Ine-ane-u und tot bist du - Lilly Frost - E-Book

Ine-ane-u und tot bist du E-Book

Lilly Frost

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Beschreibung

Ein Serienkiller treibt sein Unwesen in Salzburg. Als ein Mann von einem Auto angefahren und getötet wird, denkt die Polizei zunächst an einen Unfall. Doch eine Zeugin will gesehen haben, wie der Wagen den Mann ein zweites Mal überrollt hat. Zudem wird eine merkwürdige Nachricht bei dem Toten gefunden. Kurz darauf werden die beiden Ermittler Alex Wild und Theo Bergmann zu einem weiteren Tatort gerufen. Theo begreift, dass er die beiden Toten gekannt hat. Und, dass die beiden ein dunkles Geheimnis verbindet, das schließlich Theo selbst in größte Gefahr bringt.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Buchbeschreibung:

Ein Serienkiller treibt sein Unwesen in Salzburg. Als ein Mann von einem Auto angefahren und getötet wird, denkt die Polizei zunächst an einen Unfall. Doch eine Zeugin will gesehen haben, wie der Wagen den Mann ein zweites Mal überrollt hat. Zudem wird eine merkwürdige Nachricht bei dem Toten gefunden. Kurz darauf werden die beiden Ermittler Alex Wild und Theo Bergmann zu einem weiteren Tatort gerufen. Theo begreift, dass er die beiden Toten gekannt hat. Und, dass die beiden ein dunkles Geheimnis verbindet, das schließlich Theo selbst in größte Gefahr bringt.

Über die Autorin:

Lilly Frost wurde 1973 in Salzburg geboren. In ihrer Heimatstadt, wo sie heute lebt, studierte sie Kommunikationswissenschaften. Seit über zehn Jahren ist sie im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Ihre Leidenschaft, das Schreiben, entwickelte sich schon in frühester Jugend. 2019 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Der Schattenmann - Tödlicher Eid". 2020 folgte der Salzburg-Thriller "Hurenkinder". "Ine-ane-u und tot bist du" ist der dritte Thriller von Lilly Frost.

Für Titi

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Juli 1992

Alex

Elli

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Elli

Theo

Ich

Alex

Elli

Alex

Ich

Theo

Ich

Alex

Ich

Alex

Elli

Ich

Alex

Ich

Alex

Elli

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Elli

Ich

Alex

Ich

Alex

Ich

Elli

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Ich

Theo

Alex

Ich

Theo

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Ich

Alex

Alex

Epilog

Prolog – Juli 1992

Später würden sie es auf das Bier schieben, das sie bei ihrer letzten Rast, kurz nach Villach, getrunken hatten. Es war wieder einmal nicht bei dem einen geblieben, obwohl Tim der Fahrer war. Er hätte es besser wissen müssen, zumal er nicht nur für seine Freunde, sondern auch für seinen jüngeren Bruder die Verantwortung trug. Seit dem Tod ihrer Mutter, vor ein paar Jahren, war es häufig seine Aufgabe, sich um den Kleinen zu kümmern. So hatte ihr Vater ihn auch dieses Mal gebeten, ihn auf den Wochenendausflug nach Jesolo mitzunehmen. Was sollte er dagegenhalten? Sein Vater war alleinerziehend und berufstätig. Da musste er, als junger Erwachsener, einsehen, dass er gelegentlich zurückstecken musste. Doch gerade dieses Mal wäre er gerne alleine mit seiner Clique unterwegs gewesen. Es kam nicht häufig vor, dass seine Freundin Claudia und er ein paar Tage ungestört waren. Die anderen hatten ein bisschen Koks geschnupft, das sie in Jesolo von einem Barkeeper gekauft hatten. Gutes Zeug. Da waren sich alle einig.

Simone betatschte Hannes unentwegt vom Rücksitz aus, während Sabine und Walli, der eigentlich Andi hieß, aus dem Fenster stierten. Er hatte die Vermutung, dass sich etwas zwischen den beiden abgespielt hatte - während ihres verlängerten Wochenendes an der Adria - aber was auch immer es war, es schien kein Happy End gegeben zu haben. Sein Bruder hing in seinem Gurt und schlief. Beim Blick in den Rückspiegel bemerkte er, dass dem Kleinen Sabber über das Kinn lief. Tim schmunzelte. Die Party gestern am Strand war wohl zu viel für den Jüngsten in der Runde gewesen. Irgendwann war er neben dem Lagerfeuer eingenickt und nicht einmal mehr aufgewacht, als sie ihn in die Pension getragen und ins Bett gelegt hatten.

Das Essen lag Tim schwer im Magen. Er rutschte unruhig auf dem Fahrersitz umher. Einen Moment lang hatte er befürchtet, die Beamten an der italienisch-österreichischen Grenze könnten ihn aufhalten, weil sie seine Bierfahne bemerkten, doch der junge Kerl, kaum älter als sie selbst, warf nur einen flüchtigen Blick auf die Pässe, die sie aus den geöffneten Fenstern hielten und winkte den hellblauen VWBus durch. Claudia lehnte sich erleichtert an ihn und seufzte.

„Siehst du? Alles gut. Noch zwei Stunden, dann sind wir zuhause.“

Er nickte und drehte das Radio ein wenig lauter. Die italienische Sonne prickelte noch auf seiner Haut genauso wie Claudias feuchte Küsse. Er konnte das Meeresrauschen hören und den Sand zwischen seinen Zehen spüren. Morgen hatte ihn der Alltag wieder. Wie gern wäre er noch eine Weile geblieben.

Die nächsten Stunden plätscherten ereignislos dahin. Gelegentlich vernahm man ein leises Schnarchen oder Grunzen von den hinteren Sitzen, wenn wieder jemandem aus der Gruppe die Augen schwer vom Bier wurden. Zwischendurch wurde hitzig über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA diskutiert. Während die einen den konservativen Kurs von George H. W. Bush befürworteten, hofften die anderen auf einen Wahlsieg des Demokraten Bill Clinton.

Als sie Bischofshofen erreichten, merkte er, wie die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte. Er drehte die Musik lauter, was ein leises Raunen seiner Mitfahrer zur Folge hatte.

„Haben wir noch ein Red Bull?“, fragte er Claudia, die daraufhin in ihrem Rucksack kramte und ihm eine Dose reichte.

„Ist bestimmt schon warm“, meinte sie, als er die Lasche von der Dose zog.

„Hauptsache, es macht munter“, erwiderte er und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Es war 23:10 Uhr. Bald hätten sie es geschafft. Er würde zuerst Hannes und Simone in Thalgau absetzen. Walli und Sabine wohnten beide in der Stadt Salzburg, kaum zehn Minuten vom Haus seines Vaters entfernt. Claudia würde bei ihm übernachten. Die A10 dehnte sich vor ihm aus wie eine endlos lange Neon-Schlange. Es waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Er merkte, wie sein rechtes Bein einschlief. Die Lichter verschwammen vor seinen Augen. Die Dunkelheit legte sich schwer auf seine Lider. Er zuckte zusammen. War er kurz eingenickt? Er vergewisserte sich, dass er die Spur gehalten und niemand seinen Einbruch bemerkt hatte. Claudias Kopf lag schwer an seiner Schulter. Ihre blonden Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Er lächelte. Hannes hingegen war sein Sekundenschlaf nicht entgangen.

„Rutsch rüber“, forderte Hannes ihn auf, während er sich bereits zwischen Claudia und ihn drängte und sich vor das Lenkrad schob.

Widerstandslos überließ er Hannes den Fahrersitz und rutschte zu Claudia hinüber, die schlaftrunken für einen kurzen Moment die Augen öffnete.

In Thalgau setzte Hannes den Blinker und verließ die Autobahn. Nur wenige Minuten trennten sie von ihrer ersten Station, dem Bauernhof seiner Familie. Das letzte Stückchen führte die B 320 entlang. Die Beleuchtung war hier deutlich schlechter. Er kniff die Augen zusammen, um sich in der Dunkelheit orientieren zu können. Im Fond des Wagens erwachten allmählich alle. Es wurde gekichert und gesungen. Hannes und Tim warfen einen Blick nach hinten. Im Nachhinein fragte sich Tim, ob dieser kurze Augenblick den Unfall verursacht hatte.

