Das Mädchen im Park - Lilly Frost - E-Book

Das Mädchen im Park E-Book

Lilly Frost

0,0

Beschreibung

Vera Brandt erlebt den wahr gewordenen Alptraum einer jeden Mutter: Ihre kleine Tochter Elsa verschwindet spurlos aus dem Garten der Familie, während Vera nach ihrem erst wenige Monate alten Sohn Luis sieht. Kurze Zeit später wird Elsa in einem nahegelegenen Park entdeckt. Tot. Die Indizien führen das Ermittlerduo Alexandra Wild und Theo Bergmann zu einem kürzlich aus dem Gefängnis entlassenen pädophilen Sexualstraftäter. Doch Alexandra Wild plagen Zweifel an der Schuld des Verdächtigen. Schließlich kommt das Ermittlerduo der Wahrheit auf die Spur. Und die ist grausamer, als sie es sich in ihren wildesten Träumen vorgestellt hatte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Vera Brandt erlebt den wahr gewordenen Alptraum einer jeden Mutter: Ihre kleine Tochter Elsa verschwindet spurlos aus dem Garten der Familie, während Vera nach ihrem erst wenige Monate alten Sohn Luis sieht. Kurze Zeit später wird Elsa in einem nahegelegenen Park entdeckt. Tot. Die Indizien führen das Ermittlerduo Alexandra Wild und Theo Bergmann zu einem kürzlich aus dem Gefängnis entlassenen pädophilen Sexualstraftäter. Doch Alexandra Wild plagen Zweifel an der Schuld des Verdächtigen. Schließlich kommt das Ermittlerduo der Wahrheit auf die Spur. Und die ist grausamer, als sie es sich in ihren wildesten Träumen vorgestellt hatte.

Über die Autorin:

Lilly Frost wurde 1973 in Salzburg geboren. In ihrer Heimatstadt, wo sie heute lebt, studierte sie Kommunikationswissenschaften. Seit fast fünfzehn Jahren ist sie im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Ihre Leidenschaft, das Schreiben, entwickelte sich schon in frühester Jugend. 2019 veröffentlichte sie mit "Der Schattenmann" ihren ersten Roman. Es folgten die beiden Thriller "Hurenkinder" und "Ine-ane-u und tot bist du", die ersten beiden Kriminalromane mit dem Ermittlerduo Alexandra Wild und Theo Bergmann.

Für Papa Ich wünschte, du könntest dieses Buch noch lesen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Jahre zuvor

Kapitel 3

Jahre zuvor

Kapitel 4

Kapitel 5

Jahre früher

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Jahre früher

Kapitel 10

Jahre früher

Kapitel 11

Kapitel 12

Jahre früher

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Jahre früher

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Jahre früher

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Jahre früher

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Jahre früher

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Jahre früher

Kapitel 35

Kapitel 36

Ein paar Jahre zuvor

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Wenige Tage vor Elsas Tod

Kapitel 41

Kapitel 42

Der Tag vor Elsas Tod

Kapitel 43

Der Tag von Elsas Tod

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Pädophiler Straftäter aus Haft entlassen

Nach nur fünf Jahren wurde der pädophile Straftäter Nico S. wegen guter Führung aus der Strafanstalt entlassen. Der heute 24-Jährige hatte vor sechs Jahren ein siebenjähriges Mädchen entführt und sexuell missbraucht. Danach hatte er das Kind erwürgt und seine Leiche in einem Park abgelegt. Im Zuge der Ermittlungen konnten dem jungen Mann, der nach Jugendstrafrecht verurteilt worden war, mehrere weitere Missbrauchsfälle an Minderjährigen nachgewiesen werden.

Der Leiter der Vollzugsanstalt spricht von einem „vorbildlichen Insassen“. Die Gutachterin betrachtet Nico S. gar als geheilt. Nico S. lebt vorerst bei seiner Mutter. Die Nachbarn sind alarmiert, befindet sich doch ein Kindergarten unmittelbar neben dem Wohnort des Straftäters. Einige von ihnen demonstrierten sogar gegen die Entlassung des verurteilten Sexualstraftäters und fordern die Behörden auf, Nico S. zu einem Umzug in eine Nachbarschaft zu bewegen, in der nicht vorwiegend Familien leben.

1

Der Alarm des Mobiltelefons schrillte. Vera Brandt warf einen Blick auf ihre kleine Tochter, die friedlich in der Sandkiste hockte und Sand schaufelte. Sie trug die roten Gummistiefel mit den blauen Elefanten, die sie so liebte und eine weiße Haube, die Elsas empfindliche Ohren schützte. Obwohl sich der Oktober bislang mild und weitgehend sonnig gezeigt hatte, wehte gelegentlich ein harscher Wind, der bis auf die Knochen zu spüren war. Vera wollte keinesfalls, dass sich ihre Tochter erkältete. Elsa war auch so ein eher kränkliches Kind. Wie oft hatte Vera mit ihr spätnachts ins Krankenhaus fahren müssen, weil sie sich ständig erbrechen musste oder Fieberkrämpfe hatte. Vom häufigen Husten ganz zu schweigen!

Deshalb achtete Vera bei Elsa penibel darauf, dass sie warm genug angezogen war und nichts Kaltes aus dem Kühlschrank aß oder trank.

Trotzdem schien es, dass Elsas Immunsystem nicht so funktionierte, wie das bei anderen Kindern ihres Alters der Fall war. Sie war ständig krank und selbst der Kinderarzt war angesichts der häufigen Infekte und Beschwerden, mit denen das Mädchen zu kämpfen hatte, ratlos. Elsa drehte ihren Kopf zum Hauseingang und winkte. Die blauen Kulleraugen leuchteten wie zwei Saphire in dem bleichen Gesicht. Sie lächelte verhalten. Vera hob die Hand und winkte zurück. Elsa wandte sich wieder ihrer Schaufel zu. Veras Herz machte einen Satz. Wie sehr sie Elsa doch liebte! Wie viel Freude sie jeden Tag, jede Minute verspürte, seit sie das kleine Wesen vor knapp vier Jahren das erste Mal im Arm gehalten hatte. Sie hatte zuvor noch nichts Vergleichbares verspürt. Sie war zutiefst dankbar, dass sich ihr Glück vor sechs Monaten verdoppelt hatte und sie nun auch Mutter eines gesunden Sohnes war.

