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Drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes Max ist Bea endlich wieder glücklich. Sie führt eine Beziehung mit Tom, lebt mit ihren beiden Kindern in einem Häuschen am Stadtrand und arbeitet als Kolumnistin. Als ihre Tochter Emily einen Selbstmordversuch nur knapp überlebt, gerät Beas heile Welt erneut aus den Fugen. Mit Hilfe von Paul, Max´ bestem Freund, macht sie sich auf die Suche nach den Ursachen für Emilys Verzweiflung. Dabei kommt Bea dunklen Geheimnissen auf die Spur und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Buchbeschreibung:
Drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes Max ist Bea endlich wieder glücklich. Sie führt eine Beziehung mit Tom, lebt mit ihren beiden Kindern in einem Häuschen am Stadtrand und arbeitet als Kolumnistin. Als ihre Tochter Emily einen Selbstmordversuch nur knapp überlebt, gerät Beas heile Welt erneut aus den Fugen. Gemeinsam mit Max´bestem Freund macht sie sich auf die Suche nach den Ursachen für Emilys Verzweiflung. Dabei kommt Bea dunklen Geheimnissen auf die Spur und gerät schließlich selbst in Lebensgefahr.
Über die Autorin:
Lilly Frost wurde 1973 in Salzburg geboren. In ihrer Heimatstadt, wo sie heute lebt, studierte sie Kommunikationswissenschaften. Seit über zehn Jahren ist sie im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Ihre Leidenschaft, das Schreiben, entwickelte sich schon in frühester Jugend. "Der Schattenmann - Tödlicher Eid" ist ihr erster Roman.
Für meine Kinder Philip und Laura
Prolog
27. März 2018
April 2015
28. März 2018 3:34
August 2015
28. März 2018, 6:15
September 2015
28. März 2018 11:09
November 1977
28. März 2018 12:47
29. März 2018
September 2015
29. März 2018
September 1981
29. März 2018 15:24
November 2015
30. März 2018
31. März 2018
November 2015
31. März 2018
1. April 2018
2. April 2018
Februar 2016
2. April 2018, 15:00
Juli 1984
3. April 2018
Oktober 1985
4. April 2018
Dezember 1990
4. April 2018 abends
Mai 1992
4. April 2018 spätabends
November 2002
5. April 2018
Oktober 2014
5. April 2018
Dezember 2015
5. April 2018 mittags
Jänner 2015
5. April 2018 12:32
Februar 2015
März 2015
5. April 2018 14:47
5. April 2018 14:17
April 2015
5. April 2018 15:32
Epilog
Sie lungerte auf ihrem Boxspringbett. Im Rücken das Daunenkissen, gegen das sie sich lehnte. Die Musik dröhnte durch den kleinen Raum, prallte von den Wänden ab und knallte ungebremst auf ihre Ohren, so wie sie es liebte. Laut. Klar. Gellend. Es half ihr gegen die Leere, gegen das Nicht-Fühlen, einen Zustand, der sich schon so lange in ihr ausbreitete, dass sie nicht mehr wusste, wie es war, etwas Echtes zu fühlen. Sich zu fühlen.
Watch me burn, summte sie leise mit Rihanna mit. I love the way it hurts.
Sie tastete nach der Holzschatulle auf ihrem Nachtkästchen, einer kleinen lackierten Kiste aus Birnenholz, das ihr Vater mit ihr gemeinsam gedrechselt hatte. Sie liebte die kleine Schachtel, in der sie ihre liebsten Gegenstände aufbewahrte, darunter eine Silberkette mit Herzanhänger, die ihr Vater ihr zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hatte, ihre ersten Ballettschuhe und ein Brief ihrer besten Freundin Penny. Sie nahm eine Rasierklinge aus der Schatulle und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen gegen das Licht ihrer Nachttischlampe. Der Strahl spiegelte sich in dem Metall. Sie kniff die Augen zusammen.
I love the way it hurts.
Sie legte die Klinge an ihren linken Unterarm und presste sie fest ins Fleisch. Sie ritzte die Haut auf, schnitt ins Unterfett, spürte die Wärme der Flüssigkeit, die über ihren Arm lief. Wie ein dicker roter Wurm schlängelte sich der Blutstrom über die Haut. Ein scharfer Schmerz. Sie japste nach Luft, atmete danach ein paarmal tief ein und ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. Sie spürte sich. Sie fühlte den Schmerz, das Brennen ihrer Haut. I love the way it hurts.
Für einen Moment fühlte sie sich frei. Die Leere verkroch sich und hinterließ ein pulsierendes Pochen. Sie genoss es, zuzusehen, wie das Blut von ihrem Arm auf die Bettdecke tropfte. Vorsorglich hatte sie ein altes Handtuch untergelegt. Ihre Mutter würde die Blutflecken sonst bemerken und sich große Sorgen machen. Es war sicherer, wenn sie ihr Geheimnis nicht kannte. Manche Dinge blieben besser unausgesprochen. Sie wusste nicht, was er ihr oder ihrer Familie antun würde, wenn sie ihn verriet. Sie wollte es nicht wissen. Sie kannte ihn, wusste, wozu er fähig war. Einen Moment lang genoss sie den Schmerz. Er war wie eine Droge, die ihr für eine Weile Erleichterung verschaffte, die alles fortspülte. Leider hielt dieser Zustand nie lange an. Sie betrachtete die zahlreichen Narben auf ihrer Haut, die teilweise verblasst, teilweise verkrustet oder gerötet waren. Ein Meer an Versuchen zu entkommen, den Schmerz in ihrem Inneren zu betäuben.
Eine Tür krachte. Ein Schlüsselbund schepperte.
„Bist du zu Hause?“
Die Stimme ihrer Mutter drang gedämpft zu ihr. Sie drehte die Musik leiser, antwortete und wischte die Klinge an dem alten Handtuch ab, das sie rasch unter ihrem Kopfkissen versteckte. Die Rasierklinge warf sie hastig in die Schatulle, während sie den Ärmel ihres Pullis über ihre frische Wunde zerrte. Sie lächelte, als ihre Mutter ins Zimmer trat. Alles war in Ordnung, solange sie nichts wusste. Sie musste dafür sorgen, dass das so blieb.
Bea flog die Treppen, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben und zerrte ihren Haustürschlüssel aus der dünnen Sportjacke. Sie drückte die Haustür auf und streifte mit dem jeweils anderen Fuß ihre Laufschuhe ab, während sie sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn wischte. Ihr Blick fiel auf die Jeansjacke ihres Sohnes, die achtlos auf der Schuhablage lag. Darunter spähten grau-blaue Sneaker hervor, auf denen eine dicke Schicht Schlamm klebte.
Simon!
Bea seufzte.
Sie hob die Jacke auf und hängte sie auf einen der wenigen freien Haken an der Garderobe, während sie die schmutzigen Turnschuhe mit zwei Fingern hochhob und den eingetrockneten Schmutz vor der Haustür abklopfte. Ein Glück, dass Tom nicht hier war! Er hätte sich über die Unordnung aufgeregt. Und wenn Bea heute etwas nicht brauchte, war es eine Auseinandersetzung mit ihrem Freund. Sie zog die Spange aus ihrem Haar und legte sie in die bunte Keramikschale, die sie aus ihrem letzten Urlaub aus Istanbul mitgebracht hatte. Schon Viertel nach fünf. Bea zuckte zusammen. Sie huschte ins Bad, schlüpfte aus ihrem Sport-Top und den Lauftights und stopfte beides in die Waschmaschine. Während das heiße Wasser auf ihre Schultern prasselte, überlegte sie, was zu erledigen war, bevor Tom kam. Simons Hausaufgaben kontrollieren. Wein einkühlen. Das Abendessen vorbereiten. Ihre Kolumne an die Redaktion schicken. Sie rasierte Beine, Achseln und Intimbereich. Tom liebte zarte, glatte Haut.
