Das Mondkind - Dean Koontz - E-Book

Das Mondkind E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Seit drei Jahren lebt der zwölfjährige Crispin verlassen auf der Straße, mit einem Hund als einzigem Begleiter. Er ist ängstlich darauf bedacht, nie länger am selben Ort zu verharren, schreckliche Erinnerungen und Alpträume treiben ihn voran. Die Stadt steckt voller dunkler Geheimnisse und Gefahren. Aber diese sind noch harmlos gegen die Unmenschen, die Crispin seit seiner frühen Kindheit verfolgen. Und jetzt drohen sie ihn einzuholen ...

Der meisterhafte Kurzroman von Dean Koontz spielt auf Shadow Hill, dem furchterregenden Nobelviertel einer mysteriösen, namenlosen Stadt. Dort ist auch sein nächster großer Roman angesiedelt: „Das Nachthaus“ erzählt die Geschichte des prunkvollen Pendleton-Palastes und seiner todgeweihten Bewohner.

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Seitenzahl: 184

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Das Buch

Seit drei Jahren lebt der zwölfjährige Crispin verlassen auf der Straße, mit einem Hund als einzigem Begleiter. Er ist ängstlich darauf bedacht, nie länger am selben Ort zu verharren, schreckliche Erinnerungen und Albträume treiben ihn voran. Die Stadt steckt voller dunkler Geheimnisse und Gefahren. Aber diese sind noch harmlos gegen die Unmenschen, die Crispin seit seiner frühen Kindheit verfolgen. Und jetzt drohen sie ihn einzuholen …

Der meisterhafte Kurzroman von Dean Koontz spielt auf Shadow Hill, dem furchterregenden Nobelviertel einer mysteriösen, namenlosen Stadt. Dort ist auch sein nächster großer Roman angesiedelt: »Das Nachthaus« erzählt die Geschichte des prunkvollen Pendleton-Palastes und seiner todgeweihten Bewohner.

Der Autor

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Der Rabenmann« und das zugehörige exklusive E-Book »Die schwarze Feder«.

Lieferbare Titel

Die Anbetung – Blindwütig – Blutvertrag – Bote der Nacht – Chase – Dunkle Flüsse des Herzens – Frankenstein/Das Gesicht – Frankenstein/Die Kreatur – Frankenstein/Der Schatten – Frankenstein/Der Schöpfer – Der Geblendete – Geschöpfe der Nacht – Im Bann der Dunkelheit – Irrsinn – Kalt – Meer der Finsternis – Mitternacht – Der Rabenmann – Racheherz – Schattennacht – Die schwarze Feder – Seelenlos – Stimmen der Angst – Todesdämmerung – Todesregen – Todeszeit – Trauma – Tür ins Dunkel – Die Unbekannten – Urangst – Das Versteck – Der Wächter – Die zweite Haut – Zwielicht

DEAN

KOONTZ

DAS

MONDKIND

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Ursula Gnade

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe THE MOONLIT MINDerschien 2011 bei Bantam Books, a division of Random House, Inc., New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2012

Copyright © 2011 by Dean Koontz

Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung und Artwork: © Eisele Grafik·Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-08960-3V002

www.heyne-verlag.de

1

Crispin schlägt sich in der Stadt allein durch. Er ist ein Junge von zwölf Jahren, ein verwilderter Streuner, und hat keinen Freund außer Harley, doch Harley spricht nicht.

Freundschaft ist nicht auf Gespräche angewiesen. Manchmal erfolgt die wichtigste Verständigung nicht von Mund zu Ohr, sondern von Herz zu Herz.

Harley kann nicht sprechen, weil er ein Hund ist. Er versteht viele Wörter, aber er ist nicht in der Lage, welche zu bilden. Er kann bellen, aber er tut es nicht. Er knurrt auch nicht.

Stille ist für Harley, was Musik für eine Harfe ist. Er strahlt sie in Glissando-Passagen und Arpeggios aus, die für Crispin melodisch klingen. Der Junge hat in seinen wenigen Jahren schon zu viel gehört. Ruhe ist eine Symphonie für ihn und die tiefe Stille an jedem verstummten Ort ein Choral.

