Das Mädchen und der flüsternde Wald - Sophie Anderson - E-Book

Das Mädchen und der flüsternde Wald E-Book

Sophie Anderson

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Beschreibung

Ein poetisches Märchen von Menschen, Bären und der Suche nach der eigenen Geschichte. Seit sie denken kann, fühlt sich Janka zum Schneewald hingezogen. Manchmal glaubt sie, die Tiere zu verstehen, was unmöglich ist. Zwar wurde sie einst als Kind vor einer Bärenhöhle im Wald gefunden, doch Janka ist ein Mensch, oder etwa nicht? Als sie eines Morgens mit Bärenbeinen aufwacht, versteht sie die Welt nicht mehr. Es gibt nur einen Ort, an dem sie Antworten finden kann: im Schneewald. Nach so vielen Erzählungen über diesen mystischen Ort, Märchen über Baba Yagas, Zar und Zarin Bär und den Zauberbaum, ist es für sie an der Zeit, ihre eigene Geschichte kennenzulernen.

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Über dieses Buch

»Geschichten haben immer einen wahren Kern.«

 

Ich erinnere mich an die Bärin, die mich aufgezogen hat. Daran, wie ich mein Gesicht in ihren warmen Bauch drückte, wie ihr Pelz mich vor der beißenden Kälte schützte. Das war damals, bevor ich ins Dorf kam. Bevor mir klar wurde, dass ich anders bin. Meine Vergangenheit ist ein Rätsel, das ich lösen muss. Und ich hoffe, dass es eine Geschichte voller Wunder ist, die mir sagt, wer ich bin. Warum ich höre, wie die Bäume Geheimnisse flüstern, und warum ich immer den Sog des Waldes spüre.

 

Folge Janka auf der Suche nach der Wahrheit in den funkelnden Schneewald und erlebe ein wundersames Abenteuer voller fantastischer Wesen und zauberhafter Märchen.

 

 

 

Für meinen Mann Nick und für Eartha, unsere Jüngste.

Weil ihr im Wald meine Hand gehalten habt.

 

PROLOG

Ich erinnere mich an die Bärin, die mich aufgezogen hat. Daran, wie ich mein Gesicht an ihren warmen Bauch drückte, wie ihre riesigen, pelzigen Arme und Beine mich vor dem Schnee und der beißenden Kälte schützten. Ich erinnere mich an ihr tiefes, grollendes Schnarchen im stillen Winter, an den dampfenden Atem, der in Wölkchen vor ihrer Schnauze tanzte und nach Beeren und Pinienkernen roch.

Meine Pflegemutter Mamotschka meint, dass ich etwa zwei Jahre alt war, als sie mich vor der Bärenhöhle fand. Ich stand nackt im Schnee, doch meine Wangen waren warm und gerötet und ich grinste bis über beide Ohren. Ich lief auf sie zu, reckte meine Arme in die Luft und bellte leise. Mamotschka hob mich hoch, ich legte meinen Kopf an ihre Schulter, schlang die Beine um ihre Hüften und schlief sofort ein. Mamotschka sagt immer, sie wusste in diesem Moment, dass wir zusammengehören. Aber wenn ich nicht sicher bin, woher ich wirklich komme, wie soll ich dann wissen, wohin ich gehöre?

Mamotschka warf einen Blick in die Höhle, um nach Hinweisen zu suchen, wer ich war oder wer meine Eltern sein könnten, doch nur die alte Bärendame hielt darin Winterschlaf. Mamotschka wollte sie nicht stören, also schlich sie fort und nahm mich mit sich in ihr Haus am Rande des Schneewaldes. Ich liebe es, bei Mamotschka zu leben. Sie ist die beste Mutter, die ich mir hätte wünschen können, aber ich denke oft an die Bärin. Ich frage mich, ob sie sich an mich erinnert oder mich vielleicht sogar vermisst. Ich denke beinahe so oft über die Bärin nach wie über meine echten Eltern. Die Leute, die mich wahrscheinlich im Wald verloren – oder ausgesetzt – haben.

Eines Tages möchte ich das Rätsel meiner Vergangenheit lösen, und ich hoffe, dass meine Geschichte von etwas Magischerem handeln wird als von einem ungewollten Baby. Ich hoffe, dass es eine Geschichte voller Wunder ist, die erklärt, wer ich bin und warum ich anders bin. Warum ich höre, wie die Bäume Geheimnisse flüstern, und warum ich immer den Sog des Waldes spüre.

Kapitel 1Janka die Bärin

Sie nennen mich Janka die Bärin. Nicht, weil ich in einer Bärenhöhle gefunden wurde – darüber wissen nur wenige Leute Bescheid. Man nennt mich so, weil ich groß und stark bin.

Ich überrage alle anderen Zwölfjährigen und sogar die meisten Erwachsenen. Und ich bin stärker als alle anderen, selbst als die Eisschneider und Holzfäller und die wenigen Jäger und Sammler, die mutig genug sind, sich in den Schneewald zu wagen.

Hier im Dorf am südlichen Rand des Waldes leben etwa hundert Leute und sie drängen sich alle auf den großen Platz, um das morgige Fest vorzubereiten.

Der Schnee glitzert und Vorfreude knistert in der Luft. Über sechs Monate war das Dorf in den Klauen des eisigen Winters gefangen. Doch morgen beginnt das Tauen. Die Eisdecke des Großen Flusses wird schmelzen und der Schneewald sein weißes Kleid verlieren. Dann kann ich endlich wieder unter grünen Bäumen wandern. Natürlich werde ich nicht zu weit gehen – Mamotschka macht sich sonst Sorgen. Doch allein bei dem Gedanken daran, unter den wiegenden Weiden und plappernden Kiefern zu stehen, kribbelt mein Bauch.