Als sie in ein Handtuch gehüllt die Treppe hinaufeilte, war es halb sechs. Sie fischte Jeans und einen dunkelblauen Cashmere-Pullover mit V-Ausschnitt aus ihrem Kleiderschrank, legte etwas J´adore Dior auf und band ihr schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz. Zum Haareföhnen hatte sie jetzt keine Zeit. Ihr Blick blieb an der zerknautschten Bettwäsche hängen. Hatte sie die schon bei Toms letztem Besuch aufgezogen? Bea versuchte, sich zu erinnern. Die Bettwäsche roch nach ihrem Orangenparfum. Egal, dachte sie, während sie mit ihrem Finger über die Kommode und den Nachttisch fuhr und ihren staubig-grauen Zeigefinger betrachtete. Sie rümpfte die Nase und überlegte, ob Zeit bliebe, zu saugen und Staub zu wischen, entschied sich aber dagegen. Sie hastete die Treppe hinunter, holte eine Flasche Sauvignon blanc aus dem Keller und stellte sie in die Getränkelade des Kühlschranks. Sie spülte den Salat ab und tupfte den Lachs mit einem Küchentuch trocken. Dann schaltete sie ihren Laptop ein. Während sie nach dem Ordner Arbeit suchte, lächelte ihr ein Bild von Tom und ihren beiden Kindern Emily und Simon vom 15 Zoll großen Bildschirm entgegen. Toms Gebiss, das an die Milchzähne eines Schulanfängers erinnerte, leuchtete mit dem silbergrauen Haar um die Wette und bildete einen grellen Kontrast zu seiner Haut, die wie Bronze in der Sonne glänzte. Er hatte einen Arm um Emily gelegt, die mit zusammengepressten Lippen an der Kamera vorbei starrte, als wollte sie sagen: „Echt jetzt?“
Simons Hände umklammerten einen fetten Rotbarsch, den Tom und er zuvor gefangenen hatten. Sein kleines Doppelkinn hatte er nach oben gereckt, die nackte Brust nach vorn gestreckt und sein Grinsen enthüllte eine münzgroße Zahnlücke, die seither durch zwei perfekte weiße Schneidezähne befüllt wurde.
Bea lächelte, als sie an ihren ersten gemeinsamen Urlaub mit Tom und den Kindern in Norwegen dachte. Sie hatten ein Ferienhaus an der Küste zwischen Lyngdal und Farsund gemietet, das einen 360°-Panoramaausblick auf die Fjordlandschaft bot. Die Umgebung leuchtete in allen Farben: das satte Grün, das tiefblaue Wasser, das warme Licht der Abendsonne. Anfangs war Bea skeptisch gewesen. Caorle oder Brac waren doch ideale Urlaubsorte für eine Familie, nicht wahr? Doch Tom war hartnäckig geblieben. Es würde den Kindern gefallen. Die Landschaft, das Meer, das Angeln, das Haus. Und er behielt Recht.
Es gefiel den Kindern. Oder zumindest der einen Hälfte. Simon war begeistert von dem Boot, das sie gemietet hatten, um im nahe gelegenen Anglergebiet zu fischen. Er liebte das Meer, den Salzgeruch und den Fisch, den sie selbst fingen und zubereiteten. Tom hatte ihm gezeigt, wie er das 10 Meter lange Vorfach zu Wasser ließ. Es war mit Haken versehen, über denen Leuchtperlen montiert waren. Simon bestückte die Haken mit Fischfetzen, was Emily nur „eklig“ fand. Da wusste sie nicht, dass das Ausnehmen der Fische ihre Vorstellung von Ekel deutlich übertreffen würde. Tom half Simon, das obere Ende in einen Karabiner einzuhaken, der an der Hauptschnur befestigt war, und die Montage mit Blei zu beschweren. Dann ließen sie die Montage absinken. Während Emily sich in ihrem neuen Zweiteiler in der Sonne räkelte und Bea ein paar Sandwiches mit Putenschinken, Edamer und Rucola belegte, starrten Tom und Simon wie gebannt über den Rand des Bootes.
„Ich glaube, sie mögen unseren Köder nicht.“ Tom drückte Simons Schulter. „Nur Geduld, Sportsfreund. Wer Fische fangen will, braucht vor allem eins: Zeit.“
Simon ließ die Schnur keinen Moment aus den Augen. Er hypnotisierte sie, malte sich aus, wie in dem dunklen, kalten Wasser ein riesiger Fisch nach einem der Haken schnappte und wie dieser in seinem Schlund verschwand. Doch nichts geschah. Als die Schnur sich regte und im Wasser hin- und her zuckte, traute Simon seinen Augen nicht. Bildete er sich das ein? Er streckte den Finger aus und berührte sie. Nein, da war es, ein deutliches Zupfen, das bis in seine Hand vibrierte.
„Tom? Tom!“ Simon sprang auf. Seine Beine kribbelten.
Sie warteten ein, zwei Minuten, bevor sie das Vorfach einholten. Simons nackte Füße trippelten im Stakkato über die Holzdielen des Fischerbootes.
Sieh nur, Tom! Sieh nur!“
Tom zwinkerte Simon zu. „Und ob sie unsere Köder mögen!“
Das Netz fiel mit einem Platschen auf die Planken. Ein etwa 50 cm langer Rotbarsch wand sich auf dem Boden, daneben eine Reihe von Makrelen und Lengs. Simons Augen wurden groß wie Kaffeeuntersetzer. Bea schnappte sich die Kamera.
„Emily! Komm her! Ich mache ein Foto von euch.“
Sie erinnerte sich, zwanzig Mal abgedrückt zu haben, Tom und Simon mit vor Aufregung geröteten Wangen, Emily mit dem für vorpubertäre Elfjährige typischen Augenrollen. Bea liebte das Foto, selbst wenn Emily ihr vorwarf, sie dazu genötigt zu haben.
Es klingelte. Nicht zum ersten Mal, wie Bea benommen wahrnahm. Toms Bild erschien lachend auf ihrem Mobiltelefon.
„Hey! Schatz!“
Bea ließ sich mit dem Handy ans Ohr gepresst auf den Küchenstuhl fallen.
„Alles in Ordnung? Du klingst … abwesend.“
Toms tiefe Stimme kroch knackend durch die Leitung.
„Ja … ja, alles bestens. Ich habe nur die Zeit übersehen. Ich muss noch einiges erledigen, bevor du kommst.“
Tom räusperte sich. „Ja. Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen.“
„Ja?“
„Ich schaffe es heute nicht.“
Bea umklammerte ihr Telefon so fest, dass ihre Knöchel schneeweiß hervortraten.
„Aber … ich habe Lachs gekauft und Weißwein. Emily übernachtet heute bei Penny. Ich dachte, wir könnten…“
„Es tut mir leid, Schatz. Es geht heute nicht.“
Bea nahm einen tiefen Atemzug.