Diese Großstadt ist, wie alle anderen, ein Reich, in dem Lärm herrscht. Es rasselt, poltert und pocht. Es surrt und quietscht, zischt und brüllt. Es klappert, tutet, läutet, bimmelt, klickt, knackt, knirscht, knallt, scheppert und rumpelt.

Doch selbst in diesem Orkan von Geräuschen gibt es stille Zufluchten. Auf den weitläufigen Rasenflächen des Friedhofs zur heiligen Maria Salome, zwischen hohen Kiefern und Zedern, die wie Prozessionen von Mönchen in ihren Kutten wirken, führen konzentrische Kreise aus Granitgrabsteinen zu Urnenwänden unter freiem Himmel, wo die Asche der Toten hinter Bronzetafeln bestattet ist. Die zweieinhalb Meter hohen freistehenden Mauern sind angeordnet wie die Speichen eines Rades. In jeder windstillen Nacht dämpfen die imposanten Nadelbäume von Maria Salome die Stimme der Stadt, und das Rad mit den gemauerten Speichen schluckt sie gänzlich.

An der Radnabe, wo sich die Speichen treffen, befindet sich ein rundes Rasenstück. Eine große runde Platte aus grauem Granit in seiner Mitte dient als Bank. Hier sitzt das Kind Crispin manchmal im Mondschein, bis die Stille seine Seele besänftigt hat.

Dann ziehen er und Harley auf das Gras um, wo der Junge seine Schlafmatte ausrollt. Da sich in sein Gewissen kein Schuldbewusstsein krallt, schläft der Hund den Schlaf eines Unschuldigen. Der Junge ist nicht so gut dran.

Crispin leidet unter Albträumen. Sie rühren von Erinnerungen her.

Harley scheint davon zu träumen, ungehindert herumzurennen, denn seine Zehen spreizen sich und seine Pfoten zittern, während er über die Wiesen seiner Fantasie saust. Er winselt nicht, sondern gibt fiepende kleine Laute der Freude von sich.

Einmal, als der Junge zehn war, wachte er weit nach Mitternacht auf und sah die silbern schimmernde Gestalt einer Frau in einem langen Gewand. Sie näherte sich zwischen zwei Urnenwänden und schien nicht zu laufen, sondern eher wie eine Schlittschuhläuferin auf Eis dahinzugleiten.

Crispin setzte sich furchtsam auf, weil die Frau keine Substanz besaß. Vom Mond beschienene Gegenstände hinter ihr blieben durch sie hindurch sichtbar.

Sie lächelte nicht und hatte auch nichts Bedrohliches an sich. Ihr Gesichtsausdruck war feierlich.

Etwa zwei Meter vor ihnen kam sie schlitternd zum Stehen, ihre nackten Füße einige Zentimeter über dem Gras. Einen langen Moment blickte sie auf die beiden hinab.

Crispin hatte das Gefühl, er sollte mit ihr sprechen. Aber er konnte es nicht.

Der Junge erhob sich nur halb, doch Harley richtete sich auf alle viere auf. Offensichtlich sah auch der Hund die Frau. Er wedelte mit dem Schwanz.

Als sie an ihnen vorüberging, roch Crispin den Duft parfümierter Salbe. Harley schnupperte mit sichtlichem Genuss.

Die Frau verflüchtigte sich wie ein Nebelphantom, das auf einen warmen Luftstrom trifft.

Im ersten Moment glaubte Crispin, sie müsse ein Geist sein, der auf diesem Gräberfeld herumspuke. Später fragte er sich, ob er nicht eher Zeuge einer Erscheinung des Geistes der heiligen Maria Salome gewesen war, nach der der Friedhof benannt war.

Schon die letzten drei Jahre, seit er neun war, hat sich der Junge mit Grips und Mut in der Stadt durchgeschlagen. Nur selten hat er in dieser Zeit menschliche Kameradschaft oder Wohltätigkeit erfahren.