Der Alarm schrillte erneut. Genervt zog sie das Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche und stellte den Alarm ab. Sie hatte ihn aktiviert, um nicht zu vergessen, den Kuchen rechtzeitig aus dem Ofen zu holen. Sie blickte noch einmal auf ihre Tochter, ehe sie die Stufen zum Eingang empor eilte. Der Duft von Vanille und warmer Schokolade strömte ihr entgegen. Sie hastete in die Küche, schlüpfte in zwei Ofenhandschuhe und zog die Kastenform aus dem Backofen. Dann schaltete sie den Ofen aus. In diesem Moment ertönte das Babyphon. Ein leises Brabbeln. Erst beinahe vergnügt, dann deutlich energischer. Vera lächelte. Schließlich begann Luis zu weinen. Vera schob die Küchengardine beiseite und vergewisserte sich, dass Elsa noch in der Sandkiste spielte. Ihre Tochter hatte offenbar einen Sandkuchen gebacken und klopfte das fertige Produkt soeben mit der Schaufel platt. Vera hoffte inständig, dass Elsa nicht von dem Sandkuchen probierte. Zu oft beobachtete sie die Katzen der Nachbarschaft, die ihren Garten für deren Hinterlassenschaften nutzten. Obwohl Vera die Sandkiste stets mit einer Plastikplane abdeckte, wenn Elsa nicht darin spielte, war sie sicher, dass der Sand auf die eine oder andere Weise verunreinigt war. Falls Elsa den Sand probierte, würde sie natürlich prompt mit Durchfall oder Erbrechen reagieren. Ihre Kleine hatte einfach einen empfindlichen Magen.

Einen Moment lang überlegte sie, Elsa ins Haus zu holen, bis sie Luis versorgt hatte. Als Luis‘ Schreie einen alarmierenden Tonfall annahmen, seufzte sie leise. Sie verwarf den Gedanken, ihre Tochter unter Protest aus der Sandkiste zu holen und lief die Stufen ins Schlafzimmer hinauf.

Obwohl ihr Mann Markus sich händeringend wünschte, Luis würde endlich in seinem eigenen Kinderzimmer schlafen, brachte Vera es bislang nicht übers Herz, ihren kleinen Sohn aus dem elterlichen Zimmer zu verbannen. Außerdem war es so viel praktischer, wie sie fand. Wenn Luis in der Nacht aufwachte, holte sie ihn zu sich ins Bett und gab ihm die Brust. Auf diese Weise konnten sie alle drei binnen weniger Minuten weiterschlafen. Gelegentlich führte sie deswegen hitzige Diskussionen mit Markus, aber das war ihr egal, immerhin würde Luis nicht ewig so klein sein. Die Babyzeit musste sie so gut wie möglich nutzen und ihren kleinen Schatz verhätscheln.

Luis lag mit zusammengeballten Fäusten in seinem Bettchen. Sein Gesicht war ganz rot vom Schreien.

„Na, na, wer wird sich denn so aufregen?“, murmelte Vera, als sie näher an das Bett trat und sich über ihren Sohn beugte. „Mama ist ja da. Alles ist gut.“

Luis verstummte nahezu augenblicklich und riss die Augen weit auf, als er seine Mutter erblickte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Vera hob ihn aus dem Bett und setzte ihn auf ihre Hüfte. Augenblicklich fing der Kleine an zu schmatzen. Vera wiegte ihn ein wenig hin und her. Luis begann erneut zu schreien.

„Du hast Hunger, was?“, fragte sie und setzte sich in den Stuhl, den sie eigens zum Stillen gekauft hatte. Sie drapierte das Stillkissen so, dass Luis bequem Platz in ihrem Schoß fand. Dann schob sie ihre Bluse hoch und öffnete den Verschluss ihres BHs. Der Kleine suchte sofort nach ihrer Brustwarze und begann gierig daran zu saugen. Vera schloss die Augen und summte ein Kinderlied vor sich hin. Sie genoss diese intimen Momente mir ihrem Sohn, diese kostbaren Augenblicke, die nur ihnen beiden gehörten.

Einige Minuten lang nuckelte das Baby hochkonzentriert. Dann begann es, von der Brust abzulassen und lächelte stattdessen seine Mutter an. Vera lächelte verzückt zurück. Sie hob ihren Sohn an ihre Schulter und wartete, bis er aufgestoßen hatte. Danach trug sie ihn zum Wickeltisch und legte ihm eine frische Windel an. Ein paar Minuten spielte sie mit ihm, indem sie ihm Luft auf den Bauchnabel blies, woraufhin der Kleine jedes Mal fröhlich quiekte. Schließlich zog sie ihm frische Kleidung an und kehrte mit ihm in die Küche zurück. Luis brabbelte vergnügt vor sich hin. Vera küsste ihn auf den Kopf und die Wange. Mit ihrer freien Hand zog sie die Küchengardine beiseite und warf einen Blick in den Garten. Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Die Sandkiste war leer. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und stürzte zur Balkontür des elterlichen Schlafzimmers, von wo aus sie praktisch den ganzen Garten überblicken konnte. Nichts. Keine Spur von ihrer Tochter. Ihr Herz wummerte laut in ihrer Brust.

„Elsa!“, rief sie. „Elsa, wo bist du?“

Sie hastete mit dem Baby auf der Hüfte die Stufen hinunter, stieß die Haustür auf und suchte jeden Winkel des Gartens ab. Vielleicht hatte Elsa sich im Geräteschuppen versteckt? Doch der war versperrt, eben um zu verhindern, dass sich ihre Tochter dort verletzen konnte. Auch hinter der roten Kunststoffrutsche war keine Spur von Elsa. Veras Atem ging stoßweise. Luis spürte die Aufregung seiner Mutter und begann zu quengeln.

„Elsa! Bitte komm zu mir!“ Vera stolperte planlos durch den Garten. „Mama schimpft auch nicht mit dir – versprochen!“

Doch Elsa blieb verschwunden. Vera schluckte. Das konnte doch nicht sein! Wohin konnte Elsa gegangen sein? Vera durchquerte den Garten und öffnete das Tor. Ob Elsa auf die Straße gelaufen war? Vera hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Sie betrat den Fußgängerweg und blickte angstvoll die Straße hinunter. Was, wenn ihre Tochter überfahren worden war? Wenn sie einen Unfall gehabt hatte? Vera wurde schwindlig. Alles um sie drehte sich. Einen Augenblick lang musste sie sich gegen das Gartentor lehnen. Dann lief sie mehrere hundert Meter die Straße hinunter, wobei sie laut nach Elsa rief. Schließlich hastete sie denselben Weg zurück und suchte in der anderen Richtung.

