Herbst des Lebens - Renate Krüger - E-Book

Herbst des Lebens E-Book

Renate Krüger

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Beschreibung

Das Alter kommt zwar von selber, aber die gute Bewältigung nicht. Es wird Zeit, über die Strukturen nachzudenken. Die Vorbereitung auf das Alter besteht nicht allein in der guten finanziellen Vorsorge, sondern mehr noch in der Einübung neuer Haltungen und Einstellungen, die alle etwas mit Abschied und Übergang zu tun haben. Das Alter ist ein wichtiger und bisweilen aufregender Lebensabschnitt. Nichts ist mehr so wie früher. Und doch laufen frühere Linien weiter, aber gewandelt, verändert. Den Gewinn hat der, der auch im Alter noch Neues entdeckt. Auch der älter gewordene Mensch hat noch vieles zu verwirklichen. Das Alter hält neue Chancen bereit. Alle Werte wollen noch einmal neu entdeckt werden, nachdem man gelernt hat, sie ohne Illusionen zu sehen. Das Alter ist jedoch nicht nur eine verlängerte Lebenszeit, sondern auch eine ganz eigene Daseinsform, die bewusst erwartet, gelebt, erlebt und ausgeschöpft werden kann und soll. Es ist eine wirklich übermenschliche Leistung, den Glauben an den Sinn bis zum Tode aufrecht zu halten. Wenn vom Alter die Rede ist, spricht man vor allem über Ernährung, Kosmetik und Sport, weniger über Haltungen, Einstellungen oder gar vom Selbstverständnis der Alten, von Sinnsetzung und Sinnfindung jenseits des Geldverdienens, jenseits der Existenzsicherung. Was bleibt dem Menschen am Ende des Lebens? Enttäuschung, Ernüchterung, Schmerzen – nur das? Nein, es gibt auch neue Aufbrüche, neue Impulse. Die Autorin hat im Alter von 80 Jahren kurzweilig und aus ihrer Lebenserfahrung heraus ihre lesens- und nachahmenswerten Gedanken zu diesem Thema zu Papier gebracht.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Geschenkte Jahre

Beim Wort genommen

Befindlichkeiten

Phasen, Grenzen, Übergänge

Jenseits der Täuschung

Die Generationen

Vergangenheitsaufarbeitung

Freiheit und Freizeit. Der Computer

Sinnfindung und Altersweisheit

Renate Krüger

E-Books von Renate Krüger

Aufbruch aus Mecklenburg. Gertrud von le Fort und ihre Welt

Aus Morgen und Abend der Tag. Philipp Otto Runge – sein Leben in fünf Bildern

Clownschule

Das Männleinlaufen. Eine Alt-Nürnberger Schelmengeschichte über einen Lebkuchenbäcker

Das Schloss im Feuerschein

Das Zeitalter der Empfindsamkeit

Der Tanz von Avignon

Des Königs Musikant. Geschichten um Carl Philipp Emanuel Bach

Die stumme Braut. Erzählung

Doberaner Maßwerk

Geisterstunde in Sancoussi

Herbst des Lebens. Betrachtungen über das Älterwerden

Jenseits von Ninive

Licht auf dunklem Grund. Ein Rembrandt-Roman

Malt, Hände, malt. Ein Roman über Lucas Cranach d. Ä.

Mecklenburg. Wege eines Landes

Nürnberger Tand. Historia eines Narren, eines Stummen und dreier gottloser Maler

Paradiesgärtlein. Ein Tagebuch

Saat und Ernte des Joseph Fabisiak

Türme am Horizont. Roman über den mittelalterlichen Lübecker Bildschnitzer und Maler Bernt Notke

Wolfgang Amadés Erben

Impressum

Renate Krüger

Herbst des Lebens

Betrachtungen über das Älterwerden

ISBN 978-3-96521-222-0 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Geschenkte Jahre

Ein uralter Menschheitstraum hat sich verwirklicht: Die menschliche Lebensgrenze ist hinausgeschoben, das Leben somit länger geworden. Grund zum Optimismus zumindest für die Schlagerszene: Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an … Da ist noch lang noch nicht Schluss …

Das, was wir heute als Alter bezeichnen, gibt es eigentlich erst seit 100 Jahren, nämlich diese im Vergleich zu damals 35 (oder mehr) „zusätzlichen“ Jahre. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren in Deutschland nur 5 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, ein Jahrhundert später waren es über 25 Prozent. Um 1900 kamen auf einen Fünfundsiebzigjährigen 79 jüngere Personen, im Jahr 2000 waren es nur noch 12. Gegenwärtig können über 20 .000 Menschen in Deutschland einen dreistelligen Geburtstag feiern. An diese Entwicklung knüpfen sich viele existentielle Überlegungen mit zum Teil bedrohlichen Szenarien.