„Aber du hast es versprochen.“
„Fang nicht so an!“
„Was ist denn passiert? Wieso kannst du nicht vorbeikommen?“
Tom seufzte und knirschte mit den Zähnen. Bea konnte förmlich sehen, wie seine Kiefermuskeln mahlten und sich seine Nase kräuselte.
„Es geht nicht.“
Bea sprang auf und warf dabei fast den Küchenstuhl um.
„Was heißt es geht nicht? Wir wollten uns heute einen schönen Abend machen. Gemeinsam zu Abend essen. Wein trinken. Vielleicht einen Film anschauen.“
„Ich weiß, Bea. Es tut mir leid. Es ist etwas dazwischengekommen.“
Beas Wangen glühten. „Was denn, Tom? Was ist dazwischengekommen?“
Tom seufzte und klang, als erklärte er einer Sechsjährigen das Leben. „Ich erzähle es dir morgen, okay?“ „Morgen?“ Bea lachte freudlos. „Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, Zeit für uns zu finden? Ich habe heute früher zu arbeiten aufgehört, bin für ein romantisches Abendessen einkaufen gegangen, war laufen, habe Emily erlaubt, bei Penny zu schlafen, obwohl es ein Wochentag ist. Und wozu das alles? Damit dir etwas DAZWISCHEN kommt?“
„Jetzt mach nicht so einen Wind“, zischte Tom, „ich komme morgen. Ich koche uns etwas Feines und danach werde ich dich so richtig verwöhnen. Na, wie hört sich das an?“
Bea presste die Lippen aufeinander. Sie hatte Angst, etwas zu sagen, das sie nicht mehr zurücknehmen konnte.
„Hey? Sei nicht böse, ja?“ Toms Stimme floss durchs Telefon wie flüssiger Karamell. „Ich mache es wieder gut. Versprochen!“
Bea erinnerte sich an ihr letztes gemeinsames Wochenende und fühlte Toms Finger auf ihren Hüften, ihren Pobacken und Schenkeln und seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Sie erschauerte. Wie schaffte er es immer wieder, sie herumzukriegen?
„Schon gut. Dann eben morgen.“
„Ich freue mich auf dich!“
„Ja, klar.“
„Dann bis morgen, Bea! Und such dir ein hübsches Negligé raus.“
Bea verdrehte die Augen. „Bis morgen, Tom!“
Bea überflog ihre Kolumne, strich ein paar Sätze, ergänzte ein paar andere und entschied, dass sie das Beste herausgeholt hatte. „Konsumzwang“ war nicht ihr Thema und ihr Chefredakteur, Bernd Wranek, würde es sich ohnehin nicht nehmen lassen, dem Beitrag seinen Stempel aufzudrücken. Wozu sich damit abplagen? Bea drückte auf Senden und schloss ihren Laptop.
Dann ging sie in die Küche und holte ihre Einkäufe aus dem Kühlschrank. Sie goss etwas Olivenöl in eine beschichtete Pfanne, salzte den Lachs und bereitete ein Honig-Senf-Dressing für den Salat zu. Tom hatte keine Zeit? Fein. Sie würde sich ohne ihn einen entspannten Abend machen. Seit Wochen lag ein Liebesroman von Nicolas Sparks auf ihrem Nachttisch. Oder sie könnte sich Notting Hill ansehen. Sie liebte diesen Film. Tom war für Liebesschnulzen ohnehin nicht zu haben. Eher für Dokumentationen oder Sportsendungen oder Dramen. Es gab genug Drama in ihrem Leben. Das brauchte sie nicht in ihrer spärlichen Freizeit.
Der Lärm ließ Bea aufhorchen. Eine Tür fiel krachend ins Schloss, eine Tasche wurde zu Boden geschleudert, jemand heulte. Bea schob die Pfanne von der Herdplatte und stürzte ins Vorzimmer. Simon kauerte auf dem Boden und rieb sein Schienbein. Emily deutete drohend mit dem Zeigefinger auf ihn.
„Was ist hier los?“ Bea blickte ratlos von einem zum anderen.
„Emily hat mich getreten!“ Simon verzog das Gesicht.
„Der kleine Scheißer hat mich vor allen blamiert!“
Emilys Wangen leuchteten rosarot.
„Was genau ist passiert?“
Bea beugte sich zu Simon und begutachtete sein Bein, das ein wenig rot war.
„Nicht so schlimm“, meinte sie an ihren Sohn gewandt. „Wir legen ein bisschen Eis drauf.“
„Vanille?“ Simons Augen leuchteten hoffnungsvoll.
„Nein, Eiswürfel.“ Bea lachte. „Völlig geschmacksneutral, aber schön kalt gegen die Schwellung.“
„Ach, Mensch“, beschwerte sich Simon.
Emily hängte ihre Lederjacke an einen der metallenen Haken und überprüfte ihr Spiegelbild.
„Also?“ Bea verschränkte die Arme.
„Simon hat mich vor meinen Freunden lächerlich gemacht. Dem kleinen Mistkäfer sollte man das Maul mit Paketband zukleben“, schimpfte Emily.
„Also wirklich!“
„Es ist wahr! Er hat vor Penny, Sophie und Jonas behauptet, ich wäre in Jonas verliebt.“
„Und? Bist du?“ Bea betrachtete ihre Tochter, deren Augen die Farbe von Vollmilchschokolade hatten, genau wie ihre eigenen.
„Was??“ Emilys Augen funkelten.
„Bist du in Jonas verliebt?“
Simon lachte.
„Also, echt jetzt!“ Emily warf ihr langes, honigblondes Haar über die Schulter und drängte sich an ihrer Mutter vorbei ins Wohnzimmer.
„Ihr seid so was von peinlich!“
Bea und Simon blickten einander an und lachten.
„Kommt Tom heute?“, fragte Emily, als Bea den Lachs mit Rosmarinkartoffeln und Salat anrichtete.
Bea schüttelte den Kopf. „Er hat abgesagt.“
Emily plumpste auf einen Stuhl und schenkte sich Wasser aus der Karaffe ein.
„Wolltest du nicht bei Penny übernachten?“
„Abgesagt.“
„Klingt, als wären wir beide heute versetzt worden.“
Emily nickte, während sie Salat auf ihre Gabel schaufelte. „Irgendein Typ. Ist offenbar wichtiger als ich.“
„Na, wenigstens irgendein Grund“, erwiderte Bea, während sie Simons Teller auf seinen Platz stellte.
„Tom hat einfach nur gesagt, dass er nicht kommt.“
„Tja, Tom eben.“
Bea setzte an, Tom zu verteidigen, überlegte es sich aber anders. Im Grunde hatte Emily Recht. Tom war immer für eine Überraschung gut und es war nicht das erste Mal, dass er spontan absagte.
„Dann machen wir drei uns einen gemütlichen Abend“, warf Simon mit vollem Mund ein.
Bea warf einen verstohlenen Blick auf ihre Tochter und erwartete, dass Emily protestierte. Stattdessen räumte sie ihren Teller in die Spülmaschine und hechtete auf die Couch im Wohnzimmer. „Den Film suche ich aus!“, rief sie und wedelte mit der Fernbedienung.