„Was ist denn passiert? Ist was mit der Kleinen?“, fragte eine Nachbarin vom Balkon des Nachbarhauses herab.

Vera beachtete sie nicht einmal und hetzte weiter. Schließlich kehrte sie erschöpft und völlig außer Atem zum Haus zurück, in der Hoffnung, Elsa wäre in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht. Doch der Garten lag gespenstisch ruhig vor ihr. Die Schaukel krächzte leise im Wind, als wäre Elsa eben von ihr heruntergesprungen. Die Plastikschaufel lag achtlos hingeworfen in der Sandkiste, daneben der plattgedrückte Sandkuchen.

Vera überlegte, ob Elsa vielleicht unbemerkt ins Haus zurückgekehrt war, während sie nach ihr gesucht hatte. Sie hastete mit Luis die Stufen empor und fegte durch sämtliche Räume im Erdgeschoß. Doch Elsa war weder im Wohnzimmer noch in der Küche, auf der Toilette oder in der Abstellkammer. Auch die Schlafzimmer und das Badezimmer im Obergeschoß waren verwaist. Nur Elsas Duft hing schwach in ihrem Kinderzimmer. Doch außer Vera wäre dieser wohl niemandem aufgefallen. Veras Herz trommelte mittlerweile heftig gegen ihre Brust. Sie atmete hektisch. Sie lief erneut in den Garten und suchte jeden Winkel nach ihrer Tochter ab. Vergebens.

Elsa war verschwunden. Sie hatte ihr eigenes Kind verloren. Vera sank erschöpft auf die Stufen vor ihrem Haus nieder und rief die Polizei.

Dort saß sie noch, als die Beamten eintrafen und die aufgelöste Mutter, mit dem brüllenden Luis am Arm, ins Haus führten. Dann erzählte sie ihnen, was sich während der letzten halben Stunde ereignet hatte.

2

Alex warf einen Blick auf die Uhr und sehnte den Feierabend herbei, als ihr Mobiltelefon klingelte. Sie hatte vergangene Nacht kaum geschlafen und fühlte sich, als bräuchte sie dringend ein freies Wochenende. Vielleicht könnte sie Paul Wagner, ihren Chef und Leiter der Mordkommission, um ein paar Urlaubstage bitten. Elli und sie konnten wirklich ein bisschen gemeinsame Zeit brauchen.

„Elli!“ Alex‘ Stimme klang warm, als sie den Anruf ihrer Lebensgefährtin entgegennahm.

„Du bist ja ganz schön früh losgefahren heute Morgen.“

„Ich konnte nicht schlafen. Keine Ahnung, was da los war. Dafür fühle ich mich jetzt wie gerädert.“ Alex nippte an einer Tasse Kaffee. Bestimmt der sechste an diesem Tag.

„Dann sollten wir uns nachher wohl einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch machen“, schlug Elli vor.

„Klingt gut. Ich bin in einer guten Stunde zu Hause“, erwiderte Alex. „Besorgst du uns was zu essen?“

„Thailändisch?“

„Bin dabei!“

Elli seufzte leise.

„Ist irgendwas?“

„Es geht um eine Kollegin von mir“, erwiderte Elli und klang mit einem Mal sehr ernst. „Vera. Sie hat vor ein paar Monaten ihr zweites Baby bekommen und ist im Moment in Karenz.“

Elli arbeitete in einem Seniorenheim. Dort hatte Alex ihre Freundin auch vor vielen Jahren kennengelernt.

„Was ist los?“, wollte Alex wissen.

„Veras kleine Tochter wird vermisst.“

„Wie alt ist das Mädchen?“

Elli überlegte einen Moment lang. „Sie müsste dreieinhalb Jahre alt sein. Vier vielleicht.“

Alex atmete scharf aus. Damit war wohl ausgeschlossen, dass das Kind von zu Hause weggelaufen war.

„Hat diese Arbeitskollegin ihre Tochter etwa alleingelassen?“

Elli schluckte. „Nicht wirklich. Das Mädchen hat im Garten gespielt. Veras kleiner Sohn ist wohl aufgewacht und hat geschrien. Vera hat ihren Sohn gefüttert und gewickelt und ist dann gleich wieder in den Garten zurückgekehrt.“

„Und da war Elsa bereits verschwunden“, schlussfolgerte Alex.

„Ja“, erwiderte Elli leise.

„Ich nehme an, Vera hat die Polizei verständigt?“

„Natürlich!“

„Das tut mir sehr leid für deine Arbeitskollegin“, erklärte Alex. „Es muss furchtbar sein, wenn das eigene Kind verschwindet.“

„Kannst du nichts tun?“, fragte Elli. Ihre Stimme klang flehend.

Alex nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. Er war mittlerweile kalt und schmeckte bitter. „Das fällt nicht in meinen Bereich, aber ich kann mal bei den Kollegen nachfragen, ob sie eine Spur in dem Fall hat. Wenn kleine Kinder verschwinden, wird der Suche immer oberste Priorität eingeräumt.“

Elli atmete geräuschvoll aus. „Du bist ein Schatz, Alex! Danke!“

„Ich weiß“, erwiderte Alex und lächelte. „Und vergiss nicht, das Abendessen zu besorgen.“

„Bestimmt nicht!“

Damit beendeten sie das Gespräch.

Alex stand auf und kippte den Rest ihres Kaffees in die Spüle. Das verschwundene Mädchen bereitete ihr Unbehagen. Kinder in diesem Alter verschwanden nicht einfach so. Sie tippte eine Nummer in ihr Telefon. Eine vertraute Stimme meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

„Steiner.“

„Hallo Agnes. Hier ist Alex. Alex Wild.“

„Alex!“ Agnes klang überrascht. „Von dir habe ich ja ewig nicht mehr gehört.“

Alex sah die kleine drahtige Frau mit dem dunklen Pagenkopf vor sich. Sie hatten vor Jahren gemeinsam die Polizeischule besucht und sich damals sogar zeitweise ein Zimmer geteilt.

„Du hast recht. Es ist viel zu lange her.“ Alex lachte verlegen.

„Wir sollten unbedingt einmal einen Kaffee miteinander trinken und über alte Zeiten quatschen“, meinte Agnes.

„Das wäre toll!“, erwiderte Alex, die mit den Gedanken bei dem verschwundenen Mädchen war.

„Aber deswegen rufst du natürlich nicht an“, stellte Agnes unumwunden fest. „Was kann ich für dich tun?“

„Es geht um ein kleines Mädchen, das aus dem Garten seiner Eltern verschwunden ist“, begann Alex.

