Die tote Stadt: Frankenstein 5 - Dean Koontz - E-Book

Die tote Stadt: Frankenstein 5 E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Der Kampf gegen die Menschheit ist voll entbrannt. Im kleinen Ort Rainbow Falls, Montana, rotten sich die wenigen Überlebenden zusammen, um Frankensteins Kreaturen aufzuhalten. Doch selbst dessen erstes Monster und mutigster Widersacher Deucalion scheint ihnen nicht mehr helfen zu können. Das Überleben der Menschheit hängt am seidenen Faden.

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Zum Buch

Im kleinen Ort Rainbow Falls, Montana, wütet der Kampf gegen die Menschheit. Victor Frankensteins Kreaturen ersetzen nach und nach alle menschlichen Einwohner: Es handelt sich um äußerlich perfekte Doppelgänger, denen es sogar gelingt, sämtliche Erinnerungen ihrer Opfer in sich abzuspeichern. Nicht, dass das in Rainbow Falls noch groß nötig wäre: Denn innerhalb von zwei Tagen soll ohnehin die gesamte Einwohnerschaft durch Replikanten ersetzt sein. Als Probelauf für die ganze Welt. Doch in einigen Bewohnern regt sich endlich Misstrauen, etwa dem misanthropischen Landstreicher Mr Lyss. Und es gibt auch noch die verschworene Gemeinschaft der Gegner Frankensteins: Allen voran Deucalion, sein erstes Monster, das erst sterben kann, wenn es seinen Schöpfer zur Strecke gebracht hat. Nur wenn sie gemeinsam es schaffen, Frankenstein endgültig zu vernichten, kann es eine Zukunft für die Menschheit geben. Das furiose Finale der Frankensteinbücher!

Zum Autor

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 450 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft.

Lieferbare Titel

Frankenstein/Das Gesicht – Frankenstein/Die Kreatur – Frankenstein/Der Schatten – Frankenstein/Der Schöpfer

Die Anbetung – Blindwütig – Blutvertrag – Bote der Nacht – Chase – Dunkle Flüsse des Herzens – Der Geblendete – Geschöpfe der Nacht – Im Bann der Dunkelheit – Irrsinn – Kalt – Lichtlos – Meer der Finsternis – Mitternacht – Das Nachthaus – Der Rabenmann – Racheherz – Schattennacht – Die schwarze Feder – Schwarze Fluten – Seelenlos – Stimmen der Angst – Todesdämmerung – Todesregen – Todeszeit – Trauma – Tür ins Dunkel – Urangst – Das Versteck – Der Wächter – Die zweite Haut – Zwielicht

Dean Koontz

FRANKENSTEIN

Die tote Stadt

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Gnade

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe

DEAN KOONTZ’S FRANKENSTEIN, BOOK FIVE,

THE DEAD TOWN

erschien 2011 bei Bantam Books, a Division of Random House, Inc., New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2013

Copyright © 2011 by Dean Koontz

Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Eisele Grafik·Design, München

Coverillustration: Scott Biel

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-08746-3 V002

www.heyne.de

Zum Gedenken an Gilbert K. Chesterton,

der Weisheit und harte Wahrheiten

in einer äußerst ansprechenden Verpackung

präsentiert und damit zahllose Leben

durch Güte und ein Lächeln verändert hat

Menschen können immer blind für etwas sein,

solange es nur groß genug ist. Es ist so schwierig,

die Welt zu sehen, in der wir leben.

G. K. Chesterton

1.

Mit Eulenaugen und zu Tode erschrocken saß Warren Snyder auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer. Seine Haltung war steif, sein Rücken kerzengerade, und seine Hände lagen mit den Handflächen nach oben auf seinem Schoß. Ab und zu zitterte seine rechte Hand. Sein Mund war einen Spalt geöffnet, seine Kinnlade leicht herabgesackt, und seine Unterlippe bebte beinah unablässig.

An seiner linken Schläfe schimmerte eine silberne Perle. Sie war so abgerundet und so blank poliert wie der Kopf eines dekorativen Polsternagels und sah aus wie ein Ohrring am falschen Fleck.

In Wirklichkeit war das Kügelchen mit Elektronik vollgepackt, mit Nanoschaltkreisen, und hatte insofern etwas vom Kopf eines Nagels, als es sich um den sichtbaren Teil einer nadeldünnen Sonde handelte, die durch ein pistolenähnliches Gerät in sein Gehirn geschossen worden war. Die sofortige chemische Verätzung von Fleisch und Knochen hatte jegliche Blutung verhindert.

Warren sagte nichts. Ihm war befohlen worden, still zu sein, und er hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam verloren. Bis auf seine zuckenden Finger und das Beben, beides unfreiwillig, rührte er sich nicht, noch nicht einmal, um seine Haltung zu verändern, da ihm gesagt worden war, er solle stillsitzen.

Sein Blick wanderte zwischen zweierlei Sehenswertem hin und her: seinen Ehefrauen.

Mit einer silbernen Perle an der linken Schläfe und den glasigen Augen eines dieser ausgebrannten Amphetamin-Junkies hockte Judy Snyder auf dem Sofa, die Knie geschlossen, die Hände friedlich auf dem Schoß gefaltet. Sie zuckte und zitterte nicht so wie ihr Mann. Sie schien furchtlos zu sein, was vielleicht daran lag, dass die Sonde ihr Gehirn auf unbeabsichtigte Weise beschädigt hatte.

Die andere Judy stand an einem der Wohnzimmerfenster zur Straße, blickte in die verschneite Nacht hinaus und musterte zwischendurch verächtlich ihre zwei Gefangenen. Sie gehörten zur Gattung der Plünderer der Erde. Bald würden die beiden fortgeführt werden wie zwei Schafe, zur Gestaltung und Weiterverarbeitung. Und eines Tages, wenn die letzten Menschen ausgerottet waren, würde die Welt wieder so paradiesisch sein wie einst oder wie es jemals denkbar sein könnte.

