Das Mädchen mit dem Porzellangesicht - Simone Keil - E-Book

Das Mädchen mit dem Porzellangesicht E-Book

Simone Keil

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Beschreibung

»Noch nie zuvor hat er ein so schönes Mädchen gesehen. Im Mondlicht. Und sie weint...« London, 1888. In einer kalten Novembernacht wird in einem Backsteinhaus in Covent Garden die kleine Miyo geboren. Für ihren Vater, den Puppenmacher Kazuki Kobayashi, ist sie das größte Glück auf Erden. Das Leben könnte wunderbar sein, wenn Kobayashi nicht einst einen Vertrag mit einem dubiosen Advokaten geschlossen hätte, der ihm Wohlstand und Ansehen sichert, sein Kind aber einer ungewissen Zukunft ausliefert... Der Puppenmacher kommt zu dem einzig logischen Schluss: Er muss Miyo verstecken, um ihr Leben zu retten. Dazu fertigt er eine ganz besondere Porzellanmaske an, ein feines, aber regungsloses Gesicht, das er sonst für seine Puppen entwirft. Die Maske soll seine Tochter vor dem Advokaten verbergen. Doch die Ausdruckslosigkeit verdammt Miyo zu einem Leben in Isolation – nur wenige machen sich die Mühe, hinter die kalte Fassade der Porzellanmaske zu blicken. Aber in anderen Außenseitern findet Miyo treue Freunde, die sie auf ihrer abenteuerlichen Flucht vor dem teuflischen Advokaten begleiten. Und endlich findet sie auch die Liebe, nach der sie sich schon immer gesehnt hat.

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Seitenzahl: 290

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Mädchen mit dem Porzellangesicht« von Simone Keil

Simone Keil

Das Mädchen mit dem Porzellangesicht

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung mehrerer Abbildungen von © Master/Shutterstock und Olga Korneeva/Shutterstock

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96635-0

E-Book ISBN 978-3-608-12290-9

Für Katrin

1

Die Welt hält den Atem an. Nicht einmal die wenigen letzten Blätter an den Ästen der alten Birke rühren sich. Es scheint, als läge das große rote Backsteinhaus in Covent Garden unter einem unsichtbaren Schutzschirm, der alle Geräusche absorbiert.

Das Schlafzimmerfenster ist hell erleuchtet, im kleinen Salon direkt darunter flackert ein Gaslicht, das den Tisch und die Umgebung spärlich erhellt.

Mr Kobayashi sitzt in seinem Sessel, die Zeitung reglos auf den Knien, und starrt in die erkaltende Glut im Kamin. Er trägt einen Morgenrock aus feinster Seide über der schwarzen Anzughose und dem gestärkten Hemd. Nur die Krawatte hat er ein wenig gelockert. Seine Gesichtszüge sind entspannt, aber Mr Kobayashi ist nervös. Sein linkes Augenlid zuckt fast unmerklich.

Mr Kobayashi faltet die Zeitung zusammen und durchbricht die Stille. Er lässt die Nackenwirbel knacken und sieht auf seine Taschenuhr. Acht Stunden und fünfundvierzig Minuten wartet er schon. Es ist gleich halb sieben, Mary Kelly ist bereits tot und Mr Kobayashi wird pünktlich um acht Uhr den Laden öffnen. Mr Kobayashi öffnet immer pünktlich um acht Uhr.

Es klopft an der Tür und er springt aus dem Sessel. Miss Whittles steckt den Kopf ins Zimmer und als sie sieht, dass Mr Kobayashi wach ist, rollt sie einen Servierwagen herein, auf dem eine Kanne Tee, ein Sahnegießer und Gebäck stehen.

»Sie müssen etwas essen«, sagt sie mit ihrer unverwechselbar knarzig klappernden Stimme, die klingt, als stecke ein Beutel Schrauben in ihrem Hals.

Mr Kobayashi hat schon mehrfach angeboten, ihr Stimmproblem beheben zu lassen, aber Miss Whittles winkt immer ab. »Ich bin ein Montagsmodell«, pflegt sie in diesen Momenten zu sagen und aus ihrem Mund, mit ihrer Schraubenstimme gesprochen, klingt das fast wie ein Kompliment. Sie schenkt den Tee ein und gibt einen Tropfen Sahne hinzu. Ihre Gelenke quietschen ein wenig und sie errötet. Mr Kobayashi tut so, als hätte er nichts gehört und nimmt die Tasse entgegen. Earl Grey, natürlich. Miss Whittles weigert sich beharrlich, japanischen Tee zuzubereiten und Mr Kobayashi hat sich daran gewöhnt, so wie er sich an vieles in diesem Land gewöhnt hat. An die Hektik, das viel zu fette Essen, den Nebel, Regen, Gestank. Er nimmt wieder Platz, nippt an dem heißen Tee und lehnt sich in seinem Sessel zurück.

Miss Whittles kommt langsam in die Jahre. Die quietschenden Gelenke sind nur eins der Symptome. Letzte Woche hat sie vergessen, die Suppe zu salzen, und in der kommenden wird sie ihren Termin bei Doktor Dunnaby versäumen. Das allerdings wird vorsätzlich geschehen, was sie natürlich nicht zugeben wird. Miss Whittles gehört noch lange nicht zum Alteisen, auch wenn Doktor Dunnaby anderer Meinung sein mag. Sie schenkt Mr Kobayashi Tee nach und reicht ihm einen Teller mit Gebäck.

Der Milchmann stellt die Flaschen vor der Tür ab, Jack the Ripper verschließt das Glas, in das er Mary Kellys Herz gelegt hat, und im Schlafzimmer des roten Backsteinhauses saugt ein Baby Luft in seine Lungen und stößt den ersten, noch etwas dünn klingenden Schrei aus. Willkommen, Miyo, willkommen in dieser kalten Welt.

***

Mrs Kobayashi – Yumiko – sinkt erschöpft in die Kissen zurück. Sie wirft keinen Blick auf Miyo, riecht nicht an ihrem flaumweichen Haar, berührt nicht die kleinen Finger vorsichtig mit ihren. Sie lächelt nicht, als Miyo zum ersten Mal schreit, legt sie nicht an die Brust, beschirmt sie nicht mit ihren Armen.

Yumiko ist traurig, seit vielen Jahren schon. Vielleicht wurde sie schon traurig in diese Welt geboren. Zu zart, zu verletzlich, zu schwach, das Wissen zu tragen, dass sie an der Kälte des Lebens zerbrechen wird. Irgendwann. Nicht heute, aber bald.

Als Mr Kobayashi seine Frau in dieses Land brachte, hat sie es hingenommen. So wie sie hinnahm, dass sie eine Fremde unter Fremden war – selbst in dem Haus, das ihr Heim sein sollte. Sie hat hingenommen, dass sie ihm ein Kind gebären sollte, hat hingenommen, dass es in ihr wuchs, sich von ihr nährte. Aber sie kann das krähende Bündel nicht in die Arme nehmen.

Mr Kobayashi geht vor der Tür auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, bis die Hebamme ihn endlich hereinbittet.

Er beugt sich über die Wiege, zählt die Finger, die Zehen, streichelt das Gesicht, kitzelt den Bauch. »Miyo«, sagt er und wischt die Träne nicht fort, die über seine Wange rinnt.

Miss Whittles huscht aufgeregt im Zimmer hin und her, macht eine Besorgungsliste und speichert sie auf einer der Lochkarten, die in dem Teil ihres Körpers eingebaut sind, den man wohl als Gehirn bezeichnen kann. Miss Whittles’ Gehirn sitzt allerdings nicht im Schädel, sondern befindet sich in einem flachen, rucksackgroßen Kasten, der auf ihrem Rücken angebracht ist. Miss Whittles ist ein mechanischer Mensch, Modell Haushälterin der ersten Generation, und zu ihrer Zeit waren Lochkarten gerade der neuste Schrei.

Seit das Modell Amber auf dem Markt ist, gibt es nicht mehr viele Miss Whittles, die sich noch in Anstellung befinden. Aber unsere Miss Whittles lässt sich davon nicht einschüchtern, sie verrichtet zuverlässig ihren Dienst und tut einfach so, als stünde die Zeit still.

Miss Whittles notiert noch eine zusätzliche Garnitur Unterwäsche und eins dieser neumodischen Musikwerke, die man über der Wiege anbringt, und nickt zufrieden. Das dürfte alles gewesen sein. Aber jetzt muss sie sich sputen, es ist bereits zwanzig nach sieben und Mr Kobayashi nimmt jeden Tag pünktlich um halb acht sein Frühstück ein. Sie muss frischen Tee kochen und das Brot aus dem Ofen holen.

Amber würde niemals Brot oder Kuchen backen. Amber kauft in einer dieser schnieken Bäckereien ein, wo selbst die Verkäuferinnen aussehen wie Sahnetorten mit Zuckerguss, so hat sie mehr Zeit, sich die Fingernägel … Aber lassen wir das.

Miss Whittles beugt sich noch einmal über die Wiege, drückt Mr Kobayashis Hand und nickt ihm zu. Mr Kobayashi nickt zurück. Dann wirft er einen Blick auf seine Taschenuhr und Miss Whittles nickt noch einmal. Die beiden verstehen sich ohne Worte und Mr Kobayashi würde niemals auf die Idee kommen, Miss Whittles gegen eine Amber einzutauschen. Nicht in hundert Jahren! Miss Whittles weiß das zu schätzen und eilt in die Küche.

Yumiko hat die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Sie ist müde, unendlich müde, und wünscht sich nichts sehnlicher als zu schlafen. Eintauchen in Schwärze und nie wieder aufwachen. Ihre Wangen sind ein wenig gerötet, die Lider halb geschlossen. Sie sieht Mr Kobayashi an und sieht durch ihn hindurch.

Er streicht das Haar aus ihrer Stirn und küsst sie auf die kleine Falte, die sich zwischen den Brauen gebildet hat. »Sie ist wunderschön«, sagt er. »Fast so schön wie ihre Mutter. Sie hat deine Augen, Yumiko.«

Yumiko schließt die Lider und flüchtet sich in Schlaf. Sie träumt von einem Kaminkehrer, der mit riesigen Schritten von Dach zu Dach springt. Er lässt seinen Drahtbesen in die Schornsteine hinab und zieht Baby um Baby aus den schlafenden Häusern Londons. Sein Aschesack ist schon ganz prall und schwer … Sie träumt von Gewitterwolken, die sich weigern zu regnen. Sie schwellen an und an, bis sie die ganze Stadt absorbiert haben. Erst dann platzen sie wie Luftballons, verspritzen Backsteine, Glas, Teile von menschlichen Körpern … Sie träumt von einer großen grauen Eule, die lautlos über Trümmerbergen kreist – die Augen gelb blitzend in der Dunkelheit. Unvermittelt stößt sie hinab und zerrt einen zappelnden Aschesack aus den kläglichen Resten dessen, was einmal eine Stadt gewesen ist …

Die Amme schaukelt die Wiege und summt eine tonlose Melodie. Mr Kobayashi geht leise aus dem Zimmer.

Miyos Welt ist weich und weiß; hinter ihren Lidern regt sich etwas, das sie nicht begreifen kann. Und es soll noch etwas dauern, bis sie begreifen wird. Jetzt schläft sie einen traumlosen Schlaf, durch den sich der Geruch von frischer Milch zieht wie die Rauchschwaden aus Francis Fairweathers Pfeife.

***

Punkt acht Uhr betritt Mr Kobayashi den Laden. Der letzte Schlag von Big Ben hängt noch in der Luft und es riecht nach Regen. Die Hüter der Großen Uhr beginnen eifrig damit, die Zahnräder zu überprüfen. Mr Kobayashi rückt das Holzschild gerade, das über der Eingangstür angebracht ist. Gewachste Eiche, an den Rändern eingebrannte Drachen-Ornamente. Kobayashi – Puppenmacher steht darauf.

Mr Kobayashi ist ein bescheidener Mann, Kobayashi – Puppenmacher trifft nicht einmal ansatzweise das, was man in seinem Laden finden kann.

An den Wänden des kleinen Geschäfts stehen mannshohe Holzregale, auf jedem Regalbrett findet man nur eine einzige Puppe, jeweils ein Unikat. Jede Puppe hat eine Persönlichkeit und Mr Kobayashi erweist seinen Puppen Respekt. Nicht eine von ihnen würde er bedenkenlos abgeben. Wenn er sie verkauft, dann aus Überzeugung, nicht des Geldes wegen. Bevor Miyo geboren wurde, waren sie seine einzigen Kinder.

Miss Whittles achtet auf penible Sauberkeit, täglich staubt sie die Regale ab, kleidet die Puppen passend zu den Jahreszeiten. Und wenn eine davon den richtigen Besitzer gefunden hat und den Laden für immer verlässt, bricht es ihr jedes Mal das Herz. Doktor Dunnaby musste ihre Zahnräder an solchen Tagen schon mehrfach auswechseln. Mr Kobayashi versteht ihren Schmerz nur zu gut, aber er hat diese Puppen nicht für sich selbst erschaffen. Nicht diese.

Mr Kobayashi geht durch den Laden, hängt Mantel und Hut an die Garderobe im hinteren Teil des Geschäfts, streift seine Ärmelschoner über und setzt die Vergrößerungsbrille auf die Stirn. Dann zieht er sich in seine Werkstatt zurück, die an den Laden angrenzt. Die Türglocke wird ihm Kunden ankündigen und allzu häufig läutet sie sowieso nicht. Die Menschen haben keinen Sinn mehr für kunstvolle Arbeiten, für Arbeiten, die Geduld und Zeit brauchen, um zu etwas Besonderem zu werden. Und kaum jemand will den Preis dafür bezahlen. Schnell, schneller, billig, billiger. Es gibt nur noch wenige Menschen, die Mr Kobayashis Arbeit zu schätzen wissen, doch das grämt Mr Kobayashi nicht.

Mr Kobayashi besitzt ein recht ansehnliches Vermögen, das er gewinnbringend angelegt hat. Wenn er bescheiden wirtschaftet, sollte es für den Rest seines Lebens ausreichen und auch Miyo bekäme noch eine recht bemerkenswerte Mitgift.

Die Werkstatt ist der einzige Raum, der mit diesen modernen Glühlampen ausgestattet ist. Mr Kobayashi mag das künstliche Licht nicht, aber bei Tüftelarbeiten ist es wirklich eine Erleichterung. Heute schaltet er es nicht ein, er entzündet ein Gaslicht und rückt den Hocker an den Arbeitstisch heran, bevor er sich daraufsetzt. Mr Kobayashi faltet die Hände auf dem Tisch und betrachtet sein Meisterstück.

Ein Gesicht so fein und fragil, dass man Angst bekommt, es könnte vom bloßen Ansehen zerbrechen. Eine kleine Nase, rote, weiche, warme Lippen. Natürlich sind sie nicht wirklich weich und warm, aber sie erwecken den Anschein und jedes Mal, wenn er sie betrachte, wünscht er sich, sie würden ihn auffordern, sie zu küssen. Mr Kobayashi ist ein Künstler, ein Meister seines Fachs; wenn man in die mandelschwarzen, perfekt geformten Augen blickt, ist man sich dessen gewiss.

Keinem anderen Puppenmacher wäre es gelungen, diese Traurigkeit einzufangen – marianengrabentief und dunkel wie Jack the Ripper’s Seele. Eine Traurigkeit, die sich über den Betrachter legt und seine Brust beschwert, als wäre es die eigene.

Ja, Mr Kobayashi hat Yumiko nachgebildet. Vielleicht übertrifft das Abbild sogar das Original. Vielleicht. Aber Mr Kobayashi ist unzufrieden. Er fasst hinter den Puppenrücken und dreht den Schlüssel, der sich zwischen den Schulterblättern befindet, viermal um. Ein kurzer Moment der Stille, dann hebt sie den Kopf. Das Geräusch der Zahnräder ist dezent, in einer belebteren Umgebung wäre es wohl kaum zu hören. Sie blinzelt kokett, schlägt den Fächer auf und bedeckt ihr Lächeln, das kaum die Mundwinkel hebt. Und Mr Kobayashi lächelt zurück.

»Ach«, seufzt er. »Ich wünschte, du würdest endlich die Traurigkeit abschütteln.« Dann senkt er den Kopf und reibt sich die Augen. »Miyo«, sagt er. »Was soll nur aus ihr werden?«

Yumiko berührt seinen Handrücken, eine federleichte Berührung, ihre Fingerspitzen streifen kaum die Haut. »Sie wird ihren Weg finden«, sagt sie. »Mit unserer Hilfe.«

Ihre Stimme klingt eine Nuance dunkler als die der echten Yumiko, und unter den Worten klingt ein leises Rasseln der Mechanik nach, aber das kann er leicht ausblenden, wenn er in ihre Augen sieht, die nicht lebendiger wirken könnten, gehörten sie einem echten Menschen.

»Du hast recht.« Mr Kobayashi schaltet nun doch das elektrische Licht ein und setzt die Brille auf. »Lass uns an den Bewegungsabläufen deiner Arme arbeiten. Sie sind noch nicht ganz flüssig, aber ich denke, das kann ich justieren.«

Er streift den Ärmel ihres seidenen Kimonos nach oben und schraubt die Metallplatte ab. Darunter kommt ein ausgetüfteltes Konstrukt aus Zahnriemen, -rädern und Öladern zu Vorschein, das ähnlich wie ein Uhrwerk funktioniert. Gesteuert werden die Bewegungen durch Yumikos Cerebrum-Apparatus. Ein mechanischer, gehirnähnlicher Apparat, den Mr Kobayashi extra zu diesem Zweck entwickelt hat, und der nicht, wie bei mechanischen Menschen, in einem Kasten außerhalb des Körpers angebracht ist, sondern sich im Kopf befindet. Schiebt man die Perücke etwas nach hinten, kommt die Schädelplatte zum Vorschein, hinter der sich der Cerebrum-Apparatus befindet.

Yumiko beobachtet, wie Mr Kobayashi einige Schrauben anzieht, hier und dort eins der Zahnräder justiert, eine Ölader mit einem anderen Zielpunkt verbindet. Sie beugt und streckt den Arm, wenn Mr Kobayashi sie dazu auffordert. »Wann«, sagt sie unvermittelt und streicht mit der freien Hand durch Mr Kobayashis Haar, »bekomme ich meine Beine, Kazuki?«

Mr Kobayashi wird es immer ein wenig flau im Magen, wenn sie seinen Vornamen ausspricht. Sie betont ihn auf eine ganz spezielle Art. Die wirkliche Yumiko hat seinen Namen noch niemals auf diese Weise betont. Liebevoll? Er sieht Yumiko lange an. Sie ist eine Puppe, sagt er sich, und doch … Mr Kobayashi liebt Yumiko. Er liebt sie weit mehr, als seine anderen Puppen.

»Bald«, sagt er. »Die Schwierigkeit liegt nicht darin, dir Beine zu geben, sondern darin, dir funktionierende Beine zu geben. Ich möchte nicht, dass du umherstakst, als liefest du auf Holzstelzen. Du bekommst gute Beine – die besten! – Beine, die in der Lage sind, deinen unverwechselbaren Gang auszuführen – sinnlich über den Boden gleitend, als berührten ihn deine Füße kaum.«

»Du bist ein guter Mann, Kazuki.« Sie kichert und schlägt wieder den Fächer vor den Mund. »Ich werde nur für dich gehen, wenn es soweit ist. Nur für dich.« Und auch wenn es unmöglich scheint, Yumiko errötet bei diesen Worten.

Die Ladenglocke läutet und Mr Kobayashi sieht auf seine Taschenuhr. »Genug für heute«, sagt er. »Ich bin morgen wieder bei dir, Yumiko«, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. Er setzt die Metallplatte wieder ein, zieht den Ärmel bis auf das Handgelenk hinunter und greift nach dem Schlüssel, der sich langsam in ihrem Rücken dreht.

»Kazuki«, sagt sie und nimmt seine Hand. »Warum musst du mich abschalten?«

Mr Kobayashi denkt einen Moment nach und schüttelt den Kopf. »Es ist besser so«, sagt er ohne zu erklären, warum es besser ist. Dann zieht er den Schlüssel ab und Yumikos Kinn sinkt langsam auf ihre Brust.

Er löscht das elektrische Licht und dreht die Gaszufuhr der Tischlampe ab. Jetzt ist es dunkel in der fensterlosen Werkstatt. Mr Kobayashi lauscht dem langsam auslaufenden Werk bis es vollkommen still ist. Dann geht er nach vorne in den Laden, um zu sehen, wer der Kunde sein mag.

***

Francis Fairweather stützt sich schwer auf seinen Stock und legt die Aktentasche auf den Tresen. Er hat keinen Blick für die kunstvollen Puppen übrig, die ihre Lider gesenkt haben, als er eingetreten ist. Die Puppen mögen Mr Fairweather nicht, er ist ihnen unheimlich.

Und die Puppen haben recht. Francis Fairweather ist kein guter Mensch. Vielleicht ist er nicht einmal ein Mensch. Er kleidet sich wie ein Mann gehobenen Standes, spricht wie ein Mann gehobenen Standes, er raucht nur besten Tabak, verkehrt in den besten Kreisen. Und doch. Er hat etwas an sich, das man nicht beschreiben kann. Etwas, das Menschen, aus ihnen unerklärlichen Gründen, die Straßenseite wechseln lässt, wenn sie seine Gegenwart spüren.

Mr Kobayashi bleibt im Türrahmen stehen, als er gewahr wird, um wen es sich bei dem vermeintlichen Kunden handelt, der die Ladenglocke zum Läuten gebracht hat. »Mr Fairweather«, sagt er lächelnd. Aber das Lächeln ist so künstlich, als gehörte es zu einer dieser maschinell gefertigten Puppen, die man in den Kaufhäusern für ein paar Pennys erwerben kann.

»Mr Kobayashi.« Francis Fairweather deutet eine Verbeugung an. »Sie haben unseren Termin doch nicht etwa vergessen?«

Mr Kobayashi beginnt, den tadellos sitzenden Kimono einer Puppe neu zu drapieren. »Wir haben keinen Termin, Mr Fairweather. Und ich bin beschäftigt. Also wenn Sie mich bitte …«

Francis Fairweather lacht ein leises, nicht unangenehm klingendes Lachen. »Ich neige nicht dazu, jemanden um etwas zu bitten. Aber das wissen Sie doch, Mr Kobayashi. Nicht wahr? Für gewöhnlich bitten die Menschen mich.« Er legt seinen Stock auf die Aktentasche, zieht ein Lederetui aus der Innentasche seines maßgeschneiderten Gehrocks und stopft bedächtig seine Pfeife. »Nun«, fährt er fort, nachdem er einige Rauchkringel in die Luft gepafft hat, »wir müssen über Ihre Finanzen reden. Und den Vertrag.«

Mr Kobayashi sieht den Mann im dunkelgrauen Gehrock lange an – sein kantiges Gesicht, das man fast hübsch nennen könnte, wenn die dunkelgrünen Augen nicht so kalt und leblos wie Schlangenaugen daraus hervorgeblickt hätten.

»Der Vertrag hat seine Gültigkeit«, sagt Mr Kobayashi. »Sie haben zu jeder Jahreszeit eines jeden Jahres eine Puppe bekommen, im Gegenzug kümmern Sie sich um meine Finanzen. So wie es vertraglich geregelt ist. Ich habe den Vertrag eingehalten und ich hoffe, auch Sie erfüllen Ihre …«

»Jajaja, natürlich.« Francis Fairweather winkt ab und poliert seine manikürten Nägel am Revers seiner Jacke. »Langweilen Sie mich nicht mit Einzelheiten. Bitte. Ich bin nur hier, um einzufordern, was mir vertraglich zusteht. Das neue Herbstkind.«

»Ich darf Sie daran erinnern, dass sie das Herbstkind … die Puppe bereits im Oktober in Empfang genommen haben.«

Es mag verwundern, dass Mr Kobayashi seine Puppen so freigiebig an diesen ganz offenbar nicht freundlichen Mann abgibt, wo er sie doch liebt, als seien sie seine Kinder. Aber Mr Kobayashi ist nicht nur pünktlich, korrekt und loyal, er ist auch pragmatisch.

Als er in London ankam, wusste er, dass seine Chancen in dieser nebligen, kalten Stadt nicht gut standen. Oh ja, er verfügte über Ersparnisse und er verfügte über ein Talent, das seinesgleichen sucht. Aber was ist solch ein Talent wert, in dieser schnelllebigen Zeit? Mit einer Frau an seiner Seite, die zwar an Schönheit kaum zu übertreffen, aber labil und zerbrechlicher als feinstes Porzellan ist. Also wandte er sich an einen renommierten Advokaten, damit er seine Finanzen verwalten, sein Geld vermehren und ihm – Mr Kobayashi – so die Möglichkeit geben würde, sich um sein Meisterstück zu kümmern – um die Verwirklichung seines Traums.

»Natürlich, das habe ich.« Mr Fairweather öffnet die Aktentasche und zieht einen Umschlag heraus. »Es haben sich aber jüngst Umstände ergeben, die weitere Bemühungen Ihrerseits erfordern.« Mr Kobayashi setzt zu einer Erwiderung an, doch Fairweather bringt ihn mit einer barschen Geste zum Schweigen. »Paragraph 54, Absatz 4«, fährt er unbeirrt fort und deutet auf einen kleingedruckten Absatz auf dem Dokument. »Falls unvorhergesehene Umstände eintreffen und es vonnöten ist, kann Francis Fairweather, Advokat von Kobayashi Kazuki, Puppenmacher, weitere Sachleistungen einfordern, die ihm unverzüglich auszuhändigen sind. Falls dies nicht geschieht, wird das als Vertragsbruch angesehen und der Vertrag ist als null und nichtig einzustufen. Das Advokat Fairweather zu treuen Händen überlassene Bargeld wird in einem solchen Fall nicht zurückerstattet.«

Mr Kobayashi lässt die Nackenwirbel knacken und ballt die Fäuste. Er ist kein jähzorniger Mann, aber in diesem Moment wünscht er sich, er könnte das Brechen von Fairweathers Kieferknochen hören.

Francis Fairweather lacht sein wohlklingendes Lachen. »Sie sollten leiser wünschen«, flüstert er. »Ich kann ihre Gedanken hören, als schrieen Sie sie von der Towerbridge. Nun denn.« Er klatscht in die Hände und steckt den Vertrag zurück in die Aktentasche. »Dann wollen wir mal zur Tat schreiten. Händigen Sie mir das neue Kind aus und ich kann die kleine Finanzmisere, in der Sie stecken, beheben.«

Mr Kobayashi nickt geschlagen. »Ich habe keine neue Puppe hergestellt«, sagt er und deutet auf die Regale. »Sie müssen sich mit einer von diesen begnügen.« Begnügen. Das Wort sticht splitterscharf in sein Herz. Jede dieser Puppen ist etwas Besonderes, jede hätte ein gutes Zuhause verdient, einen Platz, an dem man sie zu schätzen weiß. »Nehmen Sie sich eine und verlassen Sie mein Geschäft, Mr Fairweather.« Er wendet sich ab und verschränkt die Hände vor dem Bauch.

»Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden, auch wenn ich mich sehr deutlich ausgedrückt habe. Es ist das neue Kind, das ich benötige.«

Mr Kobayashi wirbelt auf dem Absatz herum. »Was wollen Sie damit sagen?«, flüstert er, die Hände immer noch verschränkt, um sie daran zu hindern, sich um den Hals des Mannes zu legen und zuzudrücken, bis das überhebliche Grinsen aus seinem Gesicht verschwindet.

»Na, na«, sagt der. »Wer wird denn!« Er nimmt seinen Gehstock und klopft mit dem Knauf auf die Aktentasche. »Vertrag ist Vertrag«, sagt er. »Aber vielleicht … Ja, doch, warum eigentlich nicht, ich denke, das wäre möglich. Ich werde Ihnen die Entscheidung erleichtern und Ihnen einen Ausblick auf die möglichen Zukunftsvarianten geben.« Er wirft einen Blick auf seine goldene Taschenuhr, klemmt sich die Aktentasche unter den Arm und fasst grüßend an die Hutkrempe. »Wir sehen uns morgen wieder. Ich suche Sie zur selben Zeit in Ihrem netten, kleinen Geschäft auf. Bis dahin, einen guten Tag, Mr Kobayashi.«

Mr Kobayashi starrt die Tür an, durch die Fairweather soeben den Laden verlassen hat – unfähig, sich zu bewegen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Glocken klingeln und im Raum hängt der schwere Pfeifenrauch wie eine körperlich spürbare Mahnung.

Francis Fairweather überquert beschwingten Schrittes die Straße. Ein weiterer erfreulicher Termin steht an: In weniger als fünfzehn Minuten wird er das bestellte Herz entgegennehmen. Und dann wird er den Überbringer aus dem Verkehr ziehen. Den Mann, den die Tagespresse den Ripper nennt.

Francis Fairweather würde diese Tat damit erklären, dass er sich selbst schützen musste. Die Wahrheit ist jedoch, dass Jack sich zu sehr ins Rampenlicht gedrängt hat, und Francis Fairweather zeichnet sich insbesondere durch zwei Charaktereigenschaften aus: Narzissmus und Geltungssucht.

Miss Whittles tritt aus dem Hinterzimmer herein und legt ihre Hand auf Mr Kobayashis Schulter. »Mir wollen die Zahnräder aus der Führung springen, wenn ich nur an diesen Menschen denke«, sagt sie. »Ein unangenehmer Zeitgenosse. Aber gut, dass er nun gegangen ist, es ist Zeit fürs Mittagessen.«

Mr Kobayashi schüttelt den Kopf, der leer und gleichzeitig bis zum Überlaufen gefüllt ist. Worauf hat er sich nur eingelassen? Und mit wem? »Miyo«, flüstert er. »Kleine Miyo.« Dann fasst er sich und denkt nach.

Ein wenig unheimlich war ihm Francis Fairweather schon bei ihrem ersten Treffen vorgekommen, aber Fairweathers Versprechungen hatten das ungute Gefühl aufgewogen. Und er hat seine Verpflichtungen immer gewissenhaft erfüllt. Mr Kobayashis Vermögen ist kontinuierlich gewachsen.

Aber was, wenn er damals einen furchtbaren Fehler begangen hat?

»Miss Whittles, erinnern Sie sich an den Tag, als ich Mr Fairweather zum ersten Mal kontaktiert habe?«

»Wie könnte ich den vergessen?« Sie schüttelt sich. »Ich erinnere mich an jedes einzelne Treffen mit diesem Menschen.«

»Gut. Und alle Gespräche, bei denen Sie zugegen sind, werden aufgezeichnet, richtig?«

Miss Whittles nickt errötend. Die Speicherfunktion ist eine Grundeinstellung und in allen Miss Whittles aktiviert, doch ihr ist es unangenehm, die Gespräche ihrer Herrschaft aufzuzeichnen. »Ja, natürlich«, antwortet sie aber wahrheitsgemäß.

»Sehr gut!« Mr Kobayashi nimmt Miss Whittles’ Arm, eine der seltenen vertraulichen Gesten, die er sich ihr gegenüber gelegentlich erlaubt. »Würden Sie mir beim Essen Gesellschaft leisten und mir das Gespräch noch einmal vorspielen?«

»Selbstverständlich, Mr Kobayashi.« Miss Whittles eilt in die Küche, um die Soße noch einmal besonders gewissenhaft abzuschmecken. Insgeheim ist sie hocherfreut, dass ihre ungeliebte Speicherfunktion nun endlich einmal von Nutzen sein kann.

***

Während Miss Whittles Mr Kobayashi beim Essen zusieht und sich wegen seines schlechten Appetits sorgt, döst Miyo an der Brust der Amme langsam und zufrieden ein. Sie weiß nichts von den Geschäften ihres Vaters, weiß nichts von Francis Fairweather, hat keine Ahnung, dass in einem anderen Teil der Stadt gerade ein böser Mann einen anderen bösen Mann tötet.

Der Mann, der sich selbst Jack nennt, sinkt auf den schmutzigen Boden eines Hurenhauses in Whitechapel. Niemand wird sich für den Vorfall interessieren, weil niemand die Leiche finden wird. In einigen Tagen wird eine besorgte Ehefrau zum wiederholten Male auf dem Polizeirevier vorsprechen, aber der Police-Officer wird ihr auch dieses Mal nichts anderes sagen können, als dass keine Informationen eingegangen sind.

Die Frau wird die Hände auf ihren gewölbten Bauch legen und sich fragen, was nun aus ihr und dem ungeborenen Kind werden soll. Das Kind ist ein Mädchen, es wird den hübschen Namen Josefine tragen und niemals erfahren, warum ihr Vater verschwunden und welches Glück das für sie ist.

Miss Whittles räumt das Geschirr in die Spüle, schenkt Mr Kobayashi Tee nach und setzt sich dann zu ihm an den Tisch. »Sie müssen besser auf sich achtgeben und ordentlich essen«, sagt sie.

Mr Kobayashi reibt sich die Stirn. »Wie geht es Miyo? Und Yumiko?«

»Sie sind wohlauf. Miyo ist das entzückendste Baby, das ich mir vorstellen kann. Und Mrs Kobayashi … Sie wird sich erholen.«

Sie wissen beide, dass Yumiko sich niemals erholen wird – nicht so, wie man es sich wünschen würde. Nach einem Blick auf die Uhr sagt er: »Dürfte ich Sie jetzt um die Aufzeichnung bitten, Miss Whittles?«

»Oh, selbstverständlich.« Sie greift sich in den Nacken und man hört ein Klicken. Dann rastet etwas ein und eine Mechanik beginnt, hörbar zu arbeiten. Miss Whittles hebt entschuldigend die Schultern, ihre Technik ist nicht auf dem neusten Stand. Aber sie funktioniert tadellos, wenige Sekunden später hört man Mr Kobayashi jemandem einen guten Tag wünschen.

»Soll ich die Höflichkeiten überspringen?«, fragt Miss Whittles. Mr Kobayashi nickt und es folgt ein Gewirr aus sich überlagernden Geräuschen. Miss Whittles stoppt den Vorlauf genau an der Stelle, als Francis Fairweather sagt: »Kommen wir also zu den Vertragsbedingungen.«

Mr Kobayashi legt den Finger auf die Lippen und beugt sich näher zu Miss Whittles heran, um jedes Detail zu verstehen.

Als das Gespräch beendet ist, faltet er die Hände und legt die Stirn darauf. »Was habe ich nur angerichtet?«, flüstert er. »Fairweather wird Miyo mit sich nehmen und das ist allein meine Schuld. Und niemand wird mir helfen können, weil er im Recht ist.«

»Bitte, so etwas dürfen Sie nicht sagen!« Miss Whittles springt auf. »Niemand wird das kleine Bündel mitnehmen, das ist nicht recht. Das kann nicht recht sein!« Sie geht aufgeregt auf und ab.

»Aber Sie haben es doch gehört. Ich habe zugestimmt, ihm zu jeder Jahreszeit eins meiner unschuldigen Kinder zu überlassen. Wer hätte denn ahnen können, dass er die Bezeichnung wörtlich nehmen würde? Fairweather muss doch klar gewesen sein, dass ich die Puppen gemeint habe.« Nun erhebt sich auch Mr Kobayashi von seinem Stuhl. »Ich bin ein Narr und jetzt muss ich für meine Dummheit bezahlen.«

Miss Whittles schüttelt so vehement den Kopf, dass ihr Halsgelenk besorgniserregend knirscht. »Das werde ich nicht zulassen!«

Mr Kobayashi legt seine Hand auf ihren Arm. »Wir können nichts tun, wir können uns nicht verstecken. Er würde uns finden, wohin wir auch gingen. Und was würde dann aus Yumiko werden? Einen weiteren Ortswechsel würde sie nicht verkraften. Daran würde sie endgültig zerbrechen. Und wenn ich ablehnte, verlöre ich mein gesamtes Vermögen. Was dann? Soll ich Yumiko zur Frau eines Arbeiters machen, sie in ein schäbiges, heruntergekommenes Zimmer bringen und ihr sagen, dass das nun ihr Zuhause ist?«

Mit einem verzweifelten Schnauben ist Miss Whittles inzwischen dazu übergegangen, ihre Wut am Geschirr auszulassen. Sie schrubbt den Teller so fest wie einen rußigen, alten Holzofen.

»Um Miyo zu holen, müsste er sie sehen können«, ruft Miss Whittles aus und hält abrupt inne. »Sehen und erkennen«, fügt sie leiser hinzu.

Miss Whittles weiß von der anderen Yumiko. Sie weiß um Mr Kobayashis Fähigkeiten, und als sie das Aufflackern in seinen Augen sieht, weiß sie, dass er verstanden hat.

Mr Kobayashi nickt. »Ich werde den Laden heute Nachmittag nicht öffnen«, sagt er. »Falls Yumiko nach mir fragt, sagen Sie ihr …« Er zuckt mit den Schultern.

»Dringende, unaufschiebbare Arbeiten«, vollendet Miss Whittles den Satz. »Gehen Sie nur, ich kümmere mich hier um alles. Ich bringe Ihnen später einen Tee in die Werkstatt.«

Mr Kobayashi drückt noch einmal Miss Whittles’ Arm, dann geht er nach unten. Er hat etwas zu erledigen und sämtliche Götter und Ahnen mögen ihm beistehen, dass er es zustande bringt.

***

Miyo liegt wach und still in ihrer Wiege. Auf ihren Lippen der Geschmack von Milch, in ihrem Herzen ein Gefühl, das wie ein Kolibri umherflattert und nach einem Ausgang sucht. Noch kennt sie Wörter wie Einsamkeit und Sehnsucht nicht, spürt nur den rastlosen Flügelschlag des kleinen Vogels. Erst sehr viel später wird sie erkennen, dass dieser kleine Kolibri zu ihr gehört wie ihre Hände. Und dass er niemals einen Ausweg finden wird, es sei denn, sie öffnete ihr Herz. Doch das hat sie verschlossen, genau in diesem Augenblick, als sie die Gegenwart ihrer Mutter spürt. Ein kurzer Moment der Verbundenheit, behagliche Wärme, weiches, rötliches Licht, und dann die schmerzliche Ahnung, dass das alles für immer verloren ist.

Yumiko steht stumm vor dem kleinen Bett, die Hände vor der Brust gefaltet. Miss Whittles berührt sie sacht am Arm, um sie nicht zu erschrecken, aber Yumiko registriert nicht einmal ihre Gegenwart. Sie lässt sich zu ihrem Bett führen und zudecken, dreht sich auf die Seite und schläft ein.

»Armes, kleines Bündel«, flüstert Miss Whittles. Sie geht zur Wiege, streicht über Miyos Kopf und summt eine leise, ein wenig blechern klingende Melodie. »Dein Vater liebt dich«, sagt sie nach einer Weile. »Er liebt und beschützt dich.« Dann geht sie in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Mr Kobayashis Werkstatt ist hell erleuchtet, er hat das elektrische Licht eingeschaltet und noch zusätzliche Lampen aufgestellt. Yumikos weißes Gesicht leuchtet, als wäre es selbst eine Lichtquelle. Sie beobachtet Mr Kobayashi und schweigt. Sie weiß, dass er nicht gern gestört wird, wenn er so konzentriert arbeitet.

Es ist heiß und stickig in dem kleinen Raum, Schweiß rinnt Mr Kobayashis Nacken hinab, als er die flüssige Porzellanmasse in die Form gießt. Dann setzt er sich an den Tisch und wartet darauf, dass der Scherben trocknet.

»Sie wird wunderschön werden«, sagt Yumiko. »Du bist ein Künstler, Kazuki.«

Mr Kobayashi seufzt. »Miyo ist wunderschön«, sagt er. »Wie könnte ich etwas Vollkommenes veredeln? Nein. Die Maske wird ihre Schönheit überdecken, aber es muss sein.«

»Natürlich muss es das, mein geschickter, umsichtiger Mann. Du tust genau das Richtige.«

»Tue ich das?« Er schüttelt langsam den Kopf, aber es ist keine Verneinung, Mr Kobayashi weiß nicht, was richtig oder falsch ist. Er weiß nur, dass er Miyo nicht verlieren will und es keinen anderen Weg gibt, sie vor Francis Fairweather zu verbergen.

Es klopft an der Tür und Mr Kobayashi öffnet. Miss Whittles reicht den Tee hinein und zieht sich unaufdringlich wieder zurück.

»Kazuki?« Yumikos Stimme klingt wie die eines satten, zufrieden schnurrenden Kätzchens. »Wann kümmerst du dich um meine Beine? Ich langweile mich hier drinnen. Immer nur der Tisch und die Wände und du leistest mir viel zu selten Gesellschaft. Ich möchte mit dir in den Garten gehen. Unsere Tochter ausfahren«, fügt sie nach einer kaum merklichen Pause hinzu.

Aber Mr Kobayashi hat das kurze Stocken bemerkt. Unsere Tochter, denkt er. Unsere Tochter. Er weiß, wie verrückt das klingen muss, aber er wünscht sich, Miyo wäre ihre Tochter – seine und Yumikos Tochter. Die Tochter der Yumiko, die zugleich die falsche und die richtige ist.

»Bald«, sagt er. Das sagt er immer und irgendwann wird sie sich nicht mehr hinhalten lassen und irgendwann wird er das vielleicht auch gar nicht mehr wollen. Er trinkt seinen Earl Grey mit hastigen Schlucken.

»Sehr bald?«, fragt sie. »Sehr bald, nicht wahr, Kazuki?«

»Sehr bald«, sagt er und meint es schon ein bisschen ehrlicher.

Sie schweigen, warten, Yumiko lächelt und Mr Kobayashi fühlt sich nicht mehr ganz so mutlos. Es wird gelingen, denkt er, und dann wird alles gut werden.

***

Lady Strix Brouillard gluckst genießerisch, als Fairweather die empfindliche Stelle an ihrem Hals krault.

»Das war ein guter Tag.« Francis Fairweather nimmt einen Schluck des goldgelben, 80 Jahre alten Brandys und deutet auf Mary Kellys Herz, das einen Ehrenplatz in dem Regal mit den Sammlerstücken bekommen hat. »Es hat noch gepumpt, als er es heraustrennte.« Seine Finger krallen sich in das weiche Gefieder, das er eben noch liebevoll gestreichelt hat.

Lady Strix beißt in seinen Finger und er schuppst sie von seinem Schoß. »Sie vergeuden Ihr Talent mit diesen Spielereien«, sagt sie und wirft den Kopf hochmütig in den Nacken. Ihre Augen blitzen zitronengelb.

Sie hält nichts von Fairweathers Sammelleidenschaft, die sie als unnützen Spleen abtut. »Sie sollten Ihre Zeit sinnvoller verbringen. Und diese Puppen …« Sie würgt die unverdauten Überreste einer Maus hervor und spuckt sie wenig damenhaft auf den Perserteppich. »Was wollen Sie nur mit ihnen?«

Fairweather denkt an das Baby, das schon morgen früh seine Sammlung um ein Vielfaches aufwerten wird. So ein frisches, kaum benutztes Herz würde seine Sammlung zu etwas ganz Besonderem machen. Er schenkt sich noch etwas von dem ausgezeichneten Brandy ein. »Ich mag sie einfach«, sagt er. »Und nun lassen Sie mich allein, ich möchte ein Nickerchen machen.«

Lady Strix fliegt auf, kreist kurz über Fairweathers Sessel und gleitet lautlos aus dem Zimmer, um sich auf dem Dachboden ein wenig mit den Mäusen zu vergnügen. Die Jagd entspannt sie und sie kann dabei vortrefflich nachdenken. Und sie muss über einiges nachdenken, als erstes darüber, wie sie Fairweathers Potenzial endlich für ihre Zwecke einsetzen kann. Sie hält ihn für einen außerordentlich begabten Narren, einen Kretin, und damit liegt sie nicht falsch.

***

Mr Kobayashi schreckt aus einem unruhigen Schlaf, reibt sich den verspannten Nacken und sieht auf seine Taschenuhr. Es ist Zeit, die Maske aus dem Brennofen zu nehmen.

Yumiko sieht gespannt zu, wie er sie zum Abkühlen vorsichtig auf dem Gitter ablegt. Sie klatscht begeistert in die Hände. »Das ist das schönste Gesicht, das du je erschaffen hast, Kazuki!«

Mr Kobayashi nickt. Nur, dass es diesmal um weit mehr geht, als darum, einer Puppe ein Gesicht zu schenken. Er sieht Yumiko lange an und erkennt in diesem Augenblick, dass auch sie tatsächlich eine Puppe ist. Aber das Erkennen dauert nur eine Sekunde an, dann wischt er es weg wie eine lästige Fliege.

»Es dauert mich, dass ich nicht dabei sein und zusehen kann, wenn du sie endlich vervollständigst.« Yumiko schmollt ein wenig, doch gleich darauf lächelt sie wieder. »Aber du wirst sie zu mir bringen, nicht wahr?«

Mr Kobayashi denkt über Yumikos Worte nach. »Ich vervollständige Miyo nicht«, sagt er. »Die Maske ist nur zu ihrem Schutz, verstehst du?«