Er verbringt nicht jede Nacht auf dem Friedhof. Er schläft an vielen Orten, um jede Routine zu vermeiden, die ihn anfällig für seine Entdeckung machen könnte.

An gewöhnlicheren Orten als Friedhöfen sehen er und der Hund oft ungewöhnliche Dinge. Aber nicht all ihre Entdeckungen sind übernatürlich. Die meisten sind so real wie Sonnenschein und Sternenlicht, und manche dieser Dinge sind furchtbarer, als es irgendein Geist oder Fabelwesen sein könnte.

Diese Stadt ist – wie vielleicht jede Stadt – ein Ort voller Geheimnisse und Rätsel. Wenn man allein mit seinem Hund Gefilde durchstreift, die von anderen selten aufgesucht werden, erhascht man flüchtige Blicke auf beunruhigende Phänomene und seltsame Wesen, die einen Hinweis darauf geben, dass die Welt Dimensionen besitzt, die durch die Vernunft allein nicht zu erklären sind.

Der Junge hat manchmal Angst, doch der Hund fürchtet sich nie.

Keiner von beiden ist jemals einsam. Sie ersetzen einander die Familie, aber nicht nur das. Jeder ist des anderen Erlösung, sein Seelenheil, eine Lampe, die dem anderen den Weg weist.

Harley ist auf der Straße ausgesetzt worden. Niemand außer dem Jungen liebt diesen Mischlingshund, der zur Hälfte ein Golden Retriever und zur anderen Hälfte eine mysteriöse Promenadenmischung zu sein scheint.

Crispin wurde nicht ausgesetzt. Er ist geflohen.

Und man jagt ihn.

2

Drei Jahre zuvor …

Crispin ist erst neun Jahre alt und seit zwei Tagen auf der Flucht, da er Ende September mitten in der Nacht von einem Schauplatz unerträglichen Schreckens geflohen ist. Er hat niemanden, an den er sich wenden kann. Diejenigen, die vertrauenswürdig sein sollten, haben sich bereits als teuflisch erwiesen, und es steht fest, dass sie auf seine Vernichtung aus sind.

Von den elf Dollar, die er zu Beginn seiner Flucht besaß, hat er inzwischen nur noch vier. Den Rest hat er für Essen und Getränke ausgegeben, die er Händlern mit Karren an Straßenecken abgekauft hat.

In der vorangegangenen Nacht hat er im Statler Park in einem Nest aus dichtem Gestrüpp geschlafen, denn er war zu erschöpft, um von den gelegentlichen Sirenen vorbeifahrender Streifenwagen oder kurz vor Morgengrauen vom Krach der Müllmänner, die die Abfalleimer im Park in ihren Wagen leerten, vollständig wach zu werden.

Am Montag verbringt er bei Tageslicht zwei oder drei Stunden mit einem Besuch in der Bücherei. Die Bücherregale sind ein Labyrinth, in dem er sich verstecken kann.

Furcht und Kummer haben ihn derart gepackt, dass er nicht lesen kann. Ab und zu blättert er in großen Reiseführern und sieht sich die Hochglanzfotos an, doch er hat ja keine Möglichkeit, an diese fernen sicheren Orte zu gelangen. Die Bilderbücher für Kinder, an denen er früher seinen Spaß hatte, kommen ihm gar nicht mehr lustig vor.

Eine Weile läuft er am Flussufer entlang und beobachtet ein paar Fischer. Das Wasser ist unter einem blauen Himmel grau, und die Männer erscheinen ihm ebenfalls grau, traurig und lustlos. Die Fische beißen nicht.

Den größten Teil des Tages schlendert er durch schmale Gassen, wo er es für unwahrscheinlicher hält, dass er denen begegnet, die ihn gewiss suchen. Hinter einem Restaurant fragt ihn eine Küchenhelferin, warum er nicht in der Schule ist. Ihm fällt keine gute Lüge ein, und so läuft er vor ihr davon.