Agnes atmete geräuschvoll aus. „Elsa Brandt“, sagte sie leise. „Schlimme Sache.“

„Die Mutter des Mädchens ist eine Arbeitskollegin meiner Lebensgefährtin. Kannst du mir sagen, ob ihr schon irgendeine Spur habt?“, fragte Alex geradeheraus.

Sie wappnete sich dafür, dass Agnes sie vertrösten würde. Stattdessen sagte Agnes: „Die Mutter hat den Kollegen erzählt, dass ihr Baby geschrien hätte und sie Elsa deshalb für ein paar Minuten alleine im Garten gelassen hätte.“

„Wie lange war das Mädchen alleine dort?“

„Laut Aussage von Vera Brandt nur ein paar Minuten. Wir wollten sie etwas später erneut befragen, aber sie hatte inzwischen einen Nervenzusammenbruch und musste ruhiggestellt werden.“

„Und der Vater des Kindes?“

„Er ist offenbar auf Dienstreise“, erklärte Agnes. „Wir haben ihn natürlich sofort verständigt. Er ist auf dem Weg nach Hause.“

„Die arme Frau!“, murmelte Alex.

„Ja“, stimmte Agnes zu. „Es muss ganz entsetzlich sein, wenn das eigene Kind verschwindet.“

Besonders, wenn man weiß, dass man das Kind aus den Augen gelassen hat, dachte Alex.

„Habt ihr Spuren gefunden?“

„Es gibt ein paar Schuhabdrücke im Garten“, erwiderte Agnes. „Die Spurensicherung versucht, im Augenblick festzustellen, ob diese von Veras Mann stammen oder zum Beispiel vom Briefträger.“

„Oder ob es sich um die Schuhabdrücke eines Fremden handelt“, schlussfolgerte Alex.

„Genau“, bestätigte Agnes.

„Wie lange ist das Mädchen inzwischen verschwunden?“

„Seit gut drei Stunden“, entgegnete Agnes leise.

Alex schluckte. Mit jeder Stunde, die verstrich, sanken die Chancen, Elsa lebend zu finden.

„Gibt es eine Lösegeldforderung?“

„Nein. Keine Nachricht vom Entführer. Nichts.“ Agnes räusperte sich. „Und das ist es, was mir große Sorgen macht.“

Ein Telefon klingelte schrill im Hintergrund.

„Ich muss los!“, erklärte Agnes.

„Schon klar“, erwiderte Alex. „Lass mich wissen, wenn ihr Neuigkeiten ...“. Doch die Leitung war bereits tot.

Jahre zuvor

Der Kleine hatte Fieber. Hohes Fieber. Seine Stirn glühte. Alles, was seine Mutter ihm gab, erbrach er wieder. Seine Haut wirkte fahl. Seine Augenlider flatterten wild im Fiebertraum.

„Was ist nur mit dir, mein Liebling?“, murmelte seine Mutter wieder und wieder und küsste ihn sanft auf die viel zu heiße Stirn. Sie stand auf und ging in die Küche. Dort holte sie Stofftücher und Essigwasser. Sie kehrte ins Kinderzimmer zurück, tauchte die Tücher ins Wasser und wickelte sie um die Waden und Füße des Buben. Dann zog sie dicke Socken über die Wickel.

„Das wird dir helfen, mein Schatz!“, flüsterte sie und streichelte ihm sachte über den Kopf. Die feinen Haare klebten an seiner Kopfhaut. Gelegentlich verzog sich seine Miene, ehe sie sich wieder entspannte. Er träumte. Die Mutter begann, eines seiner Lieblingslieder zu summen. Schlaf, Kindlein, schlaf! Die Tür fiel ins Schloss. Sie hörte schwere Schritte auf der Treppe.

„Ich bin zu Hause!“, rief eine vertraute Stimme.

Sie antwortete nicht, um den Kleinen nicht zu wecken. Einen Moment später wurde die Tür zum Kinderzimmer geöffnet.

„Hier seid ihr!“ Ihr Mann fegte herein und mit ihm der Geruch von Regen, Zigarettenrauch und einem langen Arbeitstag. Sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen und küsste ihn auf die Wange. Als er das Kind bemerkte, zuckte er zusammen.

„Was ist mit ihm?“ Der Mann setzte sich aufs Bett und betastete die Stirn des Kindes. „Um Gottes willen! Er glüht ja!“

„Er hat einen Infekt“, erklärte die Mutter leise. „Durchfall und Erbrechen. Das Fieber hat vor einer guten Stunde begonnen.“

„Warst du mit ihm beim Arzt?“ Der Vater legte sachte seine Hand auf die Brust des Buben.

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nur eine Magen-Darm-Grippe. Morgen geht es ihm wieder besser.“

Der Mann starrte sie an. „Er sollte wirklich in ein Krankenhaus.“ Der Schlüsselbund, den er noch in Händen hielt, klirrte leise. „Zieh ihm etwas Warmes an. Ich bringe ihn in die Kinderambulanz.“

Die Frau griff nach der Hand ihres Mannes. Sie schüttelte den Kopf. „Nicht!“, sagte sie leise. „Es hat so lange gedauert, bis er einschlafen konnte. Ich möchte nicht, dass er aufwacht und sich wieder übergeben muss.“

Der Mann runzelte besorgt die Stirn. „Er erbricht sich?“

Die Frau nickte. „Magen-Darm-Infekt. Du wirst sehen, morgen geht es ihm wieder besser.“

Der Mann blieb unschlüssig neben dem Bett stehen.

„In Ordnung“, meinte er schließlich. „Ich gehe duschen und mache mir eine Kleinigkeit zu essen.“ Er sah müde aus. „Aber wenn sich sein Zustand verschlechtert, fahren wir.“

Die Frau nickte. „Es ist noch Nudelauflauf im Kühlschrank. Ich bleibe hier bei ihm, wenn es dir nichts ausmacht.“

„Natürlich nicht.“ Der Mann lächelte gequält. „Es wäre mir lieb, wenn du heute bei ihm schlafen würdest.“

„Das hatte ich vor“, murmelte die Frau und legte sich neben ihren Sohn.

„Weck mich, falls es ihm schlechter gehen sollte.“

„Das mache ich.“ Die Frau gähnte. „Morgen ist der Spuk bestimmt vorbei.“

Doch sie sollte sich irren.