Die Kurve tat sich in der Sekunde vor ihnen auf, als sie die Köpfe nach vorne wandten. Das Adrenalin schoss durch ihre Körper. Mit Müh‘ und Not gelang es Hannes, den Wagen sicher aus der Kurve zu steuern. Die Fahrbahn war durch ein steil abfallendes Waldgebiet begrenzt. Tims Herz trommelte wild in der Brust. Langsam atmete er aus. In diesem Augenblick gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Der VWBus war gegen etwas geprallt und schlingerte nun unkontrolliert über die Bundesstraße. Die Bremsen jaulten. Im Wageninneren schrien die Mädchen. Der Abgrund näherte sich bedrohlich. Die Nadelbäume ragten in die Dunkelheit wie Speere. Er schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel. Das Quietschen der Reifen dröhnte durch die Finsternis. Und dann – endlich – kam der Bus zum Stehen. Er atmete geräuschvoll aus.

„Irgendjemand verletzt?“

Alle verneinten. Sabine weinte leise. Walli legte tröstend einen Arm um sie.

„Was war das?“, fragte Simone.

„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte er, „aber das werden wir gleich wissen.“ Er öffnete die Beifahrertür. Die kühle Nachtluft streichelte seine Haut und machte ihn hellwach.

„Da ist nichts“, meinte Hannes, der die Straße zurück spähte, während er sich eine Marlboro anzündete.

„Du musst doch gesehen haben, wogegen du gefahren bist“, erwiderte Claudia an Hannes gewandt.

Hannes zuckte die Achseln. „Ich konnte nichts sehen. Wild wahrscheinlich.“ Er holte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack und wanderte die Straße entlang, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Tim folgte mit den anderen im Schlepptau. Sein kleiner Bruder rieb sich die Augen und kroch verschlafen aus dem Wagen.

„Was ist passiert?“, fragte er schlaftrunken.

„Bleib im Bus!“, befahl Tim und sein Tonfall ließ seinen kleinen Bruder in der Bewegung erstarren.

Sie suchten die Straße ab und bewegten sich am Fahrbahnrand entlang.

„Da!“, rief Walli schließlich und stürzte auf etwas zu, das am Rand der Straße lag.

„Ein Reh?“, wollte Sabine wissen. „Ich kann tote Tiere nicht ansehen.“

„Nein, kein Reh“, erwiderte Walli mit bebender Stimme.

Die anderen erreichten ihn Sekunden später. Sie alle starrten auf das, was verdreht und mit offenen Augen vor ihnen lag. Überall war Blut. Simone schlug eine Hand vor den Mund. Sabine drehte sich weg und übergab sich.

„Um Gottes willen! Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Walli und suchte Halt an Tim, der hoffte, jeden Augenblick aus einem surrealen Alptraum zu erwachen.

„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Tim und starrte auf den Mann, den sie angefahren hatten.

„Was macht er hier draußen, mitten in der Nacht?“, fragte Simone.

„Vielleicht ein Obdachloser“, meinte Hannes.

„Er wirkt aber recht gepflegt“, warf Walli ein.

Rasch ging Hannes in die Hocke und legte dem Unfallopfer zwei Finger auf die Halsschlagader.

„Lebt er?“, fragte Simone.

Hannes schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist tot.“

In den folgenden Minuten trafen sie eine folgenschwere Entscheidung.

Hinter einer Fichte, nur wenige Meter vom Unfallort entfernt, beobachtete ein Augenpaar die Geschehnisse. Niemand ahnte, dass der Unfall sie viele Jahre später einholen sollte.

Alex

Der Wind fegte eisig durch die Gassen, als Alex mit hochgeschlagenem Kragen und tief ins Gesicht gezogener Mütze auf das Café Bazar zusteuerte. Oft brachte der Föhn in Salzburg im Februar milde Temperaturen, doch heuer wollte der Winter die Stadt nicht loslassen.

Alex öffnete die Tür und steuerte auf einen freien Tisch am Fenster zu. Sie rieb ihre verfrorenen Finger aneinander, bis sie unter der Wärme kribbelten. Sie bestellte einen doppelten Espresso und wartete auf Iris. Eigentlich war sie überrascht, dass ihre frühere Affäre sich bei ihr gemeldet hatte. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen und Alex wusste auch jetzt nicht recht, ob es klug war, sich mit ihrer alten Flamme zu treffen. Vielleicht lag es an dem Frust, den sie nicht loswurde, seit sie geplant hatte, ihrer Ex-Freundin Elli einen Heiratsantrag zu machen. Seit Elli entführt und beinahe in die Luft gejagt worden wäre, musste Alex ständig an sie denken. Sie war so sicher gewesen, dass auch Ellis Gefühle für sie wieder aufgeflammt waren. Sie freute sich, dass Elli ihre leibliche Tochter gefunden hatte und ihr ehemaliger Verlobter Sebastian deren gemeinsames Kind durch die Spende von einem Teil seiner Leber hatte retten können. Doch sie würde nie vergessen, wie sehr Elli sie verletzt hatte, als Sebastian Elli im Rehazentrum geküsst hatte. Just an dem Tag, an dem Alex sich entschieden hatte, zu ihr zu fahren, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Am nächsten Tag hatte sie ihre Wohnung gekündigt und war zu ihrer Großmutter gezogen. Wenigstens die hatte sie damit glücklich gemacht. Ihre Oma genoss es, Alex zu verwöhnen, für sie zu kochen und zu backen. Alex übernahm dafür Einkäufe und andere Erledigungen und kümmerte sich um Reparaturen, die im und um das Haus anfielen. Außerdem ließ sich nicht länger leugnen, dass ihre Oma Hilfe brauchte und gelegentlich alleine in dem großen Haus überfordert war.

„Na, schöne Frau!“, hauchte eine tiefe Stimme, die ihr wohl vertraut war. Eine große Rothaarige beugte sich zu Alex hinunter und küsste sie auf die Wange. Alex blickte zu der 1,80m großen Frau hoch, die die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste auf sich zog.

„Iris!“ Alex lächelte, unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte.

„Schön, dass wir es wieder einmal geschafft haben“, bemerkte Iris, als handelte es sich um ein Treffen, das in regelmäßigen Abständen stattfand.

„Das finde ich auch“, erwiderte Alex und rief den Ober an den Tisch.

„Was darf ich Ihnen bringen?“

„Grünen Tee für mich, danke.“ Iris warf dem Ober ein betörendes Lächeln zu.

„Ich nehme noch einen Kaffee.“

„Also, was hast du so getrieben in den letzten Jahren?“ Alex beäugte ihre Ex-Flamme neugierig.

„So dies und das. Ein paar Modelaufträge. Ein paar kleinere Nebenrollen für Fernsehfilme. Der große Durchbruch lässt noch auf sich warten.“

Alex nippte an ihrem Espresso. „Klingt spannend. Dann bist du also am besten Weg, im Showbiz Karriere zu machen.“

„Ganz so glamourös ist es leider nicht. Modeln ist harte Arbeit und ich werde nicht jünger. Aber die Schauspielerei würde mir schon gefallen.“

Alex lächelte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du fürs Rampenlicht geschaffen bist“, erwiderte sie. „Du ziehst jedenfalls immer noch alle Blicke auf dich.“

Iris klimperte kokett mit den Wimpern. „Und du? Was machst du so? Immer noch auf Verbrecherjagd?“

Alex nickte. „Ich bin wohl kaum der Typ, den eine Modelagentur unter Vertrag nehmen würde.“

„Sag das nicht!“, warf Iris ein. „Du bist bildhübsch. Schlank. Burschikos. Die Agenturen suchen heutzutage nach außergewöhnlichen Typen. Null-acht-fünfzehn ist längst out.“

Alex errötete. „Ich verhafte lieber die bösen Jungs“, erklärte sie.