Einige Leute bitten mich um Hilfe, als ich den Dorfplatz überquere. Also hebe ich Holzbalken für die Schreiner und Schreinerinnen an, die die Bühne aufbauen. Ich helfe dabei, Masten für das Wettklettern in die gefrorene Erde zu rammen. Und ich ziehe die mit Eisblöcken beladenen Schlitten vom gefrorenen Fluss ins Dorf, damit die Eisfestung errichtet werden kann. Sie ist schon beinahe so hoch wie unsere Versammlungshalle, doch Kinder klettern an ihren schimmernden Mauern empor und bauen sie immer größer.

Endlich erreiche ich die Mitte des Platzes, wo mein bester Freund Sascha gerade Holz für das Lagerfeuer stapelt.

»Hey, Sascha.« Ich lächele und winke ihm zu.

»Hey, Janka.« Sascha schielt unter seiner riesigen Pelzmütze hervor und grinst zurück. Als ich drei Jahre alt war und er fünf, habe ich ihn aus einem Brennnesselbusch gezogen. Ich rieb seine Verbrennungen mit Ampferblättern ein und fragte ihn, ob er mit mir auf einen Baum klettern wolle. Seitdem sind wir beste Freunde. Mamotschka sagt, das war das erste Mal, dass ich gesprochen habe.

Sascha ist schlaksig und hat lange Beine wie ein Fischreiher. Wir waren früher einmal gleich groß, doch seit ich diesen Winter einen Wachstumsschub hatte, gucke ich ihm über den Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so groß sein würde, und ich weiß nicht, ob ich mich je daran gewöhnen werde.

»Sollen wir den zusammen tragen?« Sascha hebt einen langen Holzscheit an.

»Ich mach das schon.« Als ich mir den Klotz über die Schulter schwinge, versinken meine Füße tiefer im Schnee. Sascha nimmt ein kleineres Stück und wir stapfen zum Stapel für das Lagerfeuer.

Saschas jüngster Cousin Wanja eilt mit den Armen voller Zweige heran. Er grinst mich mit großen Augen an. »Du bist so stark wie eine Bärin, Janka.«

Ich lege das Holzscheit ab und lächele. Es macht mir nichts aus, wenn meine Stärke mit der eines Bären verglichen wird. Nicht wirklich. Aber es gibt mir immer das Gefühl, anders zu sein – und nicht nur wegen meiner Stärke und Größe.

Alle wurden hier im Dorf geboren, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Sie tragen Pelzmäntel, die von ihren Urgroßvätern an sie weitergegeben wurden, und schlafen in Decken gekuschelt, die von ihren Urgroßmüttern gestrickt wurden. Doch ich weiß nicht, wo ich geboren wurde oder wer meine echten Eltern sind oder wie ich in die Bärenhöhle kam. Die Unwissenheit ist wie ein Loch in meinem Innern, das jedes Jahr ein bisschen größer wird.

Ich hieve ein weiteres Holzstück auf meine Schulter und verdränge diese eisigen Gedanken. Bald darauf ist der Stapel so groß wie ich und ich freue mich auf die Wärme des Feuers morgen.

Sascha lacht mit ein paar Kindern, die gerade von der Eisfestung heruntergeklettert sind. Er hält seine Mütze in der Hand und sein dünnes, dauerzerzaustes Haar steht in alle Richtungen ab. Es gibt nur etwa zwanzig Kinder im Dorf. Wir gehen alle in dieselbe Schule und kennen uns. Deshalb sollte ich mich in der Nähe der anderen nicht unwohl fühlen. Trotzdem stolpere ich, als ich zu ihnen hinübergehe, und grinse daraufhin nervös. Niemand bemerkt mich. Wahrscheinlich, weil sie damit beschäftigt sind, Pläne für morgen zu schmieden, oder vielleicht, weil mein Kopf viel weiter oben ist als ihre. Ich beuge mich nach vorn und gehe in die Knie, passe aber trotzdem nicht in die Gruppe. Stattdessen fühle ich mich wie ein Kuckucksküken in einem Nest voller Zaunkönige.

Der blassgraue Himmel verdunkelt sich langsam und die frostige Luft beißt in mein Gesicht. Der Winter mag zwar bald vorbei sein, doch die Frühlingswärme ist noch lange nicht hier. So ist es immer. Der Schnee, der tagsüber in der Sonne schmilzt, gefriert in der Nacht wieder zu gletscherscharfem Eis.

Ein Fink saust so dicht an mir vorbei, dass sein Gefieder meine Wange streift. Er steigt steil auf und fliegt in Richtung Wald davon. Von hier kann ich nur ein paar Baumkronen ausmachen, doch es fühlt sich an, als würden sich dicke Seile um mein Herz schlingen und daran zerren.

Ich bin schon beinahe an der Spitze des Hügels hinterm Dorf angekommen, ohne zu bemerken, dass ich mich von den anderen entfernt habe. Sascha holt zu mir auf und boxt mich gegen den Arm.

»Wofür war das denn?« Ich erwidere den Schlag so schwach wie möglich, doch Sascha taumelt trotzdem rückwärts.

»Ich versuche nur, mir einen Vorsprung zu verschaffen.« Er zieht Kufen aus seinen Manteltaschen und befestigt sie an seinen Stiefelsohlen. »Wettrennen zu meinem Haus?«

»Ja!« Mein Herz macht einen freudigen Sprung, rutscht mir gleich darauf aber in die Hose, als ich mich daran erinnere, warum ich meine Kufen nicht bei mir habe.