Diese Judy war kein Klon derjenigen, die auf dem Sofa saß, nichts so Widerwärtiges wie eine bloße Maschine aus Fleisch, denn mehr als das waren die Menschen nicht. Sie war dazu entworfen worden, als die echte Judy durchzugehen, doch diese Illusion würde nicht standhalten, falls ihre innere Struktur und die Beschaffenheit ihres Fleischs von Ärzten untersucht werden sollte. Sie war innerhalb weniger Monate im Bienenstock tief unter der Erde erschaffen, programmiert und als Erwachsene ausgeworfen – »geboren« – worden, ohne andere Glaubenssätze als ihr Programm, ohne die Illusion, sie besäße einen freien Willen, ohne jegliche Verpflichtung gegenüber irgendeiner anderen höheren Macht als Victor Leben, ihrem Schöpfer, dessen wahrer Nachname Frankenstein war, und ohne ein Leben nach diesem hier, dem all ihr Trachten zu gelten hatte.

Durch den Spalt zwischen den Vorhängen beobachtete sie, wie ein hochgewachsener Mann die schneebedeckte Straße überquerte, die Hände in den Manteltaschen und das Gesicht dem Himmel zugewandt, als begeisterte er sich für das Wetter. Während er sich dem Haus auf dem Gehweg näherte, ließ er zum Spaß mit spielerischen Tritten Schnee aufwirbeln. Judy konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie nahm an, er müsse Andrew Snyder sein, der neunzehnjährige Sohn der Familie. Seine Eltern erwarteten etwa um diese Zeit seine Rückkehr von der Arbeit.

Sie ließ den Vorhang sinken und trat aus dem Wohnzimmer in die Diele. Als sie Andrews Schritte auf der Veranda hörte, öffnete sie die Tür.

»Andy«, sagte sie, »ich habe mir ja solche Sorgen gemacht.«

Andrew zog seine Stiefel aus, um sie auf der Veranda stehen zu lassen, und schüttelte lächelnd den Kopf. »Du machst dir zu viele Sorgen, Mom. Ich habe mich noch nicht einmal verspätet.«

»Nein, du bist nicht spät dran, aber heute Abend sind in der Stadt furchtbare Dinge geschehen.«

»Furchtbare Dinge? Was soll das heißen?«

Als Andrew auf Strümpfen in die Diele trat, schloss die Replikantin von Judy die Tür, drehte sich zu ihm um und begann seinen warmen Marinemantel aufzuknöpfen. Um, so gut sie konnte, mütterliche Sorge vorzutäuschen, sagte sie: »Du holst dir noch den Tod bei diesem Wetter.«

Er nahm den Schal ab und fragte noch einmal: »Was für furchtbare Dinge?« Verwirrt und ärgerlich zog er die Stirn in Falten, als sei es total untypisch für sie, sich solche Umstände mit seinem Mantel zu machen.

Während sie die Knöpfe öffnete, manövrierte sie ihn geschickt in eine Position, von der aus er die Tür zum Arbeitszimmer nicht einmal aus dem Augenwinkel sehen konnte.

»All diese Morde«, sagte sie. »Es ist grauenhaft.«

Andrew wandte ihr seine Aufmerksamkeit in einem höheren Maß als bisher zu und sagte: »Morde? Was soll das heißen?«

Während er diese Frage stellte, glitt sein Replikant lautlos aus dem Arbeitszimmer, kam direkt auf ihn zu und betätigte, sobald er die Mündung an Andrews linke Schläfe gepresst hatte, den Abzug seiner Pistole, die eine Gehirnsonde abfeuerte.

Die Züge des jungen Mannes verzerrten sich vor Schmerz, aber nur einen Moment lang. Dann wurden seine Augen vor Entsetzen groß, obwohl sich sein Gesicht gleichzeitig entspannte und einen Ausdruck annahm, in dem man kaum mehr lesen konnte als im Gesicht von jemandem, der im Koma liegt.

»Komm mit mir«, sagte Andrews Replikant und führte seinen Namensvetter ins Wohnzimmer. »Setz dich aufs Sofa.«

Eine silberne Perle schimmerte an seiner Schläfe wie ein Tropfen Quecksilber, als Andrew Snyder tat, was ihm gesagt wurde.

Hätte Andrews Replikant beschlossen, dem echten Andrew gegenüber Platz zu nehmen und den Abzug noch einmal zu betätigen, hätte die Pistole keine zweite Gehirnsonde abgeschossen, die seinen Schädel durchbohrt hätte. Der zweite Schuss wäre ein telemetrischer Befehl gewesen, der die Übertragung von der in der Gehirnmasse eingebetteten Nadel zu einem Datenspeichermodul im anorganischen Gehirn des Replikanten in Gang gesetzt hätte. Binnen neunzig Minuten, wenn nicht weniger, wäre dann ein Datentransfer der wesentlichen Erfahrungen im Leben des jungen Mannes – angeeignetes Wissen, Erinnerungen, Gesichter, Ströme von Bildern und Geräuschen – an seinen Doppelgänger erfolgt.

Der Replikant brauchte jedoch nur äußerlich als Andrew Snyder durchzugehen. Alles, was darüber hinausging, war überflüssig, denn bis zum übernächsten Abend um diese Uhrzeit würden sämtliche Einwohner von Rainbow Falls bereits getötet, gestaltet und weiterverarbeitet worden sein. Niemand, der den echten Andrew gekannt hatte, würde am Leben bleiben und von seinem im Labor gezüchteten Doppelgänger getäuscht werden müssen.

Unter diesen Umständen wären neunzig Minuten für den Download von Erinnerungen Zeitvergeudung gewesen. Replikanten verabscheuten Vergeudung und Ablenkung. Konzentration und Effizienz waren wichtige Prinzipien. Die einzige Moral war die Effizienz, die einzige Unmoral die Ineffizienz.

Die Gemeinschaft – so nannten Geschöpfe, die im Bienenstock entstanden waren, sich in ihrer Gesamtheit – würde bald einen geheimen Stützpunkt besitzen, von dem aus sie sich erbarmungslos erst über den Kontinent und dann rasch über die ganze Welt ausbreiten würde. Kommunitaristen waren die Verkörperung des Fortschritts. Sie standen für das Ende der Geschichte, das Ende des widerlichen Durcheinanders menschlicher Wahnvorstellungen und zufälliger Geschehnisse, und für den Beginn einer geplanten Zukunft, die nach einem präzisen Zeitplan eines Tages zur absoluten Perfektion aller Dinge führen würde.

