Das Männleinlaufen - Renate Krüger - E-Book

Das Männleinlaufen E-Book

Renate Krüger

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt, als das „Männleinlaufen“, jenes berühmte mechanische Uhrwerk Nürnbergs, stehenbleibt, eine der Figuren abstürzt und Jockel Wolgemut, der Schelm, beschließt, am närrischen Schembartumzug durch die Stadt teilzunehmen. Er verkleidet sich als Fugger, als Mitglied der reichen Kaufmannsfamilie also, von deren Geld und Einfluss die Fürsten des ganzen Reiches abhängig sind. Jockel fühlt sich in seinem Element, er hatte die Idee zu dieser Maskerade und lässt die Männlein tanzen. Da wird er entdeckt von einem echten Fugger, und es kommt zu einem unglaublichen Angebot: Jockel soll mit ihm tauschen, soll seine Rolle wirklich spielen dürfen, nicht nur zum Spaß. Jockel entdeckt eine unbekannte Welt mit vielen Widersprüchen, erlebt Höhen und Tiefen und beschließt, sich nicht mehr von anderen in Bewegung setzen zu lassen, sondern ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Titel erschien auch in tschechischer Sprache. INHALT: 1. Die Männlein bleiben stehen 2. Jockel läuft Schembart 3. Das Fuggerhaus 4. Jockel unterwegs 5. Rückkehr Sach- und Personenerklärung

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Impressum

Renate Krüger

Das Männleinlaufen

Eine Alt-Nürnberger Schelmengeschichte über einen Lebkuchenbäcker

ISBN 978-3-86394-307-3 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Renate Krüger unter Verwendung des Bildes „Schembartläufer“ von einem unbekannten Künstler, 1492.

Das Buch erschien erstmals 1983 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

© 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Die Männlein bleiben stehen

Nürnberg aus Hartmann Schedels Weltchronik

Der neunzehnjährige Lebkuchenbäcker Jockel Wolgemut fühlt sich unbehaglich, als er plötzlich in die Rolle eines Angeklagten kommt und von scharfen Blicken und lauten Beschuldigungen des Vogtes der Nürnberger Frauenkirche zu Boden gedrückt wird. Dabei gilt dieses Verhör in der spitzgiebeligen kalten Kirchenvogtei gar nicht ihm, sondern dem jungen Maler Barthel Beham, und es will nicht in seinen Kopf, dass der Kirchenvogt so mit einem Maler umspringen darf. Maler sind angesehen in Nürnberg, und nun gar dieser, Kind einer alteingesessenen Familie, Schüler von Albrecht Dürer! Bei den Worten des Kirchenvogtes denkt Jockel bald an das Bellen eines Hundes, bald auch an das Fauchen einer Katze und das Stampfen eines Pferdes. Es kann also nicht so weit her sein mit dem Ansehen dieses Malers, denkt er, und ich werde wohl gut daran tun, mich von ihm abzusetzen.

Nun schreit der Kirchenvogt: »Meint Ihr, Maler Beham, wir lassen uns von Euch unsere ganze Ordnung durcheinanderbringen?«

Wir, sagt er. Unsere, sagt er. Wir haben unser Recht und unsere Macht, und du bist allein, du wirst schon sehen …

Der Maler Beham sagt ruhig: »Dazu braucht Ihr mich nicht mehr, Kirchenvogt, Eure Nürnberger Ordnung hat viele Risse und Löcher. Ist es ein Wunder, dass Eure Männlein darüber stolpern und stehen bleiben?«

»Ihr habt sie angehalten, die Männlein! Noch nie sind sie von selbst stehen geblieben!«

»Es wird Zeit dazu«, erwidert Barthel Beham. Dem Kirchenvogt bleibt das Wort im Mund stecken.

Jeden Mittag, wenn es langsam auf zwölf geht, versammeln sich viele Nürnberger an der Giebelseite der Frauenkirche, um das Männleinlaufen zu sehen, das sie zwar längst alle kennen, von dem sie aber doch immer wieder gefesselt werden.

Wenn der erste Mittagsschlag über den Hauptmarkt hallt, eröffnet die Figur des Ausrufers unter der vergoldeten Uhr das Spiel mit dem Geläut eines Glöckchens. Dazu öffnet und schließt er seinen nicht gerade klein geratenen Mund wie ein Nussknacker. Wenige Augenblicke später beginnt der Ordner des Aufzuges im anderen Fensterchen unter der Uhr seine Amtstätigkeit und gibt mit einem Stäbchen den Takt für die Begleitmusik an. Zwei Posaunenbläser, ein Trommelschläger und ein Flötenpfeifer wetteifern miteinander. Sie mühen sich zwar nur stumm ab, und doch ist der Nürnberger Hauptmarkt von Musik erfüllt wie bei den prächtigen Aufzügen des Rates. Feierlich schreiten nun nacheinander sieben Figuren aus einem Pförtchen des Kirchengiebels in ihren roten Mänteln und den Kragen aus weißem Hermelinfell, auf dem die Schwanzenden der wertvollen Pelztierchen als schwarze Tupfer sitzen.

Für wen nun diese feierliche Pracht? Für den Kaiser natürlich! Der sitzt im Herrschergewand auf seinem Thron, lässt sich dreimal von den Kurfürsten umrunden und neigt gnädig und gut gelaunt sein Zepter, unter das sich die Kurfürsten beugen müssen, bevor sie wieder in Ihrem Türchen verschwinden dürfen.

So geschieht es jeden Mittag, nur eben heute nicht. Gerade als sich der Kurfürst von Sachsen, die bemalte Figur, versteht sich, vor dem Kaiser verneigen sollte, blieb der Männleinzug einfach stehen. Ob sich das Kurfürstenmännlein seine Ehrenbezeigung wohl noch abgerungen hat? Augenblicklich wendet der Kurfürst von Sachsen der Kaiserlichen Majestät den Rücken zu und schaut triumphierend auf den Hauptmarkt herunter, auf dem die Leute mit gerunzelten Stirnen und unfreundlichen Mienen stehen.