Minuten später kuschelten die drei sich in die dicken Sofakissen. Der Vorspann von Schlaflos in Seattle flimmerte über den Bildschirm, der Duft von frischem Popcorn schwebte durch den Raum und die Gesichter ihrer beiden Kinder schmiegten sich links und rechts an ihre Schulter. Emilys goldblondes Haar kitzelte sie an der Nase. Bea genoss den friedlichen Abend mit Emily und Simon. Es passierte selten genug, dass sie Zeit mit beiden verbrachte. Ihre Enttäuschung, dass Tom abgesagt hatte, verflog. Sie liebte Tom, aber sie vermisste einen Partner, der mit ihr lebte und ihr half, ihre Kinder groß zu ziehen und die finanzielle Bürde mit ihr gemeinsam zu tragen. Tom hatte klar gemacht, dass er seine eigene Wohnung in Linz nicht aufgeben wollte. Er brauchte Freiheit, Unabhängigkeit und einen Rückzugsort nur für sich. Dennoch genoss sie es, ihn um sich zu haben. Sie spürte seine Hände auf ihrer Haut, während sie an ihn dachte. Seinen heißen Atem in ihrem Nacken. Seine Finger auf und in ihr. Ihre Brüste spannten, zwischen ihren Beinen kribbelte es. Sie schüttelte die Bilder ab wie ein Insekt, das über ihren Arm krabbelte. Die Dunkelheit kroch durch das Wohnzimmer wie undurchdringlicher Nebel, nur der Bildschirm flimmerte unbeirrt weiter. Der Film war zu Ende. Eine braungebrannte Blondine mit Sixpack pries ein Bauch-weg-Gerät an und versprach in wenigen Wochen den perfekten Bikini-Körper. Bea warf einen verstohlenen Blick auf ihren Bauch, der sich ungeniert über den Bund ihrer Jeans wölbte. Emily war nicht mehr da. Das restliche Popcorn krümelte einsam in der Tupperware-Schüssel vor sich hin oder lag über den Glastisch verstreut. Simon schnarchte leise in ihr Ohr. War sie eingeschlafen? Bea rüttelte ihren Sohn sanft am Arm, doch er rührte sich nicht. Sie beschloss, ihn auf der Couch schlafen zu lassen. Die Uhr zeigte 23:41. Bea schlurfte ins Bad, wusch sich, putzte die Zähne und plumpste ins Bett. Die Nacht war kurz genug, Schlaf kostbar. Wie kurz die Nacht werden sollte, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht.
Er beobachtete sie eine ganze Weile. Sie war mittelgroß mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie lud Brokkoli, Äpfel und Kartoffeln in den Einkaufswagen. Ihr schulterlanges brünettes Haar schmiegte sich an ihr weiches Gesicht wie Seide. Sie bewegte sich wie eine Tänzerin, leicht und geschwind, sanft und fließend. An der Hand hielt sie einen etwa fünfjährigen Jungen, der ununterbrochen redete und half, die Lebensmittel einzupacken. Ein kleines Bäuchlein lugte unter seinem Supermann-T-Shirt hervor und die Pausbacken ließen vermuten, dass er ebenso gern aß, wie er einkaufte. Sein Blick wanderte zurück zu der Frau, über ihre Beine, die unter einem eng sitzenden Jeansrock hervorlugten, über ihre Hüften zur Taille (schmal, wie er es mochte) bis zu ihren Brüsten, die wie zwei reife Orangen aus dem Ausschnitt ihrer Baumwollbluse lugten. Wenn sie sich nach vorn beugte, erhaschte er einen Blick auf ihren BH. Schwarze Spitze. Seine Zunge befeuchtete die Lippen. Er stellte sich vor, wie diese Lippen ihre Brüste küssten und hinab wanderten. Tiefer und tiefer. Er seufzte. Da sah er es. Das Mädchen. Es hüpfte mit einem Brotlaib und einer Packung Spaghetti beladen in den Gang mit den Milchprodukten. Sein Haar floss wie Gold über die Schultern bis zur Mitte des Rückens. Es war feingliedrig, zart mit haselnussbraunen Augen, in denen sich das Licht golden widerspiegelte. Das Mädchen lächelte, wechselte ein paar Worte mit der Frau und drehte eine Pirouette. Sein Haar schwebte durch die Luft wie Goldregen. Es strich eine Strähne hinter das Ohr und zog an seinem Baumwollrock, der ein Stück nach oben gerutscht war. „Mutter und Tochter“, dachte er und lächelte wölfisch. Perfekt.
Die Frau strich dem Mädchen über das Haar und legte dem Jungen eine Hand auf die Schuler. Der Bub griff lachend nach dem Einkaufswagen und schob die Einkäufe in Richtung Kasse.
Er betrachtete die kleine Familie aus sicherer Entfernung, tastete nach dem Mobiltelefon und aktivierte die Kamera-App. Er drückte ab, einmal, zweimal. Dann zoomte er auf das Mädchen. Es wirbelte um den Einkaufswagen, schichtete Lebensmittel auf das Warenband und drehte sich dabei immer wieder um sich selbst. Knips, knips, knips. Bei jeder Drehung hob sich der Rock des Mädchens und entblößte seine dünnen Beine. Einmal erspähte er seinen weißen Schlüpfer. Er biss sich auf die Zunge. Er spürte er eine Erektion, die sich gegen seine Jeans abzeichnete und presste sich enger an die Stellage mit den Softdrinks. Er unterdrückte ein Stöhnen. Sein Jagdinstinkt war erwacht.
Es war ein Rumpeln, das Bea aus dem Schlaf riss. Sie tastete nach dem Funkwecker auf ihrem Nachtkästchen. 3:34. Sie seufzte. Das Geräusch hatte sie aus ihrem Traum geholt, der sie seit Jahren verfolgte. Sie kauerte auf den Knien auf der Straße vor dem Polizeirevier am Bahnhof. Ihr Mann Max lag blutüberströmt auf dem Asphalt, sein Atem pfiff wie eine defekte Luftmatratze und er verlor immer wieder das Bewusstsein. Seine Lider flatterten, er hustete und Blut lief über beide Mundwinkel und sein Kinn und tropfte auf den Asphalt. Platsch, platsch, platsch. In Beas Erinnerung trommelte das Blut auf den Boden. Ihre Sinne waren wie benebelt und gleichzeitig aufs Höchste sensibilisiert. Wo blieb der Rettungswagen? Wieso half ihnen niemand? Sie legte eine Hand auf Max Brust, wo das viele Blut die Polizeiuniform vollgesogen hatte. In der Dunkelheit wirkte der Stoff schwarz. Ein warmer metallischer Geruch erfüllte die Luft. Es war alles so schnell gegangen. Bea hatte sich mit Max zum Ende seiner Schicht verabredet. Er hatte Überstunden gemacht, da Willi, ein Kollege, sich bei seiner Tochter mit Scharlach angesteckt hatte. Bea hatte im Fitnessstudio im Forum trainiert, geduscht und ihr neues Etuikleid angezogen. Sie überquerte die Straße, die zum Bahnhofsvorplatz führte und bemerkte zwei Polizisten, die aus der Dienststelle am Bahnhof kamen. Es hatte einen Alarm gegeben. Bea hatte ihn gehört, als sie sich nach dem Duschen anzog. Der Platz vor dem Bahnhof war menschenleer. Sie hatte mehrmals versucht, Max zu erreichen. Sie rannte. Alle Einsatzkräfte arbeiteten im Gebäude, kümmerten sich um die Menschen und brachten sie auf die für Notfälle vorgesehenen Sammelplätze. Bea kniff die Augen zusammen und erkannte Paul und Max. Paul war Max´ bester Freund und seit vielen Jahren sein Partner bei der Polizeiinspektion Bahnhof. Er war Trauzeuge bei ihrer Hochzeit und Simons Taufpate. Die beiden steuerten auf sie zu. Max winkte ihr. Nein, er gestikulierte wild. Bea verstand nicht. Dann drehte sie sich um. Vor ihr stand eine Gestalt in Kapuzenpullover und dunklen Hosen. Das Gesicht war fast gänzlich von einem Schal verdeckt. Sie blickte in den Lauf einer Pistole. Sie hörte Max und Paul schreien. Dann fiel ein Schuss. Beas Ohren waren taub bis auf ein schrilles Klingeln, das bis ins Mark schmerzte. Max brüllte etwas, das sie nicht hören konnte. Paul bedeutete ihr, sich auf den Boden fallen zu lassen. Sie gehorchte.