Der Tag ist so mild wie schon der gestrige und die Nacht, aber plötzlich wird es kühl und dann am späten Nachmittag noch kühler. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd, und die Gänsehaut auf seinen Armen könnte auf die kalte Luft zurückzuführen sein oder auch nicht.

Auf einem unbebauten Grundstück zwischen einem Drugstore und einem Dojo, wo Kampfsportarten trainiert werden, quellen aus der Sammeltonne einer wohltätigen Einrichtung gebrauchte Kleidungsstücke und andere Gegenstände. Crispin wühlt in diesen Spenden und findet einen grauen Wollpullover, der ihm passt.

Er nimmt auch eine dunkelblaue Strickmütze mit und zieht sie sich tief in die Stirn und bis über die Ohren.

Vielleicht wird ein neunjähriger Junge, der allein durch die Gegend zieht, durch den Versuch, sich zu tarnen, nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er hat den Verdacht, dass die schlichte Mütze an ihm auffällig wirkt. Er kommt sich wie ein Clown vor. Trotzdem nimmt er sie nicht ab und wirft sie weg.

Er ist durch so viele schmale Gassen und Lieferantenzufahrten gelaufen, ist über so viele breite Straßen in so viele schummerige Seitenstraßen gerast, dass er sich nicht nur verlaufen, sondern die Orientierung komplett verloren hat. Die Wände von Gebäuden scheinen sich ihm in bedenklichen Winkeln entgegen zu neigen oder über ihm auseinanderzuklaffen. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen ähnelt großen Reptilienschuppen, als liefe er über den gepanzerten Rücken eines schlafenden Drachen.

Die Stadt, die schon immer groß war, scheint zu einer ganzen Welt geworden zu sein, so unermesslich wie feindselig.

Mit der Orientierungslosigkeit geht eine stille Verzweiflung einher, die Crispin zeitweilig dazu bringt zu rennen, obwohl er ganz genau weiß, dass ihm niemand dicht auf den Fersen ist.

Kurz vor der Abenddämmerung begegnet er auf einer breiten Zufahrt, die zu ehemaligen Speicherhäusern aus Backstein mit Laderampen aus fleckigem Beton führt, dem Hund. In dem schräg einfallenden Licht der untergehenden Sonne wirkt er golden, als er an der Ostseite des Durchgangs entlang auf ihn zukommt.

Der Hund bleibt vor Crispin stehen und blickt mit zurückgelegtem Kopf zu ihm auf. Im letzten hellen Tageslicht sind die Augen des Tieres so golden wie sein Fell, die Pupillen klein und die Iris schillert.

Der Junge nimmt keine Bedrohung wahr. Er streckt eine Hand aus und der Hund reibt einen Moment lang seine Schnauze daran.

Als der Hund weitergeht, zögert der Junge, doch dann schlurft er hinter ihm her. Im Gegensatz zu dem, der ihm folgt, scheint das Tier zu wissen, wohin es geht und warum.

Gesprungene Betonstufen führen zu einer Laderampe hinauf. Die großen Rolltore sind geschlossen, aber eine schmale Tür erweist sich als unverschlossen und steht sogar einen winzigen Spaltbreit auf.

Der Hund drückt sie auf. Mit einem eleganten Schwung seiner weißen Rute verschwindet er dahinter.

Als er die Schwelle in die Dunkelheit überquert, zieht Crispin eine LED-Taschenlampe aus einer Tasche seiner Jeans. Die Taschenlampe lag früher in der Schublade seines Nachttischs. Er hat sie mitgenommen, als er in den ersten Minuten nach Mitternacht aus seinem Zuhause floh.

So scharf wie eine abgezogene Rasierklinge durchschneidet der weiße Strahl die Finsternis und zeigt einen seit langer Zeit leerstehenden fensterlosen Raum, der groß genug wäre, um als Hangar für Verkehrsflugzeuge zu dienen. Hoch oben befinden sich Dachspeicher und Laufplanken.

Alles ist mit grauem Staub überzogen. Rost, der so viele Schichten hat wie Blätterteig, löst sich in Flocken von Metalloberflächen.

