Tödliches Herz - Lilly Frost - E-Book

Tödliches Herz E-Book

Lilly Frost

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Beschreibung

Rainer Brandt wird erdrosselt in seiner Wohnung aufgefunden. Kurz zuvor hatte Alexandra Wild ihn wegen der geplanten Adoption ihres Pflegesohns Luis zur Rede gestellt. Hat Alex Rainer Brandt getötet, um ihre kleine Familie zu schützen? Theo Bergmann ist von der Unschuld seiner Kollegin überzeugt und ermittelt auf Hochtouren. Der einzige Zeuge, Rainers Sohn Felix, wird seit dem Mord an seinem Vater vermisst. Allmählich verdichten sich die Spuren und führen Theo in die tragische Geschichte zweier Familien.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buchbeschreibung:

Rainer Brandt wird erdrosselt in seiner Wohnung aufgefunden. Kurz zuvor hatte Alexandra Wild ihn wegen der geplanten Adoption ihres Pflegesohns Luis zur Rede gestellt. Hat Alex Rainer Brandt getötet, um ihre kleine Familie zu schützen? Theo Bergmann ist von der Unschuld seiner Kollegin überzeugt und ermittelt auf Hochtouren. Der einzige Zeuge des Mordes, Rainers Sohn Felix, wird seit dem Mord an seinem Vater vermisst. Allmählich verdichten sich die Spuren und führen Theo in die tragische Vergangenheit zweier Familien.

Über den Autor:

Lilly Frost ist eine Salzburger Krimi-Autorin. 2019 erschien ihr erster Roman "Der Schattenmann". Im Jahr darauf startete ihre Reihe um das Ermittler-Duo Alexandra Wild und Theo Bergmann. "Tödliches Herz" ist die Fortsetzung von "Das Mädchen im Park" und spielt - wie schon die ersten Fälle - in Salzburg, der Heimatstadt der Autorin.

Für Malea Willkommen in unserer Familie!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Felix: Der Tag des Angriffs

Alex

Theo

Zwei Jahre zuvor

Felix: Der Tag des Angriffs, 18 Uhr 47

Alex

Felix: Der Tag des Angriffs, 19 Uhr 10

Achtzehn Monate zuvor

Theo

Felix

Theo

Felix

Alex

Theo

Siebzehn Monate zuvor

Theo

Felix

Alex

Theo

Sechzehn Monate zuvor

Alex

Theo

Felix

Theo

Vierzehn Monate zuvor

Theo

Alex

Felix

Alex

Vierzehn Monate zuvor

Theo

Felix

Alex

Theo

Felix

Theo

Vierzehn Monate zuvor

Theo

Herr Fendel

Alex

Theo

Felix

Alex

Theo

Felix

Alex

Dreizehn Monate zuvor

Theo

Alex

Felix

Alex

Dreizehn Monate zuvor

Felix

Alex

Theo

Alex

Felix

Alex

Dreizehn Monate zuvor

Alex

Ein paar Monate zuvor

Alex

Felix

Alex

Martha

Alex

Prolog

Das Motorrad jagte mit fast 160 km/h über die Bundesstraße. Die Dunkelheit lag über der Landschaft wie schwarzer Samt. Nur am Horizont zeigte sich das erste Licht des anbrechenden Morgens. Bis auf die Leitpfosten entlang der Straße, die das Licht des Scheinwerfers reflektierten, bot nichts dem Motorradfahrer Orientierung. Es waren um diese Zeit kaum Fahrzeuge unterwegs. Gelegentlich kam dem Motorradfahrer ein Auto entgegen, das ihn blendete, bis der andere Fahrer das Fernlicht endlich deaktivierte. Der Motorradfahrer spürte, wie sich die Kälte in seine Kleidung fraß. Er musste sich in Sicherheit bringen. Er wagte es bei der Geschwindigkeit nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ohne Gewissheit zu haben, wusste er, dass es nur eine Zeitfrage war, bis sie ihm folgen würden. Er war aufgeflogen. Einfach, weil er einen Moment lang unachtsam gewesen war. Er hätte sein Mobiltelefon nicht so offen liegenlassen dürfen. Nicht ohne vorher alle Nachrichten zu löschen, die er seinem Kontaktmann übermittelt hatte.

Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können?

Als er mit einem frischen Bier in der Hand vom Tresen zum Tisch zurückgekehrt war, hatte sich die Atmosphäre verändert. Ihm war nicht entgangen, wie sie ihn angeblickt hatten. Arglistig. Voller Misstrauen. Sein Mobiltelefon war auf dem Tisch gelegen. Das Licht des Displays erlosch gerade. Jemand hatte sich etwas auf seinem Telefon angesehen. Er unterdrückte den Impuls, das Gesicht zu verziehen. Stattdessen stellte er sein Bier auf dem Tisch ab und lächelte.

Er war es gewohnt, schnell zu reagieren. So lässig wie möglich bat er einen von ihnen, auf sein Bier zu achten. Er müsste kurz zur Toilette. „Aber sauf es mir nicht weg, ja?“, hatte er noch hinzugefügt, obwohl ihm das Herz bis zum Hals geschlagen hatte.

Dann war er vermeintlich auf die Toilette zugesteuert, aber kurz davor links abgebogen. Hier gab es einen Hinterausgang. Zum Glück steckte sein Schlüsselbund in seiner Jeans. Die Jacke hing noch im Lokal über der Lehne des Stuhls, auf dem er gesessen hatte. Das würde wohl frisch bei der Fahrt werden!

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, steuerte er auf seine BMW zu, setzte den Helm auf, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete die Maschine. Dann fuhr er vom Parkplatz auf die Bundesstraße und Richtung Stadt. Er musste zu seinem Kontaktmann. Der war seine einzige Chance, heil aus dieser Nummer herauszukommen. Und er musste sich beeilen. Sie würden nicht lange brauchen, um zu merken, dass er nicht auf die Toilette verschwunden war. Als es leicht zu regnen begann, musste er die Geschwindigkeit deutlich drosseln. Er hoffte, dass er noch ausreichend Vorsprung hatte.

Plötzlich tauchten hinter ihm die Scheinwerfer eines Fahrzeugs auf. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug. Seine Hände wurden feucht, obwohl sie eiskalt waren. Die Handschuhe steckten in seiner Jackentasche. Das Fahrzeug überholte ihn. Es war ein dunkler Lieferwagen. Er konnte die Aufschrift nicht entziffern. Erleichtert atmete er aus, als der Wagen Abstand zu ihm gewann.

In diesem Augenblick leuchteten die Bremslichter des Lieferwagens auf. Der Wagen stellte sich mit quietschenden Reifen auf der Fahrbahn quer. Der Motorradfahrer bremste ebenfalls, doch es gelang ihm nicht mehr, dem Fahrzeug auszuweichen. Mit einem hässlichen Knall prallte er mit seiner BMW gegen den Wagen und segelte über das Dach des Fahrzeugs und kam am Straßenrand zum Liegen. Im Schock fühlte er keine Schmerzen. Verzweifelt versuchte er, sich den Helm vom Kopf zu zerren, doch es gelang ihm nur, das Visier zu öffnen.