Der Kommunitarist Andrew Snyder, der bereits die dem Winterabend angemessene Kleidung trug, verließ das Wohnzimmer, um sich dem Kommunitaristen Warren Snyder anzuschließen, der ihn in der Garage erwartete und schon in dem bereitstehenden Ford Explorer saß. Der echte Warren, der gelähmt auf dem Sessel im Wohnzimmer zurückblieb, war Hauptgeschäftsführer von KBOW, dem einzigen Rundfunksender der Stadt.

In einem frühen Stadium jeder gewaltsamen Revolution mussten diejenigen, die die herrschende Ordnung stürzen wollten, die Kontrolle über sämtliche Informationsvermittlungssysteme an sich bringen, um dem Feind eine Infrastruktur zu nehmen, die den Widerstand erleichtern könnte. Jeder, der Spätschicht beim Sender hatte, musste unter Kontrolle gebracht und dann in eines der Zentren transportiert werden, in denen die Leute von Rainbow Falls energisch weiterverarbeitet wurden.

Die Replikantin Judy blieb mit der Judy, die sie ersetzt hatte, und mit den beiden Männern zurück, die fügsam im Wohnzimmer saßen. Ihr Auftrag bestand darin, hier zu warten, bis ein Transportfahrzeug eintraf, um die drei mit den durchstochenen Gehirnen abzuholen und sie an den Ort ihrer Vernichtung zu befördern.

Selbst wenn die Angehörigen der Familie Snyder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen wären, wären sie kein akzeptabler Umgang gewesen. Schließlich waren Menschen nicht bloß niedere Tiere wie jedes andere Geschöpf in Wald und Flur; sie waren bei Weitem die übelste aller Gattungen auf Erden – dermaßen eitel, dass sie sich unter allen Lebewesen einen Sonderstatus anmaßten, und so total gestört, dass sie sich einbildeten, sie würden mit Seelen geboren und es sei ihnen bestimmt, ihrem Leben einen Sinn zu geben, um eine kosmische Vorsehung zu verwirklichen, obwohl sie in Wahrheit ein Krebsgeschwür im Busen der Natur waren.

Trotz ihrer anmaßenden Ambitionen waren sie Fleisch. Nichts weiter als Fleisch. Blut, Knochen und Fleisch. Und wahnsinnig. Total verrückt. Sie waren verrückt gewordenes Fleisch und sonst gar nichts.

Die Kommunitaristin Judy verabscheute sie. Auch ihre Lebensweise widerte sie an, das mangelnde Interesse an den zahllosen Unvollkommenheiten ihrer Umgebung.

Der Wohnzimmerteppich war nur das unmittelbarste Beispiel für ihre Unterlegenheit in dieser Hinsicht. Flusen. Sie zählte allein schon in dem Bereich, der durch die beiden Sessel und den Couchtisch vor dem Sofa begrenzt wurde, sechs Flusen. Und nicht etwa nur kleine Fusseln. Auch Katzenhaare. Die Katze war durch eine Klappe in der Küchentür geflohen, doch ihre Haare waren überall.

Ordnung war ein wichtiges Prinzip, nicht weniger wichtig als Konzentration und Effizienz. Tatsächlich war Effizienz ohne äußere Ordnung nicht erreichbar. Erst musste Ordnung hergestellt werden, bevor sich perfekte Effizienz erzielen ließ. Diese Wahrheit war eine der Grundlagen ihrer Programmierung.

Auf das Transportfahrzeug zu warten, das die Snyders abholen würde, war kein effizienter Gebrauch von Zeit. Während Judy auf dem schmutzigen Teppich hin und her lief und ab und zu stehen blieb, um die schlampig aufgehängten Vorhänge zu teilen und auf der Straße nach dem planmäßigen Lieferwagen Ausschau zu halten, war ihr deutlich bewusst, dass an zahllosen Fronten dringend Fortschritte gemacht werden mussten, dass es eine Welt zu erobern und zu verändern galt und dass sie im Moment nichts zu den heroischen Anstrengungen der Gemeinschaft beitrug.

Sie fühlte sich gleich etwas wohler, als sie den Staubsauger aus der Abstellkammer holte und sich damit alle sichtbaren Stellen des Teppichs vornahm, bis sie keine Flusen, keine losen Fäden und kein einziges Katzenhaar mehr sehen konnte. Aber dann fiel ihr Blick durch die Glasplatte des Couchtischs auf etwas, was eine Erdnuss sein mochte, die einer der Snyders hatte fallen lassen und die unter das Möbelstück gerollt war.

Aufgewühlt zerrte sie den Couchtisch von dem Sofa fort, auf dem zwei ihrer Gefangenen gehorsam warteten, weil sie sich den Teppich darunter genauer ansehen wollte. Neben der Erdnuss fand sie eine tote Fliege. Das Insekt machte einen so trockenen, geradezu spröden Eindruck, als hätte es tagelang unter dem Tisch gelegen und würde bei der kleinsten Berührung zu Flocken und Staub zerbröseln.

Die Erdnuss und die Fliege waren noch nicht alles. Auch dort waren Katzenhaare und ein Krümel von etwas, was sie nicht identifizieren konnte.

»Hebt eure Füße hoch! Hebt sie hoch!«, befahl sie Andrew und seiner Mutter, und beide gehorchten, ohne eine Miene zu verziehen. Der Ausdruck ihrer schlaffen Gesichter veränderte sich nicht, als sie die Knie anzogen und die Füße vom Boden hoben.

Mit kommunitaristischem Eifer saugte Judy den Teppich vor dem Sofa. Als sie sah, dass Warren seine Füße ebenfalls gehoben hatte, saugte sie auch vor seinem Sessel.

Zwangsläufig drängte sich ihr die Frage auf, was sich an Staub und Unrat auf der Bodenleiste hinter dem Sofa und auf dem Teppich unter selbigem angesammelt haben könnte. Bilder von extremer Unordnung standen ihr vor Augen.

Sie ging ans Fenster und schob die Vorhänge ein Stück auseinander, die nicht sorgfältig genug gebügelt waren, um einen gleichmäßigen Faltenwurf zu gewährleisten. Sie sah auf der winterlichen Straße nach links und nach rechts. Ein Streifenwagen fuhr langsam am Haus vorbei. Sämtliche Polizisten in der Stadt waren bereits Kommunitaristen und waren es auch schon den größten Teil des Tages über gewesen, doch dieser Umstand beruhigte Judy nicht im Mindesten. Nur eines würde ihr versichern, dass die geplante Übernahme der Stadt effizient fortschritt: das Eintreffen des Transportfahrzeugs mit zwei Mann Besatzung, das die Snyders abholen würde.