Auf dem Betonfußboden verstreut liegen Rattenknöchelchen und die Panzer toter Käfer. Alte Spielkarten mit Schimmelflecken. Hier ein Bube im Profil, dort eine Herzdame und ein Kreuzkönig und da vier Sechsen, die nebeneinander ausgelegt sind. Zigarettenstummel. Zerbrochene Bierflaschen.

Die Taschenlampe findet eine Spinne, die auf einem durchhängenden Kabel herumkrabbelt, und projiziert ihren vergrößerten Schatten an eine Wand, wo sie hinaufkriecht wie ein Geschöpf aus einem dieser alten Filme über Insekten, die durch radioaktive Strahlung riesengroß geworden sind.

Ohne die Taschenlampe zu brauchen, findet der Hund seinen Weg um die verteilten Glassplitter herum. An einem Ort mit so vielen starken Gerüchen würden sich die meisten Hunde schnüffelnd von einem Geruch zum anderen bewegen, doch dieser hier hält seinen Kopf hoch erhoben und scheint wachsam.

Am nördlichen Ende des riesigen Raumes führen drei Türen in drei Büros, jedes mit einem Fenster, das den Blick auf das Innere des Lagerhauses freigibt. Zwei Türen sind geschlossen, die dritte ist angelehnt.

Hinter dem Spalt zwischen der dritten Tür und dem Türrahmen pulsiert bernsteinfarbenes Licht.

Crispin bleibt stehen, aber der Hund hält nicht an. Nach kurzem Zögern folgt der Junge dem Tier in den kleinen beleuchteten Raum.

Zwischen zwei Gruppen von dicken Kerzen – drei links von ihm, drei rechts – sitzt ein Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit dem Rücken an der Wand und hat die Beine vor sich ausgestreckt.

Seine glasigen blauen Augen blicken starr, sehen jedoch nichts. Sein Mund hängt offen, doch er hat seinen Vorrat an Worten ausgeschöpft.

Neben einer Dreiergruppe von Kerzen liegt ein verrußter Löffel. Neben dem Löffel ein weißes Plastikpäckchen, aus dem ein weißes Pulver rieselt. Auf seinem Schoß liegt eine entleerte Injektionsspritze.

Der rechte Ärmel seines karierten Hemds ist bis über die Ellenbeuge hochgerollt, wo vor einer Weile aus einem Einstich Blut gesickert ist. Offenbar hatte er Schwierigkeiten, die Ader zu finden.

Crispin fürchtet sich nicht vor der Gegenwart eines Toten. Er hat kürzlich viel Schlimmeres mit angesehen.

Mit einer Zielstrebigkeit, die typischer für einen Menschen wäre als für einen Hund, geht das Tier auf einen Rucksack zu, der hinter den Kerzen liegt, nimmt einen der Riemen zwischen seine Zähne und zerrt ihn von dem Leichnam fort.

Der Junge nimmt an, der Rucksack müsse Leckerbissen für das Tier enthalten. Auf seinen Knien durchsucht er die verschiedenen Fächer, findet jedoch keinen Hinweis darauf, dass der Tote das Tier jemals versorgt hat.

Ein prüfender Blick auf den staubbedeckten Boden und die wenigen Pfotenabdrücke verraten, dass der Hund nie zuvor hier gewesen ist, dass er sich von dem Geruch und nicht von seiner Erfahrung hat leiten lassen. Und dennoch …

Zwischen den schmierigen, weitgehend wertlosen Habseligkeiten des Verstorbenen entdeckt Crispin zwei Stoffbeutel voller Geldscheine, die zu festen Bündeln gerollt sind und von Gummiringen zusammengehalten werden. Es sind Packen aus Fünf-, Zehn- und Zwanzigdollarscheinen.

Das Geld ist mit ziemlich großer Sicherheit gestohlen oder auf andere Weise schmutzig. Aber es ist unwahrscheinlich, dass jemand, noch nicht einmal die Polizei, dahinterkommen wird, wem der Tote dieses Vermögen geklaut hat oder durch welche illegalen Aktivitäten er es erworben haben könnte.