Der Fahrer des Lieferwagens stieg aus dem Fahrzeug. Der Motorradfahrer wollte schreien, doch drang kein Laut aus seiner Kehle. Auch nicht, als der Fahrer auf ihn zuging und neben ihm niederkniete. Der Motorradfahrer erkannte das Tattoo der Bande am Hals des Mannes. Sein letzter Gedanke galt seiner Mutter. Dann zog der Fahrer eine Glock aus seinem Hosenbund und schoss dem Motorradfahrer ins Gesicht.

„Es ist erledigt. Beeilt euch, wenn er noch einen Zweck erfüllen soll“, bellte der Fahrer des Lieferwagens in sein Mobiltelefon. Damit stieg er in seinen Wagen und fuhr davon. Am Firmament kündigte sich der neue Morgen in rosa Farbtönen an.

Felix Der Tag des Angriffs

Der Fernseher flimmerte in dem abgedunkelten Raum, in dem Felix schon so oft übernachtet hatte. Er wartete auf den Beginn von ‚Die Simpsons‘, eine seiner Lieblingsserien, während er sich ein paar Reels auf Instagram ansah. Einer seiner Schulkollegen hatte ein Video von seinem Fußballtraining gepostet. Felix klickte auf das Herz, um zu signalisieren, dass ihm der Beitrag gefiel. Felix warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon spät. Er sollte seiner Mutter eine Nachricht schreiben und sie wissen lassen, dass er heute bei seinem Vater übernachten würde. Er hatte spontan bei seinem Papa vorbeigeschaut und ihn gefragt, ob er diese Nacht dortbleiben könnte. Mama arbeitete etwas länger und er hatte keine Lust, den Abend alleine zu verbringen. Er schob sein iPhone in die Gesäßtasche seiner Jeans. Er hatte das Telefon zu seinem zehnten Geburtstag von seinen Großeltern bekommen. Seine Mutter hatte erst gegen das teure Geschenk protestiert, schließlich hatten sich jedoch seine Großeltern und Felix‘ hartnäckiges Betteln durchgesetzt.

Er hörte leise Geräusche aus der Küche. Sein Vater räumte wahrscheinlich gerade die Geschirrspülmaschine aus. Er vernahm das Klappern von Tellern, Besteck und Schubladen, die sich öffneten und wieder schlossen. Einen kurzen Moment lang hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er ihm dabei nicht half. Doch dann siegte die Faulheit. Felix gähnte herzhaft und blickte zum Fernseher, wo der Vorspann seiner Lieblingsserie lief.

Es klingelte an der Tür. Felix fragte sich, ob sein Vater jemanden erwartete. Er hatte jedenfalls nichts dergleichen erwähnt. Die Tür fiel ins Schloss. Felix hörte die Stimme einer Frau. Er glaubte nicht, dass er sie kannte. Sein Vater sagte etwas zu seinem Gast. Es klang barsch, ganz anders, als wenn er mit Felix sprach, fast als hätten die beiden einen Streit. Felix stand auf und öffnete die Schlafzimmertür einen Spaltbreit. Von hier konnte er den Vorraum und das Wohnzimmer sehen. Sein Vater und die Frau waren in der Küche. Auf der anderen Seite des Gangs lagen die Abstellkammer und das Badezimmer. Er lauschte einen Augenblick, bekam aber nur Wortfetzen von der Auseinandersetzung mit. Er hörte, wie die Frau ‚Luis‘ erwähnte. Felix dachte an seinen kleinen Cousin, der ebenfalls so hieß. Sein Onkel Markus und seine Tante Vera waren kürzlich verstorben. Ein Unfall, hatte Papa ihm erklärt. Felix‘ kleine Cousine Elsa war ebenfalls tot. Ermordet. Die ganze Stadt hatte vor einigen Wochen davon gesprochen. Die Nachrichten waren voll gewesen von Meldungen über Elsas Tod. Seine Mutter hatte versucht, die Geschichte von ihm fernzuhalten, damit er nachts schlafen konnte, aber er war längst kein Kleinkind mehr. Er verstand schon, dass es auf dieser Welt Böses gab, dass es Menschen gab, die anderen wehtaten.

Der Streit in der Küche wurde heftiger. Felix überlegte, ob er hinübergehen und die Auseinandersetzung unterbrechen sollte. Er mochte es nicht, wenn Erwachsene stritten. Es erinnerte ihn an die Zeit, bevor Mama Papa verlassen hatte und seine Welt zerbrochen war. Noch heute träumte er manchmal davon, dass seine Eltern sich versöhnen und wieder zusammenziehen würden.

Es klopfte an der Tür. Felix stutzte. Noch mehr Besuch? Das Klopfen wurde heftiger, dann folgte ein energisches Klingeln. Die Frau sprach leise mit seinem Vater. Er konnte sie nicht verstehen. Felix drehte den Fernseher auf stumm. Er blieb im Schneidersitz auf dem Bett sitzen und wartete. Jemand rüttelte am Türgriff. Felix spürte, wie sein Puls beschleunigte. Wer tat so etwas? Mit einem Mal flog die Tür krachend auf. Felix hörte einen Schrei aus dem Vorzimmer, dann etwas, was nach einem Kampf klang.

Felix wagte kaum, zu atmen.

Sein Vater brüllte etwas. Die Frau gab einen Laut von sich, der klang, als würde sie all ihre Kraft bündeln. Dann klirrte etwas. Jemand schrie auf. Mehr Gerangel. Felix wusste nicht, was er tun sollte.

Was ging da vor sich?

Dann fiel etwas zu Boden. Es klang schwer. Felix hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Seine Haut fühlte sich abwechselnd heiß und kalt an.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte sein Vater und klang dabei, als wäre er betrunken.

Niemand antwortete ihm.

Felix verstand nicht, wie sein Vater mit einem Mal lallen konnte. Er war sicher, dass Papa vollkommen nüchtern gewesen war, als er vor einer guten Stunde gekommen war. Sein Papa hatte ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Felix hätte sofort gemerkt, wenn sein Vater Alkohol getrunken hätte. Er hasste den Geruch.

Jemand näherte sich der Schlafzimmertür. Es klang, als schöbe jemand eine Person eine andere vor sich her. Jemand krachte mehrmals gegen die Wand des Gangs. Instinktiv zog Felix sich die Bettdecke über den Kopf. Sein Vater stöhnte. Felix‘ Herz raste. Er zwang sich, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Am Ende des Gangs ging ein Licht an. Ganz langsam öffnete Felix die Tür ein Stück und spähte nach rechts in den Flur. Er sah eine dunkle Gestalt, die seinen Vater ins Badezimmer schubste. Sein Vater krächzte etwas, das Felix nicht verstand. Felix konnte die Angst in den Augen seines Vaters sehen, die noch größer wurde, als er Felix an der Schlafzimmertür bemerkte. Er formte Worte, die seine Lippen nicht verließen. Felix kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.

„Verschwinde!“, krächzte sein Vater kaum hörbar.

Die Gestalt knurrte etwas Unverständliches und versetzte Felix‘ Vater einen Schlag gegen die Rippen. Sein Vater knickte röchelnd ein.

„Verschwinde“, kam es erneut, dieses Mal leiser, deutlich schwächer.