In den zahlreichen Publikationen und Diskussionen über das höhere Lebensalter spielen Gesundheit und soziale Probleme die Hauptrolle, ein Beweis für den gewachsenen Stellenwert dieser Thematik. Es geht dabei um einen höchst differenzierten Katalog von medizinischen Möglichkeiten, Hilfsmitteln und Kosmetik, Betreuungsdiensten und staatlicher Fürsorge. Mit diesem Bereich werden sich die vorliegenden Ausführungen nicht befassen, hier stehen Inhalt und Befindlichkeit der Altersjahre im Mittelpunkt, das Lebensgefühl, der Umgang mit Begrenzungen und neuen Möglichkeiten.

Das Alter ist nicht naturgegeben, sondern eine Kulturerrungenschaft. In primitiven Kulturen war die Daseinsberechtigung an Zeugung und Aufzucht der Nachkommenschaft gebunden. Wer in dieser Hinsicht keine Leistung mehr erbrachte, war „unnütz“, und sein Tod galt als folgerichtig. Heute werden uns noch viele zusätzliche Jahre geschenkt.

Was tun mit der gewonnenen Zeit? Viele Möglichkeiten, Pläne, und neue Inhalte bieten sich an, nicht selten begleitet von Standards und gängigen Klischees. Die Freizeitbereiche scheinen unerschöpflich: Reisen, Theater, Vorträge, Handarbeiten, Bildungsveranstaltungen, Gartenarbeit, Lesen, Sport. Der Begriff des „sanften Lebensstiles“, des „soft age“, wird unmerklich und unerkannt zu einem Ideal und verspricht die Beschwernisse des Alltags erträglich zu machen, ja zu überwinden …

Doch der Weg in die Zukunft ist unbekannt wie eh und je. Wichtiger als ihn zu erkunden und Perspektiven zu schaffen, ist es, ihn vertrauensvoll und entschlossen zu gehen. Zukunft bedeutet: neue Möglichkeiten, Offenheit, Aufmerksamkeit, Zugehen auf Fremdes, die Gewissheit, dass noch etwas vor uns liegt. Die Zukunft besteht auch in der Aufmerksamkeit für das, was auf den Menschen zukommt. Was auf uns zukommt, kommt uns zu, steht uns zu, fordert uns heraus.

Das Alter ist ein wichtiger und bisweilen aufregender Lebensabschnitt. Nichts ist mehr so wie früher. Und doch laufen frühere Linien weiter, aber gewandelt, verändert. Wenn wir nicht fähig sind, diese Veränderungen wahrzunehmen, werden wir unsere Kontinuität verlieren. Von außen werden keine Impulse mehr kommen, wir werden nicht mehr fasziniert sein. Nichts dynamisiert mehr als Faszination, aber nichts nutzt auch mehr ab. Wünschen wir uns die Gelassenheit des Alters, die weiß, wie vorläufig, unvollkommen und bruchstückhaft alles Erreichte, alle „Errungenschaft“ ist. Und doch auch – wie schön … Das Alter ist eine große Herausforderung. Die alten Lebenssysteme brechen zusammen, eins nach dem andern.

Im Alter kommt es nicht mehr auf Rück-Sichten im Wortsinne an. Wir müssen nicht all das berücksichtigen, was wir gelernt haben, um gut durch das Leben zu kommen, um Erfolg zu haben und Misserfolge zu vermeiden, um nicht aufzufallen, sondern angepasst zu leben, all die wohlerprobten Techniken und Praktiken, auf deren Besitz wir immer so stolz waren.

Auch der älter gewordene Mensch hat noch vieles zu verwirklichen. Viele Ideen wollen noch Gestalt werden. Ein großes Geschenk und ein besonderes Charisma des Alters ist es, in der Gegenwart leben zu dürfen, keine weit ausgreifenden Pläne mehr machen zu müssen, endlich ganz im Hier und Jetzt zu Hause zu sein. Wir gehen den Weg, den wir zwar noch nicht ganz kennen, der sich aber zur Entdeckung anbietet. Wir finden ihn, wenn wir alles andere lassen, die falschen Hoffnungen, die Illusionen, die Egozentrik. Wenn wir die Wahrnehmung der Gegenwart nicht mehr verpassen …

Wir haben Vorstellungen über unsere Altersjahre. Wir möchten frei, souverän, unabhängig sein, wir möchten schönen Beschäftigungen nachgehen, die wir selber steuern können, und wir möchten genügend Zeit für Gespräche, Briefe, Hobbys und Reisen haben. Das Alter kommt zwar von selber, aber die gute Bewältigung nicht. Es wird Zeit, über die Strukturen nachzudenken. Die Vorbereitung auf das Alter besteht nicht allein in der guten finanziellen Vorsorge, sondern mehr noch in der Einübung neuer Haltungen und Einstellungen, die alle etwas mit Abschied und Übergang zu tun haben.