Allein diesen Winter bin ich aus drei Paar Stiefeln herausgewachsen und kann es nicht über mich bringen, schon wieder neue machen zu lassen. Es macht mir Angst, wie schnell ich dieses Jahr gewachsen bin – viel schneller als in den Jahren davor, sodass ich sogar manchmal nachts Schmerzen in den Beinen habe. Ich krame in meinen Taschen herum und seufze. »Ich hab meine Kufen vergessen.«

»Schon wieder?«, stöhnt Sascha.

»Es macht mir nichts aus, wenn du ohne mich Schlittstiefel läufst.« Ich bleibe an der Hügelspitze stehen. Eine Eisfläche zieht sich von hier über den Pfad bis zu Saschas Haus und weiter bis zu meiner Eingangstür. Sascha liebt es, über das Eis zu gleiten, er sieht dabei immer aus wie eine Schwalbe im Flug, doch jetzt schnallt er sich seine Kufen wieder ab.

»Dann lass uns durch den Wald gehen.« Mit beschwingten Schritten läuft er zu der knorrigen alten Ulme, auf die wir früher oft geklettert sind. Dahinter schlängelt sich ein Pfad durch die Bäume und führt in einem weiten Bogen bis zu unseren Gärten. Schon immer bin ich lieber diesen Weg gegangen und Sascha weiß das. Bei dem Gedanken wird mir ganz warm. Sascha ist wirklich der beste Freund, den man sich wünschen kann.

Wenn man einen Fuß in den Schneewald setzt, ist es, als würde man eine andere Welt betreten. Zwischen den hohen Bäumen fühle ich mich immer klein. Mein Geist kribbelt und all meine Sinne erwachen zum Leben. Wenn ich im Wald bin, habe ich manchmal das Gefühl, die Wahrheit über meine Vergangenheit könnte gleich hinter dem nächsten Baum liegen.

»Freust du dich auf das Fest?«, fragt Sascha mit leuchtenden Augen.

Ich nicke und denke an alles, was ich an den Feierlichkeiten liebe: die Spiele, die Musik und die Aufführungen, mit Sascha den Schlittenhügel hinabzurasen und durch das Feuerlabyrinth auf Mamotschka zuzulaufen.

Das Labyrinth besteht nicht aus echtem Feuer, sondern aus riesigen Laken, die so zurechtgeschnitten und angemalt werden, dass sie wie Flammen aussehen. Am Ende der Nacht rennen alle hindurch, lachen, wenn sie sich in den Laken verfangen oder zwischen ihnen verlaufen, und kommen auf der anderen Seite mit strahlenden Gesichtern wieder heraus.

Als ich das erste Mal mit drei oder vier Jahren durch das Feuerlabyrinth lief, fürchtete ich mich, sodass Mamotschka auf die andere Seite ging, um mich zu sich zu lotsen. Jetzt habe ich keine Angst mehr, aber sie steht immer noch jedes Mal dort.

»Ich freue mich am meisten auf die Belagerung. Kann’s kaum erwarten.« Sascha grinst breit. »Hast du gesehen, wie hoch die Eisfestung dieses Jahr ist?«

»Höher als die Versammlungshalle«, murmele ich, abgelenkt von den Geräuschen des Waldes. Ich ducke mich unter einem Ast hindurch und Schnee rieselt mir in den Nacken.

Der Wald hat seine ganz eigenen Launen und gerade scheint er rastlos zu sein. Der Schnee tropft von den Zweigen, die Vögel rascheln, Tiere huschen Baumstämme hinauf und flitzen durch Tunnel unter der Schneedecke.

Sascha spricht weiter über die morgigen Spiele, aber ich kann mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Ich fühle mich unruhig, als ob der Wald mir etwas mitteilen möchte.

»Janka?«

»Tut mir leid. Wie bitte?«

»Hast du mal wieder den Bäumen gelauscht?« Er lächelt. »Haben sie dir endlich verraten, wer du bist?«

Hitze steigt mir in die Wangen. Sascha und ich haben einander immer alles erzählt. Nun wünschte ich manchmal, er wüsste nicht ganz so viel über mich. Zum Beispiel, dass ich Dinge im Wald höre oder wie sehr mich meine Vergangenheit beschäftigt.

»Soll ich dich morgen abholen kommen?«, fragt Sascha.

»Ich helfe Mamotschka, ihre Heilmittel zum Dorfplatz zu bringen und ihren Stand aufzubauen. Wir brechen im Morgengrauen auf.«

»Dann komme ich vorbei und helfe euch.«

»Das musst du nicht.«

»Will ich aber. Meine Eltern nehmen den Schlitten, um meine Großeltern abzuholen, also werde ich morgen früh sowieso allein sein.« Sascha biegt in seinen Garten ein. »Bis morgen!«

Ich gehe zu meinem und Mamotschkas Garten und lungere noch eine Weile unter den Kiefern am Rand herum, um dem Wald ein bisschen länger nahe zu sein.

Genau wie Saschas Garten geht unserer direkt in den Wald über. Es gibt keine Zäune oder Tore. Im Moment ist nichts als eine verschneite Fläche zu sehen, aber nach dem großen Tauen werden wir den Boden umgraben und Samen pflanzen. Wenn die langen Sommertage kommen, werden längst überall Früchte, Blumen und Hunderte Kräuter sprießen – eine regelrechte Farbexplosion, in der sich Bienen und Schmetterlinge tummeln werden.

Mamotschka verdient ihren Lebensunterhalt mit Kräutern. Sie erntet, trocknet und zerstößt sie, um verschiedenste Heilmittel daraus herzustellen. Immer wenn es mir nicht gut geht, hat sie einen Trank oder Tee für mich. Diesen Winter hat sie sogar nur für mich eine besondere Salbe hergestellt, als meine Füße vom schnellen Wachsen schmerzten.