„Und privat? Bist du noch mit diesem Mädchen zusammen? Wie hieß sie gleich?“

Alex spürte einen Stich in der Brust, als Ellis sanfte Gesichtszüge vor ihrem inneren Auge auftauchten. „Elena. Elli.“ Ihr Mund wurde trocken. „Nein. Wir haben uns vor einiger Zeit getrennt.“

Iris verzog das Gesicht und tastete nach Alex‘ Händen. „Oh, das tut mir sehr leid. Ich dachte damals, dass sie die Richtige für dich wäre.“

Das dachte ich auch, schoss es Alex durch den Kopf.

„Schon okay. Ist bereits eine Weile her“, murmelte sie stattdessen. „Und du? Verheiratet? Kinder?“

Iris schüttelte ihr langes, volles Haar. „Gott bewahre! Ich und ein Kind. Das passt nicht zusammen. Und die Ehe ist etwas für die ewig Gestrigen. Die ist definitiv nichts für mich.“

Alex spürte einen weiteren Stich im Herz. „Iris“, begann sie vorsichtig. „Warum hast du mich angerufen?“

Iris lachte und entblößte zwei Reihen perfekt gebleichter Zähne. „Der alten Zeiten wegen“, flötete sie und ihre feingliedrigen Finger schlossen sich um die von Alex.

Alex beäugte sie misstrauisch. Sie kannte Iris. Wenn sie sich nach all diesen Jahren bei ihr meldete, dann gab es einen Grund. „Und weiter?“

Iris nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Tee. „Nichts weiter.“ Sie blickte mit großen Rehaugen von unten nach oben. Alex war sicher, dass sie diesen Blick stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte. „Ich hatte immer viel Spaß mit dir. Ist das so schwer zu glauben?“

Alex‘ Augen verengten sich. „Und das ist dir plötzlich nach wie vielen Jahren wieder eingefallen?“

Iris lachte verführerisch. „Ich habe dich kürzlich gesehen. Im Supermarkt.“

Alex runzelte die Stirn. „Ich kann mich nicht erinnern, dich irgendwo gesehen zu haben. Wieso hast du mich nicht angesprochen?“

Iris zog ihre Hände zurück und betrachtete ihre Fingernägel, als fände sie dort die Antwort. „Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Ich hatte einen Mann im Schlepptau. Es hat einfach nicht gepasst.“

Alex seufzte leise. Das war das Problem mit Iris. Es gab IMMER irgendeinen Mann. Eine Frau reichte ihr offensichtlich nicht.

„Deshalb bevorzuge ich Frauen, die auf Frauen stehen, die ... weniger flexibel sind.“

„So wie deine Elli?“, fragte Iris.

Das hatte gesessen. Iris wusste genau, dass Elli früher Männer geliebt hatte.

„Lassen wir Elli da raus“, schoss Alex zurück, als sie einen Mann erspähte, den sie kannte.

„Es gibt da schon etwas, das ich dir erzählen muss“, begann Iris und wirkte mit einem Mal sehr ernst.

Alex reckte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geirrt hatte. Es war Theo, ihr Kollege, mit einer hübschen brünetten Frau im Schlepptau. Theo entdeckte Alex und steuerte auf deren Tisch zu.

„Na, wenn das kein Zufall ist!“, begrüßte er sie mit einem breiten Grinsen. Er streckte Iris die Hand entgegen und stellte sich vor. „Darf ich euch meine Freundin Caroline vorstellen?“

Alex begutachtete die Frau wohlwollend. Sie war Mitte dreißig, mit einem zarten Porzellanteint und eigentlich viel zu natürlich, um Theos Typ zu sein. Eigentlich war das eher der Typ Frau, von dem Alex sich angezogen fühlte. Theo stand auf blond, vollbusig, langbeinig mit zu viel Make-up und künstlichen Nägeln, die in die Kategorie Mordwaffe gehörten.

„Setzt euch doch!“, forderte Alex die beiden auf, die die Gelegenheit witterte, Iris‘ Avancen auszuweichen.

Theo ignorierte Iris‘ vernichtenden Blick und rutschte neben sie auf die Bank. Caroline setzte sich neben Alex. Sie bestellten sich je eine heiße Schokolade und unterhielten sich eine Weile über Gott und die Welt. Caroline arbeitete mit schwer erziehbaren Kindern, was Alex eine dumme Bemerkung darüber entlockte, dass ihr jetzt klar war, warum sie so gut mit Theo zurechtkam. Ihr Kollege verpasste ihr unterm Tisch einen leichten Fußtritt. Alex und Caroline lachten. Alex mochte die Frau auf Anhieb. Dafür wurde sie den Eindruck nicht los, dass Iris Theo nicht ausstehen konnte. Was hatte sie nur gegen ihren Kollegen? Offenbar war das, was sie mit ihr besprechen wollte, wirklich wichtig. Dafür hing Iris an Carolines Lippen, als wäre sie eine Art Guru. Offensichtlich war es Iris einerlei, ob Männlein oder Weiblein. Gegen einen Flirt mit der Freundin eines Frischverliebten schien für Iris jedenfalls nichts zu sprechen. Theos Mobiltelefon klingelte.

„Das verheißt nichts Gutes“, verkündete er, ehe er abnahm. Er hörte eine Minute schweigend zu. Dann erwiderte er: „Das wird nicht nötig sein. Sie ist hier.“ Pause. „Gut. Wir sind unterwegs.“

Alex runzelte die Stirn.

„Die Arbeit ruft“, erklärte er und wandte sich entschuldigend an Caroline. „Ich muss noch mal los, Schatz.“ Theo legte zwanzig Euro auf den Tisch. „Alex, kommst du?“

Die vier schlüpften in ihre Mäntel und verließen widerwillig die Wärme des Lokals. Iris verabschiedete sich von Alex mit einem Kuss auf die Wange und versprach, sie anzurufen. Caroline warf Theo eine Kusshand zu und verließ das Café Richtung Bushaltestelle.

„Was haben wir?“, fragte Alex, während sie ihre klammen Finger in die Jackentasche steckte.

„Ein vermeintlicher Unfall in Mayrwies. Es gibt ein Todesopfer.“

„Und da muss gleich die Mordkommission anrücken?“ Alex starrte ihn verständnislos an.

Ein Streifenwagen hielt vor dem Eingang des Café Bazar. Der Kollege hupte.

„Tja, es gibt eine Zeugin“, erwiderte Theo.

Alex öffnete die Tür des Wagens und schwang sich auf den Rücksitz. „Und?“

Theo begrüßte den Kollegen und nahm neben ihm Platz. „Und die behauptet, der Wagen hätte das Opfer ein zweites Mal überrollt.“

Alex kniff die Augen zusammen.

„Im Rückwärtsgang.“

Alex schluckte. „Da wollte jemand aber auf Nummer sicher gehen.“

Elli

Elli schlurfte durch die Stadt. Ihre Wangen waren taub von der Kälte und ihre Nasenspitze fühlte sich an, als würde sie jeden Moment abfallen. Obwohl ihr Reha-Aufenthalt in Großgmain schon einige Monate zurücklag, spukte ihr Alex ständig im Kopf herum. Sie verstand nicht, warum Alex nicht gekommen war, um sie anlässlich ihrer Entlassung abzuholen. Ebenso wenig, warum sie ihre Anrufe und ihre Nachrichten ignorierte. Sie war so sicher gewesen, dass sich zwischen ihnen wieder etwas anbahnte. Wie konnte sie sich so getäuscht haben?

Ihr einziger Lichtblick war derzeit ihre Tochter Julia, die sie nach mehr als 19 Jahren wiedergefunden hatte. Nachdem man ihr das Kind gleich nach der Geburt entrissen und sie selbst angeschossen hatte, hätte sie nie gedacht, dass sie dieses Glück einmal erleben würde. Sie hatten so viel nachzuholen, so viel Zeit verloren. Elli zwang sich, Julia nicht zu häufig anzurufen. Sie wollte ihre Tochter nicht erneut verlieren, weil sie sie zu sehr bedrängte. Julia hatte ihr eigenes Leben und das war gut so. Aber sie genoss die wöchentlichen Treffen mit ihrer erwachsenen Tochter.