Erst jetzt begriff Felix, dass sein Vater nicht mit der Gestalt sprach, sondern mit ihm. Felix griff nach seinem Rucksack. Leise schlich er in den Vorraum, tastete nach seinen Stiefeln. Dabei bemerkte er eine weitere Gestalt, die zusammengesunken auf dem Teppichboden lag. Die Frau, die sich mit seinem Vater gestritten hatte, dachte Felix und überlegte, was er tun konnte. Mit einem Fuß stieß er gegen die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Ein leises Klirren.

Die Gestalt im Badezimmer hatte das ebenfalls gehört. Blitzschnell wandte sie sich um. Sie trug eine dunkle Winterjacke, eine Sturmhaube und schwarze Handschuhe. Felix spürte, wie ihr Blick ihn traf, fast wie ein Stromschlag. Die Gestalt bewegte sich auf ihn zu. Felix zwang sich, sich von diesen großen, wütenden Augen loszureißen. Er konnte die Frau doch nicht einfach so liegenlassen! Er bemerkte erleichtert, dass sie atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Schließlich packte er seine Stiefel, riss die Haustür auf und rannte die Treppe hinunter, so schnell er nur konnte. Sein Herz schlug so laut, dass er nur ein lautes Pochen in den Ohren hörte. Er versuchte, verzweifelt festzustellen, ob der Mann ihm folgte. Wie nah er hinter ihm war. Er lief, bis er völlig außer Atem war. Er wusste, dass er so etwas vermeiden sollte. Sein Puls ging viel zu schnell.

Als er nicht mehr konnte, verlangsamte er sein Tempo. Er hielt seine Stiefel immer noch mit den Fingern umklammert. Er blieb stehen, warf einen Blick hinter sich und stellte erleichtert fest, dass niemand ihm folgte. Hastig schlüpfte er in seine Winterstiefel. Seine Zehen waren durchnässt und beinahe taub. Erst jetzt merkte er, wie die Kälte unter seinen dünnen Sweater kroch und sich durch den Stoff seiner Jeans fraß.

Verdammt! Er hatte seine Daunenjacke in der Wohnung seines Vaters vergessen. Felix schüttelte den Kopf. Er musste Hilfe holen. Er musste zur Polizei. Felix sah sich um. Wie weit war er gelaufen? Die nächste Polizeistation war nur wenige Minuten von der Wohnung seines Vaters entfernt. Er stellte fest, dass sich die Dienststelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Felix steuerte darauf zu. Er hatte das Gebäude beinahe erreicht, als sein Mobiltelefon eine neue Nachricht mit einem leisen ‚Pling‘ ankündigte. Felix zog das Handy aus seiner Gesäßtasche und warf einen Blick auf das Display. Im selben Augenblick erstarrte er.

Alex

Als Alex die Haustür aufsperrte, erfüllte der Duft von Curry, Zwiebeln und Chili die Luft. Sie sog den aromatischen Geruch tief ein und spürte, wie sich ihre Anspannung einen Moment lang legte.

Elli empfing sie in der Küche mit einem innigen Kuss. Ihre Partnerin duftete nach Rose und Mandarine, einem Parfum, das Alex ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Alex schloss Elli in ihre Arme und vergrub ihr Gesicht am Hals ihrer Lebensgefährtin. Sie seufzte leise. Alles könnte so perfekt sein! Wenn da nicht die Suspendierung wäre. Wenn sie nicht des Mordes an dem Mann verdächtigt werden würde, dessen Neffen Elli und sie unbedingt adoptieren wollten. Dabei konnte sie sich kaum an den Abend erinnern, als sie Rainer Brandt besucht hatte. Im Grunde verstand sie nicht einmal, warum sie zu ihm gegangen war!

Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Alex nahm drei Teller aus dem Küchenschrank und stellte sie auf den Tisch. Elli öffnete gerade eine Flasche Pinot Grigio. Auf einem Teller waren marinierter Schafskäse und verschiedene Gemüsesorten mit Dip angerichtet. Alex merkte, wie hungrig sie war.

„Oma hat sich schon hingelegt“, erklärte Elli und stellte einen der Teller zurück in den Schrank.

„Schläft sie schon?“

Elli hob die Achseln. „Schau am besten nach! Ich schneide inzwischen das Brot auf.“

Alex huschte aus der Küche und stieg die Treppen ins Obergeschoß hinauf. Sie klopfte leise am Schlafzimmer ihrer Oma und öffnete die Tür. Das Zimmer lag im Halbdunkel, lediglich der schwache Schein einer Nachttischlampe erfüllte den Raum. Ein schwaches Hüsteln.

„Lexi.“

„Ja, ich bin’s, Oma.“ Alex ging auf das Bett zu, in dem ihre Großmutter lag und noch schmaler wirkte als sonst. Sie litt seit Monaten unter starken Schmerzen. Die notwendige Hüftoperation war für übermorgen angesetzt.

„Hast du Schmerzen?“

Oma schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut“, behauptete sie und streckte Alex ihre knochigen Hände entgegen. „Aber du siehst erschöpft aus. Stimmt irgendetwas nicht?“

„Alles in Ordnung“, antwortete Alex rasch und war erstaunt, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen kam.

„Irgendetwas beunruhigt dich doch“, meinte Oma und streichelte sanft über Alex‘ Arm.

Alex war erstaunt, dass ihre Großmutter noch immer ein untrügliches Gespür dafür hatte, wie es um sie stand.

„Alles bestens. Mach dir keine Sorgen!“

Doch die wachsamen Augen ihrer Großmutter ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihrer Enkelin nicht glaubte.

„Willst du nichts essen?“

„Ich habe schon etwas von Ellis wunderbarem Thai Curry bekommen.“

„Dann schlaf gut, Oma!“

„Und du, lass dir das Essen schmecken!“

Als Alex in die Küche zurückkehrte, standen bereits ein Korb mit duftendem frischen Brot und zwei Gläser Wein auf dem Tisch. Alex ließ sich auf die Küchenbank sinken und freute sich auf einen entspannten Abend mit Elli. Während der Schafskäse, die Dips und das frische Brot eine wahre Geschmacksexplosion in ihrem Mund verursachten, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Sie erinnerte sich vage an eine ältere Dame, die ihr mit ihrem Hund begegnet war, als sie die Treppe hinaufgestiegen war. Sie sah Rainer Brandt vor sich, als er ihr die Tür geöffnet hatte. Sie erinnerte sich, dass sie eine Auseinandersetzung wegen Luis hatten, der bei Elli und ihr lebte und den Rainer nun mit einem Mal adoptieren wollte.

Zwei Monate zuvor war Luis‘ kleine Schwester aus dem elterlichen Garten verschwunden und kurze Zeit später tot in einem Park aufgefunden worden. Im Zuge der Ermittlungen waren Vera und Markus Brandt, die Eltern der beiden Kinder, ums Leben gekommen. Nun war der kleine Luis Vollwaise und hatte ein liebevolles Zuhause bei Elli und Alex gefunden. Bis gestern eine Dame vom Jugendamt an ihrer Tür geklingelt hatte und die beiden informiert hatte, dass Rainer Brandt nunmehr beabsichtigte, seinen Neffen Luis zu adoptieren. In ihrer Wut und Verzweiflung war Alex losmarschiert. Dabei war sie gar nicht bewusst zu Rainer Brandts Wohnung gegangen. Doch im Nachhinein überraschte es sie nicht, dass sie dem Bedürfnis gefolgt war, ihn zur Rede zu stellen. Immerhin hatte er stets behauptet, dass er kein Interesse hätte, sich um den Kleinen zu kümmern. Während Alex sich mit Rainer über Luis gestritten hatte, hatte es an der Tür geklingelt. Jemand hatte an der Tür gerüttelt, bis diese schließlich aufgeflogen war. Dann war jemand in die Wohnung gestürmt. Danach wusste Alex nichts mehr. Als sie aufgewacht war, hatte sie am Boden gelegen. Sie war wie in Trance nach Hause gelaufen. Erst heute hatte sie erfahren, dass Rainer tot war. Erdrosselt. Im Badezimmer. Daraufhin hatte Paul Wagner, der Leiter der Mordkommission und ihr Chef, sie suspendiert. Alles Weitere hing nun von den Ergebnissen der Spurensicherung ab.