Kaiser und Kurfürsten aus Hartmann Schedels Weltchronik

»Die Männlein sind stehen geblieben«, hört es Jockel schon wieder von draußen schreien, und es trifft ihn wie ein Peitschenhieb. Gleich wird die Reihe an ihn kommen, und mit einem Lebkuchenbäcker wird der Kirchenvogt noch härter umspringen als mit einem Maler. Hoffentlich geht es nicht dem Vater an den Kragen, der leidet schon genug an seinen Zahnschmerzen!

Vom Rat beauftragt und bezahlt, hat der Uhrmachermeister Melchior Wolgemut über das Männleinlaufen zu wachen. Es blieb ihm jedoch seiner kranken Zähne wegen nichts anderes übrig, als sich von Jockel vertreten zu lassen, denn ein Gast aus Wittenberg wünschte zusammen mit dem Maler Beham das mechanische Kunstwerk ganz aus der Nähe zu sehen. Jockel war stolz darauf, denn er versteht vom Männleinlaufen und von der Kunstuhr genauso viel wie vom Lebkuchenbacken. Wie konnte es nur passieren, dass …

Auweih, denkt Jockel, als sich der Kirchenvogt erhebt und mit vorgestrecktem Kopf auf ihn zustampft. Du hast nicht aufgepasst, wird er gleich sagen, du hast nicht – du bist nicht … Aber nichts davon.

»Lebkuchenbäcker bist du? Ein guter alter Nürnberger Beruf!«

Das Gesicht des Kirchenvogtes geht auseinander wie Teig, die Nase schnuppert, die Augen blinzeln. Jockel ist erleichtert. Gleich morgen wird er dem Kirchenvogt einen Korb voller Lebkuchen bringen.

»Was sollte dir daran liegen, den Männleinzug aufzuhalten? Der da war es!«

Er zeigt auf Barthel Beham.

»Der da gehört vor den Rat!«

Der Maler antwortet ruhig: »Ich bin für Euch nicht Der da, Ihr kennt mich, und es herrscht in Nürnberg noch immer der Brauch, einander beim Namen zu nennen. Und warum habt Ihr den anderen nicht fest gehalten, den Wittenberger?«

Er erhält keine Antwort; die Tür wird aufgerissen, und eine Traube von Menschen drängt herein. Heute ist wegen des Markttages viel Volk in die Stadt geströmt.

»Was ist nun mit den Männlein? Sie stehen noch immer und rühren sich nicht!«

»Macht, dass ihr hinauskommt!«, schreit der Kirchenvogt. »Mein Kopf ist voll genug!«

Wer bringt mir das Männleinlaufen wieder in Ordnung? geht es ihm durch und durch.

Das allein ist jetzt wichtig, auch, damit die Marktbauern nicht aufsässig werden. Viele sind von weit hergekommen. Das Männleinlaufen ist der Abschluss ihres Markttages. Sie werden murren, aber das wäre nicht das Schlimmste. In Kürze wird hier in Nürnberg der Reichstag stattfinden; die Stadt rüstet zum Empfang des Kaisers und der Großen des Reiches. Und Nürnberg ohne Männleinlaufen? Das ist doch die Huldigung an den Kaiser! Ihm zu Ehren wurde diese Kunstuhr gebaut, damals, als die Goldene Bulle erlassen wurde, das Gesetz zur Kaiserwahl. Der Kaiser soll von den sieben Kurfürsten des Reiches gewählt werden! Seitdem sind zwar gut anderthalb Jahrhunderte vergangen, doch das Gesetz gilt noch immer und muss auch weiterhin gültig bleiben. Frühestens morgen kann Meister Wolgemut wieder aufstehen, nachdem ihm der Bader einen Zahn ausgebrochen hat, denkt der Kirchenvogt weiter. Ein anderer Uhrmacher oder Mechanicus müsste her. Der aber würde vielleicht viel fragen und schwätzen. Wie konntet Ihr so nachlässig sein und Fremde allein an das Nürnberger Wunderwerk lassen? Aber der Wittenberger Gast hatte ein Geldstück aus dem Wams gezogen und es in der Wintersonne blitzen lassen. Bleibt nur in Eurem Stübchen, Kirchenvogt, wir finden uns dort oben schon allein zurecht! Er hatte es genommen: Das Geldstück war in seine Hosentasche gerutscht. Es ließe sich zu hohen Zinsen verleihen, so lange, bis es sich verdoppelt hätte. Nein, keinen anderen Mechanicus …

»Verstehst du etwas von der Mechanik des Werkes, Jockel? Und Ihr, Barthel Beham?«, fragt der Kirchenvogt.

Die beiden nicken.

»Aber Ihr wolltet mich doch vor den Rat bringen!«

»Das hat Zeit. Zuerst lasst die Männlein wieder laufen. Aber ich komme mit.«

Das wird ein Schauspiel, denkt Jockel, der dicke Kirchenvogt zwischen den Rädern und Hebeln im engen Kirchengiebel! Auch der Wittenberger hat sich da oben rumgequält, und der war ziemlich dünn.

Barthel Beham sagt: »Um der schaulustigen Marktbauern willen! Was hat ihnen Nürnberg sonst schon zu bieten? Ich habe vielen Uhrmachern und Mechanikkünstlern auf die Finger gesehen, ich könnte die Männlein tanzen lassen, wenn die Zeiten danach wären! Einmal werden sie springen, verlasst Euch drauf!«

Der Kirchenvogt ist schon aus dem Hause gelaufen und hört den Maler nicht mehr.

»Geduldet euch, Leute! Gleich laufen die Männlein wieder!«

Er fühlt nach dem Geldstück in der Hosentasche, reißt das Giebeltürchen der Frauenkirche auf, saust die Wendeltreppe hoch, bleibt aber nach der zehnten Stufe stehen, da ihm die Luft ausgegangen ist. Die beiden sind schon hinter ihm.

