bereits vor dem Support Act, da der noch im Stau stand. Doch, bislang kamen da drüben alle prima klar, auch ohne mich. Ich liebte das. Wenn Dinge funktionierten, weil ich vorher mitgedacht hatte. Wenn niemand mich brauchte, weil ich längst alles geklärt hatte. Wenn alles lief – aber nicht über mich hinweg. Ich hörte, wie sie Muse anspielten, und musste lächeln. Starlight war schon seit Jahren irgendwie Teil des Ablaufs, und noch mehr Teil des gemeinsamen Ankommens auf der Bühne geworden. Far away – This ship is taking me far away – Far away from the memories – Of the people who care if I live or die …
Ich verlor mich gerade im Text, als ein Gitarren-Case an meiner Schulter vorbeischrammte. Ich wich zur Seite, sagte reflexhaft »Sorry«, obwohl ich gar nicht im Weg war.
Hinter dem Case tauchte der Support Act auf. Groß, bestimmt eins neunzig. Er trug ein weites, weißes Shirt, das bei kleineren Männern schlabberig gewirkt hätte, aber bei ihm genau richtig fiel. Die braunen Haare wuschelig, die Brille leicht beschlagen vom Wechsel zwischen draußen und drinnen. Gitarre über der Schulter, Rucksack auf dem Rücken, filigranes Federtattoo über die komplette Länge des Unterarms und ein Blick, der kurz zu mir wanderte, bevor er weiterging. Ich erkannte ihn, obwohl er in seinem Video, mit dem er den Contest gewonnen hatte, die Haare noch länger getragen hatte. Er war allein, ohne Crew, ohne Begleitung.
»Hi«, murmelte er, »sorry, dass ich zu spät bin.« Dann blieb er doch noch mal stehen, reichte mir die Hand. »Ich bin Batomae. Also … David eigentlich. Danke, dass ich mitdarf.«
Ich schüttelte seine Hand. Sein Griff war fest, aber nicht zu fest. Der Blick direkt, aber nicht unangenehm.
»Hi. Ich bin Lea. Vom Management.« Ich zeigte auf mein Klemmbrett, als wäre das Erklärung genug.
Er nickte. »War echt Stau. Ich beeil mich. Sorry!«
Ich schaute auf die Uhr und vielleicht hob ich die Augenbraue. Vielleicht auch nicht. Er war zu spät, hatte dadurch den kompletten Ablauf durcheinandergebracht, und trotzdem rutschte mein inneres Genervt-Sein weg, weil seine Entschuldigung ehrlich war und er diese leise, freundliche Art hatte, die keine Angriffsfläche bot.
Er war als Support Act für die ganze Tour dabei. Ein großes Plattenlabel, das für ihn ein Buy-in zahlte, hatte er nicht im Rücken, aber er hatte diesen TikTok-Contest gewonnen – und danach das Fan-Voting, das ihn völlig überraschend an deutlich größeren Namen vorbeigeschoben hatte.
Ich spürte ihn noch, lange nachdem er im Gang zur Bühne verschwunden war. Wie man Musik spürt, die längst aufgehört hat zu spielen. Ganz leise. Aber überall. Keine Ahnung, warum mich dieser Moment so aus dem Tritt brachte. Vielleicht, weil er nicht versucht hatte, besonders nett zu sein. Oder weil er’s trotzdem war.
Der Bass verstummte, der nächste Titel wurde angespielt. Ein Roadie aus der Crew, der mit jemandem aus der Halle über Funk kommunizierte, hob kurz die Hand als Zeichen für den letzten Durchlauf, bevor er sich weiter ein halbes Brötchen mit Salami und Käse belegte.
Ich machte zwei Schritte zur Seite, lehnte mich mit dem Knie leicht an die Couch neben dem Kühlschrank und tat so, als müsste ich etwas auf dem Clipboard notieren, obwohl ich in Wahrheit nur kurz etwas zum Festhalten brauchte. Einen kurzen Moment für mich.
Irgendwann ging ich los. Nicht weil ich musste, sondern weil Stehen schlimmer war als Laufen. Mein Gang war fest eingeübt.
Zielgerichtet. Leicht nach vorn gebeugt. So sah man nicht, wie schwer meine Schritte waren. So sah man nicht, wie ich jede Treppenstufe innerlich verhandelte. So sah man gar nichts. Zumindest hoffte ich das.
Im Flur zum Produktionsbüro standen zwei Cases nebeneinander, auf die jemand »NICHT HINSETZEN« geschrieben hatte. Ich prüfte kurz, ob das linke mein Gewicht hielt, und setzte mich trotz Schild. Die Erleichterung in meinen Beinen kam wie immer mit einem Tropfen Schuldgefühl. Als hätte ich mir diese Pause erschlichen.
Ich scrollte durch die Reaktionen auf das Reel, spürte die Angst vor neuen Gemeinheiten, las aber nur Schönes.
Gänsehaut!
Ich wein jetzt schon!
Endlich wieder live!
Ich öffnete die Startseite, ließ mich durch den Feed mit den von mir abonnierten Hashtags treiben – und dann blieb ich hängen. Ein Screenshot. Von mir. Er zeigte den letzten Frame aus dem eben von mir auf dem Band-Account geposteten Reel. Ich, halb im Bild, halb hinter dem Gitarren-Case. Geteilt von einem Account, dessen Nutzer sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, einen Namen anzugeben. Aber das Profilbild zeigte sie: Caro. Mit diesem Blick, den ich sofort unter der Haut spürte. Diese Mischung aus Spott und Genugtuung, die sich eingebrannt hatte.
Seit sie mir die Schulzeit zur Hölle gemacht hatte, verfolgte sie mich in meinen Träumen – leise, zielsicher, gnadenlos. Mein Abi war etwas über drei Jahre her und trotzdem war ich auch in den Jahren danach immer mal wieder schweißgebadet aufgewacht. Ich wusste genau: Das hier war kein Zufall. Sie war nie wirklich weg gewesen. Sie hatte nur auf ihren Moment gewartet.
Mein Magen zog sich zusammen, als hätte jemand eine unsichtbare Falltür unter mir geöffnet. Mein Handy wurde schwer in der Hand, die Luft in der Backstage fühlte sich plötzlich zu dick zum Atmen an.
Ich schluckte, schaute erneut auf den Post, las ihren Text dazu:
Immer noch zu viel für ein Bild.