Sie wandte sich vom Fenster ab, sah sich im Zimmer um und beurteilte ihre gesamte Umgebung als eine reine Katastrophe.

2.

In der Dunkelheit fielen stumme Heerscharen von Schneeflocken leise in die Stadt ein, belagerten Rainbow Falls, Montana, und eroberten die schwarzen Straßen. Wie die Rauchwolken einer Schlacht verhüllte der Schneesturm die roten Backsteingebäude und die hoch aufragenden immergrünen Bäume. Schon bald würden die Straßenzüge der Stadt und die Landschaft, von der sie umgeben waren, gespenstisch und trostlos wirken, apokalyptische Visionen einer unbelebten Zukunft.

Ohne die Kälte wahrzunehmen, streifte Deucalion so durch die schneegepeitschte Stadt, wie nur er und niemand sonst auf Erden sich von einem Ort an einen anderen begeben konnte. Die schrecklichen Blitze, die ihn vor mehr als zweihundert Jahren in Victors ursprünglichem Labor schlagartig zum Leben erweckt hatten, hatten ihm auch andere Gaben verliehen, darunter ein tiefgreifendes Verständnis für die Quantenstruktur des Universums sowie eine intuitive Einsicht in die grundlegende Beschaffenheit aller Dinge. Er wusste, dass das Universum von unermesslicher Weite war und doch ein eigentümlich intimer Ort, dass Entfernung sowohl eine Tatsache als auch eine Illusion war und dass in Wahrheit jeder Punkt des Universums direkt neben jedem anderen Punkt lag. Ein tibetanisches Kloster am entgegengesetzten Ende der Welt war in einem anderen Sinne nur einen Schritt von Rainbow Falls entfernt, wenn man wusste, wie man diesen Schritt machte.

Deucalion wusste es, und im nächsten Moment trat er von einer schmalen Gasse hinter Jim James’ Bäckerei auf das Dach des Rainbow Theaters. In diesem Städtchen von fünfzehntausend Seelen fühlte man sich in den Wilden Westen früherer Zeiten zurückversetzt, da viele der Gebäude aus dem späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert stammten; sie hatten flache Dächer mit Brüstungen von der Sorte, hinter der sich in alten Filmen Bösewichte und Sheriffs während der Schießereien versteckten.

Kein Gebäude in der Stadt war mehr als vier Stockwerke hoch, und das Theater zählte zu den höchsten Bauten. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte Deucalion im fallenden Schnee die Cody Street in Richtung Osten und Westen einsehen. Die meisten Geschäfte hatten wegen des Schneesturms eher geschlossen, doch die Restaurants und Bars blieben weiterhin hell erleuchtet. Nur wenige Fahrzeuge waren am Straßenrand geparkt, und der Straßenverkehr war auf einen Bruchteil seines Aufkommens vor einer halben Stunde gesunken.

Der große fensterlose Lieferwagen mit der mitternachtsblauen Fahrerkabine und dem weißen Laderaum war eines von nur vier Fahrzeugen, die sich durch die Cody Street bewegten. Weitere identische Lieferwagen waren anderswo in der Stadt unterwegs. Über die Natur der Aufgabe, die von jeweils zwei Männern mit harten Augen ausgeführt wurde, hatte sich Deucalion schon eher Klarheit verschafft: Sie beförderten unterworfene Einwohner von Rainbow Falls zu Einrichtungen, in denen sie getötet wurden.

Die Opfer waren durch Doppelgänger ersetzt worden, die in Victors Einrichtung erschaffen worden waren. Diese Einrichtung lag irgendwo entlang der Landstraße 311, von den Ortsansässigen Endzeit-Highway genannt, einer Schleife von vierundzwanzig Meilen Länge, breit, gut ausgebaut, asphaltiert und durchgehend zweispurig, die auf den Kalten Krieg zurückging. Diese Straße führte dem Anschein nach auf ihrer abgelegenen bewaldeten Strecke nirgendwohin, abgesehen von einer Reihe von Raketensilos, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stillgelegt, zum Teil aufgegeben und zum Teil an Firmen verkauft worden waren, als Hochsicherheitslager mit geringer Luftfeuchtigkeit für heikle Unterlagen. Viele Ortsansässige waren der Überzeugung, die Silos seien nur ein kleiner Teil dessen, was verborgen am Endzeit-Highway lag, und dort seien auch andere geheime unterirdische Einrichtungen erbaut worden, tief genug, um vielfachen direkten Atomanschlägen standzuhalten. Diesmal würde es nicht einfach werden, Victors Unterschlupf zu finden.

Zweifellos hatte man diejenigen, die im Polizeidienst standen oder bedeutende Ämter innehatten, als Erste durch Replikanten ersetzt und ermordet. Victor würde die Herrschaft über die Stadt von oben übernehmen und sich bis zum letzten arglosen Bürger nach unten vorarbeiten. Deucalion hatte bereits gesehen, wie gefangen genommene Angestellte der Telefongesellschaft in einen der blau-weißen Lieferwagen gescheucht worden waren, woraufhin man sie zu einem Lagerhaus transportiert hatte, um sich ihrer dort zu entledigen.

Als der Lieferwagen unten auf der Cody Street nach Norden in die Russell Street abbog, trat Deucalion vom Dach des Theaters und begab sich mit einem kühnen Schritt wie durch Zauberei direkt auf die Blechstufe vor der Beifahrertür des Fahrzeugs. Überrascht wandte der Beifahrer seinen Kopf zu ihm um. Deucalion hielt sich an einem Haltegriff außen an der Fahrerkabine fest und riss die Tür auf, wobei ihm seine massige Gestalt im Weg war, griff mit einer Hand hinein, packte den Beifahrer an der Kehle, drückte ihm die Luftröhre ein, zog ihn vom Sitz und warf ihn auf die schneebedeckte Straße, als wöge er nicht mehr als eine Schaufensterpuppe aus hohlem Plastik.

»Man sollte sich immer anschnallen«, murmelte er.