„Erde an Alex!“, hörte sie eine vertraute Stimme.

„Hmmm?“, machte Alex und starrte Elli an.

„Ich habe keine Ahnung, wo du gerade bist, aber hier bei mir bist du jedenfalls nicht.“

„Entschuldige, bitte! Ich war in Gedanken.“

Ellis Finger umschlossen Alex‘ Hände. „Was ist denn nur los mit dir?“

„Es ist nichts. Ach, du weißt schon, die Sache mit Luis macht mir zu schaffen.“

„Es ist ja noch nichts entschieden“, erwiderte Elli und zwang Alex, ihr in die Augen zu sehen. „Luis ist hier bei uns. Lass uns diesen Abend einfach genießen, okay?“

Alex schenkte etwas Wein nach.

„Bereit für den Hauptgang?“, fragte Elli und stand auf.

„Unbedingt“, sagte Alex und stellte die Vorspeisenteller in den Geschirrspüler.

Das Thai Curry schmeckte köstlich. Danach gab es noch Espresso und ein selbst gemachtes Mango-Sorbet. Als Alex die Dessertschale von sich schob, war sie so satt, dass sie keinen weiteren Bissen mehr geschafft hätte.

Elli schob sich auf Alex‘ Schoß und küsste ihren Hals.

„Hast du gewusst, dass es auch beim Nachtisch zwei Gänge gibt?“, fragte sie und warf Alex einen verführerischen Blick zu.

Alex lächelte. „Gewusst nicht“, gab sie zurück, während sie Ellis Mund küsste. „Aber ich habe es gehofft.“

Sie erhoben sich nahezu gleichzeitig und stolperten lachend und sich küssend aus der Küche und die Treppen hinauf ins Schlafzimmer. Einen kurzen Moment lang meldete sich Alex‘ schlechtes Gewissen. Elli hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Sie musste wissen, dass Alex suspendiert worden war und dass man sie verdächtigte, Luis‘ Onkel getötet zu haben.

Dennoch gelang es ihr, sich fallen zu lassen, sich dieser wundervollen Frau einfach hinzugeben, die sie mit jeder Faser ihres Herzens liebte. Sie brauchte diesen kleinen Augenblick des Glücks wie eine Ertrinkende einen Atemzug frischer Luft und so schob sie ihre Bedenken ganz tief in ihr Unterbewusstsein. Ihr schlechtes Gewissen würde sie auch morgen noch quälen und dann würde sie Elli endlich reinen Wein einschenken. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Theo

Theo konnte immer noch nicht fassen, dass seine Kollegin und Partnerin Alex Wild suspendiert worden war. Dachte Paul Wagner, der die Mordkommission leitete, wirklich, dass Alex zu einem Mord fähig war? Ausgerechnet Alex, die stets bis zur völligen Erschöpfung dafür kämpfte, Verbrecher dingfest zu machen, und die auch dann nicht ruhte, wenn die Aufklärung einer Tat ihr Privatleben beeinträchtigte und all ihre Energiereserven auffraß? Hätte Paul nicht wenigstens abwarten können, was die Ergebnisse der Spurensicherung in Rainer Brandts Wohnung ergaben?

Theo wusste, dass sein Chef sich absichern musste und das einzig Richtige getan hatte: sicherstellen, dass die Ermittlungen nicht gefährdet wurden. Dennoch fühlte sich die Entscheidung grundfalsch an.

Er blieb noch einen Augenblick in seinem Dienstwagen sitzen, ehe er den hässlichen Plattenbau betrat, in dem Rainer Brandts Wohnung lag. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und um sich für den Anblick zu wappnen, der sich ihm gleich bieten würde. Theo hätte es seinen Kollegen gegenüber nie zugegeben, aber er kämpfte jedes Mal gegen seinen inneren Schweinehund, wenn er einen Tatort betreten musste, ganz besonders wenn es sich um ein Tötungsdelikt handelte. Schließlich schlüpfte er aus dem Wagen und steuerte auf den Eingang des Wohnblocks zu. Hinter einigen Fenstern brannte noch Licht. Theo klingelte und wartete, bis einer der Kollegen ihm öffnete. Sein Herz schlug schneller, als er die wenigen Stufen hinauf zur halb geöffneten Wohnungstür stieg. Er zog einen Schutzanzug über, den ihm ein Kollege von der Spurensicherung entgegenstreckte und schlüpfte in Überzieher, damit seine Schuhe den Tatort nicht kontaminieren würden. Dann betrat er das Vorzimmer. Der Teppich war mit Glassplittern übersät. Dazwischen bemerkte er ein paar einzelne Blutstropfen. Das Glas stammte offensichtlich von einer Flasche Scotch, deren Inhalt sich über den Boden ergossen hatte, als sie zerbrochen war. Der Geruch von Alkohol erfüllte die Luft und brannte in Theos Augen. Er runzelte die Stirn. Was war hier passiert?

Er warf einen Blick in die kleine Küche. Zwei Whiskeygläser standen auf dem Tisch. In einem der beiden befand sich noch ein Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Theo ging näher an die Gläser heran und bemerkte einen blassen Lippenabdruck. Es sah aus, als hätte es sich dabei um die Lippen einer Frau gehandelt. Einer Frau, die keinen Lippenstift, aber einen Pflegestift für die Lippen benutzte. Alex, dachte Theo und zuckte zusammen.

Verdammt! Warum hatte seine Kollegin auch Rainer Brandt aufsuchen müssen!

Im Badezimmer herrschte reges Treiben. Zwei Kollegen der Spurensicherung warteten, während Doktor Hofer den Toten ein letztes Mal begutachtete. Rainer Brandt lag fast vollständig bekleidet in der Badewanne. Um seinen Hals lag ein schwarzes Kabel. Theo registrierte, dass es zu einem Föhn gehörte. Die Augen des Toten waren geöffnet und wiesen rote Punkte auf. Ein dicker Striemen an Rainer Brandts Hals hatte sich dunkel verfärbt. Doktor Hofer machte sich daran, den Mann zu entkleiden, um seine Rektaltemperatur zu messen und weitere mögliche Verletzungen festzustellen. Chris und Flo schüttelten bedauernd den Kopf.

Theo würde später mit dem Arzt sprechen. Jetzt wäre er nur im Weg. Das Bild des Toten, das sie sich so drastisch von dem lebendigen Rainer Brandt unterschied, hatte sich ohnehin längst in sein Gehirn eingebrannt.