Auch in den Altersjahren fließt der Lebensstrom. Er ist breit und tief, denn das Meer ist nicht mehr weit. Wir haben keinen Einfluss darauf, wie viel Wasser noch dazukommt, aber wir dürfen der Fließkraft vertrauen. Mitunter nehmen wir das Fließen nicht wahr, der Fluss scheint zu stehen. Dieser falsche Eindruck liegt oft an der mangelnden Sensibilität für Fließprozesse, an der mangelhaften Wahrnehmung. Für dieses Defizit gibt es wirklich ein Rezept, es heißt Geduld. Auch im Alter muss man sich immer wieder zum Weitergehen ermuntern und ermutigen. Nichts ist gefährlicher als das Bewusstsein, fertig zu sein und damit den gesamten Lebensbereich zu blockieren. Man muss immer wieder nach neuen Wegen suchen, nach neuen Erfahrungsbereichen, und sei man noch so alt! Den Gewinn hat der, der auch im Alter noch Neues entdeckt.

Und dennoch ist es notwendig, Abschied zu nehmen, das abzuscheiden und auszusondern, was zum Ballast geworden ist, um Neues zu beginnen, Neues auszuprobieren, auch in der Verantwortung für die Natur, für die Gesellschaft. Es ist für den alternden Menschen sehr wichtig, an die Zukunft der anderen Menschen zu denken, sich auch mit ihrer Zukunft zu beschäftigen.

Das Leben wird durchsichtiger, so wie im Herbst die Bäume gleichsam durchsichtig werden. Das ist ein Signal dafür, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Allmählich können wir durch den Wust und Nebel, durch all den Wirrwarr des Alltags hindurch sehen.

Eines der großartigsten Geschenke des späten Lebensabschnittes kann die inzwischen reich entwickelte Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen, Dinge und Verhältnisse sein. Sie ist – nicht zuletzt als Entdeckerfreude – an allen Entschlüssen, Erwägungen und Impulsen entscheidend beteiligt und eine beglückende Entfaltung des Eros im Alter. Sie erlaubt die unmittelbare, unvermittelte Wahrnehmung des Augenblicks ohne Auflagen, ohne Druck. Einfühlung in andere Menschen ermöglicht eine Aufnahme des fremden Erlebens in die eigene Erfahrungs- und Erlebniswelt. Sie ist als liebende Aufmerksamkeit einer der Schlüssel zum Weltganzen, die Summe aus Beobachtung, ständiger Offenheit, Reflektion und Verinnerlichung. Einfühlung in andere ermöglicht neue Selbst- und Eigenerfahrung.

Eine der Voraussetzungen zur Einfühlung ist das „Dazwischensein“, lateinisch inter esse, das Interesse, auch wenn die einzelnen Impulse, Wünsche, Forderungen widersprüchlich bleiben und von Augenblick zu Augenblick wechseln. Auch der ältere Mensch sollte sich darauf einlassen und das Durcheinander nicht scheuen.

Eine Voraussetzung zur Einfühlung ist die wache Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit, die gerade im fortgeschrittenen Lebensalter, nach der Überwindung so vieler Illusionen, gepflegt und entwickelt werden kann. Achtsamkeit ist mehr als Konzentration, sie ist eine Lebenshaltung. Wer achtsam ist, hat ein Gespür für Menschen und Dinge, er entdeckt immer tiefer, wie alles Lebendige miteinander verbunden ist und miteinander in einer Beziehung steht.