Ich klickte auf das Profilbild, kam auf ihren Account. Gleiche Ästhetik wie früher. Filter. Sprüche. Und in der Bio:
Wer sich zeigt, muss damit rechnen.
Ich legte das Handy weg. Nicht weil es ohne besser wurde, sondern weil ich wusste, dass es sonst nur noch schlimmer werden würde.
Ich spürte den Puls in den Beinen. Kein richtiger Herzschlag – eher ein unregelmäßiges Flackern. Dumpf. Träge. Wie Licht, das nicht mehr wusste, ob es an oder aus sein sollte. Langsam lehnte ich mich etwas zurück. Nicht demonstrativ, nicht sichtbar. Nur ein paar Zentimeter. Gerade so, dass mein Rücken die Wand berührte. Sie war rau. Kühl. Ein Kontrast zu der Hitze, die unter meiner Haut saß, als hätte sie sich dort eingemietet. Ich schloss kurz die Augen. Hörte, wie drüben jemand lachte. Nicht meinetwegen. Nicht über mich. Einfach so. Hoffte ich zumindest.
Draußen auf der Bühne knackte es in den Boxen. Unangenehm – aber die Techniker bekamen das hin. Taten sie immer. Ich schaute mich um, weil da plötzlich dieser Geruch war: Eine Mischung aus Apfelschorle, Staub und Vanille-Shampoo. Unsere Svenja, meine gute Seele in all dem Chaos. Kommen hörte man sie nie, aber im richtigen Moment war sie da. Jetzt stand sie mit einem Tablett in der einen und einem Apfelstück in der anderen Hand vor mir. Ihre knallrote Bob-Frisur saß wie immer perfekt, als hätte sie auch mit Windböen eine Abmachung. Jeans, blaue Adidas-Trainingsjacke, schnelle Schritte. Ganz so, als wäre sie schon beim Nächsten, bevor das Vorherige ganz erledigt war.
Seit zwei Jahren sorgte sie dafür, dass unsere komplette Travelparty immer genug Energie hatte. Mit bis zu sechzehn Leuten waren wir für die Shows unterwegs und alle wurden dank Svenja satt. Sie zauberte warme Pasta, kalte Wraps, frische Obstteller und kleine Aufmerksamkeiten. Ich beobachtete sie gerne, wenn sie überall umherwirbelte, beim Servieren noch schnell einen halben Wrap im Mund verschwinden ließ oder ein Stück Brownie mit der Gabel abkniff. Sie tat das mit einem Schulterzucken, das alles erklärte. »Qualitätskontrolle«, sagte sie dann fast beiläufig mit halb vollem Mund. Und niemand zweifelte es an.
Wenn irgendwann alle gegessen hatten, streifte sie durch die Backstage wie durch ihre eigene Küche. Schob Brotkörbe zurecht, füllte Wasser nach – und sobald alles geschafft war, war sie meine rechte Hand. Nicht offiziell, aber immer genau dann, wenn ich jemanden brauchte, der keine Fragen stellte, sondern Aufgaben sah und mit anpackte. Svenja hatte eh dieses Talent, Dinge richtig zu tun, bevor man sie überhaupt dachte. Seit dem Beginn der finalen Durchlaufproben in der letzten Woche hatte sie angefangen, mir jeden Abend einen Salat ohne Dressing an den Rand des Büfetts zu stellen. Immer der gleiche weiße Teller, immer leicht abgedeckt mit einer Papierserviette. Ich hatte sie nicht darum gebeten und das musste ich auch nicht.
Salat ohne Dressing war perfekt. Viel Masse, kaum Kalorien. Ich dachte drüber nach und konnte mich trotzdem nicht dran erinnern, wann ich das letzte Mal bewusst etwas gegessen hatte. Nicht nur so hastig nebenbei, zwischen zwei Merchandise-Entwürfen, mit einem halben Gedanken bei der nächsten Mail und dem anderen bei der Frage, ob ich dran gedacht hatte, das Team vom Plattenlabel auf die Gästeliste für den Abend zu setzen. Nicht versteckt im Nightliner, zwischen zwei Regalen, mit einem Proteinriegel in der linken Hand und dem Gefühl, dass jeder Bissen zu laut klingt. Nicht als Belohnung. Nicht als Strafe. Einfach nur so. Irgendwann hatte ich aufgehört zu essen, wenn ich hungrig war, und stattdessen angefangen, es aufzuschieben, zu verdienen, wegzuschieben. So lange, bis mein Körper sich das holte, was ich ihm vorher genommen hatte – zu falschen Zeiten, zu viel, zu schnell. Danach war ich leer und gleichzeitig zu voll. Es war immer zu viel und doch nie genug.
Ich erinnerte mich an ein großes Festival letztes Jahr. Veganes Catering, gebratene Reisnudeln mit frischer Minze. Alle hatten geschwärmt. Ich auch, obwohl ich gar nichts gegessen hatte. Und manchmal fragte ich mich, wie viele Mahlzeiten ich verpasst hatte. Nicht weil ich keinen Hunger hatte, sondern weil ich kein Recht darauf spürte. Weil ich dachte, mein Körper hätte kein Recht auf Genuss, bevor er sich endlich verändert. Bevor er endlich normal war. Ich wusste, dass das Quatsch war. Wirklich. Vom Kopf her wusste ich das. Aber mein Kopf war in solchen Momenten nur ein stiller Zuschauer mit Klemmbrett, der Striche machte, wenn ich versagte.
Ich zog die Knie etwas an, spürte das Ziehen in der Leistengegend und sagte mir, dass ich später etwas essen würde. Nach meinem Salat. Vielleicht einen Apfel, oder diesen glutenfreien Schokoriegel mit Koffein, der irgendwo in der Vordertasche meines Rucksacks war. Irgendwas, das sich eher nach Pflicht anfühlte. Nicht nach Lust. Ich wusste nicht mal mehr, wie Lust schmeckte. Nur noch, wie Scham nachhallte.
Irgendwo lief Musik, vielleicht im Technikraum. Ich habe einen Schatz gefunden und er trägt deinen Namen. Ich hörte den Satz und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen wollte. Vielleicht beides. Vermutlich war genau das mein Problem – dass ich nie wusste, ob mein Körper etwas Wertvolles war oder nur ein Gewicht, das ich mitschleppte.
Ich stand langsam auf und es fühlte sich an, als müsste mein Körper erst prüfen, ob ich es ernst meine mit diesem Aufbruch.