»Warum geht es nicht weiter?«, ruft Barthel. »Ist Eure eigene Mechanik auch in Unordnung geraten? Euch könnte ich allerdings nicht helfen.«

Jockel zieht den Kopf bei Behams Worten ein, er empfindet sie als ungehörig und frech; schließlich ist der Vogt an der Nürnberger Frauenkirche eine Respektsperson, die man achten muss!

Der möchte denn auch poltern und schimpfen, kann aber nicht, weil er sich Stufe für Stufe hochschnaufen muss. Ob es doch der Wittenberger war? Was wollte der überhaupt hier oben? Er interessiere sich für die Mechanik, hatte er gesagt. Der Kirchenvogt muss wieder stehen bleiben und sieht durch einen spitzbogigen Fensterschlitz auf den Hauptmarkt hinunter. Die beiden anderen haben ihn schon eingeholt. So schlurft er zum nächsten Fenster, aus dem man bereits die flach gewellte Landschaft des Frankenlandes sehen kann. Sein Herz schlägt bis zum Hals.

»Wartet einen Augenblick, Maler Beham«, bittet Jockel, »Lasst dem Kirchenvogt Zeit. Was wollt Ihr damit sagen, die Nürnberger Ordnung hätte Risse und Löcher? Wie meint Ihr das?«

»Mach doch die Augen auf, Jockel!«

»Die sind offen!«

»Der Mensch lernt sehr langsam sehen, sogar der beste Maler …«

Wie kommt Barthel Beham zu solcher Einsicht? Er ist freilich immer mit offenen Augen durch die Welt, durch die Nürnberger Welt gegangen, und nicht nur, weil er von Kindesbeinen an Maler werden wollte.

»Macht die Augen auf«, hatte der Lehrmeister Albrecht Dürer immer wieder gesagt, als er Barthel Beham und seinen Bruder Sebald in die Anfangsgründe des Malens und Zeichnens einführte, »die Nürnberger Welt ist ein Paradies für Maler!«

Davon ist Barthel auch heute noch überzeugt. Nürnberg ist nicht nur eine Stadt, sondern eine Welt. Mit ihr hält keine andere Stadt des Reiches einen Vergleich aus. In Nürnberg ist alles größer, höher, besser, prächtiger, reicher. Schön längst haben die Nürnberger einen dreifachen Mauerring um ihre Stadt gezogen. Zwischen den Mauern staut sich Wasser in einem tiefen Graben, ein unüberwindliches Hindernis. In regelmäßigen Abständen erheben sich spitze Türme über die Mauern, gewähren trutzige Tore einen scharf bewachten Zugang in die Stadt. Eingeschlossen in den Schutz der Mauern liegen die Kirchen, die Klöster, die Spitäler, die Patrizierhäuser. Die anderen, die kleineren Häuser gehören auch noch dazu, aber die fallen nicht so ins Auge. Im Norden der Stadtmauer, auf der höchsten Stelle des Nürnberger Geländes, erhebt sich eine weit ausgreifende, vielgliedrige Burg, die auch als kaiserliche Stadtresidenz dient. Im Schutz und Schatten der Mauern und der Burg dürfen sich die Einwohner mit besonderem Stolz Bürger nennen.

Das Herz der Nürnberger Welt aber ist das Rathaus, genauer gesagt, die Ratsstube. Hier haben die Ratsherren stets als Mahnung und Abschreckung die Holzfigur des auf einem Drachen sitzenden ungerechten Richters vor Augen. Sie selbst halten sich natürlich für gerecht. Der prächtigste Raum des Rathauses ist der Große Saal mit seinen zahlreichen kostbaren Tafelbildern, Wandgemälden und Figuren. Durch die großen spitzbogigen Fenster fällt farbiges Licht und erhöht seinen Glanz. Hier versammeln sich die vornehmsten Nürnberger zu Tanz und gemessener Lustbarkeit, hier empfängt die Stadt ihre angesehenen Gäste. Barthel Beham hat noch nie dort getanzt.

Nürnberg hat es weit gebracht. Fast alle großen europäischen Handelsstraßen sind zuerst von Nürnberger Füßen ausgetreten worden. Die Handelszüge kommen und gehen von und nach Venedig und Genua, Lyon und Paris, Antwerpen und EI-Kahira. Nürnberg hat viel zu bieten. Tuchhandel und Färberei stehen in Blüte. In zahlreichen Gießereien werden nicht nur Löffel gegossen, sondern auch die modernsten mathematisch- physikalischen Instrumente, Taschenuhren werden gefertigt, die man Nürnberger Ei nennt, auch Feuerschlösser für Gewehre. Nürnberg ist auf der Höhe der Zeit, Nürnberg ist des Reiches Glanz und Gloria.

Besonders angesehene Bürger dürfen ein Wappen nach Herrenart führen, und davon macht auch der Mäler Albrecht Dürer, der unmittelbar unter der Burg am Tiergärtnertor der Stadtmauer wohnt, gern Gebrauch. Aus seinem Wappen spricht ein großer Lebenswunsch: es zeigt eine Tür, deren beide Flügel weit geöffnet sind.

Die Welt kann und soll ungehindert eindringen. Doch was kommt da alles?

Petrarca-Meister: Bauern mit Bundschuhfahne

Barthel Beham sieht, dass Nürnberger Politik jetzt nicht mehr nur in den stolzen Häusern der Ratspatrizier oder in den vielen Räumen des Rathauses gemacht wird, sondern auch auf Straßen, Plätzen und in verborgenen Winkeln, in Wirtshäusern und auf Kirchhöfen. Die Nürnberger Mauerringe reichen nicht mehr aus, alle Bürger mit ihren Wünschen, Nöten und mit ihrer stärker werdenden Unzufriedenheit zu umfassen und zu vereinen.

Solche Erfahrungen treten immer stärker in Barthels Leben. Seit er einem angeblichen Aufrührer am Pranger des Nürnberger Hauptmarktes begegnet ist, schärft sich sein Blick für die Nürnberger Risse und Löcher.