Am früheren Abend hatte er festgestellt, dass die derzeitige Generation von Victors Geschöpfen nicht so robust war wie die Angehörigen der Neuen Rasse, die der Möchtegern-Gott Jahre zuvor in New Orleans erschaffen hatte. Diese Individuen hatte man selbst mit einer Urban Sniper nur schwer außer Gefecht setzen können, einer Schrotflinte für den Polizeigebrauch, die nur Kugeln abfeuerte und keine Schrotmunition mit breiter Streuung. Dennoch waren diese Replikanten aus Montana zäher als menschliche Wesen, aber für Deucalion, dessen Kraft ihre bei Weitem überschritt, waren sie leichte Beute.

Da sich der Lieferwagen voranbewegte, schlug die Tür mit Wucht gegen Deucalion, doch seine Schmerzgrenze war hoch, seine Leidensfähigkeit enorm. Er stieß sie wieder auf, schwang sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür hinter sich zu.

Einen der Männer auszuschalten und in das Fahrzeug zu steigen erforderte nur wenige Sekunden, und der verwirrte Fahrer bremste nur halb ab, als er sah, wie sein Partner aus der Fahrerkabine gezerrt wurde. Deucalion griff nach dem Schlüssel und schaltete den Motor aus. Überrascht, aber furchtlos – diese neuen Replikanten schienen keine Angst zu kennen – holte der erboste Fahrer mit der rechten Faust aus, aber Deucalion packte sie in der Luft, drehte sie um und brach das Handgelenk.

Der Fahrer ächzte, stieß jedoch keinen Schmerzensschrei aus. Während der Lieferwagen auf der Straße ausrollte, schloss Deucalion seine linke Hand um den Hinterkopf seines Gegners und knallte das Gesicht des Replikanten auf das Steuer. Er schlug es noch einmal darauf, dann ein drittes und ein viertes Mal, wobei nur zweimal ein Hupton entstand.

Der Lieferwagen verlor schnell an Geschwindigkeit; der rechte Vorderreifen fuhr gegen einen Randstein und schaffte es fast nach oben, und der Fahrer gab seinen Widerstand auf. Als die vordere Stoßstange sanft gegen einen Laternenpfahl stieß, kam das Fahrzeug vollständig zum Stehen. Deucalion war sicher, dass der Replikant tot sein musste, aber vorsichtshalber packte er den Mann mit einem Würgegriff und brach ihm das Genick.

Diese beiden Morde konnten nicht als Morde bezeichnet werden. Wahrer Mord war streng genommen ein Verbrechen gegen die Menschheit. Bis auf den äußeren Anschein waren diese Exemplare aus Victors derzeitigem Labor in keiner Weise menschlich. Sie waren Abscheulichkeiten. Monster. Laborratten.

Deucalion verspürte keinerlei Schuldgefühle, weil er ihnen ein Ende bereitet hatte, denn schließlich war auch er nichts anderes als ein Monster, das erste Modell in Victors Kollektion. Vielleicht war er durch seine Reue über seine einstigen Verbrechen und durch Jahrhunderte des Leidens gewissermaßen von seinen Sünden gereinigt. Er mochte sogar ein Monster mit einer heiligen Mission sein, obwohl er im Grunde genommen immer noch ein Monster war, ein Ergebnis von Victors Größenwahn, im Affront gegen Gott aus Leichenteilen gehängter Verbrecher erschaffen.

Er konnte so brutal und unbarmherzig sein wie jedes der neueren Geschöpfe seines Schöpfers. – Da der Krieg gegen die natürliche Welt begonnen hatte, brauchte die Menschheit ihr eigenes Monster, um auf ein Überleben hoffen zu können.

Deucalion ließ die Leiche hinter dem Lenkrad sitzen und stieg aus dem Lieferwagen. Der Schnee fiel so dicht, dass er, selbst wenn der Wind einen Moment nachließ, noch als Schneesturm gelten konnte.

Plötzlich schien es Deucalion, als schimmerten die fallenden Schneeflocken nicht mehr im Licht der Straßenlaternen, sondern als leuchteten diese Kristallgebilde von innen heraus, als seien sie Späne des unsichtbaren Mondes, jeder einzelne vom Mondschein erfüllt. Je länger Deucalion lebte, desto zauberhafter fand er diese heiß geliebte Welt.

Die Russell Street, eine der Durchfahrtsstraßen, war menschenleer; weder andere Fahrzeuge noch Fußgänger waren hier unterwegs. Von dieser Querstraße bis zur nächsten war kein Geschäft geöffnet, doch jeden Moment konnte ein Zeuge auftauchen.

Deucalion verfolgte die Reifenspuren zurück und blieb neben dem Individuum stehen, das er aus dem Lieferwagen geworfen hatte. Trotz ihrer zerquetschten Kehle versuchte die Laborratte immer noch zu atmen und die Finger in den von den Reifen zusammengepressten Schnee zu graben, in dem aussichtslosen Bemühen, sich auf die Knie zu ziehen. Mit einem Stiefeltritt in den Nacken bereitete er dem Leiden der Kreatur ein Ende.

Er trug die Leiche zu dem Lieferwagen und öffnete die Hecktür. Der Laderaum war leer; der nächste Schwung glückloser Menschen, die hingerichtet werden sollten, war noch nicht abgeholt worden. Er warf die Leiche in den Lieferwagen.

Dann zog er den Fahrer aus der Fahrerkabine, trug ihn um das Fahrzeug herum, warf ihn zu der anderen Leiche im Laderaum und schloss die Tür.

Als er hinter dem Lenkrad saß, ließ er den Motor an. Er setzte den Lieferwagen von dem Laternenpfahl zurück und fuhr rückwärts vom Randstein auf die Straße.

Der kleine Bildschirm im Armaturenbrett wurde hell und zeigte eine Straßenkarte mit einem Ausschnitt von Rainbow Falls. Ein blinkender roter Punkt zeigte den derzeitigen Standort des Lieferwagens an. Eine grüne Linie verwies auf die Route, die der Fahrer offenbar einschlagen sollte. Oben auf dem Bildschirm stand FAHRTROUTETRANSPORT NR. 3. Daneben konnte man zwischen zwei Optionen wählen, von denen eine LISTE hieß, die andere STRASSENKARTE. Im Moment war die zweite Option gewählt.