Die Oberschenkel protestierten sofort – wie immer in letzter Zeit –, aber ich zwang sie zu einem Schritt. Dann zu noch einem. Ich ließ das Clipboard auf dem Case liegen, das Handy in der Gesäßtasche, als wäre ich jemand, der sich nur mal kurz umsieht. Nicht jemand, der vor sich selbst flieht. Nicht jemand, der sich zusammenreißt, weil alles andere auseinanderfällt.
Die Tür zum Clubraum war nur einen Flur entfernt. Ein schmaler Gang, überladen mit Technik – die Kabel liefen wie schwarze Schlangen an den Wänden entlang und über mir hingen Scheinwerfer, noch ausgeschaltet. Nur jetzt wirkten sie harmlos. Später würden sie Gesichter beleuchten und Schatten werfen, und ich wusste nie, wo ich dann stehen würde. Ich drückte die Tür auf. Ein dumpfer Ton empfing mich. Nicht laut. Noch nicht. Aber er war da – wie ein ruhender Muskel, der gleich zucken würde.
Der große Club, in den locker zwölfhundert Fans passten, lag fast still. Nur ein paar Techniker, die durcheinander über Funk sprachen, verloren sich in der Weite. Oben auf der Galerie stand der Lichtmann. Und dort – auf der Bühne: er. Batomae. Die Gitarre umgehängt, eine Kette baumelte über dem Kragen seines Polo-Shirts, die Haare zerzaust, der Blick konzentriert. Er sprach mit jemandem am Mischpult, zeigte auf seinen Monitor, dann auf seine In-Ears. Ich blieb in der Schattenzone des Raumes stehen. So, dass er mich nicht sah. So, wie ich es am besten konnte. Irgendwo stehen, um nicht aufzufallen.
Ich beobachtete ihn, er machte keine großen Bewegungen. Keine Rockstar-Posen. Er war einfach da. Unaufgeregt und ruhig. Und irgendwie … ganz. Diese Art von Präsenz konnte man nicht trainieren. Er spielte eine Akkordfolge an, stoppte, stimmte die Gitarre nach. Die Töne waren noch nicht schön. Noch nicht rund, aber sie hatten diese Art von Anfang. Wie Rohbau. Wie jemand, der nicht performt – sondern ehrlich sein will. Ich mochte das. Leise trat ich einen halben Schritt näher an den Bühnenrand und war froh, dass der Boden nicht knarrte. Im Unsichtbar-Sein war ich wirklich gut und spürte, wie sich mein Herzschlag dem Takt anpasste, den er da vorne noch gar nicht richtig gefunden hatte. Er spielte die Akkordfolge noch einmal. Wie jemand, der prüft, ob der Ton jetzt hält, dann stoppte er, hielt inne. – Nicht abrupt. Eher so, als hätte sich etwas in der Luft verschoben. Er sah nicht zu mir, aber sein Kopf hob sich leicht. Der Blick blieb auf die Monitorbox gerichtet, doch seine Schultern spannten sich ein wenig. Wie bei jemandem, der plötzlich weiß, dass er nicht mehr allein ist. Obwohl noch keiner was gesagt hat. Dann drehte er sich zu mir. Nicht ganz, aber zu deutlich für eine zufällige Bewegung, und rief mit dieser ruhigen Stimme, die nicht mehr fragte als nötig: »Braucht ihr die Bühne – oder kann ich noch kurz was checken?«
Ich erschrak nicht. Aber ich atmete zu spät ein und mein Herzschlag war plötzlich zu laut in meinem eigenen Brustkorb. Ich überlegte, ob ich was sagen sollte. Ob ich einfach verschwinden sollte.
»Nee«, antwortete ich. »Ich … ich wollte nur kurz schauen. Wir haben Zeit. Mach ganz in Ruhe.« Meine Stimme klang nach zu wenig Schlaf und zu viel Funktionieren. Er nickte. Nur ein kurzes, klares Nicken.
Als hätte ich mehr gesagt, als ich selbst wusste. Dann wandte er sich wieder der Gitarre zu. Justierte etwas am Kabel, zupfte an der tiefsten Saite. Der Ton schob sich durch den Raum – weich, dunkel. Und ich hatte das Gefühl, dass da mehr mitschwang als nur ein Soundcheck.
Das Handy vibrierte in meiner Gesäßtasche. Nicht schrill. Nicht fordernd. Nur dieses kurze, stumme Vibrieren, das sich wie ein kleiner Riss durch den Moment zog. Ich zog es raus. Ein Pop-up. WhatsApp. Gruppe: Die Mädels aus der 1. Reihe.
Der Name war noch immer derselbe wie früher. So wie wir. Irgendwie.
Sophie:
Ich hab’ grad ’ne halbe Avocado mit Zitrone gegessen. Nur Avocado. Nur Zitrone. Ich will bitte eine Medaille dafür.
Jule:
Ich hab’ gerade ein Glas Nutella gegessen. Mit dem Löffel. Direkt aus’m Glas. Wer ist jetzt stärker?
Ich grinste. Nicht doll. Nur so, dass sich etwas in den Schultern löste und schrieb:
Ich hab’ heute noch gar nichts gegessen. Aber ich wurde online für meine Existenz beleidigt. Zählt das auch?
Zwei Sekunden später: Doppelhäkchen. Gelesen.
Jule:
Wer? Ich hau ihn. Oder sie. Oder es.
Sophie:
Gib Namen. Gib Adresse. Gib mir fünf Minuten.
Ich schluckte. Nicht weil ich weinen musste, eher weil ich wusste: Die würden das wirklich tun.
Ich tippte:
Ist okay. Ich bin okay.
Und dann löschte ich den Satz wieder. Was für ein Quatsch. Ich war überhaupt nicht okay, aber ich wollte auch kein Drama. Ich wollte einfach nur, dass sie da sind.
Ich schrieb stattdessen:
Ihr seid meine Avocado auf Nutella.
Jule schickte ein Sprachmemo zurück, auf dem sie lachte wie früher. Dieses hohe, fast bellende Lachen, das immer ein bisschen wie ein kleiner Unfall klang – aber nie wehtat.
Sophie fügte ein Herz ein. Schwarz. Unser Symbol. Für: Ich seh dich. Auch wenn du dich gerade nicht sehen kannst.
Ich steckte das Handy zurück in die Tasche, Batomae spielte einen neuen Akkord und plötzlich klang er wie der Anfang von etwas, das ich nicht erklären konnte. Mein Handy vibrierte erneut. Presse. Die Erinnerung ans Interview in fünfzehn Minuten.