»Weshalb bist du hier angekettet?«, fragte er den Mann am Pranger. Der zuckte zuerst vor Angst zusammen, beruhigte sich aber schnell wieder.

»Ich bin ein Bauer aus Katzwang«, antwortete er leise, »und habe falsche Gewichte gebraucht und zu hohe Preise genommen, dafür werde ich bestraft …«

»Weshalb hast du das getan?«

»Nicht aus Übermut, Herr, gewiss nicht … Ich brauche dringend Geld, denn ich kann den Zins an meinen Grundherrn nicht zahlen, und meine Vorratskammer ist eingestürzt, doch der Vogt hat mir kein Holz gegeben für eine neue. Das letzte Huhn hat er mir genommen, mir nur Mais und Äpfel gelassen, und wenn ich auf dem Markt mehr dafür bekommen hätte, wäre ich noch einmal gerettet … Der Vogt hat uns die Scheune niedergebrannt, weil wir ihm kein Korn geben konnten, denn wir hatten keins …«

Barthel Beham stand und schaute. Ein anderer Bauer gesellte sich zu ihm und flüsterte: »Der ungerechte Richter aus der Nürnberger Ratsstube ist auf seinem Drachen ausgefahren und herrscht nun über uns alle. Ihn sollten wir ergreifen und hier an den Pranger stellen! Was schaden ein paar Unzen falsches Gewicht und ein paar Pfennige falscher Preis? Der ungerechte Richter ist schuld! Die Nürnberger schützen die Willkür der Herren. Der Drache ist Herr über Nürnberg.«

»Ich kann Euch nicht helfen«, seufzte Barthel Beham.

Übrigens war kurze Zeit nach ihm auch Jockel Wolgemut am Pranger vorübergegangen und für einen Augenblick stehen geblieben, ohne jedoch trüben Gedanken zu begegnen. Man kann ja ruhig einmal über die Stränge schlagen, lustig sein und Schabernack treiben, aber es darf nicht zu weit gehen, und Ordnung muss sein, wo kämen wir sonst hin? Ganz recht geschieht diesem Missetäter, dass er dort steht und sich verhöhnen lassen muss, Strafe muss sein. Jockel vergaß dieses Bild sofort wieder, obgleich er doch auch seine Augen weit aufgemacht hatte.

Unten auf dem Markt an der Frauenkirche steht der Fremde aus Wittenberg und belustigt sich hinter seinem undurchdringlichen Gesicht über die bestürzten Mienen der Umstehenden, über ihr Geflüster und die halblauten Sprachfetzen. Niemand hat ihn aufgehalten, als er vom Giebel der Frauenkirche herunterstieg; was kann ihm denn auch schon geschehen …

»Ein Unglück, ein großes Unglück steht uns bevor«, dringt es an sein Ohr. »Wie zwei halbe Regenbogen, wie Blut auf der Wäschebleiche, wie ein Kalb mit zwei Köpfen … Wehe über uns! Die Männlein laufen nicht mehr!«

Unsinn, aber nützlicher, denkt der Wittenberger. Es ist doch nur, weil man in Wittenberg auch ein solches mechanisches Kunstwerk haben möchte, ich musste eben dort oben ein bisschen herumprobieren. Und dabei ist es geschehen, dass der sächsische Kurfürst einfach stehen blieb. Schlimm kann der Schaden nicht sein. Den Vogt, diese dicke Kirchenmaus, habe ich gut bezahlt. Für so viel Geld kann er sich ruhig einmal aufregen! Ob der Maler jetzt noch bereit ist, mir eine Zeichnung zu liefern? Aber er gehört nicht zu den Reichen, er wird sich schon um mein Geld bemühen. Um das Geld meines Kurfürsten … Und für den werde ich in Wittenberg die Männlein laufen lassen. Bauern, Bürger und Edelleute sollen um unseren allergnädigsten Herrn Kurfürsten tanzen.

Der Wittenberger stammt eigentlich aus Leipzig und heißt Hans Dreyer. Aber seit er am Wittenberger Hof lebt, nennt er sich Johannes Tertius, denn er hat in Leipzig die Hohe Schule besucht und kann mühelos seinen Namen in eine lateinische Form übersetzen. Überhaupt versteht er ziemlich viel: Briefe schreiben, Unterschriften fälschen, Heiltränke bereiten; Uhren bauen und reparieren, Schnaps brennen, Orgelpfeifen stimmen und vor allem kann er die Nativität stellen, das Schicksal eines Menschen aus dem Stand der Gestirne ablesen. Mit allen diesen Fertigkeiten hat er schon viel Geld erworben und könnte es an Reichtum mit manchem begüterten Nürnberger Bürger aufnehmen. Johannes Tertius ist nicht hauptsächlich wegen des Männleinlaufens, sondern wegen des bevorstehenden Reichstages nach Nürnberg gekommen. Er muss dafür sorgen, dass Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen hier ein Quartier ohne Mäuse und ohne Lauscher, aber mit einem weichen bequemen Bett findet. Er wird auch erkunden, wo der Kaiser wohnt und was die Nürnberger so auf der Straße sagen. Hier auf dem Markt hört er schon viel.

Nun tut sich etwas.

»Die Männlein laufen wieder!«, ruft man. »Aber verkehrt herum! Was hat das nun zu bedeuten?«

Der Kirchenvogt hoch oben im Giebelgebälk ist außer sich. Da hatte er nun gehofft, die beiden würden es schaffen.

»Verkehrt, Beham, so schickt die Männlein doch in die andere Richtung!«

»Ich kann nicht, ich stecke nicht drin in dem Werk«, gibt Barthel Beham zurück. »Seid doch froh, dass sie überhaupt laufen!«

»Unmöglich!«, schreit der Kirchenvogt; am liebsten möchte er dazwischenfahren, aber wegen seines Leibesumfanges kann er sich nicht näher an das Werk heranschieben.