Deucalion drückte mit dem Zeigefinger auf LISTE. Die Straßenkarte verschwand von dem Bildschirm, und an ihrer Stelle erschien dort eine Auftragsliste. Die dritte Adresse war markiert, FALLS INN, an der Kreuzung der Beartooth Avenue mit der Falls Road gelegen. Offenbar wäre das der nächste Halt des Lieferwagens gewesen.

Auf der rechten Seite des Touchscreens befanden sich drei Kästchen untereinander, von denen jedes eine Zahl trug. Die 3 war markiert.

Als Deucalion seinen Zeigefinger auf die 1 legte, wurde die Liste auf dem Bildschirm durch eine andere Aufzählung von Adressen ersetzt. Der Text am oberen Bildrand lautete jetzt FAHRTROUTE TRANSPORT NR. 1.

Auch hier war die dritte Zeile markiert. Das zweiköpfige Team von Transport NR. 1 hatte die Menschen unter den beiden erstgenannten Adressen offenbar erfolgreich abgeholt und sie vielleicht in ihren Untergang befördert. Der nächste Halt schien KBOW zu sein, der Rundfunksender, den man nicht nur in Rainbow Falls, sondern auch in der gesamten Umgebung empfangen konnte.

Nachdem sie am früheren Abend die Angestellten der Telefongesellschaft durch Replikanten ersetzt und somit die Kontrolle über das gesamte Festnetz und die Handymasten an sich gebracht hatte, würde Victors Armee als Nächstes KBOW übernehmen, um die Übertragung einer Warnung an die Einwohner der Stadt oder an die Leute in den kleineren Ortschaften der näheren Umgebung zu verhindern.

Deucalion schaltete auf STRASSENKARTE und sah, dass der Rundfunksender in der River Road stand, nicht weit vom nordöstlichen Stadtrand und etwa zwei Meilen von seinem derzeitigen Standort entfernt. Transport NR. 1 sollte in weniger als vier Minuten dort eintreffen, um die Abendbelegschaft des Senders abzuholen, was die Vermutung nahelegte, dass der Angriff auf den Rundfunksender bereits begonnen haben könnte. Wenn er der Route zu KBOW folgte, die das Navigationssystem des Lieferwagens empfahl, würde zum Zeitpunkt seines Eintreffens dort bereits alles über die Bühne gegangen sein.

Er öffnete die Fahrertür, schwang sich aus dem Lieferwagen ... und begab sich mit einem einzigen Schritt von der Russell Street auf den Parkplatz der Sendeanstalt.

3.

Mr Lyss fuhr ziellos durch das Schneetreiben, während er darüber nachzudenken versuchte, was er als Nächstes tun sollte. Nummy O’Bannon fuhr ebenso ziellos mit ihm, denn Nummy fuhr nicht selbst, war aber ein guter Beifahrer.

Nummy war nicht ganz wohl dabei zumute, in diesem Wagen durch die Gegend zu fahren, weil Mr Lyss den Wagen gestohlen hatte und weil Stehlen nie etwas Gutes war. Mr Lyss behauptete zwar, die Schlüssel hätten im Zündschloss gesteckt, weil der Besitzer wollte, dass jeder, der ihn brauchen könnte, seinen Wagen nahm. Aber sie waren noch keine Meile gefahren, als Nummy begriff, dass Mr Lyss gelogen hatte.

»Großmama pflegte zu sagen, wenn man sich nicht kaufen kann, was ein anderer hat, und wenn man es sich auch nicht selbst machen kann, dann sollte man es nicht selbst haben wollen. Diese Form von Wollen nennt sich Neid, und Neid kann einen schneller zum Dieb machen, als Butter in einer heißen Bratpfanne schmilzt.«

»Dann entschuldige bitte, dass ich verdammt noch mal zu dumm dazu bin, uns in Nullkommanichts ein Auto zu bauen.«

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie dumm sind. Ich beschimpfe niemanden. Das ist nicht nett. Ich bin selbst oft genug beschimpft worden.«

»Ich beschimpfe die Leute gern«, sagte Mr Lyss. »Mich macht das total an. Ich genieße es, Leute zu beschimpfen. Mit meinen Beschimpfungen habe ich schon oft genug kleine Kinder zum Weinen gebracht. Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, etwas sein zu lassen, was mir so viel unschuldiges Vergnügen bereitet.«

Mr Lyss war nicht so furchteinflößend, wie er früher am Tag ausgesehen hatte. Sein kurz geschnittenes graues Haar stand immer noch nach allen Richtungen ab, als sei es schockiert über all die gemeinen Gedanken in seinem Kopf. Sein Gesicht war so verkniffen, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen, seine Augen waren so gefährlich blau wie Gasflammen, trockene Haut hatte sich auf seinen gesprungenen Lippen zu kleinen Wülsten zusammengerollt, und seine Zähne waren grau. Es schien, als käme er gut ohne Essen und ohne Wasser aus, solange seine Wut ihm Nahrung gab. Aber er war nicht mehr ganz so gruselig. Manchmal konnte man ihn fast mögen.

Nummy wurde nie wütend. Er war zu dumm, um wütend zu werden. Das war einer der größten Vorteile daran, wirklich dumm zu sein, so dumm, dass sie einen nicht mal zwangen, in die Schule zu gehen: Man konnte einfach nicht angestrengt genug über etwas nachdenken, um sich darüber aufzuregen.

Er und Mr Lyss waren ein ungleiches Paar, wie die ungleichen Paare in manchen Filmen, die Nummy gesehen hatte. In Filmen von der Sorte waren die Typen, die diese ungleichen Paare bildeten, immer Bullen, einer von ihnen ruhig und nett, der andere verrückt und komisch. Nummy und Mr Lyss waren keineswegs Bullen, aber sie waren wirklich sehr unterschiedlich. Mr Lyss war der Verrückte und Komische, wenn man mal davon absah, dass er nicht besonders komisch war.

Nummy war dreißig, aber Mr Lyss musste älter sein als jeder andere Mensch, der noch am Leben war. Nummy war pummelig und hatte ein rundes Gesicht und Sommersprossen; Mr Lyss dagegen schien vorwiegend aus Knochen und Knorpeln und dicker Haut mit einer Million Falten darin zu bestehen, wie eine zerknautschte alte Lederjacke.