Ich ließ die Clubtür hinter mir zufallen und war fast ein bisschen traurig, dass ich ihm nicht noch weiter zuhören konnte. Aber er vibrierte noch kurz in mir nach. Wie ein letzter Sonnenstrahl auf der Haut, wenn man schon im Schatten steht.
Auf dem Weg zurück in die Backstage begegnete mir Svenja – kauend, zwei Wraps in der Hand, ein Klemmbrett unter dem Arm.
»Euer Interviewpartner ist da und bereitet alles vor. Die Band chillt hinten bei den Sofas. Kamera ist schon ready«, verstand ich, obwohl sie den Mund voll hatte und schief grinste. Ich nickte. »Danke dir. Und bitte – keine Erdnüsse in der Backstage. Das hatten wir abgesprochen. Wir haben keinen Time-Slot für Krankenhaus nach Allergieschock.«
Svenja grinste und kniff ein Auge zu. »Schon auf dem Weg.«
Ich lächelte nickend, atmete durch, richtete mein Shirt, glättete den Tages-Schedule, der längst knittrig war, weil ich ihn bestimmt achtmal ein- und wieder ausgepackt hatte. Aber er war mein heiliger Zettel, auf dem alles stand: Bus-Call, Soundcheck, Interview-Slot, Dinner – mein ganzer Tag auf einer DIN-A4-Seite.
Zehn Schritte später stand ich in der Ecke. Beobachtungsposition. Die Kamera war zu groß für den kleinen Raum. Zwei Scheinwerfer. Ein halbes Set. Die Band saß locker verteilt auf dem größten Sofa, Paul mit einer Limo in der Hand, Elias mit tief in die Stirn gezogener Kapuze und Finn im Schneidersitz, wie immer barfuß. Finn schien die anderen gerade davon überzeugen zu wollen, dass es doch genial wäre, wenn sie ein kleines Medley ihrer eigenen Lieblingskünstler in die Show einbauen würden. Johannes Oerding, Philipp Poisel, Wincent Weiss, Florian Künstler und Sophia. Er spielte der Reihe nach seine Lieblingssongs an und dann traf mich Nina Chubas Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel – Ich hab’ Hunger, also nehm’ ich mir alles vom Büfett wie aus dem Nichts.Aber ehe mein Kopf den Text zu wörtlich nahm und sich selbst am Büfett aufstellte, meldete sich die Realität zurück – mit Bart, Laptop und unsicherem Lächeln. Der Interviewer war wirklich jung. Extrem jung. Frisch gestylter Bart, die Aura von: gestern noch Snapchat, heute Journalismus. Den Laptop hatte er auf den Knien, die Tastatur malträtierte er mit der Zwei-Finger-Taktik – als hätte ihm nie jemand gesagt, dass man mehr benutzen dürfte. Ich lächelte höflich, trat vor.
»Hi, freut mich, ich bin Lea vom Management. Ich gebe dir gern kurz den Rahmen, damit es keine Missverständnisse gibt.«
Er schaute vom Bildschirm hoch, schien von meinem Anblick irritiert zu sein, legte aber den Laptop demonstrativ zur Seite, stand in einer fließenden Bewegung auf und reichte mir die Hand. Sie war trocken. Gut. Ich hasste schwitzige Interviewerhände.
»Klar, Lea. Hab’ nur ein paar lockere Fragen. Dies. Das. Aber darf ja auch bisschen unterhaltsam sein, oder?«
»Absolut«, entgegnete ich. »Solange es nicht auf Kosten der Künstler geht.«
Er nickte und ich beobachtete, wie er auf seinem Display runterscrollte. Ein Stichwort blinkte auf: Beziehungsstatus?
Ich beugte mich vor, deutete darauf.
»Bitte nicht. Auch nicht spaßig. Auch nicht am Ende. Wir spielen hier Musik, keine Privatleben. Okay?«
Meine Stimme war ruhig und freundlich. Aber dennoch so, dass man sie nicht überhörte. Als er den Punkt ganz ohne Widerworte löschte, begann ich, ihn ein bisschen zu mögen.
»Ton läuft in drei Minuten«, rief jemand.
Ich checkte, ob einer der Jungs im Gesicht glänzte und noch kurz hätte abgepudert werden müssen, nickte aber nur der Band zu, weil alles passte. Elias, der an diesem Tag auffällig dunklen Kajal um die Augen trug, zeigte mir versteckt einen Daumen nach oben, der mit zwei silbernen Ringen geschmückt war. Paul zwinkerte in seiner ruhigen, fast kuschelbärigen Art und Finn formte wortlos: Danke. Ehe sich sein Mund zu einem strahlenden Lächeln in Richtung der Kamera verzog. Sie wussten, dass ich da war. Nicht auf der Bühne, aber dahinter.
Kaum war das Interview im Kasten und die Kamera aus, löste sich die Band auf wie Zucker im Tee. Elias verschwand mit einem knappen »Ich brauch kurz frische Luft«, Finn tanzte rückwärts Richtung Kühlschrank, Paul blätterte durch den Fragenkatalog, als würde er ihn nachträglich benoten. Ich blieb kurz stehen. Atmete aus. Dann drehte ich mich um und ging zum Essensbereich. Svenja hatte wieder ordentlich aufgetischt: Wraps – vegan und nicht vegan, Nudelsalat mit getrockneten Tomaten, Mini-Kartoffeln, Baguette, zwei Dips, eine riesige Schüssel Obst. Daneben eine kleine Notiz:
Alles erdnussfrei. Versprochen. :)
– Svenja
Ich musste lächeln und betrachtete noch mal die Auswahl. Es sah wirklich unglaublich gut aus, roch fast noch besser und mein Magen knurrte. Seit Stunden. Aber mein Kopf war lauter. Er rechnete. Was er in der Schule in Mathe konsequent verweigert hatte, holte er nach, als müsste er irgendwem beweisen, dass er es draufhatte.
Wrap plus Dip: locker 600 Kalorien. Nudelsalat: Öl, Zucker, Bauchweh. 400 Kalorien, vielleicht mehr. Baguette: Weizen. Frisst sich fest. 350 Kalorien. Obst? Fruchtzucker, zwar schnell verdaut – aber trotzdem zu süß. Kartoffeln? Die gehen. Vielleicht. 180 Kalorien? So irgendwas um den Dreh, weniger, wenn ich das Öl abtupfe. Oder ich nahm nur zwei zu meinem Salat. Ich zählte Nährwerte wie früher Lieblingslieder. Und wurde traurig, weil ich beim Essen schon lange nichts mehr schmeckte – nur noch Bilanz zog.