Dann ging alles blitzschnell. Er zog eine Waffe. Das Metall der Pistole blitzte im Schein der Straßenlaterne. Ein Schuss krachte. Ein Weiterer. Beas Ohren klingelten einen Augenblick lang. Ein Schatten, der rannte. Ein Schrei. Ein ohrenbetäubender Schrei. Ein Krachen. Füße auf dem Asphalt. Das Geräusch von Schuhen auf dem Boden, das langsam leiser wurde, verebbte. Bea zitterte so, dass sie es kaum schaffte, ihr Mobiltelefon aus der Handtasche zu zerren. Als sie es zu fassen bekam, glitt es durch ihre Finger wie flüssiges Metall. Sie griff erneut danach, presste es an ihre Brust, um es festzuhalten und versuchte, ihren Code einzugeben. Ein Mann lag zusammengekrümmt auf dem Asphalt. Sie wählte den Notruf, während sie auf ihn zustürzte. Es war Max. Oh, Gott, nein! Bitte nicht!, dachte sie, während sie neben dem blutenden Körper zu Boden glitt und mit ihren Fingern über den Kopf ihres Mannes strich. Sie öffnete ihre Augen und spürte, wie der Alptraum, den sie immer wieder durchlebte, davon driftete.
Ein weiteres Rumpeln. Dieses Mal lauter. Bea schwang die Füße über den Bettrand und wischte sich die Tränen von den Wangen. Was war das? Sie tastete nach dem Lichtschalter und kniff von der Helligkeit geblendet die Augen zusammen. Sie schlich den Gang entlang, vorbei an Emilys Zimmer, in das sie einen Blick warf. Ihre Tochter schlief tief und fest, das blonde Haar wie ein Heiligenschein um ihren Kopf drapiert. Simons Bett war leer. Sie machte Licht in seinem Zimmer, sah das zerdrückte Kissen und tastete nach dem Laken. Es war warm. Weit konnte er nicht gekommen sein. Das Geräusch. Da war es wieder. Es kam von unten. Sie schlich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und lauschte. Die Küche lag unberührt vor ihr, im Wohnraum surrte eine Fliege hartnäckig an der Fensterscheibe auf der Suche nach einem Ausgang. Vor der Tür zur Abstellkammer verharrte sie einen Moment. Für einen Augenblick war alles still. Da! Da war es wieder! Ein Rumpeln, als würde jemand gegen eine Wand laufen. Vorsichtig zog sie die Tür zum Vorratsraum auf und erstarrte. Simon drückte seinen ganzen Körper gegen die Stellage mit den Lebensmittelvorräten, als wollte er dagegen anrennen. Dabei murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin. Bea trat hinter ihn und legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter.
„Simon?“ Sie sprach leise, beruhigend, um ihn nicht zu erschrecken.
Simon reagierte nicht. Die Augen geöffnet, blickte er starr auf die Wand mit der Stellage. „... geht nicht auf“, nuschelte er, „verstehe das nicht.“
Bea drückte erneut seine Schulter, dieses Mal etwas fester. „Simon! Hörst du mich?“ Sie legte einen Finger unter das Kinn ihres Sohnes und drehte seinen Kopf so, dass er sie ansehen musste. Sie runzelte die Stirn. Es war, als blickte er geradewegs durch sie hindurch. Als Bea nach dem Lichtschalter tastete, hörte sie ein Plätschern. Simon hatte seine Pyjamahose hinuntergezogen und erleichterte sich fröhlich summend im Abstellraum. Bea starrte ihren Sohn fassungslos an. Als er fertig war, drückte er sich an ihr vorbei und stolzierte mit starrem Blick ins Wohnzimmer. Bea hielt ihn an einem Arm fest und schob ihn zur Couch. Was war nur los mit ihm? Schlafwandelte er? Bea schnippte mit den Fingern vor seinem Gesicht.
„Simon! Hallooooo! Simon!“
Plötzlich kehrte Leben in Simons Augen zurück. Er blickte sie an und lächelte.
„Mama! Kannst du nicht schlafen?“ Simon strahlte Bea an.
Bea grinste. „Jetzt wohl nicht mehr.“
„Ich musste ganz dringend aufs Klo“, erklärte Simon.
„Das habe ich gemerkt“, erwiderte Bea, während sie ihrem Sohn einen Kakao zubereitete. „Sag, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Klar! Warum?“
Bea schüttelte den Kopf und stellte die dampfende Tasse auf den Küchentisch.
„Nicht so wichtig, denke ich.“
Simon schlürfte das heiße Getränk durch einen blauen Plastikstrohhalm.
„Mama, hast du den Schattenmann schon mal gesehen?“
Bea runzelte die Stirn. „Wen meinst du, mein Schatz?“
„Ein Mann, ganz dunkel wie ein riesiger Schatten.“
„Wie kommst du darauf?“
„Er ist vorhin durch das Haus geschlichen. Ich wollte mit ihm reden, aber er ist weiter gegangen.“
Bea war beunruhigt. „Hast du das geträumt, Simon?“ Simon schüttelte energisch den Kopf.
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher, Mama.“ Er grinste sie mit einem Kakaoschnurrbart an.
„Ich glaube, der Mann ist aus deinen Träumen gekommen“, entgegnete Bea zwinkernd. „Wir zwei sollten schlafen. Morgen müssen wir früh raus“, erklärte Bea, während sie die Pipi-Lache rasch mit Küchentüchern und Desinfektionsmittel aufwischte.
Simon sprang auf und hopste zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben. Als Bea zu ihm ins Zimmer kam, um ihn zuzudecken, war er bereits eingeschlafen.
„Schattenmann“, murmelte Bea kopfschüttelnd, als sie sich ins Bett legte. „Wie kommt er nur auf so etwas?“
Die Sorge, dass irgendetwas mit ihrem Sohn nicht stimmte, kreiste in ihrem Kopf und hielt sie erfolgreich davon ab, einzuschlafen. Was war mit Simon los? Wieso geisterte er mitten in der Nacht durchs Haus? Hatte er jemanden gesehen? Oder bildete er sich das ein, während er schlafwandelte? Irgendwann übermannte sie der Schlaf und sie träumte von lang gezogenen Schatten, die sich durch die Gänge bewegten, von Simon, der mit starrem Blick vor sich hin murmelte und von Max, der in ihren Armen verblutete.