Die Leute sagen, dass Mamotschka alles behandeln kann, weil sie die Weisheit des Schneewaldes in sich trägt. Mamotschka fühlt sich wirklich wie der Wald an: unerschütterlich und gleichzeitig sanft. Ihre Hände sind weich und kräftig zugleich, wie frische Rinde. Ihr Haar ist dunkel wie die Schatten zwischen den Kiefern. Und sie duftet so süß wie Lindenblüten.

Als Mamotschka jünger war, ging sie oft tief in den Wald, wo sie wilde Kräuter und Beeren für ihre Heilmittel sammelte. So hat sie mich vor der Bärenhöhle gefunden. Heutzutage bleibt sie lieber im Dorf und baut alles, was sie braucht, in ihrem Garten an.

Wie die anderen Dorfbewohner sagt auch sie, dass der Wald gefährlich sei und dass es nun ihre wichtigste Aufgabe sei, mich zu beschützen. Ich wünschte, sie würde mich nur ein kleines bisschen weiter in den Wald lassen, doch sie hat Angst, dass ich mich verlaufen oder erfrieren oder von einem der wilden Tiere angefallen werden könnte.

Ein rosa Fleck auf einem schneebedeckten Ast zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist schon wieder ein dicker, runder Fink. Ich lächele ihn an, schiebe eine Hand in meine Tasche und hole ein paar Sonnenblumenkerne heraus, die ich immer für Vögel bei mir trage. Ich strecke sie ihm auf meiner Handfläche entgegen. Dabei halte ich ganz still und pfeife leise und sehnsüchtig.

Der Fink legt den Kopf schief und hüpft den Ast entlang. Dann flattert er auf meine Hand.

»Janka!«

Mir bleibt die Luft im Hals stecken. Hat er gerade meinen Namen gesagt?

»Janka!«, ruft er wieder. »Janka die Bärin! Komm zurück in den Wald!«

Mit offenem Mund starre ich den Finken an. Seine Worte waren Vogelgesang, aber sie haben trotzdem Sinn ergeben. Ich beuge mich vor, flehe den Vogel in Gedanken an, noch etwas zu sagen.

Doch da flitzen winzige Pfoten meinen Rentierledermantel hinauf, und Mäusefänger, unser Hauswiesel, springt von meiner Schulter direkt auf den Vogel zu.

Er flattert gerade rechtzeitig davon, und Mäusefänger landet auf meiner Hand, wobei er die Sonnenblumenkerne in den Schnee verteilt. Er windet sich um mein Handgelenk und schaut unschuldig zu mir auf, während er sich über die Lippen leckt.

Ich werfe ihm einen bösen Blick zu und schüttele den Kopf. »Ich wünschte, du würdest die Vögel in Ruhe lassen, die ich füttere. Gibt es im Haus nicht genug Mäuse für dich?«

Mäusefänger schüttelt sich, sträubt das Fell, springt zu Boden und huscht durch den Garten – ein kupferfarbener Streifen im Schnee. Da er bei uns im Haus lebt, färbt sich sein Fell im Winter nicht weiß, wie es für Wiesel üblich ist.

Mamotschka klopft von innen ans Küchenfenster. »Sbiten?« Sie formt das Wort mit dem Mund und hält meine gelbe Lieblingstasse hoch. Ich grinse und nicke. Bei dem Gedanken an den heißen Honigtrunk wird mir gleich wärmer.

Ich werfe noch einen Blick in die Richtung, in die der Fink geflogen ist, doch er ist fort. Ich rede mir ein, dass ich mir nur eingebildet habe, ihn zu verstehen, aber etwas in mir hält dagegen. Die Baumkronen flüstern, der Schnee birgt Geheimnisse. Ich spüre die Anziehungskraft des Waldes stärker als je zuvor. Irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Bäumen liegt die Wahrheit über meine Vergangenheit. Das weiß ich.

Mein Herz rast und meine Zehen zucken. Ich stampfe fest auf und klopfe mir den Schnee vom Mantel, aber ich schaffe es nicht, die Unruhe aus meinen Beinen zu vertreiben. Als die Eingangstür hinter mir ins Schloss fällt, höre ich wieder den Finken in der Ferne.

»Janka die Bärin! Komm zurück in den Wald! Du gehörst hierher!«

Kapitel 2Anatoly

Am Abend kommt Anatoly, mit Eis in seinem Bart und im Mondlicht leuchtenden Augen. Vorfreude packt mich, als ich ihn durch das beschlagene Fenster beobachte. Er schirrt seine Schlittenhunde ab, füttert sie, bürstet sie sorgfältig und prüft ihre Pfoten, während er ihre Namen flüstert: Nessa, Bajan, Pjotr und Zoja. Schließlich bringt er sie im Schuppen unter und kommt endlich herein.

Er muss sich unter dem Türrahmen hindurchducken. In Hirschleder und Felle gekleidet ist er größer als ein Bär, doch als er seine vielen Schichten abgelegt hat und sich in seiner abgetragenen Rubakha-Tunika ans Feuer setzt, sieht er schmaler und älter aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Die Falten um seine silbrigen Augen sind tiefer, und es finden sich noch mehr weiße Haare in seinem Bart, der aufgrund der Brandnarben in seinem Gesicht nicht überall gleich lang wächst.

Doch sein Lächeln ist dasselbe. Er schaut dabei immer zu Boden und wird so rot wie ein Finkenbauch.

Anatoly war vor zwei Monaten das letzte Mal hier, und obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, ist es gar nicht so lang. Manchmal bekommen wir ihn ein halbes Jahr oder länger nicht zu Gesicht, manchmal besucht er uns schon nach ein paar Wochen erneut. Ich wünschte, er würde öfter vorbeikommen. Ich vermisse ihn, wenn er nicht hier ist, und frage mich viel zu oft, wann ich ihn wiedersehen werde.