Trotzdem vermisste sie einen ganz wesentlichen Teil in ihrem Leben: Die Frau, die sie liebte. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Alex ihre Wohnung von heute auf morgen gekündigt hatte und zu ihrer Großmutter gezogen war. Am Tag nach Ellis Entlassung aus dem Rehazentrum hatte Julia darauf bestanden, sie zu Alex zu fahren. Elli war fassungslos, als sie entdeckte, dass Alex‘ Wohnung leer stand. Sie verstand die Welt nicht mehr. Sie war so sicher gewesen, dass die Gefühle, die sie beide einst füreinander hatten, zurückgekehrt waren. Stärker als zuvor. Was in aller Welt hatte Alex veranlasst, dass sie ihr den Rücken zukehrte? Sie hoffte immer noch, dass sie eines Tages eine Erklärung bekommen würde. Alex‘ Großmutter stand noch immer in Kontakt mit Elli. Sie telefonierten jede Woche, ohne dass Alex davon wusste. Oma hatte Elli vorgeschlagen, einfach vorbeizukommen, um mit Alex in Ruhe zu reden, aber dafür war Elli zu stolz. Das erschien ihr wie ein Schuldeingeständnis und sie war sich nun wirklich keiner Schuld bewusst. Elli wurde das Gefühl nicht los, dass Oma wusste, warum Alex sich von ihr abgewandt hatte, aber eins musste man der alten Dame lassen, sie war verschwiegen und ihrer Enkelin gegenüber loyal. Elli schätzte das.

Elli durchquerte den Mirabellgarten. Aus dem Schloss schritt ein frisch vermähltes Brautpaar. Elli lächelte. Das hätte sie auch haben können. Sie verfluchte den Tag, der zwischen Alex und ihr zum Bruch geführt hatte. Das war mittlerweile über ein Jahr her. Sie erinnerte sich an einen grauen Novembertag. Die Wolken hatten tief gehangen und das wenige Licht der Jahreszeit fast verschluckt. Alex hatte das heikle Thema aufs Parkett gebracht. Sie wollte ein Kind mit Elli großziehen. Alex‘ Bitte versetzte ihr damals einen heftigen Stich. Elli hatte ihr Geheimnis, dass sie bereits ein Kind ausgetragen und geboren hatte, nie mit ihrer Ex-Freundin geteilt. Zu groß waren der Schmerz und die Scham, dass sie ihr Kind nicht hatte beschützen können, weil sie damals als Prostituierte in vollkommener Abhängigkeit ihres Zuhälters gelebt hatte. Wie hätte sie ihr erklären sollen, dass die Vorstellung, ein Kind zu haben, gleichzeitig ihre größte Angst hervorkehrte, dieses kleine Lebewesen zu verlieren? Dass der Verlust ihres Babys der schlimmste Schmerz war, den sie je hatte ertragen müssen? Dass sie dieses Gefühl nie wieder erleben wollte? Zu groß war die Angst, dass dem Kind etwas geschehen könnte. Also blockte sie ab, gab sich unterkühlt, desinteressiert. Alex musste den Eindruck bekommen, dass sie selbst der Grund war, weshalb Elli kein Kind wollte. Ein Wort gab das andere. Ein Schlagabtausch aus Beschuldigungen, Vorwürfen und unterdrückten Ängsten. Irgendwann war alles gesagt. Das Schweigen danach war schlimmer als der vorangegangene Streit. An diesem Abend packte Alex ihre Sachen und ging. Sie kam nicht wieder. Bis das Schicksal sie erneut zusammengeführt hatte. Beinahe. Was war nur schiefgegangen? Vielleicht sollte sie jetzt den ersten Schritt tun. Ihre Kränkung hinunterschlucken und Alex sagen, was sie fühlte. Julia hatte ihr dazu geraten.

Elli beschleunigte ihre Schritte. Ihr Atem segelte in kleinen Wölkchen um die Nase. Der allabendliche Verkehr verstopfte die Schwarzstraße. Die Lichter der umliegenden Geschäfte beleuchteten den Stadtteil wie einen Christbaum. Sie nahm eine Traube von Touristen wahr, die sich vor dem Landestheater auf der anderen Straßenseite versammelt hatte. Die Fremdenführerin hielt einen gelben Schirm in die Luft. Elli hatte sich immer gefragt, warum es ausgerechnet ein Schirm war, dem die Touristen folgen sollten. Eine unablässig lächelnde Asiatin knipste Fotos von dem Gebäude aus jeder erdenklichen Perspektive. Elli hatte das Gefühl, dass die Touristenströme in Salzburg nie versiegten. Die Ampel war rot. Elli rieb sich die Hände, während sie an der Kreuzung wartete. Vor ihr lag das Café Bazar, eines der bekanntesten Kaffeehäuser der Stadt. Unwillkürlich nahm sie den Geruch von starkem Espresso wahr. Die Tür öffnete sich. Eine Frau in sportlicher Daunenjacke, Bikerboots und einem dicken Schal spazierte aus dem Café. Etwas an ihr ließ Ellis Herz schneller schlagen. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie realisierte, wer die Gestalt war, die gerade aus dem Lokal spazierte. Die Figur. Das kurz geschnittene brünette Haar. Die Gestik. Es war Alex. Ellis Herz machte einen Satz. Einen Moment lang war sie versucht, die Straße zu überqueren, obwohl die Ampel noch immer rot leuchtete. Eine weitere Frau schwebte zur Tür hinaus. Eine große Rothaarige. Elegant gekleidet. Attraktiv. Elli spürte einen Stich. Die Frau lachte. Dann küsste sie Alex auf die Wange. Elli wurde trotz der Kälte heiß. Ihre Brust brannte. Was war nur los mit ihr? Vielleicht sollte sie Alex endlich vergessen. Sie ärgerte sich über die Träne, die sich im Augenwinkel gesammelt hatte. Sie machte kehrt und überquerte die Straße in Richtung Landestheater. Sie konnte Alex jetzt unmöglich begegnen. Ein Auto hupte. Sie hob entschuldigend die Hand und rannte weiter. Hätte sie noch einen Moment länger gewartet, hätte sie Theo aus dem Café spazieren und gemeinsam mit Alex in das wartende Polizeifahrzeug steigen sehen. Doch Elli sah nichts mehr. Tränen verschleierten ihre Sicht.

Alex

Als Alex und Theo die Unfallstelle erreichten, hatte sich bereits ein kleiner Stau gebildet. Eine Reihe von Schaulustigen ließ es sich nicht nehmen, aus dem Auto zu gaffen oder das Opfer mit dem Handy zu filmen. Theo sprang aus dem Wagen und deckte den Toten rasch zu. Zwei Kollegen des Unfallkommandos waren offenbar zu sehr mit der Begutachtung der Unfallstelle beschäftigt, um sich auch noch um die umstehenden und die haltenden Schaulustigen zu kümmern. Alex schnappte ein Absperrband und sperrte den Bereich um den Verunglückten großzügig ab.

„So, Herrschaften!“, schrie sie in die Menge. „Die Show ist vorbei. Fahren Sie unverzüglich weiter, sonst hagelt es hier gleich eine Menge Anzeigen.“

Die meisten Fußgänger zogen weiter, wenn auch murrend. Zwei, drei Fahrzeuge setzten sich ebenfalls in Bewegung, aber ein Mann lehnte weiterhin lässig aus dem Fenster und filmte jetzt Alex.

„Was genau verstehen Sie nicht an ‚weiterfahren‘?“, herrschte Alex ihn wütend an.

„Ich kenne meine Rechte“, erwiderte der Mann mit einem süffisanten Lächeln. „Von Ihnen muss ich mir gar nichts sagen lassen.“

„Ihnen ist schon klar, dass Sie weder das Unfallopfer noch mich filmen dürfen? Außerdem behindern Sie hier die Arbeit der Polizei“, erwiderte Alex so ruhig sie konnte.