Elias legte das Handy auf den Tisch, denn er konnte es nicht ertragen, wenn er beim Essen die Schmatzgeräusche der anderen hören musste. Also ließ er Musik laufen. Sie war leise genug, um Gespräche nicht zu stören, aber klar genug, dass ich den Text verstehen konnte. Du bist der Endgegner, dem ich gegenübersteh – Die größte und die schwerste Prüfung auf meinem Weg. Dass jemand seinen Text auf Essen beziehen könnte, hätte sich Adel Tawil wohl auch nie träumen lassen. Ich verlor mich weiter in seinen Zeilen und als er Morgen komm ich mit ’nem neuen Plan, änder meine Strategie sang, klang das wie die Antwort auf meine Gedanken. Also nahm ich gar nichts, bewahrte meinen Salat wie geplant als Belohnung für nach der Show auf, stellte mich stattdessen neben den Tisch, und tat, als müsste ich koordinieren. Als wäre ich nicht hungrig, sondern wichtig, und sah zu, wie sich alle nahmen, was sie wollten.
Ohne Zählen.
Ohne Schuld.
Ohne Spiegel.
Als sich die Runde langsam auflöste, ging ich Richtung Einlass. Ich hörte es, bevor ich es sah. Ein dumpfes Grollen, gedämpft durch Türen, Wände, Sicherheitsschleusen. Es war kein Lärm. Nein, es war Bewegung. Es war Erwartung in Form von Stimmen, Füßen, Herzschlägen. Svenja kam an mir vorbei, diesmal ohne Wraps, dafür mit Headset.
»Wir sind auf Position. Türen zur Halle gehen in dreißig Sekunden auf.«
Ich nickte, obwohl mich niemand gefragt hatte. Mein Körper wusste längst, was dann kam. Die Aufregung saß mir im Nacken – warm, flirrend. Ich fuhr mir durchs Haar, strich vorne den Shirtstoff glatt, obwohl er hinten längst wieder an meinem Rücken klebte. Egal.
Ich stieg die Treppe hinter der Bühne hinauf, langsam, Stufe für Stufe – wie ein Countdown, den nur ich hörte. Hinter dem Vorhang blieb ich stehen: Lugte durch eine schmale Lücke, von der aus ich den Publikumsbereich sehen konnte. Noch leer. Noch ruhig. Die Fläche vor der Bühne war eine Art ungestimmter Klangkörper – stumm, aber auf Spannung.
Dahinter: der Vorraum. Bodentiefe Glasscheiben trennten ihn ab. Licht von außen, grell, funktional. Zu nüchtern für Gänsehaut, zu praktisch für Magie. Aber perfekt für den Merch.
Ich hatte für diese Tour neben den klassischen Bandmotiven auch Shirts mit dem Aufdruck »Das Mädchen aus der 1. Reihe« vorgeschlagen. Die Jungs waren zwar erst skeptisch gewesen, da man sie dann ja schließlich auch bei jeder anderen Band tragen konnte, hatten aber letztendlich doch zugestimmt. Finn glaubte laut Elias inzwischen sogar, es sei eigentlich seine geniale Idee gewesen und kassierte mit breiten Schultern Lob vom Plattenlabel. War mir egal, und eigentlich fand ich’s sogar ziemlich süß. Die Fans liebten das Design und ich liebte, wie sie dieses Statement, das es inzwischen sogar als eigene Kollektion in verschiedenen Farben und Schnitten gab, mit ihrem Leben und eigenen Erinnerungen füllten.
Ich konnte sie von meinem Versteck aus beobachten: Kleine Gruppen, die sich zu Fahrgemeinschaften zusammengeschlossen hatten. Andere waren allein gekommen. Ein Mädchen saß oben auf den Schultern ihres Freundes mit Glitzerschminke im Gesicht. Davor standen zwei ganz junge, die versuchten, möglichst cool zu bleiben, obwohl man ihnen deutlich ansah, dass es ihr erstes Konzert war. Die Eltern daneben wirkten so herrlich deplatziert, aber nicht weniger aufgeregt. Und ganz außen – eine Mutter mit Teenie-Tochter, beide mit leuchtenden Augen.
Dann gab die Security das Zeichen und: Klick. Die Glastüren sprangen auf und es war da, dieses Geräusch, das kein Wort kennt: Wenn Menschen nicht nur Räume füllen, sondern sich in sie hineinschieben mit allem, was sie die letzten Monate getragen hatte: Sehnsucht. Hoffnung. Laut sein dürfen. Verrückt, verloren sein und sich wiederfinden im gleichen Refrain. Langsam ging ich die Treppe wieder runter, erst durch die Backstage, dann durch den Publikumsbereich, der sich füllte wie ein Glas unter einem sprudelnden Wasserhahn – eben noch unmerklich, jetzt plötzlich voller Leben. Ich wollte die Energie spüren, Teil von alldem sein und mich für einen Moment in dem Gewusel und der Vorfreude verlieren.
Die ersten Reihen waren schon belegt von denen, die Stunden vorher losgefahren waren, um keinen Moment zu verpassen, die wussten, wo man stehen musste, um später gesehen zu werden, um angesungen zu werden, um vielleicht ein einziges Mal den Blick von Finn zu erwischen – oder wenigstens den seiner Kamera.
Ich spürte Blicke auf mir ruhen – freundlich, tastend, aber eben nicht sicher. Und ich fragte mich, ob sie mich erkannten, weil ich seit der ersten großen Tour dabei war, weil ich auf den Storys der Band manchmal im Hintergrund stand, weil ich bei den Danksagungen mit einem Vornamen erwähnt worden war – oder ob sie mich einfach nur anschauten, weil auf meinem Ausweis AAA stand. Access All Areas. – Ein sehr großes Privileg für jemanden, der an manchen Tagen nicht mal bis zu sich selbst durchkommt.
Ein Mädchen drehte sich um, sah mich an, tippte ihre Freundin an. Die flüsterte etwas, nickte dann, als hätten sie sich auf eine Vermutung geeinigt. Ich lächelte höflich, fast schon automatisch, so wie man es tut, wenn man nicht weiß, ob man gemeint ist – oder nur jemandem ähnlichsieht.
»Entschuldigung?« Ein Junge, vielleicht sechzehn, trat ein wenig näher, stellte sich aber so schräg, dass er noch Platz ließ zwischen uns.