Sie war in Trauer. Er konnte es sehen, es fühlen. Er beobachtete sie seit einigen Monaten. Ihre Haltung hatte sich verändert. Der Rücken gebeugt, die Schultern hingen herunter und ihr Kopf baumelte auf dem Hals wie eine gewichtige Bowlingkugel. Sie bemühte sich, für ihre beiden Kinder zu lächeln, den Alltag zu bewältigen, aber es war offensichtlich, dass der Verlust ihres Mannes sie schier erdrückte.
„Tja“, dachte er. Life is a bitch. Der Junge wirkte unverändert. Kinder waren härter im Nehmen. Er kaute an einer Wurstsemmel, während er seine Mutter ohne Unterlass vollquatschte. Sie tätschelte ihm den Kopf, lächelte freudlos und zog ihren Schlüsselbund aus der Handtasche. Ein schwarzer Audi A1 blinkte, als sie die Türen entriegelte und sich auf den Fahrersitz schwang. Der Junge stolperte über den Randstein und fing sein Gewicht an der Kühlerhaube des Fahrzeugs ab.
Hoppla! Was für ein tollpatschiges Kind!, dachte er. Er hasste ungeschickte Menschen, die sich gehen ließen und zu viel Gewicht auf den Rippen hatten. Wieso achteten Menschen nicht auf sich? Sie besaßen dieses eine Haus, das ihnen ein Leben lang dienen sollte. War es zu viel verlangt, sich sorgfältig um diesen Körper zu kümmern?
Der A1 brauste in Richtung Innenstadt davon. Er saß auf einer Bank an der Maxglaner Hauptstraße und tippte Notizen in seinen Laptop. Er gestand sich nur ungern ein, dass es zu früh war. Sie war nicht so weit. Sie brauchte Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten. Er musste geduldig sein. Er wünschte, Geduld wäre eine seiner Stärken. Er hatte gelernt, beharrlich zu sein, Ziele zu verfolgen, Pläne zu schmieden. Wenn er letztendlich erfolgreich sein wollte, erforderte das ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen, Disziplin und Konsequenz. Er wünschte nur, er könnte die Dinge beschleunigen. Erst heute Morgen hatte er das Mädchen beobachtet. Es besuchte gemeinsam mit seiner Freundin, der Brünetten mit den Sommersprossen, eine Jugend-Tanzakademie. Jetzt, in den Sommerferien, waren die Mädchen fast täglich dort. Er beobachtete sie von der Straße aus, wenn sie sich im Tanzsaal aufwärmten, ihre schlanken Beine und Hüften dehnten und sich rhythmisch zur Musik bewegten. Hip-Hop. Ballett hätte besser zu ihr gepasst. Entscheidender war, dass sie sich bewegte, graziös wie eine griechische Göttin. Er hätte ihr stundenlang zusehen können, wie sie die Arme hob, sich drehte, auf die Knie fiel und in einer fließenden Bewegung wieder auf den Füßen landete. Anmutig. Erregend. Er spürte, wie sein Penis erigierte.
„Was machen Sie hier, zum Teufel?“ Eine ältere Dame tippte ihn mit ihrem Stock in die Seite und starrte ihn argwöhnisch an. „Sie Spanner, Sie!“
Er atmete tief ein, schluckte die Wut und das Bedürfnis, ihr den Stock gegen die Gurgel zu drücken und nicht mehr loszulassen, bis sie leblos zu Boden sank, hinunter und richtete sich mit seinem charmantesten Lächeln auf.
„Meine Nichte“, erklärte er und seine Stimme troff vor Stolz. Er deutete vage auf das Mädchen mit dem blonden Dutt. „Tanzt sie nicht großartig?“
Die alte Dame presste die Nase an die Scheibe und kniff die Augen zusammen, bis sie fast in der runzligen Gesichtshaut verschwanden.
„Ihre Nichte, ja?“
Er nickte. „Sie tanzt seit ihrem dritten Lebensjahr. Ist sie nicht wundervoll?“
Die alte Frau schob das Gesicht von der Scheibe weg und stützte sich auf ihren Stock. „Ich verstehe nichts vom Tanzen“, erklärte sie und setzte ihren Weg fort. „Aber ich weiß, wenn mir jemand eine Lüge auftischt.“ Ihre Augen blitzten.
Das Lächeln in seinem Gesicht gefror. Einen Moment lang überlegte er. Könnte die Alte ein Problem werden? All seine Muskeln spannten sich an, bereit zu handeln, zu kämpfen. Nein, entschied er. Nein, sicher nicht. Er spähte durch die Scheibe und erblickte rund ein Dutzend Mädchen, das nahezu perfekt synchron eine Choreographie tanzte. Eine Strähne hatte sich aus dem Dutt seiner Prinzessin gelöst und umrahmte ihr erhitztes Gesicht. Dies war nicht die Zeit und nicht der Ort. „Geduld“, sagte er sich. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Erektion war verschwunden.
Der Hahn krähte. Laut, unerbittlich, wieder und wieder. Bea wedelte mit der Hand, um den Vogel zu verscheuchen. Mistvieh! Wieso war er nicht endlich still? Durch einen dicken Nebel hörte sie eine Stimme, die nicht zu dem Federvieh passte. Sie öffnete die Lider, blinzelte und tastete nach ihrem Mobiltelefon. Sie musste dringend ihren Weckrufton ändern. Während sie den Wecker abstellte und der Hahn endlich aufhörte, zu krähen, spürte sie einen Arm in ihrem Nacken. Sie zuckte zusammen.
„Guten Morgen, Schönheit!“, begrüßte sie die Stimme, die sich im Traum mit dem Hahn duelliert hatte.
Sie wandte den Kopf, der nach einer Schmerztablette verlangte, und blickte in Toms bernsteinfarbene Augen.
„Hey! Ich dachte...“, fing sie an, während Tom ihr einen Finger auf die Lippen legte und ihren Mund mit einem Kuss verschloss.
„Shhhh... später“, murmelte er und schob ihr den Slip über die Hüften zu den Knien.
Bea strampelte die Unterhose weg und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihre Lippen tasteten nach seiner Brustwarze. Sie spürte, wie sich die Haare auf seinem Oberkörper aufstellten. Er drückte sie ins Kissen, legte sich auf sie und küsste ihren Hals. Bea stöhnte leise, als er in sie eindrang. Sie bewegten sich einige Minuten wie ein perfekt abgestimmtes Uhrwerk, erst langsam, vorsichtig, dann schneller und heftiger. Beas Haut prickelte, ihr Unterleib schmiegte sich fester an seine Hüften. Als sie kam, fühlte sie sich wie ein Stück Treibholz auf einer Welle im Meer. Eintauchen. Untertauchen. Untergehen. Zurück an die Oberfläche. Sie ließ vollständig los, versank in Tom und in sich selbst, als würde sie sich nie wieder finden. Tom küsste sie und rutschte von ihrem verschwitzten Körper. Eine Minute lagen sie schweigend da, eine Einheit in zwei Körpern, nur das Ticken der Uhr im Vorzimmer durchbrach die Stille.
Bea warf die Bettdecke zurück und stolperte aus dem Bett.