Der Mann schnaubte verächtlich. „Was wollen Sie denn dagegen machen?“

Theo näherte sich seiner Kollegin. „Gibt es ein Problem?“

Alex schüttelte den Kopf. „Das Übliche“, entgegnete sie. „Als wäre es nicht schlimm genug, wenn jemand bei einem Unfall verunglückt, müssen ein paar Gaffer das Ganze auch noch filmen.“

Theo warf einen Blick auf das Kennzeichen und machte ein Foto von dem Fahrzeug.

„Das dürfen Sie nicht!“, echauffierte sich der Mann. „Außerdem hat Ihre Kollegin mich beleidigt.“ Er zeigte mit dem Finger auf Alex. „Sie hat mich als ‚Gaffer‘ bezeichnet.“

Theo näherte sich dem Mann, bis dieser nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt war. „Glauben Sie mir. Das war keine Beleidigung.“ Theo nahm dem Mann, der immer noch filmte, das Handy aus der Hand. Er wischte ein paar Mal über das Display und fand, was er gesucht hatte. Dann löschte er das Video sowie das Bildmaterial, das der Mann von dem Unfall angefertigt hatte.

„Geht‘s Ihnen noch gut! Ich werde Sie verklagen!“, rief dieser aufgebracht.

„Tun Sie sich keinen Zwang an! Und jetzt schleichen Sie sich von hier, Sie sensationsgeiler Vollkoffer, sonst vergesse ich mich! Haben wir uns verstanden? DAS war jetzt im Übrigen eine Beleidigung.“

„So etwas können Sie mit mir nicht ...“

„Und da fahren wir schon“, erklärte Theo. „Und die Anzeige kommt per Post.“

„Sie unfähiger Scheiß-Kieberer!“, fauchte der Mann.

„Beamtenbeleidigung kostet extra“, entgegnete Theo ruhig. „Ich wünsche Ihnen eine unfallfreie Fahrt. Wir wollen doch nicht, dass irgendein Idiot Sie filmt, wenn Sie mit Ihrer Karre im Graben landen, nicht wahr?“

Der Mund des Mannes klappte ein paar Mal auf und zu, dann startete er sein Auto und fuhr los. Alex konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Gut gelaunt?“, fragte sie ihren Kollegen, während sie zum Unfallopfer zurückkehrten.

Theo zuckte die Achseln. Er strahlte.

„Ja, ja“, neckte Alex ihn. „Die Liebe. Die Liebe ist eine Himmelsmacht.“

Theo räusperte sich. „Caroline ist schon eine tolle Frau“, gab er zu.

„Und sie scheint dir gut zu tun.“ Alex grinste. „Hast dir dieses Mal was Solideres ausgesucht, wie?“

„Wie meinst du das?“, fragte Theo, während er die Plane von der Leiche zog.

„Naja, du weißt schon. Sonst sehen deine Frauen eher aus wie die lebendig gewordene Barbie.“

Jetzt musste Theo lachen. „So schlimm? Aber du hast schon recht. Caroline ist eine Naturschönheit.“

Alex nickte zustimmend. „Ich freue mich jedenfalls für euch.“

Theo wandte sich an einen Kollegen des Unfallkommandos. „Es soll eine Zeugin geben.“

Der Kollege nickte, ohne aufzublicken und deutete auf eine ältere Frau, die auf der Holzbank an der Bushaltestelle hockte. Alex und Theo schlenderten auf die Dame zu, die auf den Boden starrte und ihre Handtasche umklammert hielt.

„Entschuldigen Sie“, begann Alex. „Mein Name ist Alexandra Wild. Ich arbeite für die Mordkommission. Sie haben den Unfall beobachtet?“ Alex setzte sich neben die Frau.

Sie nickte. Ihre Lippen bebten.

„Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?“

Die Frau fuhr sich hektisch mit einer Hand an den Hals.

„Natürlich. Verzeihen Sie. Margarethe Siebert.“

„Frau Siebert, können Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben?“

„Ich habe hier auf den Bus gewartet. Ich fahre immer mit dem Bus.“ Sie lächelte. Ihre Wangen hingen links und rechts ihrer Mundwinkel schlaff herunter wie schweres Gepäck auf einem Fahrrad. „Dann ist der Mann“, sie deutete mit dem Kopf auf den Toten, „daherspaziert. Ich glaube, er wollte in das Gasthaus gegenüber, hat aber gemerkt, dass es heute nicht geöffnet hat. Da hat er die Straße überquert.“ Die Hände der Frau zitterten leicht.

„Was ist dann passiert, Frau Siebert?“

„Das Auto hat ihn erfasst. Ich habe noch gesehen, wie der Mann durch die Luft geflogen ist. Die Wucht, mit der ihn das Auto erwischt hat, hat ihn ein Stück da rüber geschleudert. So ist sein Körper nicht mitten auf der Straße, sondern dort drüben am Straßenrand gelandet.“

„Wo hat das Auto den Mann erfasst?“

Die Frau stand auf, was sie sichtlich Mühe kostete und zeigte auf ihre Seite. „Hier am Oberschenkel und der Hüfte.“

„Ich nehme an, der Mann war auf der Stelle tot“, warf Alex ein.

„Das weiß ich nicht mit Sicherheit“, erwiderte Frau Siebert. „Ich war zuerst sicher, dass es ein schrecklicher Unfall war, dass der Fahrer den Passanten zu spät bemerkt hatte.“

„Aber?“, fragte Alex.

Die Frau presste die Hände aufeinander und stierte auf den Asphalt. „Das Auto hat angehalten. Ich dachte, der Fahrer steigt aus, um dem Unfallopfer zu helfen.“ Die Frau vergrub das Gesicht in den Händen.

Alex legte beruhigend den Arm um die ältere Dame. „Aber das tat er nicht.“

Frau Siebert schüttelte den Kopf. „Er hat den Rückwärtsgang eingelegt“, erklärte sie leise. „Dann ist er erneut über den Mann gefahren.“

Alex schluckte. „Konnten Sie das Auto erkennen? Oder den Fahrer?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, die Scheiben des Wagens waren verdunkelt. Ich konnte den Fahrer gar nicht sehen. Der Wagen war dunkel. Schwarz oder dunkelgrau vielleicht. Aber welche Marke, das war, das weiß ich nicht.“

Alex tätschelte der Frau die Hand. „Danke, Frau Siebert. Sie haben uns sehr geholfen. Wir müssen Sie bitten, morgen zur Dienststelle zu kommen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können.“

Die Frau nickte tapfer. Alex notierte die Personalien und bat einen jungen Kollegen, der an ihr vorüberspazierte, Frau Siebert nach Hause zu fahren. Der O-Bus würde in den nächsten Stunden keine Fahrgäste in Mayrwies aufnehmen.

Theo kniete neben der Leiche, als Alex neben ihn trat. Unwillkürlich verzog sie den Mund, als sie die Masse neben dem Kopf des Mannes als Teil seines Gehirns identifizierte, das beim Aufprall offenbar ausgetreten war. Der rechte Unterschenkel war unnatürlich verdreht. Sie schauderte.

Ein Fahrzeug näherte sich der Unfallstelle. Ein Kollege winkte es durch. Die Spurensicherung. Alex versuchte, sich den Unfallort so gut es ging einzuprägen, ehe die Kollegen der Spurensicherung sie aufforderten, das Feld zu räumen. Auf der Jacke des Toten zeichneten sich deutliche Spuren eines Reifenprofils ab. Die Aussage der Zeugin dürfte also stimmen.

Theo starrte noch immer auf den Toten, als könnte dieser ihm erzählen, was geschehen war.

„Kennen wir die Identität des Toten?“, fragte Alex ihn.

„Noch nicht.“

„Kein Ausweis? Führerschein?“

Theo schüttelte den Kopf. „Nicht einmal eine Geldtasche.“

„Eigenartig“, murmelte Alex. Wer würde das Haus ohne sein Portemonnaie verlassen?