»Weißt du, ob die Band nachher noch rauskommt? Für Fotos oder so?«
Ich nickte. »Meistens ja. Wenn’s zeitlich passt. Sie geben sich Mühe.«
Er strahlte mich an. »Cool. Danke.«
Mein Handy vibrierte.
Eine WhatsApp vom Einlass:
Bitte dringend zum Einlass kommen!!! Gästeliste stimmt nicht!!! Wir haben hier jemanden, der angeblich auf der Gästeliste stehen müsste …
Ich machte mich auf den Weg. Im Foyer war es zu hell. Zu viele Stimmen. Zu viele Fragen, die auf mich einprasselten, noch bevor ich den ersten Namen geprüft hatte. Jemand wedelte mit einem abgerissenen Ausdruck. Eine Mutter redete auf mich ein, dass ihre Tochter Geburtstag hätte und ob die Band nicht ein Ständchen singen könnte. Zwei von den örtlichen Veranstaltern winkten gleichzeitig, der eine für Strom, der andere für Einlassbänder. Ich nickte, sortierte, gab Anweisungen. Die Stimme in meinem Kopf zählte mit – wie bei einem Beat, den niemand hörte: drei To-dos, zwei Rückfragen, eine Beschwerde. Und weiter. Ein Blick auf die Uhr. Keine Zeit für Gedanken, wie viel ich gerade verpasste. Gleich waren die Jungs dran.
Als ich zurückkam, stand die Band schon im Kreis. Arme über Schultern, Köpfe gesenkt, die Stirn aneinander. Kein großes Ritual. Nur dieser kurze Moment, in dem alle dasselbe wollten. Dass es groß wird. Dass es lebt. Dass es sich lohnt.
Sie murmelten irgendwas, ich verstand es nicht. Aber ich spürte es. Die Energie. Das Pulsieren. Die Vorfreude. Ich stand ein paar Meter entfernt, mit verschränkten Armen, den Blick auf die Bühne gerichtet, aber innerlich nur ein paar Zentimeter daneben. Mein Magen erinnerte mich daran, dass ich den ganzen Tag über nichts gegessen hatte. Mal wieder nicht. Ich verdrängte es. Mal wieder gekonnt. Das Licht senkte sich und es war, als würde die Welt plötzlich den Atem anhalten, um bereit zu sein. Ich überprüfte, ob die Pressefotografen an den markierten Positionen standen – im Graben direkt vor der Bühne, gut sichtbar für die Band, aber mit klarer Regel:
Zwei Songs. Dann raus.
Nicht weil wir was gegen Fotos hatten – im Gegenteil. Aber ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn du den ganzen Abend in der ersten Reihe stehst, vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben wirklich vorne bist, und dann kommt jemand mit Objektiv und Ellbogen und nimmt dir diesen Anblick wieder weg. Den Anblick, für den du sieben Stunden draußen gestanden hast. Für den du extra gekommen bist. Für den du vielleicht sogar mutig warst.
Die Musik begann. Nicht zaghaft. Nicht als Frage. Sie war da – laut, druckvoll und so nah, dass sie durch Mark und Bein ging. Genauso, wie es sein sollte. Die Menge schob sich mit, sprang an, und ich spürte, wie sich ein Teil von mir kurz zurückzog, um Platz zu machen für all das, was jetzt explodieren durfte. Ich stand im Schatten des Technikbereichs, ein wenig abseits, und da war dieser Moment von Erleichterung, wenn man weiß, dass alles läuft, dass sich der ganze Stress wirklich gelohnt hat. Es war ein absolut perfekter Abend, bis sich plötzlich ganz unvermittelt ein Gedanke vor dieses überwältigende Gefühl von »perfekt« schob: Ich hatte Batomae verpasst, weil das Gästelistendrama, das durch einen simplen Blick auf die Rückseite der DIN-A4-Seite hätte vermieden werden können, genau in seinen Time-Slot gefallen war.
Schade, ich hätte ihn gerne gehört. Wirklich. Nicht aus Pflichtgefühl. Einfach, weil ich den Eindruck hatte, dass es sich gelohnt hätte, ihm und seinen Songs zuzuhören. Am nächsten Abend musste ich das besser timen. Oder die Gästeliste auf eine Seite kürzen. Mal schauen.
Der Tourbus war noch in Bewegung, aber der Tag hatte noch nicht begonnen. Das Licht, das durch die halb geschlossenen Vorhänge fiel, war noch grauer und müder, als ich mich fühlte – nicht erschöpft, aber durchlässig. Es war dieser Moment zwischen Nacht und Morgen, in dem selbst der Lärm der Straße leiser klang, als wüsste er, dass hier drinnen noch geschlafen wurde. Wir waren unterwegs zum zweiten Tourstopp – noch drei Stunden Fahrt, eine Stunde Ankommen, Duschen, Essen, dann wieder Aufbau. Oben, in der Etage mit den acht Doppelstockkojen, die mehr nach Klassenfahrt als nach Coach Service klangen, atmete jemand schwer. Vermutlich Finn, der nachts immer röchelte, wenn er zu spät gegessen hatte. Ich musste lächeln, wie vertraut es sich gleich wieder anfühlte, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.
Ein leises Klimpern aus der Küchenzeile in meinem Rücken verriet, dass sich der Wasserkocher gerade selbst einschaltete. Ich wusste nicht, wer ihn programmiert hatte. Vielleicht ich selbst. Vielleicht Svenja. Vielleicht niemand – und er machte es einfach, weil dieser Bus auf die allerbeste Weise verstand, müden Menschen Dinge abzunehmen.
Seit Stunden saß ich auf meinem Platz am Fenster. Es war der einzige Platz, auf dem locker zwei schlanke Menschen hätten nebeneinandersitzen können. Oder eben ich allein, und trotzdem war er mir fast zu schmal. Der Becher in meiner Hand war noch warm, die Kopfhörer baumelten lose um den Hals und der Bildschirm meines Handys war dunkel. Ich wollte nichts hören. Keine Musik, keine Stimmen, keine Erinnerungen, die sich in Akkorden versteckten.
Plötzlich ließ mich das helle Licht meines vibrierenden Handys die Augen zusammenkneifen. Kein lauter Ton, nur ein Pop-up, das aufleuchtete – dieses eine Vibrieren, das nicht nach Arbeit klang, nicht nach Tourplan, nicht nach Band, nicht nach Mails und auch nicht nach meiner Mädels-Gruppe. Instagram.