Manchmal war Mr Lyss so interessant, dass man ihn einfach ansehen musste und nicht wegschauen konnte, fast so wie in einem Film, wenn am Zeitzünder einer Bombe die kleinen roten Zahlen herunterratterten. Aber es konnte auch vorkommen, dass es einen restlos erschöpfte, wenn man ihn zu lange anstarrte, und dann musste man sich abwenden, um seinen Augen Erholung zu gönnen. Der Schnee sah weich und kühl aus, als die Flocken wie winzige Engel, die von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet waren, durch die Dunkelheit schwebten.

»Der Schnee ist wirklich hübsch«, sagte Nummy. »Es ist eine schöne Nacht.«

»Oh ja«, sagte Mr Lyss, »es ist eine märchenhafte Nacht, atemberaubende Schönheit, wohin man auch sieht, hübscher als all das Hübsche, was auf all den hübschen Weihnachtskarten zu sehen ist. Aber nur, wenn man von den heißhungrigen Monstern absieht, die sich überall in der Stadt herumtreiben und Menschen schneller fressen, als ein Hackschnitzler eine verdammte Kartoffel zerkleinern könnte!«

»Ich habe diese Marsmenschen nicht vergessen«, sagte Nummy, »wenn es das ist, was sie sind. Aber die Nacht ist trotzdem schön. Was wollen Sie jetzt tun? Wollen Sie vielleicht an den Stadtrand fahren und nachsehen, ob die Bullen und die Straßensperre noch da sind?«

»Das sind keine Bullen, Junge. Das sind Monster, die sich als Bullen ausgeben, und sie werden da sein, bis sie alle in der ganzen Stadt aufgefressen haben.«

Obwohl Mr Lyss langsam fuhr, schlingerte das hintere Ende des Wagens manchmal. Er bekam den Wagen immer wieder unter Kontrolle, bevor sie gegen etwas stießen, aber sie brauchten eigentlich jetzt schon einen Wagen mit Schneeketten oder Winterreifen.

Wenn Mr Lyss einen anderen Wagen stahl, einen mit Schneeketten, und wenn Nummy mit ihm ging und von Anfang an wusste, dass es Diebstahl war, würde er damit wahrscheinlich selbst zum Dieb. Großmama hatte ihn aufgezogen, und daher würden schlimme Dinge, die er tat, vor Gott, bei dem sie jetzt war, auf sie zurückfallen und ihr Schande machen.

Nummy sagte: »Sie wissen nicht wirklich, dass die Monsterbullen noch da sind, solange Sie nicht hinfahren und nachsehen.«

»Und ob ich das weiß.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich ein verdammtes Genie bin«, sagte Mr Lyss und versprühte dabei Spucke. Er hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Knöchel scharf wie Messer wirkten. »Mein Gehirn ist so verflucht groß, dass ich manche Dinge einfach weiß. Heute Morgen im Gefängnis kannten wir einander noch keine zwei Minuten, und ich wusste schon, dass du ein Dummkopf bist, oder etwa nicht?«

»Das ist wahr«, gab Nummy zu.

Ein Polizeiwagen überquerte die Kreuzung vor ihnen von Süden nach Norden, und Mr Lyss sagte: »Das führt zu nichts. In einem Wagen kommen wir niemals aus der Stadt raus. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden.«

»Vielleicht könnten wir so aus der Stadt rauskommen, wie Sie reingekommen sind. Ich wollte schon immer mal mit dem Zug fahren.«

»Ein kalter, leerer Güterwagen ist nicht gerade mondän, und man hat auch nicht halb so viel Spaß, wie man meinen sollte. Außerdem werden sie den Güterbahnhof ohnehin überwachen.«

»Fliegen können wir schon mal nicht.«

»Ach, ich weiß nicht recht«, sagte Mr Lyss. »Wenn dein Schädel so hohl ist, wie es mir scheint, könnte ich einen Korb an deine Füße binden, dir Heißluft in die Nase blasen und mich von dir hier raustragen lassen wie von einem großen, alten Ballon.«

Bis etwa zur übernächsten Kreuzung dachte Nummy darüber nach, während der alte Mann die Scheibenheizung anschaltete und die Windschutzscheibe, die an den Rändern beschlagen war, wieder klar wurde. Dann sagte er: »Das ergibt keinen Sinn, außer, Sie waren einfach nur wieder gemein.«

»Da könntest du recht haben.«

»Ich weiß nicht, warum Sie so gemein sein müssen.«

»Ich bin gut darin. Ein Mensch tut gern, was er gut kann.«

»Sie sind jetzt nicht mehr so gemein zu mir wie am Anfang, als wir uns gerade erst kennengelernt hatten.«

Nach kurzem Schweigen sagte Mr Lyss: »Tja, Peaches, ich habe eben meine Höhen und Tiefen. Niemand kann rund um die Uhr hundert Prozent gut in etwas sein.«

Manchmal nannte Mr Lyss ihn Peaches. Nummy war nicht sicher, warum er das tat.

»Ein paarmal«, sagte Nummy, »dachte ich sogar schon fast, wir würden Freunde.«

»Ich will keine Freunde«, sagte Mr Lyss. »Du nimmst dir jetzt ein Kleenex und schnäuzt dir den Gedanken auf der Stelle aus dem Kopf. Schnäuz ihn raus wie den Rotz, der er ist. Ich bin ein Einzelgänger und ein Eigenbrötler. Freunde sind eine Last, die einen Mann zu Boden zieht. Freunde sind nichts anderes als zukünftige Feinde. Es gibt nichts Schlimmeres auf Erden als Freundschaft.«

»Großmama hat immer gesagt, Freundschaft und Liebe, darum geht es im Leben.«

»Du hast mich gerade daran erinnert, dass es doch noch etwas Schlimmeres als Freundschaft gibt. Liebe. Nichts zieht dich schneller runter als die Liebe. Das reinste Gift. Liebe ist tödlich.«

»Das kann einfach nicht wahr sein«, sagte Nummy.