3

Theo wirkte bleich, als er den Telefonhörer sinken ließ. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, als hätte auch er mit Schlafproblemen zu kämpfen. Alex fragte sich, ob er vielleicht eine neue Freundin hatte, die ihn auf Trab hielt. Allerdings hielt sie das für eher unwahrscheinlich. Nach seiner letzten Beziehung zu einer Frau, die in einer Art Rachefeldzug mehrere Menschen - und beinahe Theo selbst – getötet hatte, hatte Theo genug von Frauen. Oder vielmehr davon, sich an eine zu binden. Alex zweifelte keine Sekunde daran, dass ihr Kollege sich dennoch gelegentlich mit der einen oder anderen Blondine vergnügte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie ihren Kollegen. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

„Wir müssen los“, erwiderte Theo. „Wir haben eine Leiche.“

Alex hob eine Augenbraue. „Mord?“

In den letzten Wochen war es auf dem Revier sehr ruhig gewesen. Es hatte nur einen Fall gegeben, zu dem sie gerufen worden waren. Doch der hatte sich rasch als Selbstmord herausgestellt.

Theo hob die Achseln. „Möglich“, gab er zurück und schlüpfte mit einem Arm in seine Lederjacke. „Der Anrufer war völlig aufgelöst. Es war schwer, einen vollständigen Satz aus ihm herauszubekommen.“

Alex nahm ihren Trenchcoat vom Garderobenständer und folgte ihrem Kollegen nach draußen. Der Dienstwagen stand nur wenige Meter vom Eingang entfernt. „Wohin geht’s?“

„Nach Gnigl“, antwortete Theo knapp. Er war offenbar nicht in der Stimmung für eine ausgiebige Unterhaltung. Alex lehnte sich im Beifahrersitz zurück und schloss kurz die Augen. Die letzte Nacht war kurz gewesen und ihre Augen brannten. Ihre Großmutter war in der Nacht herumgegeistert. Sie litt in letzter Zeit zunehmend unter Schlafstörungen. Alex, die einen leichten Schlaf hatte, wurde regelmäßig wach und lauschte, ob mit ihrer Oma alles in Ordnung war. Meist endeten diese Nächte damit, dass sie sich gemeinsam in die Küche setzten, stundenlang redeten und Tee tranken. Oder etwas Stärkeres. Es war kein Geheimnis, dass Oma ihren Tee gerne „mit Schuss“ trank. Gelegentlich hatte Alex den Eindruck, es war eher der „Schuss“ um den es ging und der Tee diente lediglich als Alibi, um sich einen ordentlichen Schnaps zu genehmigen. Alex gähnte. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und rief Elli an.

„Es tut mir so leid, Liebling“, begann sie das Gespräch. „Wir haben eine Leiche. Wird wohl spät werden.“

Sie hörte, wie Elli am anderen Ende geräuschvoll die Luft einsog.

„Bist du noch dran?“

„Ja, klar.“

„Ich melde mich später, in Ordnung?“

„Sicher. Ich werde einstweilen einen Berg vegetarisches Pad Thai und Papayasalat in mich hineinstopfen.“ Elli klang verstimmt.

„Tut mir wirklich leid. Ich hatte mich auch auf einen gemütlichen Abend mit dir gefreut.“

„Ich weiß.“ Elli seufzte. „Pass auf dich auf.“

Damit legte sie auf.

„Stress zu Hause?“, wollte Theo wissen.

Alex schüttelte den Kopf. „Nur das Übliche.“ Sie lächelte gequält. „Bei der Kripo ist Zweisamkeit halt nicht planbar.“

Zehn Minuten später parkte Theo den Wagen in der Kurzparkzone. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es ein Postamt. Alex erinnerte sich vage, hier einmal ein Paket aufgegeben zu haben. Rechts von ihnen lag ein kleiner Friedhof. Alex folgte Theo auf dem Fußgängerweg neben der Hauptstraße. Rund fünfzig Meter weiter erstreckte sich rechter Hand ein Park. Laubbäume säumten den Weg, der sich durch die Grünanlage schlängelte. Weiter hinten bemerkte Alex eine Ansammlung von Menschen. Sie alle beugten sich über etwas, das Alex nicht erkennen konnte. Rot-weißes Absperrband flatterte im Wind. Alex erkannte ein paar uniformierte Kollegen. Einer saß mit einem sehr bleichen Mann auf einer Parkbank und machte Notizen. Ein schwarzer Mischlingshund mit weißen Ohren lag zu seinen Füßen.

In diesem Moment fiel ihr eine Kindergruppe auf, die auf die Szene zusteuerte. Rund zwölf Kinder mit leuchtend gelben Schutzwesten und flackernden Laternen liefen hinter zwei Erwachsenen her. Alex kniff die Augen zusammen und bemerkte das Gebäude am anderen Ende des Parks. Ein Kindergarten. Instinktiv ging sie auf die Gruppe zu und wandte sich an eine der beiden Pädagoginnen.

„Sie können hier nicht durch“, sagte sie bestimmt und hielt ihren Polizeiausweis in die Luft. „Ich muss Sie bitten, den Park in die andere Richtung zu verlassen.“

„Aber wir proben für unseren Martinsumzug. Das geht nur, wenn es dunkel ist.“

„Schon klar“, entgegnete Alex. „Sie können hier trotzdem nicht durch.“

„Wieso denn?“, fragte eine der beiden Frauen und reckte neugierig den Hals. „Ist etwas passiert?“

„Ich fürchte, ja“, erwiderte Alex und baute sich vor der Frau auf, um zu verhindern, dass sie ihren Weg fortsetzte.

„Und was?“ Die Frau stellte sich auf die Zehenspitzen, um an Alex vorbeisehen zu können.

„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen“, erklärte Alex ohne Umschweife.

„Hannah“, sagte eines der Kinder zu der Erzieherin. „Was ist denn da?“

Alex ging neben einem Mädchen mit dunkelblonden Locken in die Hocke. „Die Polizei muss hier arbeiten, weißt du. Du willst doch sicher, dass wir das in Ruhe tun können, nicht wahr?“

Das Mädchen nickte eifrig.

„In Ordnung“, fuhr Alex fort. „Dann dreht ihr jetzt am besten um und geht in den Kindergarten zurück.“

Die Erzieherin kniff skeptisch die Augen zusammen. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Mobiltelefon. Alex erkannte, dass sie ihre Kamera-App geöffnet hatte.

„Und Ihnen ist sicher bewusst, dass es verboten ist, von dieser Situation Aufnahmen zu machen.“

Die Erzieherin setzte an, etwas zu erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders.