»Die Männlein müssen in ihr Gehäuse zurück, und dann stellen wir das Werk ab«, sagt Jockel. »Besser, es steht still, als dass es anders herumläuft.«

»Eine schlechte Welt, die besser stillsteht, als dass sie eine andere Richtung nimmt!«

Barthel Beham zerrt so aufgebracht an der Figur des Wittenberger Kurfürsten herum, dass sie sich lockert und auf den Markt herunterstürzt. Ein Aufschrei geht durch die Menge.

»Die Männlein stürzen ab!«

Jockel stehen die Haare zu Berge. Sein Vater geht mit den Figuren so sorgsam um, als seien sie lebende Menschen! Kann oder will der Beham nicht aufpassen? Jockel steckt den Kopf durch eine Fensteröffnung und starrt auf den Markt herunter. Der Kurfürst wird in hundert Stücke zerbrochen sein, und der Vater muss eine neue Figur herstellen lassen. Aber nein, sie ist auf einen großen, mit Heu und Stroh beladenen Wagen gefallen, den ein Bauer unmittelbar an der Kirchenwand abgestellt hat, wo es eigentlich verboten ist. Der rote Mantel leuchtet, die Figur scheint unversehrt.

Beham springt die Wendeltreppe herunter, zerrt das Kurfürstenmännlein vom Heuwagen, legt es sich über die Schulter und eilt wieder auf den Giebel.

»Ein Kurfürst fällt immer weich«, ruft er dem Kirchenvogt entgegen, der vor Schreck und Wut zittert.

»Komm her, hilf mir!«, ruft Beham Jockel zu, und der beeilt sich, obgleich der Maler ihm eigentlich nicht zu befehlen hat.

Beham stellt bald befriedigt fest, dass die Kurfürstenfigur wieder sicher und fest auf ihrem eisernen Dorn steht.

»Niemand kann beweisen, dass Ihr der Schuldige seid«, flüstert Jockel »Vielleicht war es der Wittenberger …«, setzt er noch leiser hinzu: »Mein Vater könnte ein Wörtchen für Euch einlegen.«

»Ach, du kleiner Lebkuchenbäcker!«, gibt Beham zurück, »wer wird dir und deinem Vater glauben?«

»Warum seid Ihr überhaupt dem Wittenberger gefolgt?«, fragt Jockel verärgert dagegen. »Ihr kanntet ihn doch auch nicht!«

»Ja, warum? Vielleicht wollte ich Neues erfahren. Vielleicht hoffte ich sogar, es werde eine kleine Schrift des Dr. Martin Luther für mich abfallen. Aber nichts davon.«

Dann wendet er sich an den Kirchenvogt und ruft: »Es ist alles wieder in Ordnung mit den Männlein! Wie sollen sie nun laufen?«

»Vorwärts, als sei nichts geschehen!«

»Vorwärts, als sei nichts geschehen …«, wiederholt Beham.

Knarrend setzt sich das Werk in Bewegung. Der Kaiser senkt wohlwollend das Zepter bei der Verneigung seiner Kurfürsten und scheint auch noch zu lächeln, nachdem der Letzte im kleinen Türchen verschwunden ist. Der Kaiser kann zufrieden sein. Der Rat der Stadt Nürnberg ist es nicht.

Unten am Giebeltürchen warten zwei Stadtknechte und befehlen dem Kirchenvogt, Jockel Wolgemut und Barthel Beham, sofort mit ihnen ins Rathaus zu kommen. Natürlich hat man auch dort gemerkt, dass am Männleingiebel etwas nicht in Ordnung ist.

»Lasst mich aus dem Spiel, ich habe damit nichts zu tun, ich kann nichts dafür, dass Meister Wolgemut zu Bett liegt; ich habe jetzt überhaupt keine Zeit«, beteuert der Kirchenvogt.

»Nichts da, Ihr kommt mit! Alle!«

»Mich dürft ihr höflich bitten, aber nicht zwingen«, sagt Barthel Beham. »Ich bin ein unbescholtener Nürnberger Bürger und habe kein schlechtes Gewissen.«

Die Stadtknechte gehen darauf nicht ein. Jockel bewundert den Maler. Dass der in Gegenwart von bewaffneten Ordnungshütern so ruhig bleiben kann! Er selber zittert an Hand und Fuß und bringt vor Aufregung kein Wort heraus. Er hat ein schlechtes Gewissen. Wenn der Vater davon erfährt, wird er seine Zahnschmerzen vergessen. Du hast mich schlecht vertreten, Jockel, wird er sagen. Und Jockel hört auch noch andere Worte. Ein Glück, dass du nur Lebkuchenbäcker bist. Lebkuchen verlangen nicht so viel Verantwortung.

An diesem Tag wird Jockel und dem Nürnberger Rat allerlei zugemutet. In der kleinen Schreibstube des Rathauses beginnen zwei Ratsherren niederen Ranges und der Schreiber des Stadtrichters eine Befragung. Es geht recht gemütlich zu; sehr ernst nehmen die Ratsherren diese Sache nicht. Endlich einmal etwas anderes als Verstöße gegen die Marktordnung, kleine Diebereien, Schimpfworte. Mal ein kleiner Schabernack!

»Das Männleinlaufen ist ein Herzstück unserer Stadt«, sagt der ältere Ratsherr, der zum Frühstück zehn kurze Bratwürste mit Kraut gegessen und zwei große Humpen Kulmbacher Bier getrunken hat. Der kleine Verdauungsärger kommt ihm wie gerufen.

»Solange die Männlein um den Kaiser laufen, ist unsere Welt noch in Ordnung!«

Niemand von den drei Befragten kann oder will sagen, wieso und weshalb die Männlein stehen geblieben sind.

»Gut, sehen wir uns die Sache an Ort und Stelle an!«, beschließt der jüngere Ratsherr und freut sich, dass er dem älteren mit dem Treppensteigen eins auswischen kann. Das wird seiner Verdauung auch gut tun.

»Was? Ich soll noch einmal in den Männleinkäfig klettern?«, entrüstet sich auch der Kirchenvogt.

»Ihr seid vom Rat zum Aufseher der Frauenkirche bestellt, es ist Eure Pflicht!«

Und der Kirchenvogt gehorcht.