Der Leiche eines einsamen Obdachlosen Geld abzunehmen kann doch bestimmt kein Diebstahl sein. Der Mann hat schließlich keine Verwendung mehr dafür.

Dennoch zögert der Junge.

Nach einer Weile spürt er, dass er beobachtet wird. Er schaut auf und rechnet fast damit, dass sich der Blick der Leiche auf ihn gerichtet hat.

Die Augen des Hundes leuchten im Kerzenschein, als er ihn mustert und leise, beinah erwartungsvoll, hechelt.

Crispin hat kein Versteck. Und wenn ihm ein Ort einfiele, den er aufsuchen könnte, dann hätte er derzeit nur vier Dollar, um dorthin zu gelangen.

Der Hund scheint dem Toten nicht gehört zu haben. Crispin wird ihn jedoch, ungeachtet seiner Herkunft, füttern müssen.

Er steckt die Packen Bargeld wieder in die Stoffbeutel und schnürt sie fest zu. Der Rucksack ist zu groß für ihn. Er wird nur das Geld an sich nehmen.

Auf der Schwelle sieht sich Crispin noch einmal um. Das Kerzenlicht erzeugt die Illusion von Leben in den toten Augen. Als der Widerschein der Flammen über das schlaffe Gesicht zieht, scheint der Rauschgiftsüchtige ein Mann aus Glas zu sein, wie eine Lampe, die von innen heraus leuchtet.

Während sie ihre Schritte durch das riesige Lagerhaus zurückverfolgen, bleibt der Hund stehen, um an einer der verschimmelten Spielkarten zu schnuppern, die auf dem Boden liegen. Es ist die Karosechs.

Als sie vorhin hier vorbeigekommen sind, haben an dieser Stelle vier Sechsen gelegen, eine von jeder Farbe.

Crispin inspiziert den weitläufigen dunklen Raum und richtet den Strahl seiner Taschenlampe forschend hierhin und dorthin. Niemand taucht auf. Keine Stimme droht ihm. Er und der Hund scheinen allein zu sein.

Der LED-Strahl, der auf den verschmutzten Boden fällt, kann die fehlenden Sechsen nicht ausfindig machen.

Draußen auf der Zufahrt ist der Himmel im Westen purpurrot, doch die Abenddämmerung leuchtet vorwiegend violett. Die Luft selbst scheint lila zu sein.

In einer Tierhandlung an der Monroe Avenue kauft er ein Halsband und eine Leine. Von jetzt an wird der Hund das Halsband ständig tragen, damit er nicht den Eindruck eines Streuners erweckt. Crispin wird die Leine nur auf öffentlichen Straßen benutzen, wo das Risiko besteht, die Aufmerksamkeit eines Tierkontrollbeamten auf sich zu ziehen.

Er kauft auch eine Tüte Hundekuchen mit Johannisbrotmehl, einen Fellpflegekamm mit Metallzinken und einen Trinknapf, der sich zusammenfalten lässt.

Vor einem Sportgeschäft bindet er den Hund an einen Laternenpfahl und lässt ihn allein, um hineinzugehen und einen Rucksack von der Größe zu kaufen, wie ihn Kinder brauchen, um Bücher zur Schule und wieder nach Hause zu tragen. Er packt die Stoffbeutel mit dem Geld und seine Einkäufe aus der Tierhandlung hinein.

Zum Abendessen gibt es für beide Hotdogs von einem Straßenverkäufer. Coke für den Jungen, in eine Flasche abgefülltes Wasser für den Hund.

Bei einem Kramladen, der sich auf Zauberartikel und alle Arten von Spielen spezialisiert hat, bleibt Crispin ein oder zwei Minuten vor der Auslage stehen. Er beschließt, ein Kartenspiel zu kaufen, obwohl er nicht sagen könnte, warum.