Anatoly lebt allein im Wald, wo er jagt, fischt und Fallen aufstellt, um zu überleben. Im Dorf wusste niemand von seiner Existenz, bis er vor etwa zehn Jahren an Mamotschkas Türschwelle auftauchte und sie um eine Salbe für seine Verbrennungen bat. Es waren alte Narben von einem Waldbrand vor vielen Jahren, aber er sagte, sie würden ihn nachts immer noch plagen. Seitdem hat Anatoly uns mindestens einmal pro Jahr besucht, meistens öfter.

Gelegentlich bleibt er über Nacht und schläft vor dem Feuer. Die Dorfbewohner ziehen Mamotschka damit auf, dass er ihr Liebhaber ist. Sie lacht dann nur und erwidert, dass man keinen Liebhaber haben kann, der sich immer nur im Wald versteckt. Aber ihre Augen funkeln heller, und ihr Lächeln wird breiter, wenn er uns besuchen kommt.

»Du siehst aus, als hättest du nichts gegessen, seit wir dich das letzte Mal gesehen haben.« Mamotschka schenkt Anatoly eine Tasse Tee mit Zitrone ein und reicht ihm einen Korb mit Prjaniki–Gewürzkeksen mit einer Glasur so weiß wie Schnee.

Mamotschka ist klein, nur halb so groß wie Anatoly und ich, doch sie nimmt mehr Platz ein. Sie läuft energisch hin und her und füllt den Raum mit so viel Leben wie ein Taubenschwarm.

Anatoly nippt an seinem Tee, beißt in einen Prjaniki und wird rot. »Ich habe gut gegessen, aber ich war in den letzten Monaten im Hohen Norden und die Kälte hat ihre Spuren hinterlassen.«

»Was hast du gefunden?«, frage ich voller Vorfreude auf eine Geschichte. Wenn Anatoly aus dem Schneewald kommt, gibt es immer eine.

Als ich klein war, habe ich ihm all seine Geschichten abgekauft, egal, ob es darin um Wolfsrudel ging, die im Mondlicht jagen, oder um Feuerdrachen, die sich vom Rand eines Vulkans in die Lüfte erheben. Denn all seine Geschichten kamen aus dem Wald – genau wie ich. Und ich suchte in ihnen nach Hinweisen auf meine eigene Vergangenheit.

Nun weiß ich, dass Anatolys Geschichten nur Geschichten sind. Mamotschka hat es oft genug gepredigt, aber manchmal glaube ich trotzdem noch gerne daran, dass sie wahr sind. Zum Beispiel, während er sie mir erzählt und ab und zu sogar noch danach, tief in der Nacht, wenn die Zweige vor meinem Fenster silbrig schimmern und ich nicht schlafen kann, weil ich darüber nachdenke, welche Geheimnisse sich im Wald verbergen.

Anatoly lächelt sein scheues Lächeln, greift in seine Tasche und holt seine Landkarte hervor. Er streicht das zerfledderte alte Papier auf dem niedrigen Tisch zwischen uns glatt und ich suche nach der neuen Markierung. Es gibt immer eine neue, irgendwo zwischen den tintenschwarzen Bäumen versteckt, um aufzuzeigen, wo die Geschichte ihren Anfang nimmt.

»Hier ist das Dorf.« Anatoly deutet auf die Zeichnung der kleinen Häuseransammlung am südlichen Rand der Karte. »Und hier ist eure Hütte.« Sein Finger verharrt über meinem und Mamotschkas Haus, zwei kleine Herzen in einem Quadrat.

Anatoly erklärt immer alle Punkte auf seiner Karte, obwohl ich sie schon so oft gesehen habe, dass ich sie auswendig aufzeichnen könnte. Es macht mir nichts aus. Ich lausche gern seiner tiefen, sanften Stimme, untermalt vom Knistern des Feuers, und ich verfolge gern, wie seine schwieligen Finger über den Tintenwald streichen.

So habe ich außerdem Zeit, die neue Markierung selbst zu finden. Es könnte etwas Großes sein, wie die Schlossruine, die letztes Jahr auftauchte und für die Geschichte eines Bären steht, der einst ein Mensch war. Oder es könnte sich um etwas Kleines handeln, wie eine winzige, auf einer Lichtung versteckte Kralle, die die Geschichte eines einsamen Mädchens darstellt, das sich gegen ein Wolfsrudel behauptet. Diese Geschichte erzählte Anatoly mir, als ich noch sehr klein war, und ich habe immer noch die Wolfsklaue unter meinem Kissen, die er mir dazu gegeben hat. Manchmal fühle ich mich mutig, wenn ich mit den Fingern darüberstreiche. Dann wiederum reicht der bloße Anblick der dunklen, daumenlangen Kralle aus, um mich so zu verängstigen, dass ich meine Decke fest um mich ziehe.

Auf der Karte windet sich ein schmaler Pfad durch den Wald Richtung Norden. Tiere verstecken sich zwischen den Bäumen: Wölfe und Marder, Dachse und Bären, Schlangen und Eichhörnchen. Hinter der ersten von Anatolys fünf Hütten verschwindet der Pfad, also folge ich dem Silberbach, dessen sich kräuselnde Oberfläche mit Eisschollen und springenden Fischen verziert ist.

»Das Haus der Jaga ist schon wieder an einem anderen Ort.« Ich deute auf die Zeichnung eines Hauses, das auf Hühnerbeinen in einem Kiefernwäldchen steht.