Jockels Herz schlägt zwar noch immer bis zum Hals, zugleich fühlt er sich aber auch geschmeichelt darüber, dass sich viele nach ihnen umdrehen. Wegen der beiden Ratsherren natürlich. Auch der Stadtschreiber zieht die Blicke an. Es ist fast schon ein kleiner Aufzug. Jockel springt vor, schließt das Giebeltürchen auf.

»Bitte, die Herren!«

Wenn doch jetzt der Vater hier sein könnte; Ratsherren und ein Stadtschreiber in seinem Reich! Jockel wird sie in dem Arbeitskämmerchen dort oben bewirten. Er weiß, wo die Weinflaschen des Vaters stehen, und Lebkuchen hatte er wegen des Wittenberger Gastes schon mitgenommen. Man war jedoch nicht zu dem beabsichtigten Imbiss gekommen. Jockel verliert alle Angst, als sich Ratsherren und Stadtschreiber über sein Angebot erfreut zeigen und sich sofort in Meister Wolgemuts aufgeräumter Werkstattkammer niederlassen. In der Giebelwand gurren die Tauben. Die große Kunstuhr erfüllt alles mit ihrem Ticken und Rasseln.

»Hier ist gut sein«, sagt der ältere Ratsherr, »hier sieht es aus wie in einer zuverlässigen Werkstatt, wohl bekomm's!«

Er erhebt sein gefülltes Glas, als sei er der Hausherr, während Jockel die Lebkuchen auf einem Tuch ausbreitet. Der Stadtschreiber schnuppert: »Ganz frisch! Dafür können die Männlein ruhig einmal stehen bleiben!«

Der ältere Ratsherr runzelt die Stirn.

»Das möchte ich aber nicht gehört haben! Wir müssen diesen Fall untersuchen.«

Barthel Beham ist bis jetzt still gewesen und hat weder auf Lebkuchen noch auf Wein Appetit gezeigt. Er schaut aus dem Fenster, und das bunte Bild freut ihn.

»Wisst Ihr was?«, platzt er plötzlich hervor. »Es war höchste Zeit, dass die Männlein einmal stehen blieben! Ich glaube, sie sind an allem schuld!«

Jockel traut seinen Ohren nicht, und dem Kirchenvogt bleibt der Bissen im Hals stecken.

»Also habt Ihr es getan! Ich habe es ja gleich gesagt!«

»Nichts habe ich! Ich werde mich nicht an fremdem Eigentum vergreifen. Aber ich habe soeben die Männlein in meinem Kopf angehalten, und Ihr glaubt nicht, wie wohl ich mich dabei fühle.«

»Junger Mann, sprecht Ihr im Fieber?«, fragt der ältere Ratsherr.

»Wie meint Ihr das?«, lässt sich der Schreiber vernehmen. Es hält ihn nicht auf seinem Sitz, er ist aufgesprungen.

Barthel Beham holt aus.

»Die Männlein sind nun einmal vorhanden. Nürnberg ist stolz auf dieses mechanische Kunstwerk, denn der Kaiser ist ja für die Nürnberger fast der Herrgott … Oder eine strahlende Sonne; die von den sieben Planeten umrundet wird. Nichts vermag sie aus ihrer Bahn zu werfen. An diesem Gesetz ist nicht zu rütteln. Alle, die wir unter dem Männleinlaufen geboren sind, tragen es längst in unseren Köpfen. Auch hinter unserer Stirn laufen die Männlein, und wir glauben fest daran, dass es so sein muss. Warum eigentlich nicht anders? Die Männlein können uns darauf keine Antwort geben, denn sie sind auf ihre Bahn fixiert und zu einem anderen Weg nicht fähig. Man kann mit ihnen nicht reden. Ich mag nicht, wenn man mit einem nicht reden kann … Wie soll ich denn weiterkommen, da ich immer die gleiche Antwort erhalte: Die Männlein laufen, der Kaiser neigt sein Zepter, die Männlein verneigen sich und verschwinden … Es ist ja schon alles entschieden … Und das Leben? Und die Menschen? Interessiert doch die Männlein gar nicht! Die sind wie Winter und Sommer, wie Sonne und Mond, wie Gewitter und Hagel. Ihr Spiel läuft ab, und sie verschwinden. Aber in unseren Köpfen, da müssten wir sie anhalten, damit wir endlich einmal anders werden können. Müssten wir nicht vieles ändern? Viele unserer dummen Gewohnheiten zum Beispiel: Unsere trüben Gedanken. Dass wir immer gleich Ja sagen. Dass wir das meiste für selbstverständlich halten. Und wie viel müssten wir lernen! Doch dann laufen die Männlein wieder und sagen: Wozu lernen? Es liegt doch schon alles fest. Wir laufen um den Kaiser, und das ist gut und soll so bleiben!

Haltet doch die Männlein an! Lasst uns erst prüfen, was wir annehmen! Wir müssen lernen, auch nein zu sagen. Starren wir doch nicht immer von unten auf die Männlein, schauen wir weit ins Land, so wie jetzt, und werden wir anders!«

Barthel Behams Augen leuchten. Er ist aufgestanden. Von seiner Rede sind alle betroffen. Der jüngere Ratsherr und der Schreiber nicken nachdenklich. Beiden drängen sich Fragen auf die Zunge, der Schreiber spürt sogar Begeisterung. Ja, man müsste alle die Männlein in den Köpfen einfach anhalten und andere Gedanken kreisen lassen. Der Kaiser will nach Nürnberg zum Reichstag kommen; nun gut, soll er! Aber muss deshalb ganz Nürnberg kopfstehen, als gäbe es auf der Welt nur den Kaiser?

Der ältere Ratsherr aber schüttelt den Kopf.

»Unmöglich! Eure Gedanken sind unmöglich, obwohl manches gut klingt, zugegeben! Aber hütet Euch vor solchem Denken, Barthel Beham, Ihr seid noch jung und wollt es zu etwas bringen. Mit solchen Reden aber …«

Jetzt findet der Kirchenvogt eine Kerbe, in die er schlagen kann.