Der Kollege der Spurensicherung bat die beiden, zur Seite zu gehen. Theos Kopf war leer. Seine Ohren summten. Irgendetwas war da. Wenn er nur wüsste, was! Er warf einen letzten Blick auf den Toten, nahm die buschigen Augenbrauen, die schmalen Lippen und das schüttere Haar wahr. Theo schloss die Augen, um das Bild abzuspeichern. Abzugleichen. Eine Erinnerung tauchte auf. Verblasste. War es möglich ...? Er verwarf den Gedanken. Doch das leise Nagen in seinen Eingeweiden ließ sich dadurch nicht vertreiben.

Ich

Das Adrenalin schießt noch immer durch meine Adern, als ich das Auto in der Garage abstelle. Die Stoßstange ist eingedellt und die Kühlerhaube hat bei dem Zusammenstoß ebenfalls etwas abbekommen. Ich werde jemanden finden müssen, der den Schaden repariert, ohne Fragen zu stellen. Keine Werkstatt, der die Polizei einen Besuch abstatten könnte. Aber darum kümmere ich mich später. Jetzt wird erst einmal gefeiert!

Ich schlüpfe aus den Schuhen, nehme eine Flasche Jack Daniels aus dem Schrank und gieße mir einen kräftigen Schluck ein. Eigentlich mehr drei oder vier. Das Licht der Küche glitzert in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Nach den ersten zwei Schlucken spüre ich, wie die Aufregung allmählich aus meinem Körper weicht und einer wohligen Erschöpfung Platz macht. Rache fühlt sich mindestens so befriedigend an wie erfüllter Sex oder der Zieleinlauf nach einem Marathon. Ich merke, wie sich mein Herzschlag langsam beruhigt. Picasso, mein verfressener Kater, schleicht schnurrend um meine Beine und sieht mich vorwurfsvoll an. Ich beuge mich zu ihm hinunter und streichle seinen Kopf. Dann schneide ich ihm das Hühnchen in kleine Stücke, das vom gestrigen Abendessen übriggeblieben ist und fülle seine Schüssel damit. Mit erhobenem Schwanz macht er sich über die Essensreste her.

Ich habe keinen Hunger. Ich leere das Glas in einem weiteren Zug und taste in der obersten Schublade nach dem Päckchen mit den Zigaretten. Ich habe vor Jahren aufgehört zu rauchen, doch mit der Möglichkeit, nun endlich meinen Racheplan in die Tat umzusetzen, stieg meine Nervosität und damit die Gier, meine Sucht zu befriedigen.

Scheiß drauf! Ich zünde eine Zigarette an und inhaliere gierig den Rauch. Ich öffne die Terrassentür und überlege einen Augenblick lang, mich mit dem Glimmstängel hinauszusetzen. Die eisige Luft schlägt mir ins Gesicht wie eine Ohrfeige. Ich verwerfe den Gedanken und nehme hastig ein paar Züge, die ich in die Kälte hinausblase. Der Rauch und mein warmer Atem kräuseln sich und schweben in den Winterabend. Ich drücke die Zigarette aus und schließe eilig die Tür.

Bilder tanzen vor meinen Augen. Von dem Mann, den ich überfahren habe. Für einen kurzen Moment sehe ich das Entsetzen in seinen Augen, bevor der Wagen ihn voll in der Seite erwischt. Das Erkennen. Das Begreifen, dass ich nicht bremsen werde. Die Straße ist menschenleer. Wie leer gefegt. Zu spät bemerke ich eine alte Frau, die an der Bushaltestelle wartet. Ich überlege, auf mein Glück zu hoffen, dass der Mann tatsächlich tot ist und sofort ins Gaspedal zu steigen, um davonzurasen. Ich bin fast sicher, dass die Frau das Kennzeichen auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Sie trägt eine dicke Brille. Ich drehe mich im Fahrersitz um und starre aus dem Heckfenster. Der Mann liegt am Straßenrand. Durch den Aufprall ist er einige Meter durch die Luft gesegelt. Wie in einem Actionstreifen. Ich versuche zu erkennen, ob er tot ist. Bewegt sich da eine Hand? Panik erfasst mich. Er muss tot sein. Er muss einfach. Das Risiko kann ich nicht eingehen. Wenn er überlebt, hat er eine genaue Vorstellung, wer ihn angefahren hat. Jetzt steige ich ins Gas, lege aber den Rückwärtsgang ein und rolle noch einmal über den Körper, der auf dem Asphalt liegt. Ich kneife die Augen zusammen. Es fühlt sich seltsam an, über einen Menschen zu fahren. Fest und doch weich. Etwas unter den Reifen gibt nach. Es gibt ein unschönes Geräusch, als die rechte Felge meines Hinterreifens über den Gehsteig scheuert. Mein Herz rast. So wie vor einigen Jahren, als ich mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug gesprungen bin. Der Adrenalinschub hat mir fast den Kopf gesprengt. Jetzt fühlt es sich ähnlich an. Surreal. Meine Ohren summen, als hätte sich ein Schwarm Bienen in ihnen eingenistet. Ich starre die alte Frau an, die am Wartehäuschen lehnt und ihre Handtasche mit beiden Händen umklammert. Sie zittert. Sie zerrt ein Mobiltelefon aus ihrer Handtasche. Einen Moment lang überlege ich, ob ich sie beseitigen soll. Sicher ist sicher. Doch das kann ich nicht. Sie hat nichts mit dieser Sache zu tun. Sie ist nicht Teil meiner Rache, nicht Teil meiner traurigen Geschichte, die an einem verhängnisvollen Tag vor 28 Jahren meine Kindheit zerstörte. Ich gehe davon aus, dass die Frau die Polizei verständigt. Mir bleibt nur zu hoffen, dass ihre Augen wirklich nicht mehr allzu gut sind. Ich steige ins Gaspedal und brause los. Einer erledigt. Bleiben noch sechs. Wer wird der Nächste sein? Vielleicht lasse ich das Los entscheiden. So wie früher, als Kind, wenn Papa und ich zu einer gemeinsamen Entscheidung gelangen wollten.

Picasso schmiegt sich an meine Beine und springt neben mir auf die Couch, wo er sich auf der Decke zusammenrollt. Ich taste mit der Hand nach seinem Kopf. Er schnurrt behaglich. Ja, das scheint mir eine vernünftige Idee zu sein. Ich nehme ein Stück Papier aus dem Zettelblock, der auf dem Wohnzimmertisch steht, und schreibe sechs Namen auf.

„Ine-ane-u und raus bist du!“, murmle ich, während ich einen Namen nach dem anderen von der Liste streiche, bis nur noch einer übrigbleibt. Ich lächle. Das Los hat entschieden. Das nächste Opfer steht fest. Eine Frau. Sie wird anders sterben. Keine weiteren Autounfälle. Ich summe vergnügt vor mich hin, stehe auf und betrachte sehnsüchtig die Whiskey-Flasche. Anstatt mir ein Glas einzuschenken, schiebe ich mir einen Pfefferminzkaugummi in den Mund. Ich habe noch etwas zu erledigen. Und Feiern kann ich auch später noch.

Alex

Paul Wagner, Leiter der Mordkommission, erwartete die beiden bereits, als sie zur Dienststelle zurückkehrten. Sein dunkles, dichtes Haar stand wild nach oben ab, wie eine Manifestation der Punk-Szene aus den 1980er-Jahren. Die grauen Strähnen, die seine Haarpracht durchzogen, erinnerten ein wenig an einen alternden Rocker.

„Ist dein Friseur in Konkurs gegangen?“, sprach Theo den Gedanken von Alex aus.

Paul fuhr sich durch einen Haarschopf, der ihm wirr in die Stirn fiel. „Steht ganz oben auf meiner To-do-Liste“, erwiderte er grinsend.

„Na ja“, gab Alex zurück. „Es gibt Schlimmeres als eine wilde Haarpracht.“

„Aber nicht viel“, ergänzte Theo.

Sie lachten.