„Hey Theo, hat Paul dich geschickt?“

Theo schüttelte den Kopf. „Nein, ich ... musste einfach etwas tun. Dass Alex etwas hiermit“, er deutete auf die Badewanne, „zu tun haben soll, kann ich einfach nicht glauben.“

Chris nickte langsam. „Mir kommt das auch nicht koscher vor.“ Er verließ das Badezimmer. „Und du kennst deine Partnerin wesentlich besser als ich.“

„Die Zeugin, die Alex angeblich gesehen hat, wo ist die?“, wollte Theo wissen.

Chris blickte seinen Kollegen eindringlich an. „Wir haben sie bereits vernommen. Eine Nachbarin, der Alex im Stiegenhaus begenet ist, als sie mit ihrem Hund Gassi gehen wollte. Wir haben sie bereits nach Hause geschickt. Sie war ziemlich fertig, als sie gehört hat, was mit ihrem Nachbarn passiert ist.“

Theo nickte frustriert. Im Grunde war es völlig gleichgültig, ob jemand bezeugen konnte, dass Alex gestern dort gewesen war. Vermutlich würde die Spurensicherung ohnehin handfeste Beweise dafür liefern, dass sie in der Wohnung gewesen war.

„Wenn Alex nichts hiermit zu tun hat, finden wir den Täter“, erklärte Chris nachdrücklich.

Theo starrte ihn ungläubig an. „WENN Alex nichts hiermit zu tun hat, ...“ Er zwang sich, einmal durchzuatmen, um den Impuls niederzuringen, seine Faust ins Gesicht des Kollegen zu rammen.

„Du weißt, was ich meine, Theo.“

Theo wandte sich wortlos ab und betrat das Schlafzimmer. Der Fernseher lief. Der Ton war auf stumm gestellt. Die laufenden Bilder warfen unheimliche Schatten an die Wände des Raums. Theo schlüpfte mit der Hand in einen Latexhandschuh und schaltete das Gerät aus. Ihm fiel auf, dass die rechte Doppelbettseite benutzt war. Da war ein tiefer Abdruck im Kopfkissen und die Decke lag zerknüllt am Fußende. Die linke Bettseite hingegen war unberührt. Hatte Rainer sich hingelegt, bevor er Besuch bekommen hatte? Oder hatte er Frauenbesuch gehabt?

Auf dem Nachttisch neben der unberührten Bettseite lagen eine Motorradzeitschrift und ein Buch über die Pharmaindustrie. Theo wunderte sich, dass Rainer Brandt diese Art von Fachbüchern las. Der Nachttisch auf der gegenüberliegenden Seite war leer, bis auf eine geöffnete Packung Gummibären. Theo runzelte die Stirn. Das sah nicht wirklich nach Damenbesuch aus. Eher nach ...

Er bemerkte einen Gegenstand, der auf der rechten Seite unter dem Bett hervorlugte. Theo fischte danach und zog ihn hervor. Es war ein Schulbuch.

Let’s speak English 1.

Theos Finger pflügten durch die Seiten. Einige davon waren beschrieben. Viele Seiten enthielten Bilder, Rätsel oder Aufgaben. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Rainer Brandt einen Sohn. Vermutlich gehörte das Englisch-Buch ihm. Ohne zu wissen, warum, schob er das Buch in seine Jacke und zog den Reißverschluss zu. Das Buch konnte natürlich bereits seit längerer Zeit hier liegen. Seit Tagen, Wochen oder Monaten. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass es möglicherweise wichtig war. Falls es ihm in irgendeiner Weise helfen konnte, Alex zu entlasten, oder mehr darüber zu erfahren, was in den Minuten vor Rainer Brandts Tod geschehen war, dann durfte er diese Möglichkeit nicht ungenutzt lassen. Wo ein Schulbuch war, da musste es auch ein Kind geben, das die Schule besucht. Wenn er sich nicht vollständig irrte, gehörte das Buch Rainer Brandts Sohn. Theo war entschlossen, mit diesem Kind zu sprechen.

Zwei Jahre zuvor

Adrian war nur wenige Meter weit gelaufen und vollkommen außer Atem. Er war blass, viel blasser als er es ohnehin meistens war. Sein Vater bemerkte die bläulichen Ringe unter seinen Augen, die tief in den Höhlen lagen. Er umarmte seinen Sohn und drückte ihn an sich.

„Langsam, Großer! Langsam!“, forderte er sanft, während er Adrian auf eine Bank im Park drückte. „Komm erst einmal zu Atem.“

Adrian wollte etwas erwidern, hatte aber Mühe, zu sprechen. Gehorsam setzte sich der Bub auf die Bank und blickte seinen Vater an.

„Was stimmt nicht mit mir?“, fragte er, als sich sein Herzschlag beruhigt hatte.

Der Vater überlegte einen Augenblick lang, was er seinem Sohn antworten sollte. Adrian war nicht dumm. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Er würde dem Vater nicht glauben, wenn dieser ihm versichern würde, dass alles in Ordnung sei.

„Ich weiß es nicht genau“, wich er daher aus. „Du weißt doch, dass wir regelmäßig Untersuchungen im Krankenhaus machen lassen?“, begann er und beobachtete die anderen Kinder, die ausgelassen über die Wiese tobten und hinter einem Fußball herjagten. Er spürte einen leisen Stich, als er merkte, dass er neidisch auf die Unbeschwertheit war, die anderen Kindern vergönnt war. Er wünschte, er könnte Adrian eine ebenso unbekümmerte Kindheit bieten.

„Klar“, antwortete Adrian und schwang seine Beine unter der Bank vor und zurück. „Die machen wir doch schon seit Jahren. Da kleben die mir immer diese runden Dinger auf die Brust und an die Seite.“ Er deutete auf die Stellen, an denen die Elektroden des EKG befestigt worden waren.

„Richtig“, sagte sein Vater und lächelte.

„Und die andere Untersuchung“, sagte Adrian und sprang auf. „Bei der es immer so Wusch wusch macht.“

„Genau.“ Der Vater überlegte, wie er seinem Sohn mitteilen sollte, dass die Ergebnisse der letzten Untersuchung eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustands zeigten.

Mit einem lauten Pffft flog der Fußball, mit dem die anderen Kinder spielten, durch die Luft, kam wenige Meter von der Parkbank entfernt auf der Wiese auf und kullerte schnurstracks auf Adrian zu. Unmittelbar vor Adrians Füßen kam der Ball zum Liegen. Adrians Augen leuchteten.

„Darf ich, Papa?“

Der Vater rang mit sich. Einerseits wollte er Adrian ein möglichst normales Leben ermöglichen, andererseits schnürte ihm die Angst um seinen Sohn fast die Luft ab. Die unbändige Freude in den Augen seines Sohnes ließ ihn alle Bedenken ignorieren.

„Aber nur ein paar Minuten“, willigte er ein und beobachtete, wie sein Sohn ausholte und den Ball in Richtung der anderen Kinder kickte. Dann lief Adrian auf die anderen zu.