Als Crispin den Hund an einen Fahrradständer binden will, öffnet der Besitzer des Ladens die Tür, woraufhin das silberhelle Läuten einer Ladenglocke ertönt. Er sagt: »Komm rein, Junge. Hunde sind hier willkommen.«

Der Besitzer ist ein älterer Mann mit weißem Haar und buschigen weißen Augenbrauen. Seine Augen sind grün und funkeln wie Pailletten. Er trägt an verschiedenen Fingern insgesamt sechs Smaragdringe, die alle ebenso grün sind – aber keiner funkelt so sehr wie seine Augen.

»Wie heißt dein Hund?«, fragt der alte Mann.

»Er hat noch keinen Namen.«

»Lass ein Tier nie zu lange namenlos«, erklärt ihm der alte Mann. »Wenn es keinen Namen hat, ist es nicht geschützt.«

»Geschützt wogegen?«

»Gegen jeden bösen Geist, der beschließen könnte, sich seiner zu bemächtigen«, erwidert der alte Mann. Er lächelt und zwinkert, doch etwas in seinen fröhlichen Augen verrät, dass er nicht scherzt. »Wir schließen in fünfzehn Minuten«, fügt er hinzu. »Kann ich dir dabei helfen, etwas zu finden?«

Ein paar Minuten später, als Crispin das Kartenspiel bezahlt, steigt eine weißhaarige Frau die Kellertreppe hinauf und kommt mit einer großen, aber anscheinend nicht schweren Kiste Waren durch eine offene Tür. Ihr Lächeln ist so warmherzig wie das des Ladenbesitzers, der vielleicht ihr Ehemann ist.

Als sie den Hund sieht, bleibt sie stehen, legt den Kopf zur Seite und sagt: »Mein Junge, dein vierbeiniger Freund hat eine Aura, an der sich kein frommer Erzbischof messen könnte.«

Crispin hat keine Ahnung, was das bedeutet. Aber er bedankt sich schüchtern bei ihr.

Während die Frau damit beschäftigt ist, eine Vitrine mit Zauberartikeln aufzufüllen und der alte Mann einem anderen Kunden ein dreidimensionales Puzzle erklärt, entschließt sich Crispin zu einer kühnen Tat, die ihn selbst überrascht. Mit dem Hund geht er, unbemerkt von den Ladenbesitzern, auf die offene Tür zu und die Treppe in den Keller hinunter.

Unten befindet sich ein Lagerraum mit Reihen von freistehenden Metallregalen, die mit Waren vollgestopft sind. Dort gibt es auch ein kleines Bad mit einem Waschbecken und einer Toilette.

Der Junge und der Hund suchen hinter der letzten Regalreihe Schutz. Hier kann man sie von der Treppe aus nicht sehen.

Crispin macht sich keine Sorgen, der Hund könnte bellen und ihre Anwesenheit verraten. Er weiß bereits, dass er und dieses Tier auf eine geheimnisvolle Weise aufeinander eingespielt sind. Er löst die Leine vom Halsband, rollt sie zusammen und legt sie beiseite.

Nach einer Weile werden vom oberen Treppenabsatz aus die Lichter ausgeschaltet. Die Tür dort oben schließt sich. Ein paar Minuten lang hallen Schritte über ihnen, aber schon bald ist alles still.

Sie warten im Dunkeln, bis sie sicher sein können, dass der Laden für die Nacht geschlossen ist. Schließlich machen sie sich auf den Rückweg durch den Lagerraum und an den Metallregalen entlang zum unteren Ende der Treppe.

Crispin ist blind, aber der Hund vielleicht nicht. Der Junge tastet am unteren Ende der Treppe nach dem Lichtschalter. Der Hund, der auf seinen Hinterbeinen steht, findet ihn zuerst, und die Deckenbeleuchtung geht an.

In einem Regal entdeckt Crispin einen Stapel gesteppter blauer Umzugsdecken. Aus ihnen macht er sich in einer Ecke auf dem Boden ein Bett.

Während Crispin die Gummiringe von den Geldbündeln streift und die geglätteten Scheine nach ihrem Wert in drei Stapel sortiert, verfüttert er ein paar von den Keksen, die er in der Tierhandlung gekauft hat, an den Hund.