»Der Winter war dieses Jahr besonders hart«, erklärt Anatoly. »Dem Haus wurde so kalt, dass seine Knie zersplittert sind. Es hallte laut wie Donner, als es mitten in der Nacht aufstand. Ich habe es in zehn Meilen Entfernung gehört. Das Haus ist nach Süden gerannt, stampfte am Flussufer entlang, bis es seine Füße wieder aufgewärmt hatte. Dann hat es sich in diesem gemütlichen Wäldchen niedergelassen. Der Jaga, die darin lebt, hat das überhaupt nicht gefallen. Sie wohnt nicht gern in der Nähe der Lebenden. Du weißt ja, dass Jaga die Gesellschaft toter Seelen vorziehen.«

»Tote Seelen und Häuser mit Hühnerbeinen.« Mamotschka verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf. »Du erzählst ihr lauter Unsinn, Anatoly.«

»In all meinen Geschichten steckt ein wahrer Kern«, sagt Anatoly leise. Er sieht mich so eindringlich an, dass ich den Drang verspüre, ihm zu sagen, dass ich all seine Geschichten glaube. Stattdessen stehe ich auf und öffne die lange Holzschatulle auf dem Kaminsims. Darin befindet sich mein Lieblingsfüller und meine eigene Kopie von Anatolys Karte. Als er das letzte Mal hier war, habe ich sie selbst gemalt. Obwohl die Zeichnung nicht so sauber ist wie seine, bin ich stolz darauf. Ich breite sie auf dem Tisch aus und zeichne das Haus mit den Hühnerbeinen an seinen neuen Standort.

Mamotschka verschwindet in der Küche, während sie immer noch etwas über »Unsinn« vor sich hin murmelt. Sie glaubt nur an Dinge, die sie mit eigenen Augen sehen kann. Allerdings hat sie Anatolys Geschichten früher nicht einfach so abgetan. Als ich klein war, erzählte sie sie mir vor dem Schlafengehen auf ihre eigene sachlich nüchterne Art. Oder sie sang mir die Lieder ihrer Vorfahren über die Macht der Natur und die heilende Magie des Waldes vor. Doch sie hat wohl beschlossen, dass ich mit zwölf Jahren nun zu alt für Geschichten bin.

Das letzte Mal, als Anatoly uns besucht hat, habe ich nachts ihr Gespräch mit angehört. Mamotschka sagte ihm, sie mache sich Sorgen, dass ich durch seine Geschichten zu viel über meine Vergangenheit nachdenke. Anatoly erwiderte, ich sei ein magisches Bärenkind, das sich immer fragen wird, woher es kommt. Doch Mamotschka fände es besser, wenn mein Herz im Dorf wäre, anstatt sich in Waldgeschichten zu verlieren. Da habe ich mich im Bett umgedreht, um nichts mehr zu hören, und mich in den Schlaf gesungen.

Nachdem ich das Haus mit Hühnerbeinen fertig gezeichnet habe, beuge ich mich wieder über Anatolys Karte, um zu sehen, was es sonst noch Neues gibt. Doch mein Blick bleibt am Blauen Berg hängen und ich kann nicht wegsehen. Hoch oben auf der Klippe ist die Zeichnung der Bärenhöhle, in der ich gefunden wurde. Ich bin dort auch zu sehen – ein Baby, das sich an die Bärin Zarina kuschelt. Anatoly nennt die Bärin immer Zarina, die Zarin des Schneewaldes.

Auf einmal beginnen meine Füße wieder, unruhig zu kribbeln, wie am Nachmittag, als ich den Finken sprechen hörte. Draußen glitzert der Schnee, und in mir steigt der Drang auf, Fußabdrücke darin zu hinterlassen.

»Die Bärenhöhle.« Anatolys Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sanft berührt er die Karte neben der Höhle. »Wo deine Mamotschka den wertvollsten Schatz gefunden hat, der je im Schneewald entdeckt wurde.«

Mamotschka stellt eine Tasse Sbiten vor mir ab und küsst mich auf den Kopf. Sie lächelt Anatoly an, und er lächelt zurück, ohne wegzusehen. Einen Moment fühlt es sich an, als gehörten wir drei zusammen. Wie eine richtige Familie.

»Wie lange bleibst du?« Die Frage ist mir einfach herausgerutscht. Sofort bereue ich sie, denn Anatolys Gesicht färbt sich leuchtend rot bis zu den Ohren und er antwortet nicht.

Mamotschka gießt mehr heißes Wasser aus dem Samowar in die Teekanne. Wasserdampf steigt auf, als sie den Abflusshahn des glänzenden Messinggefäßes aufdreht. Die Hitze bietet Anatoly eine Ausrede für seine roten Wangen.

»Was ist das da?«, fragt Mamotschka und zeigt auf eine winzige Markierung auf der Karte.

Ich mustere das Dreieck, das den Stamm einer schlanken Birke schmückt. In seinem Inneren steht der Buchstabe N mit einer kleinen Krone darüber.

»Das ist die neue Markierung!« Meine Enttäuschung darüber, sie nicht selbst gefunden zu haben, wird sofort von Aufregung verdrängt. »Und es muss etwas mit Prinzessin Nastasia zu tun haben.« Sofort habe ich das gekrönte N als ihr Zeichen erkannt.

Anatoly hat mir schon früher Geschichten über sie erzählt, und in manchen davon hörte es sich so an, als könnte sie meine leibliche Mutter sein. Der Gedanke, dass es wahr sein könnte und ich jetzt gleich mehr über sie erfahren werde, ist purer Nervenkitzel, wie wenn man viel zu schnell über eine Eisfläche jagt.

Anatoly holt ein kleines Bündel aus seiner Tasche und reicht es mir. Was auch immer da drin ist, ist schwer, so groß wie meine Handfläche, und fühlt sich kalt durch den Stoff an.