»Eure Reden sind gotteslästerlich, Maler Beham, Ihr zweifelt an den Männlein, an der Macht der Mächtigen! Es sollte mich nicht wundern, wenn Ihr auch an der Allmacht Gottes zweifelt. Ihr werdet schon sehen, was Ihr davon habt. Man kann mit den Männlein nicht reden, sagt Ihr. Mit Euch sollte man ein hartes Wörtchen reden, und zwar bald!«

Barthel Beham entgegnet auf diese Worte nichts, sondern schaut aus dem Fenster ins Land hinaus. Jockel fühlt sich unbehaglich. Er bietet immer wieder Wein und Lebkuchen an, aber niemand hat Appetit, und man scheint ganz vergessen zu haben, weshalb man sich die steilen Treppen hinaufbemüht hat. Es ist schon gleich, wer die Männlein zum Stehen gebracht hat. Was wiegt das schon neben diesen ungeheuerlichen Worten von Barthel Beham?

Jockel fühlt sich hin- und hergerissen. Er könnte die Worte eines jeden Anwesenden zu seiner eigenen Meinung machen, am besten die des Malers. Wenn er das doch noch einmal hören könnte, ganz allein. Die anderen müssten gehen, die dürften nicht dagegenreden und ihn ängstlich machen. Aber sie sind nun einmal da, und er muss auch ihnen recht geben. So würde der Vater auch sprechen, und dem Vater muss man gehorchen, wo käme man sonst hin? Oder ist auch der Vater nur solch ein Männlein im Kopf, das man einfach anhalten kann? Halt, Jockel, hier darfst du nicht weiterdenken, sonst kommt alles ins Wanken … Die Worte, die der Kirchenvogt da hervorgestoßen hat, klingen noch immer hart, ja furchterregend durch das Werkstattkämmerchen. Dann ist Jockel der ältere Ratsherr schon lieber. Der hat sich jetzt als Erster aus dem Bann des Gespräches gelöst, hält Jockel sein leeres Weinglas entgegen und beißt in einen runden duftenden Lebkuchen.

»Junge Leute reden viel und vieles«, sagt er mit vollem Mund. »Jeder muss sich die Hörner abstoßen. Doch dazu sind wir ja nicht hergekommen. Zeigt uns jetzt das Männleinwerk, damit wir uns selbst eine Meinung bilden können. Ich wette, der Beham war es nicht, der hat ganz andere Flausen im Kopf.«

Jockel führt den älteren Ratsherrn als Ersten an die Stelle, von wo er den Mechanismus sehen kann. Aber es ist nicht sehr hell hier oben, und der Ratsherr findet sich in dem Gewirr von Rädchen, Hebeln und Seilen nicht zurecht.

»Schon gut«, sagt er. »Da kann schon leicht etwas durcheinanderkommen. Aber lasst nie wieder Fremde hier herauf.«

Plötzlich beginnt es von den beiden großen Nürnberger Kirchen zu läuten, ungewöhnlich für diese Tageszeit. Was ist? Feuer?

Der Kirchenvogt erspäht als Erster die bunte Schlange, die sich aus östlicher Richtung auf Nürnberg zuwälzt. Es blitzt von Lanzen, Helmen, Rüstungen. An der Spitze des Zuges kann man schon Pferde unterscheiden.

»Seht! Der Kaiser kommt zum Reichstag!«, schreit der Kirchenvogt. Was wiegen jetzt die stehen gebliebenen Männlein neben dem lebendigen Kaiser!

»Läuten! Wir müssen läuten!«, schreit er; greift selbst nach einem Glockenseil und wirft Jockel die beiden anderen zu. Es wäre ja noch schöner, wenn man in Nürnberg nur die Glocken der beiden großen Kirchen, der Lorenzer und der Sebalder Kirche, hörte! Die beiden Ratsherren und der Schreiber sind eher verstimmt als erfreut. Weshalb haben sie nichts davon erfahren, dass der Tross des Kaisers so nahe vor der Stadt steht? Nun müssen sie schleunigst diese Untersuchung ohne Ergebnis abbrechen und Hals über Kopf zum Rathaus eilen, ihre Festroben anlegen und mit den beiden Losungern und den anderen Ratsherren dem Kaiser entgegenschreiten. Mit dem hätten sie eigentlich erst in ein paar Tagen gerechnet.

»Und was wird aus mir?«, fragt Barthel Beham. »Kann ich auch gehen?«

»Ja, natürlich geht nur; es ist ja alles wieder in Ordnung mit dem Männleinlaufen. Vielleicht war nur ein Vogel ins Laufwerk geflogen und hat es zum Stillstand gebracht. Geht nur, damit auch Ihr den Kaiser sehen könnt«, sagt der ältere Ratsherr.

Barthel Beham schüttelt den Kopf, als verstehe er nicht. Jemand keucht die Wendeltreppe hoch. Die Ratsherren sind ungehalten. Sie wollten doch absteigen, und nun versperrt ihnen jemand den Weg. Es ist Meister Wolgemut. An einem solchen Tag muss er auf seinem Posten sein, und wenn auch sein ganzes Gesicht geschwollen ist und er vor Schmerzen kaum sprechen kann.

»Der Kaiser kommt!«, zischelt er durch das wollene Tuch, das seine Frau ihm wegen der Zahnschmerzen um den Kopf gebunden hat. Die Ratsherren nicken nur und eilen an ihm vorbei. Der Kirchenvogt und Jockel läuten, dass das Gebälk nur so zittert; sie können sich nicht um Meister Wolgemut kümmern.

»Der Kaiser kommt!«, flüstert Wolgemut noch einmal, und Barthel Beham nickt.

»Ja, und alle Männlein laufen wie von Wespen gestochen. Die Ratsherrenmännlein, das Schreibermännlein, das Kirchenvogtmännlein und die Wolgemutmännlein. Nicht einmal von den schlimmsten Zahnschmerzen lassen sie sich zurückhalten. Ich fürchte, auch in meinem Kopf laufen die Männlein wieder. Gehabt Euch wohl, Meister Wolgemut!«

Diese Worte dringen jedoch nicht durch das dicke Tuch, das über Meister Wolgemuts Ohren liegt.