„Was tust du?“
„Ich muss los. Die Redaktionssitzung fängt in einer halben Stunde an.“
„Hör zu, Liebes, wegen gestern ...“, fing Tom an, während Bea mit der Zahnbürste im Mund unter die Dusche sprang. „Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, wie viel Mühe du dir wegen des Essens gegeben hast.“
„Was war denn los?“
„Ein Kunde“, erklärte Tom. „Einer von der schwierigen Sorte. Ich musste gestern noch hinfahren. Einiges klären. Er war drauf und dran, den Auftrag zurückzuziehen. Das kann ich mir im Augenblick nicht leisten.“
Bea steckte den Kopf aus dem Bad. „Konntest du ihn besänftigen?“
Tom lächelte. „Allerdings. Er hat das Auftragsvolumen sogar erhöht. Ein ziemlich erfolgreicher Abend.“
„Das freut mich!“ Bea zog eine beige Chinohose über die Hüfte und stopfte eine hellblaue Bluse in den Bund. Etwas Mascara und Lipgloss, ein Pferdeschwanz. Mehr Zeit blieb nicht. Sie warf Tom eine Kusshand zu und stürmte zur Tür.
„Was ist mit Frühstück?“
„Das fällt aus. Im Büro gibt es Kaffee. Sehen wir uns heute Abend?“
„Ja. Ich werde da sein.“ Tom ließ den Kopf aufs Kissen sinken und drehte sich zur Seite. Es würde Stunden dauern, bis Bea nach Hause kam, da konnte er ebenso gut noch eine Runde schlafen.
Als Bea in der Redaktion eintraf, saßen ihre Kolleginnen und Kollegen allesamt um den großen Glastisch im Konferenzzimmer. Sie murmelte eine Entschuldigung und setzte sich rasch neben ihre Kollegin Sarah Kinkel. Bernd Wranek, ihr Chef, schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Wie schön, Frau Klein, dass Sie uns beehren.“
Bea ignorierte seine Bemerkung, zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und kritzelte dienstbeflissen auf die leeren Seiten. Die Landtagswahlen standen kurz bevor, das frisch renovierte Schwimmbad in der Alpenstraße wurde eröffnet, der siebte Raubüberfall auf den Juwelier Stegenberger in zwei Jahren. Nachdem Bernd sämtliche Storys verteilt und seine Erwartungen unmissverständlich erläutert hatte, beendete er die Sitzung. Bea erhob sich.
„Frau Klein?“
Bea hob eine Augenbraue.
„Ja?“
„Es gibt da eine Geschichte ...“. Er kratzte sich den kahlen Hinterkopf. „Ich möchte, dass Sie das übernehmen.“
Bea fragte sich, ob sie ihm jedes Wort einzeln aus den Nasenlöchern würde ziehen müssen, schwieg aber abwartend.
„Ein junges Mädchen ist gestorben. Die Polizei denkt, dass es sich um Selbstmord handelt.“
Beas Haut prickelte. Das war die Art von Geschichte, auf die sie gern verzichtete.
„Herr Wranek, ich schreibe Kolumnen. Persönliche Ansichten. Kleine Geschichten. Schon vergessen?“
Bernd wischte ihre Bedenken mit einer Bewegung weg, die zu bedeuten schien: Zeit, sich weiterzuentwickeln.
„Die Umstände sind unklar“, fuhr er fort. „Die Polizei schweigt. Der Name der Mutter ist Müller. Eva Müller. Sprechen Sie mit ihr.“
Bernd Wranek drückte ihr einen Zettel mit einer Adresse in die Hand.
Bea öffnete den Mund, um ihrem Chef klarzumachen, dass sie Kolumnen verfasste, keine Storys, die das Leben anderer Menschen vernichteten, klappte ihn wieder zu, als sie merkte, dass Bernd ihr den Rücken zugekehrt hatte. Das Gespräch war beendet.
„Großartig!“, dachte Bea. Genau, was sie jetzt brauchte. Mit einem Brennen in der Magengegend verließ sie die Redaktion und schwang sich in ihren Wagen. Sie brauchte Informationen. Irgendetwas, dass ihr einen Grund lieferte, eine trauernde Mutter wegen einer Story zu belästigen. Paul, dachte sie, griff nach dem Mobiltelefon und ließ die Hand sinken. Sie sollte ihre Freundschaft nicht für berufliche Zwecke benutzen. Das durfte sie nicht. Er würde ihr helfen, selbst, wenn ihn das in Schwierigkeiten brachte. Er würde sie niemals im Stich lassen. Sie biss sich auf die Lippe. Dann wählte sie seine Nummer.
Er kam ihr näher. Sein Atem strich über ihre Wange, als er sich an ihr vorbei drückte zu den Spinds, die im Trainingsbereich untergebracht waren. Dort verwahrte er seine Sachen. Er kam und ging unbemerkt. Er war unsichtbar. So oft er ihr schon begegnet war, sie hatte ihn nie bemerkt. Nicht seine Blicke, die über ihre weiblichen Hüften und ihre vollen Brüste glitten. Nicht seine Stimme, die das eine oder andere Mal ein „Entschuldigung“ geflüstert hatte, wenn er sie beim Vorübergehen versehentlich berührt hatte. Am allerwenigsten sein Gesicht. Das lag nicht daran, dass sein Gesicht unattraktiv gewesen wäre. Er war zweifellos ein Mann, nach dem sich Frauen umdrehten. Es lag viel mehr daran, dass sie unempfänglich war für die Reize eines Mannes. Sie war eine Gefangene ihrer Trauer. Offenbar nahm ihr verstorbener Mann immer noch ihr gesamtes Fühlen ein, umfing sie wie ein dichter Nebel, der dafür sorgte, dass sie ihr Umfeld schlichtweg nicht registrierte.
Er kannte ihren Tagesablauf, wusste, dass sie dienstags und freitags im EasyFit trainierte, am Dienstag meistens mit ihrer Kollegin Sarah Kinkel. Sarah war eine zierliche Rothaarige mit wasserblauen Augen, milchweißer Haut und Sommersprossen auf Armen und Dekolleté, die aussahen wie eine Armee winziger brauner Käfer, die über ihre Haut schwirrte. Er schüttelte sich. Jetzt hockte Sarah neben ihr auf einem Hocker an der Bar, einen Eiweißshake vor sich: Lachte und plauderte über Gott und die Welt. Er trank einen Johannisbeersaft und belauschte die beiden, froh darüber, für sie unsichtbar zu sein.
„Er war ein echter Loser“, erklärte Sarah und kicherte. „Hielt sich für einen großen Macker, dabei war sein Schwanz so klein.“
Sie formte einen wenige Zentimeter langen Abstand zwischen Zeige- und Mittelfinger und lachte hohl.
Er stellte sich vor, wie er ihr einen Finger auf den Kehlkopf legte und dagegen drückte, bis sie nach Luft japste. In Gedanken hörte er das Knacken, als er brach.
„Wo hast du den Mann kennengelernt?“, vernahm er ihre Stimme, die sanfter und melodischer klang als Sarahs schrilles Kreischen.
„Im Internet“, erwiderte die Rothaarige, als wollte sie sagen: „Wo sonst?“
„Aha.“
Friendsandmore.com. Sarah nahm einen großen Schluck von ihrem Proteinshake. „Egal, was du suchst. Dort wirst du fündig.“
Sie lachte. „Das klingt wie auf einem Bazar.“
„So ähnlich ist es auch“, meinte Sarah. „Du entscheidest, was du suchst, welche Interessen er haben soll. Oder sie! Und voilà! Schon erhältst du einen Haufen Rückmeldungen.“
Sie schwieg.