„War der Verdacht des Unfallkommandos begründet?“, wollte Paul wissen. „Haben wir es mit Mord zu tun?“

„Sieht ganz so aus“, entgegnete Alex. „Der Mann wurde offenbar ein zweites Mal von dem Fahrzeug überrollt.“

Paul hob eine Augenbraue. „Hat die Spurensicherung das bestätigt?“

„Noch nicht. Aber es gibt eine Zeugin.“

Paul blies die Backen auf und ließ die Luft langsam entweichen. „Ich frage mich wirklich, was in den Köpfen mancher Menschen vor sich geht.“

„Glaub mir, Paul“, meinte Theo. „Das willst du gar nicht so genau wissen.“

„Da könntest du recht haben.“ Paul rieb sich die Augen. Er sah müde aus. „Haben wir sonst etwas Brauchbares?“

Alex schüttelte den Kopf. „Im Moment nicht. Der Tote hatte keine Papiere bei sich. Wir tappen also noch im Dunkeln, was seine Identität betrifft. Ich sehe mir nachher die Vermisstenanzeigen an. Vielleicht werde ich da fündig.“

„Es ist schon spät, Alex. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Paul wandte sich zum Gehen. „Ihr solltet für heute auch Schluss machen.“

Theo wirkte sichtlich erleichtert. Alex hatte das Gefühl, dass er schon seit ihrem Einsatz in Mayrwies still und in sich gekehrt war. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Als sie gemeinsam die Polizeistation verließen, entdeckte sie Caroline, die vor dem Gebäude stand und auf Theo wartete.

Theos Augen leuchteten wie die eines Kindes am Heiligen Abend. Alex hob zum Abschied die Hand und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Die kalte Luft pfiff durch die Gassen. Sie schlug den Kragen hoch und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte.

Alex spürte die Anwesenheit, ehe sie jemanden sah. Ein Pfeifen. Galt das ihr? Sie drehte sich um. Die Frau rannte. Ihre hohen Absätze klackerten auf dem Asphalt und ließen sie wie eine Riesin wirken. Iris.

„Dachte ich mir, dass du Dienstschluss hast“, erklärte Iris atemlos.

„Verfolgst du mich?“ Alex steckte ihre Hände tief in die Jackentaschen.

„Wir waren noch nicht fertig“, erklärte Iris.

„Womit?“

„Unserem Drink.“

Alex spürte ein Ziehen im Bauch, das nichts Gutes verhieß. „Hör zu, es war ein langer Tag. Lass uns das Treffen verschieben. Wie wäre es mit Samstag?“

„Wie wäre es mit jetzt gleich?“ Iris‘ Atem strich über ihr Haar.

Alex seufzte. „Ich bin ziemlich kaputt, wenn ich ehrlich bin.“

Iris kam Alex‘ Gesicht nahe. „Da kann ich, glaube ich, helfen.“

Alex zögerte. „Iris, das mit uns ist lange her. Ich denke nicht, dass ...“

„Ein Drink. Kein Heiratsantrag. Ehrenwort! Na, wie klingt das?“

Alex presste die Lippen zusammen. Was war schon dabei? Ein Drink. Und den konnte sie heute wirklich brauchen.

„Na schön. Aber nur einen“, gab sie nach, als sie merkte, dass sie Iris sonst nicht loswurde. „Da vorne ist eine Bar. Die haben echt guten Whiskey.“

„Na also!“, rief Iris gut gelaunt und hakte sich bei Alex unter, während sie zu dem Lokal schlenderten.

Die warme Luft im Inneren ließ Alex wohlig erschauern. Iris steuerte auf zwei freie Hocker an der Bar zu und bestellte etwas bei der Bedienung. Elli schwirrte durch Alex‘ Kopf. Ihre vollen, weichen Lippen. Die zarte Haut. Der erste Drink war schnell geleert. Ein Zweiter folgte. Die Wärme breitete sich in Alex‘ Bauch aus wie prasselndes Kaminfeuer. Ihre Gedanken kreisten um den Toten in Mayrwies, um Elli und ihre Oma, die sich inzwischen wahrscheinlich Sorgen machte.

„Erde an Alex“, rief Iris und wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht. „Ich habe keine Ahnung, wo du gerade bist, aber ganz sicher nicht hier bei mir.“

Alex lächelte. „Entschuldige. Es war ein langer Tag.“

„Dann ist ein bisschen Entspannung genau das Richtige“, erwiderte Iris und reckte zwei Finger in die Höhe. Der Barkeeper füllte zwei Gläser und stellte sie vor ihnen auf den Tresen.

„Ich muss wirklich los“, erklärte Alex.

„Wartet eine Frau auf dich?“, fragte Iris.

Alex zögerte, ehe sie den Kopf schüttelte.

„Der Job?“

„Nein, das nicht ...“

„Dann entspann dich und trink mit mir“, flötete Iris und hielt ihr Glas hoch, um mit Alex anzustoßen.

„Du wolltest mir doch etwas Wichtiges erzählen“, versuchte Alex, das Thema zu wechseln.

Iris‘ Blick huschte irritiert über ihre Hände. Sie konnte Alex nicht in die Augen sehen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Alex.

Iris nickte heftig, was die Angst aber nicht aus ihren Augen vertreiben konnte. „Es geht mir gut.“

„Aber?“

„Kein ‚Aber‘. Ich dachte, ich bräuchte deinen Rat.“

Alex fixierte Iris neugierig.

„Es hat sich erledigt. Ich habe mich entschieden.“

Alex wartete einen Augenblick, ob Iris sie einweihen würde, schwieg aber.

„Jetzt möchte ich einfach mit dir trinken“, erklärte Iris und wirkte mit einem Mal betont heiter.

Alex leerte die Hälfte des Whiskeys in einem Zug und spürte, wie der Alkohol durch ihre Venen rauschte. All ihre Gedanken und Sorgen davon spülte. Ihren Kopf leerte. Iris plapperte in einem fort. Von ihrer letzten Beziehung. Von ihrem Job als Schauspielerin und wie hart es war, mit Ende Dreißig für bestimmte Rollen gebucht zu werden. Alex hatte fast vergessen, wie unterhaltsam Iris war. Sie erinnerten sich an die guten alten Zeiten, lachten und grölten den einen oder anderen Song mit, der im Hintergrund lief. Leere füllte Alex‘ Kopf. Sorglosigkeit. Leichtigkeit. Iris‘ Hände tasteten nach ihren, verschränkten sich mit ihren Fingern. Zwei Finger legten sich unter Alex‘ Kinn. Tiefe Blicke. Ein wohliges Kribbeln. Alex seufzte leise. Das war ganz großer Mist. Sie sollte nicht ... Sie spürte warme Lippen auf ihrem Mund. Ihr Magen brannte. Ihr Unterleib stand in Flammen. Das letzte Mal war lange her. Viel zu lange. Ein paar Scheine wanderten über den Tresen.

„Der Rest ist für dich“, murmelte Iris dem Barkeeper zwischen zwei Küssen zu.

Das Taxi hupte kurz, als sie aus der Bar traten. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Der Wagen hielt vor Iris‘ Wohnhaus. Alex reichte dem Fahrer vom Rücksitz aus einen Zehn-Euro-Schein. Sie taumelten aus dem Fahrzeug. Alex spürte Iris‘ Hand auf ihrer linken Brust. Ein sehnsüchtiges Ziehen in ihrem Unterleib. Der Taxifahrer starrte den beiden mit einem breiten Grinsen nach. Die Haustür flog auf. Sie landeten in der Küche. Iris schob Alex auf die Kücheninsel. Gierig tasteten ihre Hände über den Körper der anderen. Die Küsse wurden heißer, gieriger. Alex spürte Iris‘ Lippen auf ihrem Hals und ihrem Dekolleté. Kleidungsstücke fielen zu Boden. Alex sah Ellis Gesicht vor sich. Die Enttäuschung. Die Verletzung. Was hatte Elli hier zu suchen? Alex versuchte, sich fallenzulassen, die Berührungen zu genießen. Iris tauchte zwischen ihre Schenkel. Als Alex mit einem Stöhnen kam, dachte sie erneut an Elli. Verdammt!