Nürnberg gleicht einem Ameisenhaufen.

»Hat  man denn nicht eher gewusst, dass der Kaiser heute schon kommt?«, fragt Beham einen Stadtwächter auf dem Markt.

»Wir haben ihn erst in den nächsten Tagen erwartet. Aber der Kaiser wollte seine Lieblingsstadt überraschen und hat das Hoflager in Altdorf eher abgebrochen.«

Der Markt leert sich. Alle laufen zum Königstor im Südosten der Stadt. Auch die Ratsherren haben sich zum Begrüßungszug aufgestellt. Fahnen werden geschwungen. Kinder schreien. Barthel Beham sieht zwei Hunden zu, die sich vor dem Schönen Brunnen balgen. Bald jagen sie sich, zwicken sich, bald werfen sie sich auf den Rücken, wehren einander kläffend ab. Ein Marktbauer packt seine nicht verkauften Reiserbesen zusammen. Er kann nicht einfach alles so stehen lassen, weglaufen und den Einzug des Kaisers bewundern. Vom Tiergärtnertor her sieht Barthel seinen Bruder Sebald kommen.

Die Brüder Beham gleichen einander sehr mit ihren frischen rosigen Gesichtern und dem weichen blonden Haar. Sie sind zwar erst wenig über zwanzig Jahre alt, doch die dichten gekräuselten Bärte lassen sie älter erscheinen. Sebald ist von raschen Bewegungen und Entschlüssen, Barthel eher nachdenklich; nicht selten gerät er ins Grübeln. Ordentlich und fleißig sind sie beide.

»Was stehst du hier herum?«, fragt Sebald. »Komm mit zum Königstor, du hast doch auch noch nie gesehen, wie ein Kaiser in Nürnberg einzieht.«

Barthel ist einverstanden, und die Brüder schlängeln sich durch das Gewühl über die Fleischbrücke, an der Lorenzkirche vorbei. An der Mauthalle haben sich so viele Menschen versammelt, dass es weder vorwärts noch rückwärtsgeht und Barthel schon umkehren möchte, doch Sebald zieht ihn am Ärmel weiter. Es gelingt ihm sogar, in der Nähe des Königstores einen erhöhten Beobachtungsplatz auf einer Treppe zu finden, und von dort aus können sie den Kaiser ganz aus der Nähe sehen. Er wird gerade von den beiden Losungern und dem Kriegshauptmann der Stadt Nürnberg begrüßt, und diese Begrüßung fällt besonders wortreich und unterwürfig aus, da der Kaiser ja der allerhöchste Herr der Freien Reichsstadt ist. Man huldigt ihm in klangreichen kunstvollen lateinischen Worten, wie es bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Die Muttersprache des Kaisers ist das Französische, er versteht kaum Deutsch. Alles Deutsche ist ihm fremd. Er reitet auf einem Schimmel, dessen dunkles Zaumzeug von Vergoldungen nur so blitzt. Er trägt einen Pelzhut, von einem Diadem umschlossen, einen roten, mit Pelz gefütterten und besetzten Samtumhang, weite weiche Stiefel von feinstem Saffianleder. Man versichert immer wieder, dass die Stadt Nürnberg ihm unverbrüchlich treu, ergeben und gehorsam ist.

Hans Burgkmair: Kaiser Maximilian

»Diese gute Stadt wird alle Eure Befehle, Anordnungen und Wünsche achten, auf Eure Stadt Nürnberg könnt Ihr Euch immer und zu jeder Zeit verlassen!«, verspricht der Erste Losunger, und es hört sich an wie ein auswendig gelernter Gesang. Er hat diese lateinischen Sätze tatsächlich auswendig gelernt, auch das gehört zu seinen Amtspflichten.

Der Kaiser ist von den Großen des Reiches und seinen persönlichen Ratgebern, Dienern und Beschützern umgeben, alle sind ähnlich prächtig gekleidet wie er. Die Herolde haben die silbernen Trompeten abgesetzt und die überhohen Standarten aufgesteckt. Nur Geübte und Weitgereiste wissen die vielen Wappentiere und Hoheitszeichen zu erkennen und zu unterscheiden, Adler in vielfältigen Formen, Greifen und Drachen, Löwen, Sterne und Kronen. Der Kaiser ist zugleich König von Spanien und Herr über viele andere Gebiete. Er muss den Nürnbergern seine Macht zeigen, er legt Wert auf die Nürnberger.Durchsicht.

Der Zug ist nur mühsam zum Stehen gekommen, Menschen und Pferde frieren, der Kaiser lächelt. Barthel Beham sieht ihn unverwandt an. Kaiser Karl V. sieht ganz anders aus als der Männleinkaiser. Er ist noch sehr jung. Eigentlich wirkt er hässlich, besonders wegen der lang herabhängenden Unterlippe. Wie ein Hexenmann, denkt Barthel. Ein interessantes Gesicht zum Malen! Aber ist es mir aufgegeben, den Kaiser zu malen?

»Ich bin meiner Stadt Nürnberg in Gnaden gewogen«, sagt der Kaiser in französisch klingenden lateinischen Worten, die auch er mithilfe seiner Berater auswendig gelernt hat. Die Umstehenden jubeln und spenden Beifall, der Kaiser selbst hat gesprochen!

Nur die allerwenigsten wissen, wie es vor fünf Jahren bei der Kaiserwahl in Frankfurt zugegangen ist. Fast eine Million Goldgulden musste Karls Familie, das Haus Habsburg, aufbringen, um die Stimmen der Kurfürsten zur Kaiserwahl zu kaufen. Sonst hätten sie nämlich womöglich den König von Frankreich gewählt. Und trotzdem hatten sich die Kurfürsten noch viele Rechte gesichert. Keineswegs tanzten sie um den Kaiser.