„Wäre das nichts für dich?“ Sarah hatte offenbar ein Projekt: Wie bringe ich meine Freundin unter die Haube?
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das ist nichts für mich.“
„Wie kannst du das wissen? Du hast es doch noch nicht ausprobiert!“
„Ich habe meinen Kopf auch noch nie in das Maul eines Löwen gesteckt. Trotzdem weiß ich, dass das nicht meins wäre“, erwiderte sie.
„Sehr witzig!“ Sarah blieb hartnäckig. „Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam ein Profil für dich erstellen? Du testest die Seite. Und wenn dir das Angebot nicht gefällt, dann lässt du das Ganze wieder.“
Sie nippte an ihrem Drink, während sie eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger zwirbelte. Sie erinnerte ihn dabei an ein Schulmädchen. Unschuldig. Kindlich. Das gefiel ihm.
„Meinst du wirklich?“
„Absolut!“, zeigte sich Sarah überzeugt. „Es wird Zeit, dass du wieder Kontakte knüpfst, Leute kennenlernst.“
„Es ist zu früh. Ich will niemanden kennenlernen. Die Kinder, der Job, das Haus. Das reicht völlig.“
„Das ist Arbeit. Wo bleibt das Vergnügen?“
Beinahe hätte sie geschrien: „Das ist gestorben, zusammen mit dem Mann, den ich liebe!“
Aber sie schwieg und lenkte ein: „Also gut. Ich probiere diese Dating-Plattform aus. Wenn es mir nicht gefällt, dann lasse ich es bleiben. Und dann will ich keine weiteren Verkupplungsversuche, in Ordnung?“
Sarah strahlte von einem Ohr bis zum anderen. Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände. „Das wird ein Spaß! Du wirst sehen!“
Er beobachtete das sommersprossenübersäte Wesen mit der schrillen Stimme und dankte dem Herrn, dass es Frauen gab, die dieser Horrorversion der Weiblichkeit nicht im mindesten ähnelten. Wie aufdringlich diese Person doch war! Widerlich! Als er sich vom Barhocker erhob und Richtung Spind schlenderte, blitzte eine Idee auf. Er duschte, zog sich an und hastete zu seinem Auto. Im Kofferraum lag sein Laptop. Er öffnete den Mac, verband sich mit dem WLAN des Fitnessstudios mit dem Internet und öffnete eine Suchmaschine. www.friendsandmore.com. Die Seite sprang ihm in grellem Rot entgegen. Erstellen Sie ein Profil. Er klickte auf das Icon. In diesem Fall würde er sich nicht bitten lassen.
Das Haus war leicht zu finden. Es lag in einer für die Gegend typischen Wohnstraße mit zahlreichen, weiß gestrichenen Reihenhäusern mit Flachdächern und zwei größeren Siedlungen, in denen vorwiegend Familien lebten. Die Luft war geschwängert von Kindergeschrei, Hundegebell und Autogehupe. Bea parkte den Audi unter einer Kastanie, die zum Nachbargarten der Müllers gehörte. Das Gebäude war alt und erinnerte Bea an ein Hexenhaus mit kleinem spitzen Giebel und braunroten Dachziegeln. So hatte sie sich immer das Haus der Hexe im Märchen „Hänsel und Gretel“ vorgestellt, nur, dass bei diesem der Lebkuchen fehlte. Der Rasen war frisch gemäht, der Garten von Hecken umsäumt, über die Bea ungehindert blicken konnte. Sie drückte die Klingel neben dem Gartentor. Die Wartezeit dehnte sich unangenehm in die Länge. Was sollte sie Frau Müller sagen? „Hallo. Ich heiße Bea Klein, bin Journalistin und stecke meine Nase in Dramen, die mich nichts angehen. Eigentlich bin ich nicht einmal Journalistin, sondern schreibe eine wöchentliche Kolumne für ein Schmierblatt, das es jetzt auf Sie abgesehen hat. Was können sie mir zum Tod ihrer Tochter erzählen?“
Sie verdrehte die Augen. Selbst ihr erschien das so dreist, dass sie überlegte, kehrtzumachen und Bernd Wranek mitzuteilen, dass sie diese Story sicher nicht übernehmen würde. Es gab keine Möglichkeit eine Mutter nach dem Tod ihres Kindes zu fragen, ohne sie noch tiefer in die Verzweiflung zu stoßen. Sie klingelte zwei weitere Male und trat auf den Gehweg zurück. Sie würde es später noch einmal probieren.
In diesem Moment bog Pauls dunkelgrüner Skoda Octavia um die Kurve und hielt hinter ihrem Wagen. Er trug seine Polizeiuniform. Sein dunkler mit weißen Strähnen durchzogener Haarschopf stand widerspenstig in alle Richtungen und sein Blick war ernst, aber warm. Er eilte auf Bea zu und küsste sie auf die Wange.
„Bea! Schön dich zu sehen“, rief er und beäugte sie aufmerksam.
„Paul! Danke, dass du gekommen bist.“ Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass Paul einer Modezeitschrift entsprungen sein könnte. Mit Ausnahme seiner Frisur korrigierte sie sich grinsend. Die bräuchte dringend ein professionelles Make-over. Niemand hätte ihn jemals für einen Mittvierziger gehalten.
Obwohl Paul nur eine Querstraße von ihrem Haus entfernt wohnte, sahen sie sich in letzter Zeit wenig. Manchmal hatte sie fast den Eindruck, dass ihr Paul aus dem Weg ging. Als Max noch gelebt hatte, war er ein ständiger Gast im Hause Klein gewesen, hatte mit der Familie gegrillt, Geburtstage und Weihnachten mit ihnen gefeiert und gelegentlich auf die Kinder aufgepasst, wenn Max und Bea ausgingen. Paul war Simons Taufpate und verbrachte gern Zeit mit ihr und den Kids, wenn es seine Zeit zuließ. Bea hatte sich immer gewundert, warum er nicht verheiratet war oder wenigstens eine feste Beziehung hatte. Max hatte ihr erklärt, dass seine große Liebe Silvia ihn für einen Anderen verlassen hatte. Das hatte ihn schwer getroffen. Offenbar wollte er damals mit Silvia den Rest seines Lebens verbringen. Seither hielt er sich bei Frauen zurück oder vielmehr dabei, sein Herz zu verschenken. Denn an Affären, One-Night-Stands und unverbindlichen Liebschaften mangelte es ihm nicht.
„Lange nicht gesehen“, bemerkte sie und versuchte beiläufig zu klingen.
Paul nickte. „Die Arbeit. Du weißt ja.“
„Klar“, erwiderte sie einen Ticken zu schnell. „Die Arbeit.“
Paul räusperte sich. „Geht es dir und den Kindern gut?“
„Danke. Ich kann mich nicht beklagen. Du solltest mal vorbeikommen. Simon würde sich freuen“.
„Du hast Recht. Ich habe ihn in letzter Zeit vernachlässigt. Das tut mir leid.“
„Schon gut“, beschwichtigte Bea. „Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Und zudem ein Privatleben, nehme ich an.“
Er hob eine Augenbraue. „War das eine Frage?“
Sie lachte. „Ich bin nicht sicher.“