Stunden später wachte Alex auf. Ihr Schädel dröhnte. Iris lag neben ihr im Bett und schnarchte leise. Wann waren sie ins Schlafzimmer gewechselt? Alex rieb sich die schmerzenden Schläfen. Im Dunkeln rollte sie sich aus dem Bett und stolperte durch die Wohnung, um ihre Kleidungsstücke aufzusammeln. Sie schlüpfte in ihre Bluse und die Jeans. Wo zum Teufel war ihr Handy? Sie war sicher, dass sie es in ihrer Jacke gelassen hatte. Doch dort war es nicht. Waren sie im Wohnzimmer gewesen? Sie war nicht sicher. Sie spähte unter die Couch und tastete zwischen die Ritzen der Sitzpolster. Nichts. Schließlich fand sie es auf der Anrichte in der Küche. Vielleicht war es dort im Eifer des Gefechts aus ihrer Jacke gerutscht. Egal. Sie musste hier raus. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Sie fühlte sich mit einem Mal elend. Wie eine Ehebrecherin. Eine Betrügerin. Alex verstand nicht, was mit ihr los war. Sie war nicht mehr mit Elli zusammen. Sie schuldete ihr nichts. Sie konnte Sex haben, mit wem und wann immer sie wollte. Jawohl! Warum fühlte sie sich dann, als hätte sie gerade ihre Freundin betrogen? Und schlimmer noch: Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie diese Nacht mit Iris noch bitter bereuen würde?

Ich

Zugegeben, sie ist sehr hübsch. Ich verstehe, was er an ihr findet. Man sieht, dass sie allmählich älter wird, aber auf eine gute Weise. Wie Wein, der mit den Jahren besser wird. Ich beobachte sie schon eine Weile. Es ist wichtig, die Gewohnheiten seiner Opfer zu kennen, zu wissen, wann sie schlafen gehen, eine Runde laufen oder zu Abend essen. Ich muss wissen, ob es Regelmäßigkeiten in ihrem Leben gibt, ob sie mit jemandem lebt und wann sie zu Hause sein wird.

Sie lebt alleine, aber sie hat eine Tochter, die in Wien studiert. Und die morgen für ein paar Tage nach Hause kommen wird. Mir bleiben also nur wenige Stunden, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Aber das macht nichts. Ich bin vorbereitet. Ich habe mich im selben Tennisverein angemeldet wie sie. Schon vor einigen Monaten. Sie kennt mich. Wir reden jeden Dienstag miteinander. Smalltalk meistens. Dazwischen werfe ich ein paar Fragen ein, über Dinge, die ich wissen muss. Wo sie wohnt, zum Beispiel. Wo sie arbeitet. Wie einfach es ist, Menschen dazu zu bringen, ihr Innerstes nach außen zu kehren! Man muss nur die richtigen Fragen stellen. In der richtigen Dosis. Zu viele Fragen machen misstrauisch. Zu wenige bringen keine Ergebnisse. Es braucht Zeit. Geduld. Ich habe 28 Jahre darauf gewartet, mich zu rächen. Ich BIN Geduld.

Seit Wochen kenne ich das hübsche Haus in Elsbethen, in dem sie lebt. Manchmal beobachte ich sie, an einen Baum in ihrem Garten gelehnt, wenn sie in ein Handtuch gewickelt telefoniert, dabei lacht und ihr feuchtes blondes Haar in den Nacken wirft. Vielleicht spricht sie mit Tim, ihrer Jugendliebe? Sie hat mir selbst von ihm erzählt. Nach vielen Jahren ohne jeglichen Kontakt seien sie sich zufällig über den Weg gelaufen und hätten begonnen, sich wieder zu treffen.

„Es ist so aufregend, eine Affäre mit der ersten großen Liebe zu haben“, hat sie mir verschwörerisch zugeflüstert.

„Das kann ich mir gut vorstellen“, habe ich erwidert und mir insgeheim gedacht: „Wir wissen doch alle, dass aufgewärmt nur Gulasch schmeckt.“ Das habe ich allerdings geflissentlich für mich behalten.

Ich löse mich aus dem Schatten des Baumes und steuere auf den Hauseingang zu. Buchinger stand unter der Klingel. Damals hieß sie anders. Wering. Sie war in der Zwischenzeit verheiratet. Mit dem Vater ihrer Tochter. Die Ehe wurde geschieden. Wozu machten sich die Menschen überhaupt die Mühe, zu heiraten? Die Chance, dass eine Ehe funktioniert, liegt vielleicht bei 50%. Keine berauschende Perspektive.

Sie öffnet die Tür in ihrem Bademantel. Ihr Gesicht spiegelt Verwirrung wider. Dann lächelt sie.

„Das ist ja eine Überraschung“, erklärt sie und bittet mich herein.

Nicht wirklich, denke ich und folge ihr ins Haus.

„Kaffee?“, fragt sie und schaltet die Maschine ein, ohne meine Antwort abzuwarten. Sie nimmt zwei Tassen aus dem Schrank und stellt sie auf die Anrichte.

„Gerne.“ Ich setze mich auf den angebotenen Stuhl. Die Küche ist modern eingerichtet, mit einer Kücheninsel aus dunkelgrauem Marmor und hellgrauen Möbeln. Die Schränke gleiten geräuschlos auf und zu.

„Ich ziehe mich nur rasch an“, erklärt sie und huscht aus dem Raum.

Ich lächle. Besser hätte es nicht laufen können. Ich erhebe mich und folge ihr lautlos in die Diele. Ich sehe noch ihre blonde Mähne ins Badezimmer verschwinden. Die Tür ist angelehnt. Ich spüre, wie mein Herzschlag beschleunigt, als ich das Zimmer betrete. Es ist geräumig, mit einer frei stehenden Wanne mitten im Raum. Sie steht mit dem Rücken zu mir, nackt. Den Bademantel hat sie auf einen Haken neben der Dusche gehängt. Die Wanne ist gut zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Sie tastet nach der Vorrichtung, um das Wasser auszulassen. Ich mache einen Schritt auf sie zu. In diesem Moment spürt sie meine Gegenwart. Sie dreht sich um. In ihrem Gesicht spiegelt sich eine Vielzahl an Gefühlen wider. Unsicherheit. Verwirrung. Angst. Ich packe sie so entschlossen an den Haaren, dass sie keine Gelegenheit hat, Fragen zu stellen oder zu schreien. Ich tauche ihr Gesicht in das lauwarme Wasser und drücke ihren Kopf nach unten. Der Wannenstöpsel hängt verloren an einer silberfarbenen Kette. Ich drücke den Stöpsel in den Abfluss. Das Gurgeln des abfließenden Wassers verebbt. Sie strampelt und versucht, mich mit den Händen wegzuschieben. Mit einem Fuß tritt sie nach mir. Sie erwischt mich am Knöchel. Ich unterdrücke einen Schrei, klemme ihren Körper zwischen der Wanne und meinem Unterleib fest. Durch ihr Gehampel verliert sie das Gleichgewicht und kippt mit dem ganzen Oberkörper in die Wanne. Das macht es für mich leichter. Ich fixiere sie mit meinem ganzen Körpergewicht. Sie rudert mit den Armen. Wie viel Kraft sie hat! Ich spüre ihre Panik. Blasen steigen nach oben. Mein Herz jagt. Das Adrenalin erhöht meine Aufmerksamkeit. Ich höre und sehe jedes Detail. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Der Kopf unter mir wirft sich wild nach links und rechts. Ich verstärke den Druck. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern. Die Muskeln in meinen Armen zittern. Irgendwann versiegen die Bewegungen. Der Kopf hält still. Ich warte noch einen Augenblick lang. Ich lasse los und ziehe den leblosen Körper über den Rand der Wanne auf den Fliesenboden. Die Lippen sind bläulich, die Augen sperrangelweit offen. Ich nehme ein Handtuch vom Regal und wickle es wie einen Turban um ihren Kopf. Mit einem weiteren Handtuch wische ich die Armaturen und den Rand der Badewanne ab. Nur für den Fall, dass ich Fingerabdrücke hinterlassen habe. Ich lege das Handtuch auf die tote Frau und drücke mich vom Boden hoch. Fast wäre ich einmal auf dieselbe Weise gestorben.