„Kinder, kommt, wir gehen zum Spielplatz bei der Volksschule.“ Sie warf Alex einen genervten Blick zu.

Dann zog die Gruppe wieder ab. Alex konnte sich gut vorstellen, dass die junge Frau nur zu gerne etwas Spektakuläres auf Facebook oder Instagram gepostet hätte. Als Alex sicher war, dass die Gruppe den Park verlassen hatte, kehrte sie zum Ort des Geschehens zurück.

Theo wirkte noch bleicher als zuvor. Sie erkannte den Gerichtsmediziner, der sich soeben neben der Leiche niedergekniet hatte. Alex konnte den toten Körper noch immer nicht erkennen. Zu viele Menschen verdeckten die Sicht. Der Hundebesitzer, der sich mit ihrem Kollegen auf der Parkbank unterhielt, kämpfte mit den Tränen. Der Schock saß offenbar tief.

Theo kam auf sie zu.

„Mann oder Frau?“, fragte Alex knapp.

Theo legte ihr eine Hand auf die Schulter, ehe sie sich an ihm vorbeidrücken konnte.

„Hör zu“, sagte er leise. „Das ist wirklich schlimm.“

Alex starrte ihren Kollegen verständnislos an. Theo wusste doch, dass sie schon viele Leichen gesehen hatte. Manche von ihnen waren schon mehrere Tage oder gar Wochen tot gewesen. Sie konnte also durchaus mit einem unschönen Anblick umgehen. Wieso tat er, als müsste er sie in Watte packen? Alex drängte Theo zur Seite und ging auf die anderen Polizisten zu. Alle hatten einen betroffenen Ausdruck im Gesicht. Eine junge Kollegin weinte leise. Alex wappnete sich innerlich. Für einen furchtbaren Anblick. Schwerste Verletzungen. Einen eingeschlagenen Schädel. Fehlende Körperteile. Viel Blut.

Als es ihr schließlich gelang, sich an den Kollegen vorbeizuschieben, war es nicht der Zustand der Leiche, der ihr den Atem raubte. Es war die Tatsache, dass ein Leben ausgelöscht worden war, das noch gar nicht richtig begonnen hatte.

Vor ihr tat sich eine Sandkiste auf. Von hinten sah sie etwas, das auf den ersten Blick wie eine große lebensechte Puppe wirkte, die jemand an den Rand der Sandkiste gelehnt hatte. Für einen Moment dachte sie, die „Puppe“ würde jeden Augenblick eine Hand heben, sich umdrehen und lächeln. Die Szene wirkte beinahe grotesk friedlich. Dennoch stellten sich sämtliche Härchen an Alex‘ Armen auf. Sie fror, obwohl der Oktober heuer noch recht warm war.

Sie erspähte Agnes Steiner unter den Kollegen. Agnes starrte Alex an und schüttelte nur den Kopf. Ohne dass Alex das Gesicht des Mädchens gesehen hatte, wusste sie, wen sie vor sich hatte. Und dass sie zu spät gekommen waren.

Alex taumelte von den Kollegen weg und sank auf eine der Parkbänke, auf denen sonst Mütter und Väter saßen und ihren Kindern beim Spielen zusahen. Niemand würde Elsa mehr zusehen, wenn sie im Sandkasten spielte. Nicht heute. Nicht morgen. Nie mehr. Alex blinzelte eine Träne weg.

„Bist du okay?“, fragte Theo und setzte sich neben Alex.

Sie antwortete nicht. Der Anblick des kleinen toten Mädchens ließ sie nicht los.

„An manchen Tagen ist das, was wir hier machen, einfach nur ein Scheiß-Job“, flüsterte sie schließlich.

„Ich weiß“, erwiderte Theo. „Aber irgendjemand muss dafür sorgen, dass die Dreckskerle, die so etwas tun, hinter Gitter kommen.“

Alex starrte vor sich hin. „Du kannst deinen Arsch drauf verwetten, dass ich keine Ruhe geben werde, ehe ich den Scheißkerl habe, der für den Tod von Elsa verantwortlich ist!“

„Na also“, meinte Theo und lächelte zaghaft. „Das ist die Alex, die ich kenne.“

Alex stand auf. „Aber zuerst habe ich noch einen schweren Weg vor mir.“

Theo nickte. „Wir“, korrigierte er sie. „Wir haben einen schweren Weg vor uns.“

Sie verabschiedeten sich von den Kollegen. Sie würden einer Mutter sagen müssen, dass sie ihre kleine Tochter gefunden hatten. Und dass sie niemals wieder nach Hause kommen würde.

Jahre zuvor

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Sie hätten viel früher kommen müssen“, schimpfte er und warf den Eltern einen verärgerten Blick zu.

„Gestern ging es ihm noch recht gut“, rechtfertigte sich die Mutter. „Er hatte nur etwas Fieber.“

Der Vater räusperte sich, sagte aber nichts. Doch die Mutter spürte den unausgesprochenen Vorwurf, der in der Luft lag. Der Arzt gab der Krankenschwester ein paar Anweisungen. Diese lief aus dem Untersuchungszimmer und kehrte Sekunden später mit einer Injektion wieder.

„Ihr Sohn ist vollkommen dehydriert. Er braucht eine Infusion. Außerdem sind seine Entzündungswerte deutlich erhöht“, erklärte der Mediziner. „Wir geben ihm ein Antibiotikum.“

„Dann wird er wieder gesund, nicht wahr?“, fragte der Vater.

„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, erwiderte der Arzt. „Ihr Sohn ist noch so klein. In dem Alter können Kinder praktisch innerhalb weniger Stunden austrocknen. Wir müssen hoffen, dass sich seine Blutwerte mit den Antibiotika stabilisieren.“

Der Mann schluckte. Er konnte seine Frau nicht ansehen.

„Ich habe ihm die ganze Nacht alle paar Stunden zu trinken gegeben“, beteuerte die Mutter.

„Hat er die Flüssigkeit bei sich behalten?“, fragte der Arzt scharf.

Die Frau erstarrte. „Nein, er hat das meiste wieder erbrochen.“

Der Mediziner schnalzte mit der Zunge. „Wie gesagt, Sie hätten viel früher zu uns kommen müssen.“

Die Frau schluchzte leise.

„Er bekommt ein Bett auf der Kinderstation“, sagte der Arzt. „Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind kritisch.“

„Kann ich bei ihm bleiben?“, fragte die Frau und streichelte sanft die Hand ihres Kindes.