Auch in den Altersjahren sind noch viele Möglichkeiten zur Sinnfindung verborgen und warten auf Entdeckung. Die Sinnwerte des Menschen sind keinen Alterungsprozessen unterworfen: die Erlebniswerte, die schöpferischen Werte und die Werte der Einstellung zur Welt und ihren Möglichkeiten. Das Alter hält neue Chancen bereit. Alle Werte wollen noch einmal neu entdeckt werden, nachdem man gelernt hat, sie ohne Illusionen zu sehen. Sie bergen somit kein Enttäuschungspotenzial mehr, man erwartet keine automatische Wirkung. Fremdheit muss nicht zwangsläufig zu Gleichgültigkeit führen, sie kann auch zu Neuentdeckungen führen. Ganz neu anfangen …

„Heute beginnt der Rest deines Lebens …“ Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Der Mensch möchte nicht nur einen Rest, er möchte die Fülle. Wir haben die Verheißung nicht nur des Lebens, sondern der Fülle des Lebens. Fülle – das Wort steht in einem weiten Feld. In Hülle und Fülle: das bedeutet Überfluss. Beim jüdischen Sabbatmahl wird der gefüllte Becher durch einen zusätzlichen Tropfen zum Überfließen gebracht, um den Menschen zu beschenken. In der Antike kannte man das Füllhorn als Symbol für Wohlstand und Überfluss.

Fülle kann nur erfahren, wer noch Raum in sich hat, wer auch leer sein kann, wer nicht ständig etwas in sich hineinstopfen muss. Fülle ist Geschenk, Ergebnis von Aktivität, fordert neue Aktivität; Fülle bedeutet Freude, Heiterkeit, Farbe, Friede, Freundschaft, Weltfreundlichkeit. Der Wohlstand, die Lebensfülle in allen Bereichen ist ein Instrument, auf dem man spielen können muss. Wer diese Fähigkeit in seinen späten Jahren erlangt hat, besitzt Altersweisheit.

Herbst des Lebens … Die Natur liefert immer wieder Bilder für die Lebensalter. Und alle sind auf ihre Weise schön und hinterlassen tiefe Eindrücke. Schön ist die Natur im Aufbruch, schön ist sie vor der Reife, und schön ist sie auch vor dem Einbruch des Winter. Zauberhaft ist die Stimmung im Herbstwald. Diese Goldtöne zwischen Gelb, Grün und Braun mit Rot dazwischen … Aber es ist dennoch ein Bild von Vergehen und Vergänglichkeit und Zurücknehmen. Die Erfahrung des Unvollkommenen, die Sehnsucht nach Vollendung sind Qualitäten des Alters, die nicht mehr zu übertreffen sind. Aber man kann noch lernen und noch offener für die Schönheit der Altersjahre werden. Neues will werden und wachsen. Die Abendröte deutet auf den neuen Morgen hin.

Beim Wort genommen

Der Prozess des Älterwerdens hat zahlreiche Niederschläge auch in der Sprache gefunden, je nachdem, ob man die späteren Jahre als Geschenk oder als aufgezwungene Last empfindet. Eine genauere Betrachtung des Wortfeldes alt führt zu Überraschungen. Das Wort alt an sich erscheint relativ neutral, in manchen Wortverbindungen wie altehrwürdig oder altbewährt ist es positiv, in anderen wie altbacken, altfränkisch hingegen negativ. Das niederdeutsche oll ist weitgehend zu einer Negativbezeichnung geworden, das aus dem Englischen abgeleitete Oldie bezeichnet fast immer etwas Positives.

Während der Begriff antik einen positiven Anstrich hat; kennzeichnet das doch verwandte Wort antiquiert etwas Negatives. Ein besonderes Schicksal erfuhr die dänische Bezeichnung für alt: gammel. Es wird in ausschließlich herabsetzender Bedeutung im Sinne von verkommen, wertlos gebraucht. Vergammelt … Die gleichfalls negative deutsche Redewendung der oder die sieht ganz schön alt aus bietet in gewisser Weise eine Parallele dazu und bezeichnet die Reaktion auf einen Misserfolg, auf eine falsche Entscheidung oder eine unerwartete Fehlentwicklung.

Aus der bäuerlichen Wirtschaftsstruktur besonders des vergangenen Jahrhunderts stammt der Begriff des Altenteils, der Einrichtung, die den Alten ermöglichte, Arbeit und Besitz Jüngeren, z.B. den Kindern, zu überlassen und doch durch rechtliche Abmachungen ihr Auskommen zu finden. Der Begriffsinhalt des Altenteils ist fast mit dem des Abstellgleises identisch geworden und zielt auf ein nutzloses und überflüssiges Dasein.

Die als fast unausweichlich angesehene Verbindung von alt und arm und krank findet man im Begriff des Armenhauses. Wer dort Aufnahme fand, musste als alt und nutzlos angesehen werden, auch wenn es dem tatsächlichen Lebensalter nicht entsprach. Das Brot, das dort gegessen wurde, war geschenkt, gespendet, war Gnadenbrot, eine frühe Form der Sozialhilfe, die Misskredit einschließt.