Ich entsperrte das Display. Eine neue Nachricht in meinem privaten Account. Eine Nachricht von: Ben.
Meine Augen flogen über seine Zeilen.
Immer wenn es ruhig wird, kommt sie wieder. Diese Leere, in der deine Stimme fehlt.
Ich richtete mich auf, nicht bewusst, eher wie ein Reflex, als müsste meine Wirbelsäule prüfen, ob ich für diesen Moment stark genug war, und während mein Blick auf dem Display blieb, spürte ich, wie die Hitze in meinen Nacken stieg, in Wellen, die sich ausbreiteten bis in die Haarwurzeln, als hätte sich mein Körper für eine Berührung vorbereitet, die nicht kam, weil sie längst da war – in Form einer Erinnerung, die nie richtig verschwunden war, sondern sich nur gut versteckt hatte zwischen Terminen, Geräuschen, Abläufen, in den Zwischenräumen meines funktionierenden Alltags, der so wenig Platz ließ für das, was keinen Platz haben durfte.
Das Licht des Displays war noch immer zu hell, meine Augen brannten, aber ich konnte nicht wegsehen, nicht jetzt, wo da plötzlich jemand war, der den Moment mit einem Satz aufriss, wie eine Tür, durch die Kälte und Wärme gleichzeitig drangen, verwirrend, widersprüchlich, beängstigend ehrlich, und trotzdem konnte ich nicht aufhören, sie wieder und wieder zu lesen, den Klang dieser Worte in meinem Kopf zu wiederholen. Mein Herz schlug zu schnell, zu hart, zu lebendig, als hätte es sich erinnert, dass es mal für etwas anderes da war als für Organisation, als hätte es etwas gespürt, das längst nicht mehr auf der Tagesordnung stand, und während ich das Handy noch immer in der Hand hielt, bewegungslos, angespannt, zu nah an allem, was war, kamen die Bilder zurück.
Ich sah ihn wieder genau vor mir mit seinen verwuschelten dunklen Haaren, den feinen Lachfalten um die Augen und seinem kleinen Grübchen am Kinn. Versteckt unter seinem Dreitagebart.
»Sechs Monate sind nicht viel, oder?«, hatte er gesagt, bevor er damals ins Auto stieg. Damals – vor über drei Jahren.
Ich hatte nur genickt, weil mein Hals zu eng gewesen war für jedes Wort. Ich hatte genickt, obwohl ich insgeheim dachte, dass sechs Monate unendlich sein konnten. Vor allem, wenn man nie geglaubt hatte, auch nur für einen flüchtigen Moment genug zu sein.
Er hatte mich geküsst. Zärtlich, vorsichtig, wie jemand, der etwas Wertvolles berührt und nicht weiß, ob es ihm gehört. Und ich hatte mich gehalten gefühlt. Ich hatte gedacht, das wäre der Anfang. Doch es war kein Anfang. Es war ein einziger Satz. Ohne Fortsetzung. Denn danach kam nichts mehr. Keine Nachricht. Kein »Ich bin gut angekommen«. Kein »Ich denk an dich«. Es kam gar nichts. Nur Schweigen. Quälende Stille, wo vorher so viele Worte gewesen waren.
Und ich? Ich hatte gewartet. Zuerst stündlich. Dann täglich. Hatte mein Handy in den Flugmodus versetzt, nur um zu schauen, ob vielleicht das Netz spinnt. Hatte mir von Jule und Sophie schreiben lassen, um zu gucken, ob es nicht doch nur am Handy lag, dass nichts bei mir ankam. Aber es lag nicht an mir, es lag an ihm. Ich weiß nicht, wie oft ich dieser Zeit With or without you von U2 gehört hatte. Und immer kamen mir bei And I wait for you – I can’t live – With or without you die Tränen.
Die Abstände wurden mit der Zeit länger. Die zwischen den Plays, die zwischen den Gedanken, die zwischen den ungeweinten Tränen. Bis irgendwann nur noch mein Stolz übrig war und der leise Wunsch, dass er mich doch heimlich vermissen würde.
Irgendwann hatte ich angefangen, mir einzureden, dass es besser so war. Dass ich ihn falsch gelesen hatte. Dass dieser Blick, den er mir in der Silvesternacht geschenkt hatte, eben nicht mehr gewesen war als eine flüchtige Momentaufnahme, die sich nicht entwickeln durfte. Wie ein Polaroid, das man zu früh ins Licht hält.
Jule und Sophie hatten mich die ganze Zeit vor ihm gewarnt, hatten gesagt, dass er einer von denen sei, die nur Spielchen spielen, weil sie selbst nicht wissen, was sie wollen, aber ich hatte gespürt, dass da mehr war, und mich bei ihm gemeldet. Nicht sofort, als er mit seinem Manager Jochen auf dem Weg zum Flughafen um die erste Ecke gebogen war. Auch nicht, als ich Stunden später hundemüde ins Bett gefallen war. Aber am Neujahrsmorgen. Ich hatte ewig gebraucht. Hatte alles Vorformulierte gelöscht, neu getippt, pausiert, wieder gelöscht, noch mal neu angesetzt. Und ich wusste, dass er es sah – dieses ständige Aufleuchten bei WhatsApp: Lea schreibt …
Wir hatten das nie ausgestellt. Keiner von uns. Es war immer da gewesen, wie ein sichtbarer Pulsschlag zwischen unseren Handys. Und manchmal hatte er mich genau in solchen Momenten angerufen. Einfach so. Nur um mit einem unüberhörbaren Grinsen auf den Lippen zu sagen, dass ich viel zu lange über jedes Wort nachdachte. Aber dass er genau das an mir mochte.
»Du bist so süß, wenn du nicht weißt, ob du’s senden sollst«, hatte er mal gesagt. Und ich hatte gelacht, obwohl mir schlecht vor Aufregung war.
Am Neujahrsmorgen kam jedoch kein Anruf. Keine Nachricht.
Keine drei Punkte, die auftauchten und Hoffnung machten. Ich hatte es abgeschickt. Es war raus. Ich hatte mich gezeigt.
Ihm geschrieben, dass ich an ihn dachte und schon nach so wenigen Stunden vermisste. Was darauf folgte, war: nichts. Kein gelesen. Kein gesehen. Kein gar nichts. Ich hatte so oft das Display entsperrt, dass mein Daumen irgendwann taub wurde. Und trotzdem hatte ich das Handy nicht aus der Hand gelegt. Weil ich dachte, wenn er antwortete, dann wollte ich nicht den Moment verpassen. Den Moment, in dem es wieder leicht wurde. Aber er kam nicht.