Der Arzt nickte. „Unbedingt! Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kinder schneller genesen, wenn ein Elternteil bei ihnen ist.“

Die Frau war sichtlich erleichtert. „Mama ist bei dir, mein Schatz!“, flüsterte sie an das Kind gewandt.

Der Kleine rührte sich kaum. Sein Atem ging flach.

„Ich werde alles Nötige veranlassen“, sagte der Mediziner und verließ das Zimmer.

„Ich muss die Firma verständigen, dass sie jemand anderes finden müssen, der meine Dienstreise übernimmt“, murmelte der Vater.

Die Frau griff nach seiner Hand. „Ich bin doch hier. Wenn sich sein Zustand verschlechtert, rufe ich dich sofort an“, versprach sie.

Die Mutter wusste, wie dringend sie das Geld brauchten, um das Haus abzubezahlen. Sie lebten praktisch von den häufigen Dienstreisen, die ihr Mann als Außendienstmitarbeiter unternahm. Das war stets die Gelegenheit, neue Großkunden an Land zu ziehen oder Großaufträge zu gewinnen, an denen er auf Provisionsbasis beteiligt war. Blieb er zu Hause, erhielten sie nur sein Grundgehalt, das mehr als bescheiden war und kaum zum Leben reichte, geschweige denn, um die hohe Kreditrate für das Haus abzubezahlen.

„In Ordnung“, willigte der Vater schließlich ein. „Aber du versprichst mir, gut auf den Kleinen aufzupassen und ihn nicht aus den Augen zu lassen.“

„Versprochen!“, sagte die Frau.

Kurz darauf brachte die Krankenschwester die Frau und ihren kleinen Sohn auf die Kinderstation. Der Vater küsste den Kleinen auf die Stirn und verabschiedete sich von seiner Frau. Wenigstens war sein Sohn jetzt im Krankenhaus. Hier würde man sich gut um ihn kümmern.

4

Der Weg vom Dienstwagen zur Haustür der Familie Brandt schien Alex unendlich lang. Sie bemerkte die Sandkiste im Garten, in der eine rote Plastikschaufel lag. Unwillkürlich tauchte das Bild des toten Mädchens im Park vor Alex‘ innerem Auge auf. Sie stellte sich vor, wie das Mädchen fröhlich in der Sandkiste gespielt hatte. Sie zwang sich dazu, sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren.

Die Tür wurde nach dem ersten Klingeln geöffnet. Frau Brandt machte den Eindruck, als hätte sie unmittelbar hinter dem Eingang auf Neuigkeiten gewartet. Ihre Augen waren gerötet, blickten die Beamten aber hoffnungsvoll an. Alex hasste den Gedanken, dass sie diesen Ausdruck für immer aus dem Gesicht der Frau wischen musste.

„Ich bin Alexandra Wild. Das ist mein Kollege Theo Bergmann“, stellte sie sich und ihren Kollegen vor. „Wir sind von der ...“ Sie schluckte die Bezeichnung ‚Mordkommission‘ hinunter und sagte stattdessen „Polizei“.

„Kommen Sie doch herein!“, bat Frau Brandt. Die Frau trug eine graue Jogginghose und ein T-Shirt, das mit Flecken besudelt war. Hinter ihr tauchte ein Mann Anfang vierzig auf, der sich als Markus Brandt vorstellte.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Herr Brandt.

„Nein, danke“, erwiderte Theo. „Aber könnten wir uns vielleicht setzen?“

„Natürlich.“ Herr Brandt führte die Beamten ins Wohnzimmer.

Der Wohnbereich war hell und freundlich eingerichtet. Überall lagen Spielsachen. In einem Korb stapelte sich Wäsche, die gebügelt oder zusammengefaltet werden musste.

„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte Frau Brandt schließlich. „Haben Sie eine Spur zu Elsas Entführer?“

Alex wunderte sich, dass Frau Brandt von einem Entführer sprach, wo es doch keine Lösegeldforderung oder einen anderen Hinweis auf eine Entführung gab.

„Nein“, erwiderte Alex. „Wir haben keinen Hinweis auf einen Entführer.“

„Aber Sie denken doch nicht, dass Elsa alleine weggelaufen ist?“, fragte Vera Brandt aufgebracht.

Alex seufzte leise und fragte sich, ob es eine gute Art gab, so eine Nachricht zu überbringen.

„Frau Brandt“, kam Theo seiner Kollegin zu Hilfe. „Wir haben, fürchte ich, schlechte Nachrichten für Sie.“

Die Frau knetete ihre Finger und blickte von Theo zu ihrem Mann. „Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn Kinder über viele Stunden nicht gefunden werden“, sagte Vera Brandt schließlich. „Aber das sind immerhin nur Statistiken, nicht wahr?“ Sie lächelte verkrampft. „Die Realität sieht meistens anders aus.“

Markus Brandts Gesichtszüge wirkten angespannt. Während seine Frau weiter plapperte, senkte er den Blick, als wollte er sich für das, was da kommen würde, wappnen.

„Vielleicht hat Elsa sich einfach verlaufen. Irgendjemand wird sie finden. Und dann wird sie nach Hause kommen. Zu uns, wo sie hingehört.“

„Frau Brandt“, versuchte Theo es erneut. „Wir haben Elsa gefunden.“

Kurz flackerte Erleichterung in den Augen der Frau auf. „Sie haben meine Kleine gefunden?“

„Elsa ist tot“, fuhr Theo fort. „Es tut mir unendlich leid.“

Markus Brandt sprang auf. Er presste eine Hand auf den Mund. Dann schluchzte er leise. „Nein, nein, nein! Das kann nicht sein! Das darf nicht sein.“

Frau Brandt stand offenbar unter Schock. Sie wiegte sich auf dem Sofa vor und zurück. „Vielleicht ist es nicht Elsa, die sie gefunden haben“, schlug sie in einem seltsam monotonen Tonfall vor. „Vielleicht ist es ein anderes Kind. Es gibt viele Kinder hier in der Gegend. Es wohnen so viele Familien hier. Deshalb gefällt es uns so gut. Elsa kommt bestimmt nach Hause. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Können wir jemanden für Sie anrufen?“, fragte Alex.

Markus Brandt schüttelte den Kopf. Dann setzte er sich wieder neben seine Frau und legte den Arm um sie. So verharrten die beiden minutenlang, in stummer Trauer vereint. Frau Brandt weinte still vor sich hin. Alex war sich nicht sicher, ob sie begriffen hatte, dass ihre kleine Tochter nie wiederkommen würde.