Der Vater seufzte. Er beobachtete, wie Adrian über die Wiese rannte, viel zu schnell, wie er fand. Er würde wieder völlig atemlos und bleich zu ihm zurückkehren, minutenlang nach Luft ringen und kaum ein Wort hervorbringen. Dennoch war er erleichtert, dass Adrian noch Freude daran hatte, mit anderen Kindern zu spielen. Und mehr noch, dass er wieder einmal darum herumgekommen war, seinem Sohn zu erklären, wie schlecht es wirklich um ihn stand. Er wünschte, seine Frau wäre Adrian und ihm eine Stütze, doch sie hatte selbst so sehr mit der Situation zu kämpfen, dass sie beim Gespräch mit dem Kardiologen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Seither lag sie zu Hause im Bett und stand nur auf, wenn er sie darum bat, mit ihnen gemeinsam zu Abend zu essen oder Adrian einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Der Hausarzt hatte ihr eine Erholungskur verschrieben, worüber sich der Vater freute, jedoch wusste er ebenso, dass die gesamte Belastung mit Adrian in den nächsten Wochen auf ihm lasten würde.

Er blickte zu seinem Sohn, der über die Wiese trottete und langsam auf ihn zusteuerte. Der Vater lächelte. Egal, was er in Kauf nehmen musste, damit Adrian wieder gesund wurde, er war bereit, alles für ihn zu tun. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung, was er alles für sein Kind tun würde!

Felix Der Tag des Angriffs, 18 Uhr 47

Felix warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Die Straße lag still hinter ihm. Mit zitternden Fingern entsperrte er sein Mobiltelefon. Bestimmt machte seine Mama sich Sorgen und hatte ihm eine Nachricht geschickt, um zu fragen, wo er denn blieb. Er brauchte einen Moment lang, um seinen Daumen so auf die Taste zu legen, dass der Bildschirm freigegeben wurde. Schließlich gelang es ihm. Die Kälte kroch unter seine Kleidung. Seine warme Daunenjacke hing noch an der Garderobe, in der Wohnung seines Vaters. In der Eile hatte er sich nur seine Stiefel geschnappt, ehe er vor der Gestalt geflüchtet war.

Er bewegte seine klammen Finger, um die Steifheit zu vertreiben. Keine hundertfünfzig Meter vor ihm lag die Polizeistation. Er war schon oft an ihr vorbeispaziert, wenn er seinen Vater besucht hatte. Felix ging einige Schritte in Richtung des Gebäudes, während er die Nachricht öffnete, die er zuvor bekommen hatte. Sie war nicht von seiner Mutter. Sie war von Papa. Als Felix sie las, beschleunigte sein Herzschlag. Was zum Teufel ...?

Geh nicht zur Polizei. Sonst sind wir beide tot.

Felix erstarrte. Seine Finger waren so klamm, dass er es kaum schaffte, das Display anzutippen. Er öffnete seine Kontakte und scrollte zur Telefonnummer seines Vaters. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich ein Klingeln am anderen Ende der Leitung zu hören war. Felix zitterte wie Espenlaub. Ob vor Kälte oder Angst konnte er nicht sagen. Seine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander.

Mach schon, Papa! Geh ran!

Doch nichts geschah. Das Klingeln echote in seinen Ohren und schien in seinem Kopf zu verschwinden. Zurück blieb ein dumpfes Pochen in seiner Stirn und das Gefühl, sich im freien Fall zu befinden. Die Mobilbox schaltete sich ein und er hörte die vertraute Stimme seines Vaters.

Hier spricht Rainer Brandt. Im Moment kann ich Ihren Anruf leider nicht entgegennehmen. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie gerne zurück.

Verdammt! Obwohl er es besser wusste, wählte er die Nummer zwei weitere Male. Er lief jetzt. Die Polizeistation war nur noch wenige Meter entfernt. Hilfe war zum Greifen nah. Er fror so sehr, dass er seine Ohren und Hände kaum noch spürte. Als er gerade erneut auflegen wollte, wurde sein Anruf entgegengenommen. Beinahe hätte Felix einen Schrei ausgestoßen.

„Papa?“, fragte er zaghaft. „Papa, geht es dir gut?“

Niemand antwortete.

„Alles in Ordnung mit dir, Kleiner?“, fragte ein Polizeibeamter, der plötzlich unmittelbar neben Felix aufgetaucht war. Er trug eine Uniform und eine Polizeikappe und lächelte breit.

Felix schnappte nach Luft. „Ja, danke. Alles in Ordnung“, log er und hielt sein Telefon weiterhin ans Ohr gepresst.

„Ohne Jacke unterwegs?“, wollte der Polizist wissen. „Bei den Temperaturen?“

Felix trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe meinen Rucksack bei einem Freund vergessen“, log er und bemühte sich, seiner Stimme einen beifälligen Tonfall zu geben. „Er wohnt einen Block von mir entfernt.“

Der Polizist runzelte zweifelnd die Stirn.

„Es ist doch viel kälter, als ich gedacht habe.“ Felix lächelte breit, obwohl die Kälte auf seinen Lippen schmerzte. „Aber ich habe nicht weit.“ Er deutete in die Richtung, in der die Wohnung seines Vaters lag.

„Na dann, sieh zu, dass du nach Hause kommst“, ermunterte der Beamte ihn und wartete, bis Felix sich auf den Heimweg machte.

„Ja“, Felix hob die Hand zum Abschied und wandte sich um. „Ich mach mich sofort auf den Weg.“

Damit lief er in die entgegengesetzte Richtung, weg von der Polizeistation und weg von der Bushaltestelle, die sich nur wenige Meter neben der Dienststelle befand. Er spürte den Blick des Polizisten, der sich in seinen Rücken bohrte. Felix blieb nichts anderes übrig, als seinen Weg in die völlig falsche Richtung fortzusetzen. Der Richtung, aus der er zuvor gekommen war.

Nach mehreren hundert Metern wagte Felix es, sich umzudrehen. Der Polizist war verschwunden, die Straße nahezu menschenleer. Erst jetzt bemerkte er, dass er das Telefon noch immer an sein Ohr hielt. Hatte der Teilnehmer am anderen Ende aufgelegt?

„Papa?“, flüsterte Felix. „Papa, bist du das?“

Er hörte etwas, aber es war nicht die Stimme seines Vaters.

„Wer ist da?“

Niemand antwortete. Felix schluckte.

Einen Moment lang überlegte er, zur Polizeistation zurückzukehren. Vielleicht war sein Vater noch in der Gewalt des Mannes, der ihn überwältigt hatte, vielleicht brauchte er noch immer Hilfe. Vielleicht ...

Felix wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Er lief in die Richtung zurück, in der die Polizeistation lag. Er musste Hilfe holen. Für seinen Vater und für die Frau, die bewusstlos im Vorzimmer lag. Er musste zurück in die Wohnung seines Vaters, aber dazu brauchte er die Hilfe der Polizei. Allein traute er sich nicht, dorthin zurückzukehren. Und was hätte er auch ausrichten sollen?

Geh nicht zur Polizei. Sonst sind wir beide tot.

Die Nachricht seines Vaters dröhnte in seinem Kopf. Sein Vater hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass er die Polizei nicht einschalten sollte. Er würde seine Gründe haben.

Was aber, wenn die Nachricht gar nicht von seinem Vater kam? Felix schluckte. Was, wenn er jetzt, in diesem Augenblick, dringend seine Hilfe brauchte? In seinem Kopf drehte sich alles. Er wusste nicht, was er tun sollte. Würde er seinen Vater in größere Gefahr bringen, wenn er die Polizei informierte? Oder wenn er es nicht tat?