Mäusefänger reckt den Kopf aus seinem Loch in der Ecke neben dem Feuer und schnüffelt in die Luft.

Er ist ein stolzer Jäger und bettelt nie um Essen, es sei denn, es handelt sich um Kabeljau, den Anatoly manchmal mitbringt. Doch in diesem Bündel befindet sich kein Fisch.

Es ist ein dreieckiger eisblauer Stein, glatt wie Glas, dessen Spitze und Kanten messerscharf sind. Anatoly hat ein Loch am breitesten Ende gebohrt und eine Lederkordel hindurchgezogen, sodass man ihn als Kette tragen kann. Der Stein zittert in meiner Hand. Er fühlt sich unnatürlich kalt an, als ob darin ein Schneesturm wütet.

Mäusefängers Mundwinkel fallen enttäuscht herab, als er feststellt, dass es keinen Fisch gibt, aber vielleicht wittert er ja die Geschichte, die nun in der Luft liegt, denn er kriecht heran, huscht meine Stuhllehne hinauf, lässt sich auf meiner Schulter nieder und starrt Anatoly erwartungsvoll an.

Ich atme Mäusefängers vertrauten Geruch nach Staub und erdigem Moschus ein und hebe die Hand, um ihn zu streicheln, doch er schiebt meine Finger mit der Schnauze fort. Mäusefänger liebt es, auf meiner Schulter zu sitzen, aber er wird nicht gern gekrault.

»Ist das eine Pfeilspitze?«, frage ich und halte den Stein vor das Fenster, sodass er im Sternenlicht zu funkeln beginnt.

Anatoly nickt. »Sie ist für dich. Alles, was vom letzten Pfeil der Prinzessin Nastasia übrig ist.« Seine Stimme bricht und er nimmt noch einen Schluck Tee.

»Sie ist wunderschön. Danke.« Ich streife mir die Kette über den Kopf, wobei ich aufpasse, Mäusefänger nicht zu stören, und wende mich dann Mamotschka zu, um sie ihr zu zeigen.

»Sie steht dir ganz wunderbar.« Mamotschka lächelt. »Aber mit den scharfen Kanten scheint es mir nicht sicher, sie zu tragen.« Sie wendet sich Anatoly mit erhobenen Augenbrauen zu und er blickt entschuldigend zu Boden.

»Würdest du gerne die Geschichte des Pfeils hören?«, fragt er mich.

»Ja, bitte.« Eine Gänsehaut huscht über meine Arme. Obwohl ich schon Geschichten über Prinzessin Nastasia gehört habe, weiß ich nichts über den Pfeil. Mäusefänger gähnt mit einem Piepsen, streckt sich und windet sich um meinen Nacken.

»Prinzessinnen und Pfeilspitzen.« Mamotschka schnalzt missbilligend mit der Zunge und geht in die Küche, wo sie betont unbeteiligt den Fisch und das Fleisch verstaut, das Anatoly uns mitgebracht hat. Doch ich sehe, dass sie trotzdem zuhört. Mamotschka mag vielleicht nicht an Anatolys Geschichten glauben, aber sie kann sich ihrer Magie nicht entziehen.

Vielleicht sind seine Geschichten wirklich zu fantastisch, um wahr zu sein, aber wenn ich vor dem knisternden Kaminfeuer sitze, während draußen der Schnee weht, und ich einer von Anatolys Geschichten lausche, ist es nicht mehr allzu abwegig, daran zu glauben, dass ich eines Tages meine eigene Geschichte aufdecken werde. Und dann werde ich endlich verstehen. Es wird sich anfühlen, als würden dunkle Wolken endlich den klaren Nachthimmel freigeben.

»Meine Geschichten haben immer einen wahren Kern«, wispert Anatoly und reicht mir einen Prjaniki. Ich grinse und beiße in den weichen Keks. Dann beginnt Anatoly, wie er es immer tut: »Es war einmal …«

 

Der letzte Pfeil der Prinzessin Nastasia

Es war einmal eine große Kriegerin, die in den Schneewald kam. Ihr Name war Prinzessin Nastasia.

Sie trug einen Bogen über der Schulter und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken, mit denen sie jeden funkelnden Stern vom Himmel schießen konnte.

Viele Jahre lang verteidigte und beschützte die Prinzessin die Bewohner des Schneewaldes. Sie vertrieb die Wasserdämonen aus dem Fluss, beruhigte die Baumgeister, deren Heulen Regen heraufbeschwor, und rettete die Seele des Unsterblichen Riesen.

Eines Tages traf sie einen Fischer an der Küste der Grünen Bucht. Sie verliebten sich ineinander und bekamen eine wunderschöne Tochter. Doch noch bevor die Tochter einen Mond alt wurde, brach der Feurige Vulkan im Norden aus. Smey, der dreiköpfige Feuerdrache, stob in den Himmel hinauf, und Nastasias Mann, der sich in der Nähe des Vulkans aufhielt, wurde von dem rasenden Biest gefangen genommen.

Nastasia bebte vor Zorn. Sie schulterte ihren Bogen, hielt ihr Baby an die Brust gedrückt und kletterte zu einer Höhle auf dem Blauen Berg hinauf. Dort ließ sie ihre geliebte Tochter schweren Herzens in der Obhut des einzigen Wesens zurück, dem sie vertraute: der Bärin Zarina.

Auf der Bergkuppe, die der Himmel einst blau gefärbt hatte, schnitzte Nastasia sechs Pfeilspitzen. Sie waren aus dickem blauem Eis und mit Sternenstaub durchsetzt, sodass sie stark und kalt genug waren, um den Zorn im Herzen des Feuerdrachen abzukühlen.