Anfangs hatte ich mein Handy sekündlich gecheckt. Immer wieder. Wie ein Reflex. Wie jemand, der hofft, dass aus dem Schweigen doch noch eine Stimme wird. Aber irgendwann war mir klar geworden, dass es noch schwerer war, wenn da gelesen stand und trotzdem keine Antwort kam. Also hatte ich nicht mehr nachgesehen. Hatte mir sogar selbst geglaubt, dass ich darüber hinweg war, dass ich gar nichts mehr erwartete.
Auch seinen Status und die Beiträge bei Instagram hatte ich irgendwann stumm gestellt. Nicht weil es zu viel gewesen wäre. Sondern weil es zu wenig war. Keine Andeutungen. Kein Musikzitat, das uns miteinander verband, kein Ich war hier. Einfach nichts, was noch an uns erinnerte. Bis jetzt.
Ich schaute erneut aufs Handy, wollte ihm antworten, dass ich doch hier war. Dass ich es die ganze Zeit war. Aber der Nachrichteneingang war … leer. Ich blinzelte, traute meinen Augen nicht, aber da war nichts als Leere. Ich starrte auf das Display. Aktualisierte. Noch einmal. Und noch einmal.
Leere.
Vielleicht hatte ich mich verguckt. Möglicherweise war es mein Kopf, der mir einen Streich spielte und mich mit meinen müden Augen nur das sehen ließ, was ich so viele Nächte herbeigesehnt hatte. Oder Ben hatte seine Worte wieder gelöscht. So wie er sich damals gelöscht hatte. Aus allem, was wir hätten sein können.
Ich schloss kurz die Augen, lehnte den Kopf an die kühle Scheibe und plötzlich war da dieser Song in meinem Kopf. In jedem Saal in unserer Gegend ‒ Ich saß immer in der ersten Reihe ‒ Und ich fand dich so erregend. Ich hörte Udo Lindenbergs Stimme in Gedanken, kratzig und gnadenlos ehrlich. Fast schämte ich mich dafür, dass ich den Text nicht nur in- und auswendig kannte, sondern dass er sich anfühlte, als wäre er von mir geschrieben. Ich spürte, wie sich meine Gedanken langsam zurückbewegten, zu dem Abend, der sich in eine Narbe verwandelt hatte, die nur Ben nicht verschlimmert hatte.
Es war unser Abiball und ich hatte das getan, was ich immer tat, wenn ich dazugehören wollte. Ich hatte versucht, alles richtig zu machen. Hatte mich in Klamotten gehungert, die mir nicht standen. Hatte Small Talk geführt, gelächelt, getanzt. Hatte versucht, mir nicht anmerken lassen, wie schwer mir das alles fiel, weil ich mich fehl am Platz fühlte. Wie so oft. Bis ganz spät am Abend plötzlich Ben mit seiner damaligen Coverband als Überraschung aufgetreten war. Jule und ich waren immer zu seinen Auftritten gefahren, hatten uns mit ihm und seiner Band angefreundet und plötzlich war er auf unserem Ball, um mir eine Freude zu machen. Er hatte mich unter allen gesehen, ohne mich suchen zu müssen – und wenn er mich doch mal verlor, wurde er fast unruhig. Als würde ihm etwas fehlen, wenn ich nicht in der ersten Reihe stand. Wir hatten geflirtet, wir hatten getanzt und alle hatten es gesehen. Sie hatten getuschelt, ob der attraktive Sänger und ich eventuell ein Paar waren, und ich hatte es so sehr genossen, dass sie es überhaupt für möglich hielten. Ab da fühlte sich alles wie ein Traum an, der sich später zum schlimmsten Albtraum entwickelte. Vielleicht hatte ich zu viel getrunken. Vielleicht auch zu wenig gegessen. Ja, mochte sein, wahrscheinlich beides. Als mir schwindelig wurde und ich Jule gesucht hatte, war ich rausgegangen, ohne genau zu wissen, wohin. Ich war gerade vor der Tür, als mich die frische Luft wie ein Vorschlaghammer traf und da war dann dieser Typ, der mich auffing – zu nah, zu schnell, zu selbstverständlich. Ich kannte ihn vage. Jasmin war damals im Babylon mit ihm abgezogen, ich erinnerte mich genau an sein widerliches Parfüm. An diese Bank am hinteren Rand des Schulhofes. An diese Flasche, die er mir an die Lippen drückte. An die Worte, die sich wie Schläge anfühlten, obwohl sie nur geflüstert waren. An das Brennen, als der Sekt in meine Kehle lief, ohne dass ich wollte. An das Ersticken, an den Ekel, an mein eigenes Würgen. Und dann – an seine Hände, sie waren überall. An meinem Bauch, unter dem Shirt, an meiner Brust. Ich spürte seine Finger an meinem Rücken, wie sie den Stoff nach oben schoben, tastend, suchend, als gehörte ihm mein Körper. Dann waren sie an meinem Hosenbund, rutschten darunter, dreist, ohne jedes Zögern. Seine Hand glitt über meine Hüfte, zwischen meine Beine, und ich erstarrte, völlig ausgeliefert. Die Kälte seiner Haut auf meiner, das Drängen, das Greifen, das Zerren – es war, als würde er mich nehmen, Stück für Stück, Schicht für Schicht, bis nichts mehr zwischen uns war als Angst. Und plötzlich war da Ben gewesen. Zuerst hatte ich nur seine Stimme gehört, ein einziges, sehr lautes, sehr deutliches »Bist du taub? Sie hat Nein gesagt«, und dann hatte ich gesehen, wie er den Typen von mir wegriss – weil er keine Sekunde darüber nachdenken musste, was richtig war.
Ben hatte sich nicht zu mir gesetzt. Nicht gefragt, was passiert war. Nicht versucht, mich zu trösten. Er hatte mir einfach den Mantel über die Schultern gelegt und mich mit in sein Hotelzimmer genommen. In sein Bett, wo ich sofort eingeschlafen war. Nicht in seinen Armen. Nur in Sicherheit.
Und das war es, was geblieben war – nicht der Schock, nicht das Würgen, nicht die brennenden Hände, nicht das Licht auf dem Parkplatz, nicht einmal Caros Handy, das alles filmte, sondern dieser eine Moment, in dem jemand nicht gezögert hatte, sondern entschieden, dass ich es wert war, beschützt zu werden.