Felix zögerte. Die Polizeistation lag nun erneut kaum fünfzig Meter vor ihm. Es wäre ein Leichtes, die Polizei zu alarmieren. Aber was, wenn das bedeutete, dass sein Vater sterben musste? Was, wenn er damit Schuld daran war, dass seinem Vater etwas Furchtbares geschehen würde? Felix rang mit sich.

Geh nicht zur Polizei. Sonst sind wir beide tot.

Erst jetzt merkte er, dass er das Mobiltelefon noch immer an sein Ohr hielt. Die Leitung war nicht tot. Er hörte jemanden atmen.

„Hallo?“, fragte Felix zaghaft. „Ist da jemand?“

Felix hörte ein Geräusch. Oder bildete er sich das ein? Er presste das Telefon fester gegen sein Ohr.

„Papa? Bist du das?“

Keine Antwort. Felix blieb stehen, hielt den Atem an. Dann hörte er das Geräusch erneut. Es klang wie ein Krächzen. Felix schauderte. Nein, es war ein Lachen. Jemand lachte. Es klang fremd. Ganz und gar nicht wie das Lachen seines Vaters, das voll und warm wie eine liebevolle Umarmung war.

„Wer ist da?“, fragte Felix erneut. Seine Stimme klang wie ein schwacher Windhauch.

Das Lachen wurde lauter.

„Wo ist mein Vater? Was haben Sie mit ihm gemacht?“

Doch die Stimme antwortete nicht. Stattdessen dröhnte das widerliche Lachen in seinem Ohr, bis Felix es nicht länger ertragen konnte und auflegte.

In diesem Augenblick bog der Bus um die Ecke. Felix begann zu laufen, obwohl seine Beine von der Kälte so taub waren, dass er sie kaum noch spürte. Er stieg ein und ließ sich auf einen Platz direkt neben der Tür fallen. Die Wärme im Bus ließ nicht nur seine Glieder, sondern auch seinen Verstand auftauen.

Papa, dachte er. Wer wollte seinem Vater etwas antun? Und wieso hatte er ihn davor gewarnt, die Polizei einzuschalten?

Felix rieb seine Finger aneinander und spürte, wie das Blut sie allmählich wärmte.

Was sollte er jetzt machen? Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten durcheinander wie Konfetti. Er würde erst einmal nach Hause fahren. Dann würde er noch einmal versuchen, seinen Vater anzurufen. Vielleicht hatte jemand ihm und seinem Vater nur Angst machen wollen. Vielleicht ging es seinem Vater gut. Vielleicht ...

Doch als er aus dem Bus stieg, überkamen ihn erneut Zweifel. Jemand musste seinem Vater helfen. Und der Frau, die vielleicht ernsthaft verletzt war. Als er auf dem kurzen Weg zu seiner Wohnung an einer Telefonzelle vorbeikam, hatte er eine Idee. Er würde die Polizei anrufen. Anonym. Er würde dafür nicht sein Mobiltelefon verwenden. Dann würde niemand erfahren, dass er der Polizei den Tipp gegeben hatte, auch nicht der Mann mit der Sturmhaube, der seinen Vater bedroht hatte. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und wählte den Notruf.

Alex

Alex jagte mit einem dunkelblauen Strampler durchs Wohnzimmer, während Luis vergnügt quiekend über den Parkettboden krabbelte.

„Hey, mein Kleiner“, rief sie, als sie das Baby schließlich erwischte. „Genug getobt. Wir müssen Oma ins Krankenhaus bringen.“

Luis bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, während sie rasch seine molligen Beinchen in den Strampler steckte.

„Lexi?“, rief Oma derweil aus dem Badezimmer. „Kannst du mir kurz helfen?“

Alex schloss die Knöpfe der Babybekleidung und seufzte leise, als Luis sich ihrem Griff zu entwinden versuchte. „Gleich, Oma! Dieser kleine Kerl hier hält mich ganz schön auf Trab. Gib mir eine Minute!“

Sie hob das Baby hoch, bemerkte, dass er mit jedem Tag schwerer zu werden schien, und setzte ihn auf ihre rechte Hüfte. Oma stand im Bad und versuchte, die Lockenwickler, die sich an ihrem Hinterkopf verfangen hatten, von ihrem dünnen weißen Haar zu befreien.

Alex lächelte. „Warte, ich helfe dir!“ Sie setzte Luis für einen Moment in den Laufstall, was dem Kleinen augenscheinlich nicht gefiel. Augenblicklich fing er zu weinen an, was Alex jedes Mal einen Stich versetzte. „Nur ganz kurz“, versprach sie und huschte zurück ins Badezimmer, wo sie mit ein paar gekonnten Handgriffen die widerspenstigen Wickler aus dem Haar löste.

„Wo ist deine Tasche?“, fragte sie Oma.

„Die ist noch im Schlafzimmer.“

Alex nickte und eilte - unter dem lautstarken Protest des Babys – in das Schlafzimmer ihrer Großmutter. Sie schnappte die Tasche, lief damit nach unten und stellte sie im Vorzimmer ab. Dann kehrte sie ins Obergeschoß zurück, hob Luis aus dem Laufstall und bat ihre Oma, sich an ihrem linken Arm unterzuhaken. Im Vorzimmer zog sie sich selbst an, half ihrer Oma in die Jacke, während Luis erfolglos versuchte, sich wieder davon zu machen und zog schließlich dem Baby eine Winterjacke an. Als sie Luis schließlich samt Kindersitz im Auto anschnallte, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter.

„Alles in Ordnung?“, wollte Oma wissen, als schließlich alle drei im Auto saßen.

Alex schnaufte. „Alles bestens.“ Sie lächelte ihre Oma aufmunternd an. „Wie geht es dir? Bist du nervös?“

Oma schüttelte den Kopf. „Nur genervt, dass ich Elli und dich und vor allem diesen süßen Kerl so lange nicht sehen werde.“

Alex lächelte. „Das geht schneller vorbei, als du denkst. Ehe du dich’s versiehst, bist du wieder bei uns zuhause.“

Nachdem alle Formalitäten im Krankenhaus erledigt waren und Oma ihr Zimmer zugewiesen bekommen hatte, entspannte Alex sich allmählich. Luis war eingeschlafen und schlummerte friedlich in seiner Babyschale. Alex beschloss, zur Dienststelle zu fahren. Vielleicht gab es neue Erkenntnisse im Fall Rainer Brandt. Irgendetwas, was sie entlastete. Irgendetwas, damit sie Elli nicht erzählen musste, in was für einen furchtbaren Schlamassel sie geraten war. Sie hoffte, Paul nicht über den Weg zu laufen. Sie stellte ihren Wagen in der Kurzparkzone ab und holte den Kinderwagen aus dem Kofferraum. Dann nahm sie das Baby aus dem Kindersitz und legte es in den Kinderwagen.

Es war ein klarer Morgen. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeletten, während sie den Kinderwagen über den schlecht geräumten Gehweg steuerte. Als sie sich dem Eingang näherte, bemerkte sie Theo, der wohl eben seinen Dienst antrat.

„Alex!“ Theo kam auf sie zu und lächelte.

War da eine Spur von Verlegenheit?

„Theo“, erwiderte Alex. „Wie kommt ihr voran?“

Ihr Kollege warf einen Blick über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass ihnen niemand zuhörte.