Die Sonne ging dreimal unter und der Mond dreimal auf, bis Nastasia endlich den Feurigen Vulkan erreichte und Smeys Höhle fand. Sie stürmte hinein und zielte mit einem Pfeil auf das Herz des Drachen, doch Smey hielt ihren Mann schützend vor sich und sie konnte nicht schießen.

In nur zwei Herzschlägen feuerte Nastasia stattdessen fünf Pfeile auf die drei Köpfe des Drachen und traf fünf seiner Augen. Sie lächelte grimmig und legte ihren letzten Pfeil auf, um auf Smeys verbliebenes Auge zu zielen. Doch Smey breitete seine riesigen Schwingen aus und flog mit Nastasias Mann in seinen Klauen aus der Höhle. Der Drache brüllte zornig und ließ den Fischer in das wütende Drachenfeuer unter ihnen fallen.

Nastasia brach vor Schmerz zusammen, als ihr Geliebter von den Flammen verschlungen wurde. Ihre Brust zerriss beinahe vor Trauer und sie bekam keine Luft. Sie schoss ihren letzten Pfeil ab, doch er traf nicht. Allerdings schnitt er in einen von Smeys Flügeln, sodass der Drache nicht mehr fliegen konnte und aus dem Himmel stürzte. Er spuckte lodernde Flammen und Asche regnete auf Nastasia herab. Sie konnte ihm nicht mehr entkommen.

Hoch oben am Himmel flog der letzte Pfeil immer höher, wobei er Nastasias Liebe und Stärke mit sich trug. Er sauste an den Sternen vorbei, und erst unter dem Mond neigte er sich wieder abwärts, streifte Mondstrahlen und Magie, bevor er zurück zur Erde flog und dort in einer hohen, schlanken Birke stecken blieb.

Tränen sammelten sich in Nastasias Augen, als sie an ihr nun elternloses Kind dachte. Doch ihr letzter Atemzug war voller Hoffnung, dass ihre Tochter eines Tages den letzten Pfeil finden und sich an ihre Geschichte erinnern würde.

Kapitel 3Das Fest

Am nächsten Morgen ist Anatoly verschwunden. Obwohl ich wusste, dass es so kommen würde, bin ich enttäuscht. Als würde das Gewicht eines viel zu schweren Ledermantels auf meine Schultern drücken. In der Nachricht auf dem Tisch steht bloß, dass der Wald ihn nachts gerufen habe. Daneben liegen zwei Salweidenzweige mit weichen silbrigen Weidenkätzchen.

Mamotschka schüttelt beim Lesen den Kopf, lächelt aber, als sie die Zweige sieht, und steckt sich einen in ihr Knopfloch. Ich tue dasselbe mit dem anderen, und wir gehen nach draußen, um Mamotschkas Sachen für das Fest auf einen Schlitten zu laden.

Die Luft ist scharf. Mäusefänger flitzt an mir vorbei und über mich drüber, springt von meiner Schulter auf meine Hände, dann auf den Schlitten und wieder zurück. Er schnüffelt an all den Flaschen und Gläsern, macht aber einen Bogen um die mit Kräutern und Samen gefüllten Behälter, die klappern, wenn sie sich bewegen.

Es macht Spaß, ihm zuzusehen, aber ich kann nicht aufhören, über Anatolys Geschichte von gestern nachzudenken. Ich gehe sie immer wieder im Kopf durch und berühre ständig den Pfeilspitzenanhänger, fahre seine eisigen, scharfen Kanten nach. An diesem Morgen fühlt es sich an, als ob sich mehr als nur ein Schneesturm darin verbirgt.

»Dir ist bewusst, dass es nur eine Geschichte war, oder?«, sagt Mamotschka und zieht meinen Mantelkragen zurecht. Sie weiß immer, was ich denke, und sie zupft ständig an meiner Kleidung oder meinem Haar herum, wenn sie sich Sorgen um mich macht.

»Natürlich.« Ich nicke, kann aber nicht umhin, zu denken: Was, wenn in der Geschichte ein Funken Wahrheit steckt, wie Anatoly gesagt hat? Was, wenn Nastasia wirklich existiert und meine leibliche Mutter ist? Bei dem Gedanken hüpft und springt mein Herz wie Mäusefänger auf dem Schlitten.

»Komm.« Mamotschka hat genug Wollgräser in die Kisten gestopft und bedeckt sie nun mit Fellen. »Lass uns noch etwas Warmes trinken, bevor wir losfahren. Ich habe eine Überraschung für dich.« Ihre Augen funkeln vor Aufregung, sodass ich ganz neugierig werde.

»Kommst du mit rein?« Ich biete Mäusefänger meine Hand an, doch er pirscht sich gerade auf einer Kiste an einen fluffigen Samen heran. Seine Schnurrhaare zucken gereizt, als würde ich ihn bei einer wichtigen Jagd stören, doch er springt trotzdem auf meine Hand, huscht meinen Arm hinauf und versteckt sich in meinem Mantelkragen. Ich lächele, als ich seinen winzigen Körper weich und warm an meinem Hals spüre, und folge Mamotschka ins Haus.

Sie öffnet eine Schublade des Medizinschränkchens in der Ecke und holt ein großes braunes Paket hervor, das sie mir mit breitem Grinsen überreicht.

Ich nehme es entgegen und mache es auf. Darin kommen viele Lagen Stoff zum Vorschein, die ich vorsichtig auseinanderfalte. Es ist ein langer, dunkler Rock. Ich mustere ihn stirnrunzelnd. Ich trage gerne meine bequeme alte Hose, doch dann entdecke ich die Farben, die über den Saum laufen.