„Darf ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“, fragte Alex schließlich Markus Brandt, als sie sich mehr und mehr wie ein Eindringling in einen sehr intimen Moment fühlte.

Herr Brandt löste seinen Arm von der Schulter seiner Frau. „Ich weiß nicht, ob Vera ...“

„Mein Kollege bleibt bei ihr“, versicherte Alex.

„Na schön“, willigte Herr Brandt ein und bedeutete Alex, ihm in die Küche zu folgen.

„Wo waren Sie am Tag, als Elsa verschwunden ist?“, wollte Alex wissen.

Herr Brandt kniff die Augen zusammen. „Warum fragen Sie mich das? Sie wollen doch nicht andeuten, dass ich ... “

„Ich will überhaupt nichts andeuten“, erwiderte Alex. „Das ist reine Routine.“

„Aha“, machte Markus und wischte sich über den Mund.

Alex entging nicht, dass er sich über ihre Frage sichtlich ärgerte. „Sie möchten doch auch, dass die Todesumstände Ihrer Tochter geklärt werden, nicht wahr?“

Herr Brandt lehnte sich gegen die Küchenanrichte. Er starrte aus dem Fenster. „Natürlich will ich das“, flüsterte er.

„Bitte beantworten Sie meine Frage!“, forderte Alex ihn erneut auf.

„Ich war in Bregenz auf einer Dienstreise“, erwiderte er schließlich. „Ich bin bereits am Montagmorgen aufgebrochen.“

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Außendienstmitarbeiter. Vertreter.“ Er leckte sich über die Unterlippe. „Ich arbeite für ein Pharmaunternehmen.“

„Ich nehme an, Ihr Chef kann bestätigen, dass Sie zum Zeitpunkt von Elsas Verschwinden in Vorarlberg waren.“

Herr Brandt schnalzte mit der Zunge. Seine Augen funkelten. „Selbstverständlich kann er das.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Oder kontaktieren Sie doch einfach das Hotel, in dem ich zwei Nächte verbracht habe. Hotel Posthof.“

Alex setzte an, ihn zu fragen, wie häufig er auf Dienstreisen fuhr, doch Herr Brandt beendete das Gespräch abrupt.

„Ich darf Sie nun bitten zu gehen. Ich muss mich um meine Frau kümmern.“ Damit ließ Herr Brandt sie stehen und floh ins Wohnzimmer.

Alex blickte sich in der Küche um und entdeckte eine Packung Antibiotika auf der Anrichte. Daneben standen mehrere Packungen mit verschreibungspflichtigen Schmerz- und Beruhigungsmitteln. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, wirkte Vera Brandt immer noch, als wäre sie in ihre eigene Welt abgetaucht. Markus Brandt würdigte Alex keines Blickes.

„Wir finden allein hinaus“, erklärte Alex, als klar war, dass keiner der beiden länger mit ihnen reden würde.

In diesem Moment regte sich Vera Brandt. „Kann ich sie sehen?“ In ihren Augen standen Tränen.

„Elsa?“, fragte Alex. „Natürlich. Ich sage der Gerichtsmedizin Bescheid, dass Sie kommen.“

„Sie kann nicht ohne ihn schlafen, wissen Sie“, fuhr Vera Brandt fort.

Alex drehte sich noch einmal zu der Frau um, die zusammengesunken auf dem Sofa kauerte. Erst jetzt bemerkte sie den Stoffhasen in ihren Händen, dem ein Bein fehlte.

„Das ist Flauschi, Elsas Lieblingsstofftier.“ Die Frau wischte sich eine Träne von der Wange. „Sie geht nirgendwo ohne ihn hin.“

Alex‘ Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

„Ich muss ihn zu ihr bringen“, erklärte Vera Brandt. „Wie soll sie sonst je Ruhe finden?“

Alex hätte gerne etwas Tröstliches gesagt, Etwas, das den Schmerz für Vera und Markus Brandt leichter gemacht hätte, doch es gab nichts, was sie hätte sagen oder tun können. Stattdessen nickte sie und wandte sich zur Haustür. Theo folgte ihr.

Als Alex in die kühle Luft hinaustrat, spürte sie die Feuchtigkeit auf ihren Wimpern. Sie atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, das beklemmende Gefühl aus ihrer Brust zu vertreiben. Elsa würde nicht mehr nach Hause kommen und ihre Eltern würden lernen müssen, mit dieser Tatsache zu leben. Manchmal hasste Alex ihren Job wirklich. Dies war so ein Augenblick. Sie schwang sich hinter das Lenkrad, wartete bis Theo, sich neben sie gesetzt hatte und trat ins Gaspedal.

5

Elsa sah aus wie eine bleiche Puppe. Sie lag auf einer Metallliege, die so groß war, dass das Mädchen irgendwie seltsam verloren wirkte. Ein weißes Tuch bedeckte Elsa bis zum Bauch. Ihr Haar breitete sich unter ihrem Kopf wie ein seidener Fächer aus. Die Haut war von feinen Äderchen durchzogen und durchscheinend, nahezu ätherisch. Fast erwartete Alex, dass das Mädchen die Augen öffnen und lächeln würde. Es wirkte - bis auf den langen Schnitt am Oberkörper, den der Gerichtsmediziner für die Obduktion vorgenommen hatte – unversehrt. Der Anblick hatte etwas unendlich Trauriges, Widernatürliches. Ein Kind sollte nicht sterben. Schon gar nicht so. Alex schluckte.

Doktor Hofer nickte Alex zu. Sie würde nie verstehen, wie jemand sich dafür entscheiden konnte, tagtäglich mit Toten zu arbeiten. Wobei, wenn sie es genau nahm, tat sie das auch, wenn auch nicht täglich.

„Waren die Eltern schon hier?“, fragte Alex.

„Geschtern schon“, erwiderte der Mediziner. „Wor ned oafach für die zwoa.“

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Alex, die erst jetzt den Stoffhasen bemerkte, der unter dem Laken hervorlugte. Flauschi.

Ohne ihn kann Elsa nicht schlafen.

„Bischt heit ohne den Herrn Kollegen do?“

Alex warf einen Blick zur halb geöffneten Tür und entdeckte Theo, der den Gang auf und ab tigerte.

„Er wartet draußen. Er hat es nicht so mit der Pathologie.“

Der Arzt lachte und klang dabei wie ein verkühltes Kaninchen. „Ja, man muss des schon g’wohnt werden hier drinnen.“