„Nicht hier“, flüsterte er und zog sie ein Stück die Straße hinunter.

Alex runzelte die Stirn. Offenbar war sie auf der Dienststelle bereits eine Persona non grata, jemand, mit dem man sich lieber nicht unterhalten sollte, jedenfalls nicht vor Publikum.

„Da vorne in der Seitenstraße ist ein kleines Café“, schlug sie vor, während sie an ihrem gemeinsamen Stammcafé vorbeischlenderten, in dem sich stets viele Kollegen während ihrer Pause trafen.

Theo nickte und ging zügig voran. Alex hatte Mühe ihm mit ihren deutlich kürzeren Beinen und dem Kinderwagen zu folgen. In der Wärme des Lokals begann Alex unter ihrer dicken Jacken zu schwitzen. Sie schälte sich hastig aus dem Kleidungsstück und befreite auch Luis von seiner Haube. Sie bestellten zwei Cappuccino und setzten sich an einen Tisch, der in einem etwas abgedunkelten Teil des Raumes stand. Dort, wo zufällig vorbeigehende Kollegen sie nicht gleich erspähen würden, dachte Alex.

„Wie geht es dir?“, fragte Theo schließlich und klang aufrichtig besorgt.

„Großartig“, antwortete Alex und ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

Theo drückte ihren Arm.

„Gibt es Neuigkeiten von der Spurensicherung?“

Theo schüttelte den Kopf. „Mia Stanjovic hat versprochen, mich umgehend zu verständigen, sobald die Ergebnisse da sind.“

„Ich verstehe“, murmelte Alex.

„Werden sie etwas finden?“, fragte er und zwang Alex, ihn anzusehen.

Sie starrte in ihre Tasse, als hätte sie darin gerade den Heiligen Gral entdeckt.

„Alex?“

„Ja?“

„Warst du gestern Abend in Rainer Brandts Wohnung?“

Alex presste die Lippen aufeinander, so sehr ärgerte sie sich über ihre eigene Dummheit. Schließlich nickte sie.

„Herrgott, Alex!“, entfuhr es Theo.

„Ich ...“, begann sie und zuckte hilflos die Achseln.

„Ich nehme an, Paul hat Recht? Es ging dabei um Luis und darum, dass Rainer Brandt seinen Neffen nun doch adoptieren wollte?“

Alex seufzte. „Ich wollte nur mit Rainer Brandt sprechen.“

„Was ist passiert?“

Alex verzog den Mund. „Ich weiß es nicht.“

„Was weißt du nicht?“

Sie hob hilflos die Schultern. „Ich habe völlig aufgebracht das Haus verlassen, nachdem uns diese Sozialarbeiterin mitgeteilt hatte, dass Rainer Brandt den kleinen Luis nun doch adoptieren wollte. Ich bin durch die Straßen geirrt. Ich war komplett neben mir.“

„Und dann bist du vor Rainer Brandts Wohnung gelandet?“ Theo starrte sie ungläubig an.

Sie nickte. „Plötzlich stand ich vor diesem hässlichen Plattenbau und habe geklingelt.“

„Und Rainer Brandt hat dich einfach so hereingebeten?“

Alex lachte freudlos auf. „Hereinbitten ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber ja, er hat mich hereingelassen.“

„Und dann?“

„Er hat mir einen Kaffee angeboten, doch ich wollte etwas Stärkeres.“

Theo verdrehte die Augen.

„Ja, ich weiß“, wehrte Alex den Vorwurf in Theos Blick ab, „das war nicht besonders schlau.“

„Um es sehr milde auszudrücken.“

„Wir haben uns ein wenig unterhalten und uns schließlich wegen Luis’ Adoption in die Haare bekommen.“

„Und dann?“ Theo trommelte unruhig auf die Tischplatte, die mit einer unschönen Plastikdecke versehen war. „Ist die Sache eskaliert?“

Alex schüttelte den Kopf. „Dann hat jemand an der Tür geklopft.“

„Besuch?“, wollte Theo wissen.

„Das wohl eher nicht. Rainer schien mit einem Mal sehr nervös zu werden.“

„Und wer ist dann gekommen?“

Alex seufzte. „Ich weiß es nicht. Die Person hat sich in jedem Fall am Schloss zu schaffen gemacht. Irgendwann ist die Tür aufgeflogen.“

„Und?“

„Ich habe eine große, dunkel gekleidete Gestalt gesehen.“

„Ja?“

„Das war’s!“, erklärte Alex. „Licht aus. Gute Nacht. Danach weiß ich nichts mehr.“

„Wie jetzt?“

„Wie ich es gerade erzählt habe. Danach fehlt mir jede Erinnerung, bis zu dem Zeitpunkt, als ich am Boden im Vorzimmer aufgewacht bin.“

„Hat dir dieser Jemand eine übergezogen?“

Alex zuckte die Achseln. „Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich habe jedenfalls keine Beule am Kopf.“

„Kopfschmerzen?“

„Ein bisschen, aber vor allem war mir schwummrig. Ich war total benommen, als ich aufgewacht bin.“

Theo runzelte die Stirn. „War diese Gestalt noch da?“

Alex überlegte einen Augenblick. „Ich lag in fast völliger Dunkelheit. Nur durch das Küchenfenster ist ein bisschen Licht hereingefallen. Ich habe niemanden gesehen.“

„Hast du nach Rainer Brandt gesucht?“

Alex hob eine Augenbraue. „Nein. Daran habe ich gar nicht gedacht.“

Theo seufzte. „Du weißt also nicht, ob Rainer Brandt schon tot war, als du seine Wohnung verlassen hast?“

„Keine Ahnung. Ich dachte, er wäre gar nicht mehr da.“

„Und du hast nicht daran gedacht, die Kollegen zu rufen?“, fragte Theo. „Immerhin ist jemand bei Rainer eingebrochen und du musst wohl ohnmächtig gewesen sein.“

Alex schnippte einen Fussel von ihrer Jeans. „Ich habe gar nichts gedacht, außer dass ich auf schnellstem Weg nach Hause wollte. Mir war schwindlig und schlecht und ich habe befürchtet, dass Elli sich große Sorgen macht.“

„Und? Hat sie?“

Alex schüttelte den Kopf. „Sie hat tief und fest geschlafen, als ich nach Hause gekommen bin.“

„Schade“, meinte Theo. „Sie hätte zumindest bezeugen können, wann du wieder Zuhause warst.“

„Woran erinnerst du dich noch?“

Alex schwieg einen Augenblick. Theo spürte, dass sie zögerte.

„Was ist?“

„Ich habe dieses Gesicht vor Augen“, flüsterte sie schließlich.

„Was für ein Gesicht?“

„Das Gesicht eines Kindes. Ein Bub mit dunklem Haar und großen braunen Augen. Vielleicht zehn oder elf Jahre alt.“ Alex machte eine abwehrende Handbewegung. „Aber ich schätze, das habe ich geträumt.“

„Würdest du das Gesicht wiedererkennen?“, fragte Theo.

„Ich weiß nicht.“ Alex versuchte, sich das Bild ins Gedächtnis zu rufen. „Ich denke schon.“

„Ich muss los!“, rief Theo. Während er bereits aufsprang, warf er einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch.