Das Mädchen mit der Geige - Eva Bachran - E-Book

Das Mädchen mit der Geige E-Book

Eva Bachran

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Beschreibung

Die Angst lebt in uns, auch wenn wir sie nicht bewusst wahrnehmen, mit ihrer einzigen edlen Mission immer bereit, uns beim Überleben zu helfen. Hier steckt der Teufel jedoch im Detail. Oft sorgen wir für Umstände, in denen sie uns nicht im Namen des Lebens beflügelt, sondern uns vor dem Leben selbst bewahrt. Dann leiden wir an verschiedenen unbekannten Krankheiten, die nicht Schicksal, sondern eine Folge dessen sind, woran die Gesellschaft krankt. Im Laufe der Arbeit wurde mir klar, dass die Viren dieser Art von Angst dort verbreitet sind, wo sie als Ikone benutzt wird. Aber da das Vertrauen fehlt, ist die Ikone kraftlos zu helfen. Können wir in einer Gesellschaft Vertrauen lernen, die uns zwar das Beste wünscht, aber am Wachstum der Persönlichkeit hindert, indem sie sie mit dem Bild der Masse identifiziert? Oder die Menschen so besorgt sind um ihr ewiges Leben, dass sie nicht merken, wie ihr irdisches leblos an ihnen vorbeizieht und sie es nicht einmal erkennen. Ich habe versucht, eine Lebensgeschichte zu beschreiben. Ich habe nach den Gründen gesucht, die mich vom Leben hier und jetzt und jenem ewigen, liebenden Du trennten, dass ich Gott nenne. Beim Schreiben folgte ich keiner Konzeption, deshalb war ich überrascht, als ich merkte, dass sich beim Schreiben mein Lebensthema abzeichnete. Bedingungslose Liebe. Mit der Zeit half mir der Erkenntnisprozess, nicht nur den anderen, sondern auch mir selbst zu vergeben. Am Ende verstand ich, einzig die Liebe kann das Ganze verändern, sie schließt jedoch jede Art von Gewalt aus. Sogar auch die, die wir für gut und richtig halten. Wenn wir trotzdem Zuflucht zu ihr nehmen, gewinnen wir sichtbare und unsichtbare Kriege, in denen es Sieger und Besiegte gibt, aber kein Leben. Ich habe über mich und die Menschen geschrieben, die mich begleiteten, während ich das Leben und meinen Platz darin suchte. In Gedanken war ich bei denen, die mir halfen, den Leidensdruck auszuhalten bis zu dem Moment, in dem ich sagen konnte: Ich glaube mir.

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Eva Bachran

Das Mädchen mit der Geige

Meinem Sohn Boris

Du wirst immer nur zwei Möglichkeiten haben –

Angst oder Liebe.

Jim Carrey

Impressum

© Telescope Verlag 2022

www.telescope-verlag.de

Covermotiv: Rhoda Popova-Linna

Übersetzung aus dem Bulgarischen: Gabi Tiemann

Coverdesign: Ivaylo Chantov

Vorwort

Die Angst lebt in uns, auch wenn wir sie nicht bewusst wahrnehmen, mit ihrer einzigen edlen Mission immer bereit, uns beim Überleben zu helfen. Hier steckt der Teufel jedoch im Detail. Oft sorgen wir für Umstände, in denen sie uns nicht im Namen des Lebens beflügelt, sondern uns vor dem Leben selbst bewahrt. Dann leiden wir an verschiedenen unbekannten Krankheiten, die nicht Schicksal, sondern eine Folge dessen sind, woran die Gesellschaft krankt.

Im Laufe der Arbeit wurde mir klar, dass die Viren dieser Art von Angst dort verbreitet sind, wo sie als Ikone benutzt wird. Aber da das Vertrauen fehlt, ist die Ikone kraftlos zu helfen.

Können wir in einer Gesellschaft Vertrauen lernen, die uns zwar das Beste wünscht, aber am Wachstum der Persönlichkeit hindert, indem sie sie mit dem Bild der Masse identifiziert? Oder die Menschen so besorgt sind um ihr ewiges Leben, dass sie nicht merken, wie ihr irdisches leblos an ihnen vorbeizieht und sie es nicht einmal erkennen.

Ich habe versucht, eine Lebensgeschichte zu beschreiben. Ich habe nach den Gründen gesucht, die mich vom Leben hier und jetzt und jenem ewigen, liebenden Du trennten, dass ich Gott nenne. Beim Schreiben folgte ich keiner Konzeption, deshalb war ich überrascht, als ich merkte, dass sich beim Schreiben mein Lebensthema abzeichnete. Bedingungslose Liebe.

Mit der Zeit half mir der Erkenntnisprozess, nicht nur den anderen, sondern auch mir selbst zu vergeben. Am Ende verstand ich, einzig die Liebe kann das Ganze verändern, sie schließt jedoch jede Art von Gewalt aus. Sogar auch die, die wir für gut und richtig halten. Wenn wir trotzdem Zuflucht zu ihr nehmen, „gewinnen“ wir sichtbare und unsichtbare Kriege, in denen es Sieger und Besiegte gibt, aber kein Leben.

Ich habe über mich und die Menschen geschrieben, die mich begleiteten, während ich das Leben und meinen Platz darin suchte. In Gedanken war ich bei denen, die mir halfen, den Leidensdruck auszuhalten bis zu dem Moment, in dem ich sagen konnte: „Ich glaube mir“.

Die Autorin

Fliederduft

Sonniger Apriltag. Beunruhigt stehe ich in dem kleinen Zimmer und unterhalte mich mit der Wut in meinem Bauch. Mein Körper kämpft mit warmen und kalten Wellen, als hätte ich Fieber. Ich frage mich, was würde mir Freude bereiten? Sie, die Wut, sagt: Nichts. Da scheine ich das kleine, wütende Mädchen in mir zu sehen, das sich allein fühlt, sogar wenn Mutti und Vati zu Hause sind. Ich will ihm erklären, dass ich diejenige bin, die es heute umsorgt, die es versteht und Zeit für seine Probleme hat, und dass die Wut überflüssig ist. Von wegen. Es, eigentlich Ich, zittert weiter.

Schreibe – sagt eine Stimme in mir – du schreibst doch gern. Ich soll schreiben? – antworte ich in Gedanken. Worüber? Mir schwirren nur Phantasien zum Thema Angst durch den Kopf. Ich bin sie leid, obwohl ich mich nicht von ihnen trennen kann und will. Ich weiß nicht, worüber ich sonst schreiben soll.

Keine Stunde vergeht und ich sitze schon am Computer. Als wäre ich in Trance, beschließe ich es einfach, obwohl alle logischen Argumente dafür sprechen abzulehnen. Ich schreibe eine wirkliche Geschichte. Von der kleinen Eva und der großen Evangelina.

Ich bin zur Zeit von Väterchen Stalin geboren. Nicht jeder kann sich vorstellen, was für ein wahnsinniges Privileg das war. Eine Zeit, in der die Menschen wieder einen Gott hatten! Und dazu einen, der nicht Frucht des Glaubens war. Niemand konnte ihn leugnen, weil er lebte. Er wusste, wie er die Menschen durch die Nachkriegswüste führen musste, indem er ihnen versprach, schon hier, auf der Erde, zum Paradies zu gelangen. Als Gegenleistung wollte er nur bedingungslosen Gehorsam. Damit begann meine Odyssee. Meine Eltern waren nicht gehorsam genug. Sie gingen in die Kirche und hatten einen anderen Gott, ich aber musste zwischen den Göttern hin und her lavieren. Eine große und schwere Aufgabe, mit der die kleine Evi nicht zurechtkam. Ohne Geschwister trug sie ihre Last allein.

Ich erblickte das Licht der Welt am Feiertag von Kyrill und Method. (Es fällt mir immer noch schwer, sie Heilige zu nennen, die Verherrlichung verschiedener Autoritäten fühlt sich für mich an wie Heuchelei). In meiner Kindheit war dieser Feiertag der Einzige, der nichts mit Politik zu tun hatte. An diesem Tag war ich fast immer glücklich. Als ich aus dem Krankenhaus kam, steckte mir meine Oma eine Mairose an. Viel später sollte ich verstehen, dass sie mir damit auch ihre Neu-rose geschenkt hatte. Bis heute frage ich mich, ob sie mich nicht besser mit einem Fliederzweig geschmückt hätten. Ich weiß nicht, ob es zufällig ist, aber immer noch betört mich Fliederduft mehr als der Duft von Rosen.

Menschen ohne Diagnose

Kalter, deutscher Winter.

Der östliche Teil des Harzes ist im Schnee versunken. Die kleinen romantischen Städtchen davor sind grau wie der Himmel, die Sonne hat sich seit Wochen nicht mehr gezeigt. In einem davon befindet sich zu Honeckers Zeiten eine der renommiertesten Kliniken für Suchttherapie. Außer für Alkoholabhängige gibt es auch Zimmer für Leute ohne Diagnose. Ich lag in einem davon.

Nach allgemeinen Untersuchungen, die keine somatische Erkrankung anzeigten, musste ich die Tatsache hinnehmen, dass ich keine „normale“ Krankheit hatte, so sehr ich das auch wollte. Stattdessen musste ich mich mit den unklareren Begriffen von neurotischen Depressionen abfinden. Und dass die Behandlung lange dauern würde. Keiner konnte sagen, wie lange. Alle redeten nur von Geduld.

Es kam auch die erste Gruppentherapie mit Dr. Becker. Er war ein Mann um die vierzig, hatte eine angenehme, weiche Stimme und lächelte oft. Das Einzige, was mir an ihm nicht gefiel, war der Bart. Das Haar am Scheitel war spärlich, als Kompensation hatte er sich einen Bart wachsen lassen, so dachte ich mir.

„Ich bitte jeden von Ihnen, etwas zum Thema „meine frühste Erinnerung“ zu zeichnen.“ Ich war verwirrt. Von Psychologie hatte ich keine Ahnung. Zu meiner Zeit sprach man über nichts anderes als den Pawlowschen Hund. Ich wusste, ich habe Signalsysteme, ein erstes und ein zweites, aber Freud kam dabei nicht vor, der war das Abbild eines Betrügers, der sich zuallererst selbst belog. Als Kind des Kapitalismus konnte man ihn nur bedauern und sich an seine Sexualtheorie erinnern, nicht aber an seine Ideen zur Rolle des Unbewussten. Dort wurde es ernst! Im realen Sozialismus lebte man nur real, das heißt bewusst, für etwas Anderes war kein Platz. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte:

„Eine positive oder negative Erinnerung?“

„Ohne Bedeutung.“

Während ich mich abmühte, ein Thema zu finden, das vielleicht Erinnerungen auslösen würde, kritzelte ich vor mich hin, ohne weiter nachzudenken. In meinem Kopf fing es an zu dröhnen. Dieser akustische Wirrwarr erinnerte an einen alten, kaputten Plattenspieler, auf dem sich eine Platte mit moderner Rockmusik drehte. Es gab keine Ordnung, nichts passte zusammen. Totales Chaos. Ich erschrak. Ich war mir nicht sicher, ob ich zeichnete. Meine Hand bewegte sich von selbst, ich war irgendwo anders. In Bulgarien, genauer gesagt in Burgas. Ich kletterte über einen Zaun, mein Knie blutete und ich zitterte vor Angst. Sie sollten mich nicht kriegen, bevor ich richtig weggelaufen war. Wovon? Was war das für ein Zaun? Mein Herz stolperte. Zum Teufel mit Freud! Es stellte sich heraus, dass er auch bei mir richtig lag. Die Erinnerung sprang wie Öl unter Wasser hervor und ich wusste schon Bescheid...

Mittagszeit. Ich habe nur ein Unterhemd und ein Höschen an. So steige ich über den Eisenzaun des mir so verhassten Kindergartens. Als Unterstützung habe ich auch meine Freundin mitgenommen. Ein Mädchen, das direkt neben Oma wohnt. Ich sterbe vor Angst und habe mir das Knie verwundet. Blut fließt, aber das schreckt mich nicht. Die Angst kommt woanders her. Sie können uns erwischen! Oma wohnt nur hundert Meter entfernt, dort bin ich immer an einem sicheren Ort!

Soweit. Hier hörte meine Erinnerung auf, aber ich zitterte weiter. Später sollte ich von meiner Tante erfahren, dass mein Befreiungsversuch erfolglos war. Jetzt war ich einfach verwirrt, mit einem starken Gefühl von Angst und Wut, was mir das Zwerchfell eindrückte und die Bauchmuskeln zu einem großen Kloß verknotete.

***

Ich weiß, dass meine Eltern mich mit großer Freude erwartet hatten. Sie waren nicht mehr die Allerjüngsten, beide neunundzwanzig. In diesem Alter eine Familie zu gründen, steckte dich zu der Zeit in die Kategorie „alte Jungfer und alter Junggeselle“. Vati, ein Junge aus Goljamo Bukowo, verließ das Dorf mit zwölf Jahren und ging nach Burgas, um ein Handwerk zu lernen. Was für ein Handwerk genau, konnte ich nie herausbekommen, wusste aber, auf welchen Dachböden reicher Häuser er sich kleine, kalte Zimmer mit den Mäusen geteilt hatte. In meiner Erinnerung ist er nicht traurig, wenn er von seinen Jugendjahren erzählte. Im Gegenteil, selbst von der großen Armut sprach er nicht mit soviel Zorn wie von den Ungerechtigkeiten zur Zeit des realen Sozialismus, mit denen er sich tagtäglich herumschlagen musste. Am liebsten beschimpfte er die ausgedachten Kommunisten, weil bei ihnen alles konstruiert und aufgesetzt war. Dann sprach er so emotional, dass ich vor Schreck erstarrte.

Der zwölfjährige Junge kam nicht nur wegen einer Handwerksausbildung nach Burgas. Von seinen beiden älteren Brüdern hatte er von gläubigen Menschen gehört, Christen, die sich in einer Kirche versammelten, die anders war als die orthodoxe. So ging er hin, um sie zu sehen und blieb dort. In der Gemeinde fand er sein Zuhause, Freunde und viele Brüder. So nannte er ihre Mitglieder.

Von seinen jungen Jahren erzählte er bis zum Ende seines Lebens immer nur begeistert. Wahrscheinlich sollten die alten Erinnerungen voller Enthusiasmus und Idealismus die Enttäuschungen auslöschen, die er von seinen Freunden erlebt hatte. Ebenso wie die Erwartungen des Glaubens, die sich nicht nur nicht erfüllten, sondern auch widersprachen.

Durch seinen übertriebenen Eifer, den wir in der Familie nicht ohne Stolz als „Kralevschen Starrsinn“ bezeichneten, schaffte er es, Mitinhaber von Stefans schöner Buchhandlung an der Bogoridistraße zu werden. Er verkaufte Schreibwaren und versorgte alle Doktoren- und Rechtsanwaltsfamilien mit den Neuerscheinungen aus der Reihe „Goldene Körner“.

Leider war unsere Bibliothek sehr bescheiden, um nicht zu sagen arm. Aber das ist ein anderes Thema, das ich bewusst beiseite lasse. Dafür standen auf den staubigen Kellerregalen Tierfiguren, die zu einer Weihnachtskrippe gehörten – zu Zeiten, als Weihnachten als christliches, bulgarisches Fest gefeiert wurde. Bevor Väterchen Stalin kam, so wurde mir gesagt, stellten die Leute sie als Schmuck in die Wohnzimmervitrinen oder um den Weihnachtsbaum herum. Ich war stolz, dass mein Vati solche mystischen Dinge verkaufte, von deren Existenz andere nicht einmal wussten. Und in einem kleinen royalblauen Kästchen versteckten sich goldene Federn für den Füllfederhalter „Pelikan“. Über sie schwieg ich und erfreute mich nur heimlich an ihnen. Niemandem habe ich davon gesagt, ich hatte Angst, dass man mich als Faschistin hinstellen würde. Gold hatte nicht die rote Farbe des Kommunismus.

Während der Junge aus Goljamo Bukowo in der familiären Umgebung der evangelischen Kirche aufwuchs, schloss meine Mutter das Gymnasium ab und träumte davon, Lehrerin zu werden. In den wenigen Stunden der Nähe zwischen uns schlug sie das schöne Abiturientenalbum auf, war stolz auf ihre Freundinnen von früher. Die meisten hatten Doktortitel, eine davon war sogar Professorin. Ich habe es nicht geschafft, sagte sie so, als habe sie sich damit abgefunden, und ihre Augen trübten sich leicht. Augen, in denen ich selten ihre Gefühle klar ablesen konnte.

In dem Jahr, in dem Mutter das Gymnasium abschloss, wurden Lehrer für die Dörfer in der Dobrudscha gesucht. Rumänische Bulgaren sollten lesen und schreiben lernen und zwar mit Hilfe des kyrillischen Alphabets. So ging Mutter mit zwanzig nach Dobritsch. Bis heute habe ich es nicht geschafft, diese Stadt zu besuchen, aber ich denke immer an sie im Sinn von „sieh Dobritsch und stirb!“

Mutters Erzählungen handelten von den schönsten Erinnerungen an ihre Zeit dort. Dann sah ich sie glücklich! Das Einzige, was sie manchmal verfinsterte, war meine Eifersucht. Wenn sie mit mir oder Vati zusammen war, strahlten ihre Augen nie so, stellte ich fest. Eifersucht oder nicht, es war eben so. Bis zum Ende ihres Lebens hatte ich das Gefühl, dass ich immer etwas falsch mache, sie einfach nicht glücklich machen kann. Um zu glauben, dass mein Gefühl mich nicht täuscht, trug mir das Schicksal einen Brief zu, in dem sie an meine Cousine schrieb: Eva hat uns nie Freude gemacht, außer im Kindergarten.

Ironie des Schicksals oder einfach ein Beweis dafür, wie unterschiedlich wir ein und dieselben Ereignisse erleben, zu ein und derselben Zeit, sogar wenn wir von ein und demselben Blut sind. Meine furchtbaren Jahre, an die ich mich nicht einmal erinnern wollte, waren die Freude meiner Mutter.

***

„Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal diese Zustände erlebt haben, Frau Bachran?“

Die Zustände waren eigentlich mein Leben. Es hatte sich zu einem großen Ball um meine Nabelschnur zusammengezogen. Wartete darauf, dass irgendjemand von irgendwo die Tür öffnete und es endlich in Ordnung käme. Mein Leben und ich waren Gefangene einer namenlosen Krankheit, die uns nur erlaubte zu vegetieren. Hatten diese Doktoren nichts Würdigeres zur Beschreibung des Lebens? Wegen ihm war ich doch in die Klinik gekommen, wegen nichts anderem. Die Zustände hatten eine Nummer. Die der Diagnose. Das Leben zum Glück nicht.

„Ja, ich glaube, ich erinnere mich.“

Es ist Herbst. Ich bin fünf oder sechs Jahre alt. Es ist kühl und ich bin draußen in Pantoffeln. Ich weiß nicht, warum ich von zu Hause weggelaufen bin. Ich weiß nur, dass ich vor Angst ersticke. Nicht mehr. Ein weißer Streifen läuft vor meinen Augen her, danach sehe ich mich auf der Küchenbank sitzen. Es ist Abend. Ich fühle meine Hände wie zwei große Tierpfoten, meine Zunge dick und geschwollen. Und ich habe Angst einzuschlafen, weil ich sterben könnte.

Es war mein erstes Gespräch über die Dinge, die so unangenehm zu beschreiben waren. Dreißig Jahre hatte ich sie vor den Anderen versteckt. Im Lauf der Zeit vermehrten sie sich, nahmen immer wieder neue Formen an. Die Ängste wurden so zahlreich, dass ich leichter sagen konnte, wovor ich keine Angst hatte, als umgekehrt. Aber am gnadenlosesten war die Angst vor Strafe.

Um sie wenigstens etwas günstig zu stimmen, stellte ich mir immer mehr Aufgaben, deren Erfüllung mir für kurze Zeit vorgetäuschte Ruhe sicherte. Mein Bewusstsein gewöhnte sich jedoch langsam, aber sicher an diese Art Droge und verlangte immer höhere Dosen davon. Ich fing an, meine Gedanken zu kontrollieren. Diese neue Aufgabe nahm mir all meine Kräfte. Wie Schwärme heimatloser, schwarzer Krähen kamen meine Gedanken und pickten mit ihren Schnäbeln in meinem Gehirn. Pschschsch... dröhnte es in meinem Kopf, als Antwort auf die Gewalt. Dann entspannte ich mich kraftlos auf dem Bett und die Angst ging in Panik über. Alle Gegenstände im Zimmer verloren ihre Wohnlichkeit und erschreckten mich. In dieser zweiten Panikphase suchte ich mir immer jemand, dem ich vertraute. Hatte ich den richtigen Menschen gefunden, brach ich in Tränen aus, wobei ich eine Geschichte erzählte, in der ich eine „großen Sünde“ begangen hatte. Heimlich erwartete ich, mein Gegenüber würde mir das Gegenteil beweisen. Das nahm mir den Druck, für ein paar Stunden kam ich in die Wirklichkeit zurück. Wenn ich ihm glauben konnte, half mir der Zustand relativer Ruhe einzuschlafen, wenn nicht, kam ich in der Nacht mit stundenlangem Beten über die Runden, wieder allein.

Würde ich noch auf dieser schönen Welt sein, wenn ich gewusst hätte, wie lang und kurvenreich der Weg zur wahren Begegnung mit den Ängsten und ihren Symptomen sein würde, damit wir uns voneinander trennen konnten? Der liebe Gott weiß, warum er uns nicht die Zukunft unserer Schicksale sehen lässt. Wir wissen soviel, wie wir ertragen können. Unwissen ist manchmal gnädiger als Wissen.

* * *

„Wir werden mit einer Therapie beginnen, die ich gut für Sie halte. Ich meine, für Ihre Persönlichkeit.“

Endlich! Er sprach von mir persönlich, es ging nicht mehr um eine Therapienummer oder meine Zustände. Zitternd erwartete ich das, was mir helfen würde. Ich weiß, jeder Schmerz wird einem zuviel, weil er unsere Verbindung zum echten Leben unterbricht. Aber ich denke, nur wer mit den Schmerzen der toxischen Angst gelebt hat, kennt den wahren Namen der Isolation. Da ist der Himmel immer schwarzgrau, selbst wenn die Sonne scheint, die Blumen duften nicht, das Gras ist nie grün und das Meer nie blau. Da sind die Anderen immer fern, unerreichbar und bedrohlich. Isolation ist jener Schmerz, mit dem wir schon die Hölle erreicht haben. Hier und jetzt.

Der kleine Raum im Untergeschoss des Krankenhauses war typisch deutsch gestaltet. Die Wände strahlendweiß, auf dem Tischchen lag eine kleine Tischdecke, darauf eine Vase mit einem Tannenzweig.

„Legen Sie sich auf die Liege und kommen Sie zur Ruhe. Schließen Sie die Augen.“

Ich starb vor Angst, hörte aber nicht auf zu hoffen, diese Therapie könnte eine Art medizinischer Magie sein. Wenn die Sitzung vorbei ist, stehst du als neuer Mensch auf und gehst.

„Jetzt stellen Sie sich vor, Sie gehen einen Weg entlang und... was sehen Sie?“

„Einen tiefen Wald.“

„Schauen Sie sich um. Was gibt es dort?“

„Ich ersticke, Dr. Becker, da ist Wald. Dichter, undurchdringlicher Wald.“

„Versuchen Sie, einen Weg entlang zu gehen. Was sehen Sie?“

„Oh ja“, rief ich erleichtert aus und holte Luft. „Links sehe ich eine große Wiese.“

„Gibt es noch etwas anderes auf der Wiese?“

Ich fühlte, dass mein Puls ging, aber stoßweise.

„Ja, ja, ein schönes Pferd.“

„Möchten Sie zu dem Pferd hingehen?“

„Ja“, ich fühlte schon etwas wie Schmerz, den ich aber leichter ertrug. Das Eis in meinem Körper fing an aufzutauen.

„Dann versuchen Sie es.“

Ich schwieg. Ein oder zwei Minuten schwieg ich. Vor mir sah ich einen riesigen Stacheldrahtzaun. Das deutsche Wort für Stacheldraht kannte ich nicht, aber nicht deshalb war ich verstummt. Der Zaun reichte bis an den Himmel, das erschreckte mich. Ich hielt den Atem an. Ich versuchte, den Mund aufzumachen, aber er wollte nicht sprechen. Nach langem Schweigen fing der Doktor zuerst an.

„Haben Sie es schon versucht?“

„Ich kann nicht, da ist eine Mauer, die sticht. Sie reicht bis ans Ende des Waldes“, erklärte ich schließlich.

„Gut, jetzt überlegen Sie, wie Sie auf die andere Seite kommen, obwohl da Stacheldraht ist.“ Er benutzte das deutsche Wort „Stacheldraht“.

Ich merkte es mir sofort, weil ich fühlte, dass ich es noch brauchen würde. Wie ich die echten Bilder sah, einfach so aus dem Nichts, verstand ich jedoch nicht. Ich erzählte keine Phantasiegespinste. Wie genau die Magie funktionieren sollte, verstand ich auch nicht, aber das ganze Unterfangen war mir nicht unangenehm. Bis zu dem Moment, in dem ich anfing, einen Ausgang zur Wiese zu suchen. Zuerst suchte ich nach einem Weg. Der Wald auf den Bildern, die ich sah, wurde immer finsterer und undurchdringlicher. Von panischer Angst ergriffen machte ich weiter. Meine Augen suchten verzweifelt einen Spalt, als es mir so vorkam: zwischen den Ästen bewegten sich Schatten, die die Arme ausstreckten. Ich sah keine Bilder, hatte aber das Gefühl, dass sie mir alle den Zutritt zu der grünen Wiese verbieten wollten. Fast war ich mir sicher, das waren dieselben Wesen, die mich in meinen Träumen verfolgten. Stumm, mit unbestimmtem Aussehen, aber mit einer klaren Mission hinterließen sie immer unzweideutige, bedrohliche Botschaften. Die Anspannung in meinem Körper wuchs und die verhärteten Muskeln fingen an weh zu tun. Ich spürte, dass ich mich nicht mehr abmühen wollte und begann zu weinen. Da fühlte ich eine gewisse Ruhe und sah mich auf dem Bauch liegen. An einigen Stellen blutete ich, war aber auf die andere Seite gekommen. Ein großer Brocken Eis, der mir seit Jahren unter dem Herzen saß, fing an aufzutauen, das Blut floss weiter zu meinen abgefrorenen Füßen.

„Sie können aufstehen. Ruhen Sie sich etwas aus. Ich denke, es hat gut geklappt.“

Was? - wollte ich fragen.

Erst einige Monate später wurde mir langsam klar, dass ich die Sprache meiner kranken Seele gefunden hatte. Sie mochte Bilder, wie die Weisen Gleichnisse mochten. Meine weise Seele! Sie hörte nicht auf, mich zu lieben, obwohl ich ihr den Rücken zugekehrt hatte.

Auf dem Weg in die Unendlichkeit verändern die Worte ihre Bedeutung. Vielleicht deshalb sucht die Seele die Ausdrucksform der Bilder. Im Schleier der Symbolik kodiert sie ihre DNA.

Meine erste Therapie begann, als ich sechsunddreißig Jahre alt war. Das schwarze Ungeheuer (wie ich es in meinem Schülertagebuch nannte) hatte sein Territorium schon eingenommen, als ich noch so klein war, dass ich nicht einmal denken konnte. Mehr als dreißig Jahre waren vergangen. Eine Zeit, in der die Krebszellen der Angst es geschafft hatten, ihre Metastasen in allen Bereichen meines Lebens anzusiedeln. So trocknete es aus. Ich war wie ein mit Früchten überladener Apfelbaum, deren Würmer keiner sehen konnte.

* * *

Nach zweijähriger Tätigkeit als Lehrerin in Dobritsch kehrte Mutter nach Burgas zurück. Das schöne Dobritsch und die erfreulichen Stunden mit den Schülern waren machtlos gegen das Heimweh. Inzwischen hatte ihre Mutter sich „umtaufen“ lassen. Von der orthodoxen Kirche war sie zu den Evangelikalen übergetreten. Schon als junges Mädchen hatte sie gern gesungen und war von den Liedern dieser Kirche gebannt, als sie zum ersten Mal in ihren Gottesdienst kam. Ihre Töchter folgten ihr. Nur der Sohn fühlte kein Reuebedürfnis und blieb in der „Welt“. Bei ihm halfen nicht einmal die Drohungen mit der Hölle.

„Lass die Schnapsflasche, Мitko, sie ist vom Teufel. Er will dich in die Hölle schicken! Hör auf deine Mutter!“, bat Großmutter ihn verzweifelt.

„Keine Angst, Mutter! Wenn es Zeit für den Himmel wird, hänge ich mich an deine langen Unterhosen und fliege mit dir. Wo du bist, da bin ich auch.“

Ich beneidete meinen Onkel für seinen Mut. Er war sicher, dass ein Platz im Himmel auf ihn wartete!

Wie ich diese Großmutter liebte und hasste! Damals wusste ich nicht warum. Die Erinnerung an meine Flucht im Sommer aus dem Kindergarten hatte sich mir bis zu dem Moment mit dem blutigen Knie eingeprägt. Offenbar wollte ich mich an das Andere nicht erinnern – ihren Verrat. Sie hatte mich rücksichtslos zu den „Genossinnen“ zurückgebracht. Ihr Verhalten hatte mich so schwer getroffen, dass ich diese Erinnerung für immer weggesperrt habe. Ich konnte da nicht alles rekonstruieren. Von dem Verrat habe ich von meinem Vater erfahren, bevor er starb. Erklären konnte ich mir schon, woher das Gefühl kam, dass mich keiner will, es nirgendwo Rettung gibt und man geliebten Menschen nicht glauben kann. Macht nichts, dass das Gefühl immer noch durch die finsteren Korridore meiner Kinderseele irrte. Jetzt konnte ich es wenigstens zuordnen. Und da der Zauber im Märchen erst beim dritten Mal wirkt, habe ich auch noch zweimal versucht wegzulaufen. Immer zu ihr und immer erfolglos! Warum? „Lass mich zu dir, Oma, ich sterbe!“ – waren meine Worte, wie meine Tante erzählte. Aber sie und alle um sie herum hätten gelacht. Vielleicht wussten sie, dass die Seele nicht stirbt? Sie erlöscht nur und aus ihrer Asche wird die Angst geboren.

Unbewusste Flucht

Langsam verließ der Zug den Bahnhof Burgas, doch die weiche Septemberwärme erlaubte meinen Gedanken nicht sich zu trennen, weder von der einschlafenden Stadt noch vom Meer. Ich erlaubte mir nicht zu weinen, dabei hätte ich es so gebraucht.

Nach zwei Tagen Durchgeschüttelt-Werden, Wechsel der Abteile, Schaffnern, Zöllnern und Milizionären kamen meine Geige und ich im gelobten Land Deutschland an.

Im Februar desselben Jahres, neunundsechzig, hatte ich an einem Probespiel im Orchester der kleinen Stadt Zeitz, dreißig Kilometer von Leipzig entfernt, teilgenommen. Ich bestand die Prüfung und unterschrieb meinen ersten Arbeitsvertrag als Tutti in der ersten Geige. Der Tag war der dritte März. Abends hatte meine liebe Cousine Nadja ein Festmahl zubereitet, das sie mit einem kurzen, bewegenden Kommentar eröffnete:

„Liebes Evchen, ich stoße auf dich und den Tag an, an dem wir nicht nur die Türken besiegt haben, sondern auch die Deutschen.“

Am nächsten Tag packte ich mein kleines Köfferchen, klemmte mir den Geigenkasten unter den Arm und fuhr zurück nach Bulgarien. Nach einem langen Prüfungsverfahren gab die Konzertdirektion ihre Einwilligung und ich begann, wenn auch mit einmonatiger Verspätung, meine Karriere als Gastarbeiterin, Geigerin. Ich halte vier Jahre aus und dann komme ich mit dem Diplom zurück, sagte ich mir damals. Die Frist, die ich mir selbst gesetzt hatte, schien erträglich. Sehr viel später verstand ich in den Zimmern der Therapeuten, dass sich hinter meinem Wunsch, in der Ferne zu studieren, eine unbewusste Flucht versteckte. Von den Menschen, die mich liebten oder von denen, die mich wegscheuchten? Eine Antwort konnte ich nur in mir selbst finden, der Weg dorthin ist jedoch gewöhnlich der längste.

* * *

„Morgen, wann arbeiten?“, fragte ich verschämt. Es war mein erster Satz auf Deutsch.

„Morgen, Fräulein Kraleva, zehn Uhr Dienst“, antwortete der Konzertmeister lächelnd.

„Nein“, fragte ich weiter, „wann arbeiten?“

„Zehn Uhr Dienst“, wiederholte mein Chef.

So stieß ich auf den ersten Unsinn in den so sinnvoll strukturierten Werken, Lehrbücher genannt. In keinem einzigen wurde erwähnt, dass wenn es in unserer Sprache ein Wort für die Tätigkeit Arbeiten gibt, es in der Fremdsprache mehrere sein können.

Um sicher zu sein, dass ich ihn verstanden hatte, nahm der Konzertmeister Blatt und Stift, schrieb den Satz auf, den er mir mindestens fünfmal wiederholt hatte und reichte es mir. Zu Hause erklärte mir meine Cousine, dass ich nicht zur Arbeit gehe, sondern „Dienst habe“, weil ich als Musikerin Bedienstete bin.

So reihten sich meine Diensttage einer an den anderen... Fremde Wörter, unbekannte Gesichter und viele, viele Noten. Alles war schwer, und bedrückend. Da blieb keine Zeit, mir bewusst zu machen, wie sehr mir der kleine Flecken Erde, dem ich den Rücken zugekehrt hatte, fehlte – mein Bulgarien. Ich zählte die Hilfslinien, suchte verzweifelt ihren genauen Platz auf dem Griffbrett der Geige und sah angespannt auf die Uhr. Auf dem Pult erwarteten mich drei schwere Opern. „Rusalka“, „Hänsel und Gretel“ und „Carmen“, dabei hatte ich noch nie im Orchestergraben einer Opernbühne gesessen, auch nicht als Statistin.

Nach sechsstündigen Proben vergaß ich, mir etwas in den Magen zu tun, weil ich mir schnell noch einmal die schweren Stellen ansehen wollte. Es kam auch nicht selten vor, dass sich die Notenlinien mit Tränenbächen vermischten.

Mein Arbeitstag bestand gewöhnlich aus drei Stunden Probe und einer Abendvorstellung. Wenn abends nichts stattfand, folgte noch eine zweite Probe. Zwischen den beiden Diensten gab es immer 4-5 Stunden Pause. Für mich hieß das, dass ich mindestens noch zwei Stunden übte. Mein Tag begann um neun Uhr morgens und endete abends nach zehn. Ich beklagte mich nicht, fand es mit der Zeit sogar interessant. Die Hände des Dirigenten schreckten mich nicht mehr, mit seinen Bewegungen, die für das Orchester oft nicht hilfreich waren, konnte ich immer besser klarkommen, die Noten las ich immer schneller. Nur der Gedanke, dass ich mich noch auf die Aufnahmeprüfung an der Leipziger Hochschule für Musik vorbereiten musste, ließ mir keine Ruhe. Ich überlegte mir, ich könnte zusätzlich noch eine Stunde mehr üben, wenn ich eine Wohnung fand, in der ich auch nachts niemand stören würde. Das Glück war mir wohlgesonnen!

Im unteren Teil der Stadt, am Ufer der Weißen Elster, lag die baptistische Kirche. Am Kirchhof stand ein großes, altes Mehrfamilienhaus. Von seinem Dachboden, der im Winter normalerweise zum Wäscheaufhängen benutzt wurde, trennte sich zur rechten Flurseite ein Flügel ab, der in einem kleinen Turm endete. Eine große Eingangstür, ein langer, enger Flur und eine zweite Tür, durch die man in ein Zimmer mit Fenstern zur Flussseite kam. Es ähnelte einer Einzimmerwohnung aus dem Mittelalter. Das hieß, dass man die Toilette und Wasser zum Waschen und Trinken im Flur zwischen den Stockwerken suchen musste, das Badezimmer war ein virtueller Begriff. Das wäre kein Problem für mich, dachte ich. Der Turm gehörte mir! Ich begutachtete ihn, als ob ich ihn kaufen wollte und richtete ihn heimlich mit unsichtbaren Möbeln ein.

„Wann kann ich einziehen?“, fragte ich auf Bulgarisch, meine Cousine übersetzte es für die ältere Dame, die dann meine Vermieterin wäre.

„Schon morgen“, antwortete sie lächelnd, gab mir die Hand und vergaß nicht anzumerken, dass ich ihr etwas auf der Geige vorspielen sollte.

Ganze drei Winter schleppte ich jeden Tag drei Eimer Kohle aus dem Keller, um mein romantisches Schloss zu heizen. Nun wurde ich Turmfräulein genannt. Ich übte jetzt auch spät in der Nacht. Der Turm und die Nachbarn hatten nichts dagegen.

* * *

Schwarz auf Weiß ist bei weitem nicht die größte Sicherheit auf der Welt. Es gibt nichts Gewisseres als Empfundenes und Geglaubtes.

Felix Mendelssohn-Bartholdy

Wie jedes Jahr Anfang März empfing Leipzig Gäste von nah und fern. Die Messehallen waren überfüllt mit Händlern aus aller Welt, während die Touristen durch die Straßen im historischen Stadtzentrum liefen.

Der Zug kam am Hauptbahnhof langsam zum Stehen. Ich konnte kaum abwarten, bis sich die Türen öffneten, und sprang auf den Bahnsteig. Zu meiner Zeit stand in den Lehrbüchern für Deutsch, dass Leipzig den größten Bahnhof in Europa hat. Ich zählte die Gleise. Es waren wirklich achtundzwanzig! Ich sah mich um und eilte schnellen Schrittes zum Ausgang Richtung Nikolaikirche. Seit meiner Ankunft in Deutschland waren erst sechs Monate vergangen und ich kannte nur einen Weg zur Musikhochschule. Vielleicht wäre es leichter und schneller gewesen, mit der Straßenbahn zu fahren, aber ich wollte nichts riskieren. Wusste ich, wie pünktlich sie kommt? Für meine Schritte konnte ich garantieren! Ich drückte den Geigenkasten an mich und lief los. Zuerst über den Marktplatz, dann ging es am Rathaus vorbei und genau zur verabredeten Zeit trat ich durch die schöne Tür der ersten Musikhochschule des heutigen Deutschlands, dem Konservatorium. Ich blieb im Foyer stehen. Mein Blick streifte durch die langen Korridore, welche mich in die fernen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts trugen. Die großartigen Säulen stützten die hohen Decken, die weit geschwungenen Treppen deuteten die Bequemlichkeit an, die die Mode mit großzügigen Kleiderschnitten in jener Zeit von den Architekten verlangte. Damals wusste ich wenig über die Geschichte dieses monumentalen Gebäudes, in dem ich im Laufe der nächsten vier Jahre jeden Montag Vorlesungen hören und die Kunst des Geigenspiels lernen sollte.