»Es ist aber wahr.«

»Nein, ist es nicht.«

»Nenn mich keinen Lügner, Junge. Männern, die mich einen Lügner genannt haben, habe ich schon die Kehle rausgerissen. Ich habe ihnen die Zunge rausgeschnitten und sie mir mit Zwiebeln zum Frühstück gebraten. Ich bin ein gefährlicher Dreckskerl, wenn ich aufgebracht bin.«

»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ein Lügner sind. Nur, dass Sie sich irren, was die Liebe angeht. Sie irren sich, das ist alles. Großmama hat mich geliebt, und diese Liebe hat mich nie getötet.«

»Aber sie ist tot, oder nicht?«

»Die Liebe hat sie nicht getötet, das war die Krankheit. Wenn ich ihren Krebs in mich hätte aufnehmen und an ihrer Stelle hätte sterben können, wäre ich jetzt tot, und sie säße hier lebendig neben Ihnen.«

Eine Minute lang fuhren sie schweigend weiter, dann sagte Mr Lyss: »Du solltest nicht immer auf mich hören, Junge, und das, was ich sage, auch nicht ständig ernst nehmen. Nicht alles, was ich sage, ist genial.«

»Wahrscheinlich das meiste davon, aber nicht das, was Sie gerade gesagt haben. Wissen Sie was? Vielleicht käme für uns ein Ski-doo in Frage.«

»Ein was?«

»Sie wissen schon, ein Schneemobil.«

Mr Lyss lenkte den Wagen vorsichtig an den Straßenrand und hielt an. »Wir könnten querfeldein fahren. Aber genügt der Schnee dafür? Zwei bis drei Zentimeter, mehr liegt nicht auf dem Boden.«

»Er ist tiefer«, sagte Nummy, »und da kommt noch viel mehr nach. Das geht jetzt ganz schnell.«

»Woher bekämen wir ein Schneemobil?«

»Viele Leute in der Stadt haben welche. Und dann gibt es da auch noch den Laden drüben am Beartrack, der Schneemobile verkauft.«

»Schon wieder einer von diesen verdammten Straßennamen, in denen das Wort Bär vorkommt. Wer auch immer den Straßen in diesem gottverlassenen Kaff ihren Namen gegeben hat, muss ungefähr so viel Fantasie gehabt haben wie ein Baumstumpf.«

»Wie ich schon sagte, gibt es in der weiteren Umgebung jede Menge Bären. Wir haben hier keine Tiger oder Zebras, nach denen wir unsere Straßen benennen können.«

Der alte Mann saß vielleicht zwei Minuten lang stumm da und sah einfach nur dem Schnee beim Fallen zu, als hätte er beschlossen, der Schnee sei doch hübsch. Für Mr Lyss, der immer und zu allem etwas zu sagen hatte, war das ein langes Schweigen. Nummy machte es normalerweise nichts aus, wenn Menschen miteinander schwiegen, aber bei Mr Lyss war so viel Stille besorgniserregend, weil Nummy sich fragte, ob er etwas Übles ausheckte.

Schließlich sagte Mr Lyss: »Peaches, du kennst tatsächlich jemanden, der ein Schneemobil hat?«

»Ich kenne ein paar Leute, die eins haben.«

»Wie zum Beispiel?«

»Zum Beispiel der Boze.«

»Boze?«

»Officer Barry Bozeman. Die Leute nennen ihn den Boze. Der rast zu jeder Jahreszeit mit diesem oder jenem querfeldein.«

»Officer?«

»Er ist Polizist. Er lacht viel. Er gibt einem das Gefühl, man sei ein prima Kerl.«

»Er ist tot«, sagte Mr Lyss schonungslos. »Wenn er ein Bulle ist, dann haben sie ihn getötet und ihn durch einen von ihren Doppelgängern ersetzt.«

Nummy hätte wissen müssen, dass der Boze tot war, denn wenn sogar Rafael Jarmillo, der Polizeichef, einer von den Aliens war, dann waren mit Sicherheit auch alle Bullen welche. Sämtliche echten Polizisten waren tot und aufgefressen worden, so, wie es heute Morgen auch all den Leuten in den Gefängniszellen ergangen war, die an die Zelle grenzten, aus der Nummy und Mr Lyss geflohen waren.

Großmama hatte immer gesagt, ganz gleich, wie traurig etwas war, man müsste stets daran denken, dass man eines Tages wieder froh sein würde, und man müsste weitermachen. Es sei wichtig weiterzumachen, hatte sie gesagt, weiterzumachen und froh zu sein und das Richtige zu tun, denn wenn man lange genug durchhielt und froh genug war und oft genug das Richtige tat, dann durfte man später bei Gott wohnen. Aber Gott mochte wirklich keine Leute, die einfach so aufgaben.

»Ist er verheiratet?«, fragte Mr Lyss.

»Ist wer verheiratet?«

»Verflixt noch mal, Junge, in deinem Kopf ist so viel Platz frei, dass du ihn vermieten solltest; du hast ein ganzes verdammtes Lagerhaus voller leerer Regale zwischen deinen Ohren. Der Boze! Nach wem sollte ich dich denn sonst fragen? Ist der Boze verheiratet?«

»Kiku, der hat es den Kopf aufgeblasen, die ist nach Stille Wiesen gekommen, und sie ist einfach davongeschwirrt, also weiß man es nie so genau.«

Mr Lyss ballte eine Hand zu einer großen, knochigen Faust, und Nummy zuckte zusammen, weil er glaubte, Mr Lyss würde ihn schlagen. Aber dann holte der alte Mann tief Atem, öffnete die Faust, tätschelte Nummys Schulter und sagte: »Vielleicht könntest du das noch mal sagen, aber diesmal verständlich.«

Nummy sagte verwundert: »Das war doch verständlich.«

»Für mich nicht. Erzähl es mir noch einmal in anderen Worten.«

»Ich weiß nicht, wie das gehen sollte. Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt.«

Mr Lyss ballte seine knochige Hand wieder zur Faust, aber er schlug Nummy immer noch nicht. Er hob die Faust an seinen Mund, kaute eine Weile auf einem Knöchel herum und sagte dann: »Was ist Kiku?«

»Das ist Mrs Bozeman, wie ich schon sagte. Sie war eine nette japanische Dame.«

»Was meintest du damit, dass es ihr den Kopf aufgeblasen hat?«

»Das kam von dem Bienenstich in ihrem Hals. Sie hatte eine Allergie, aber vor dem Stich wusste sie nichts davon. Es heißt, ihr Gesicht hätte sich aufgeblasen wie ein Luftballon.«

»Was meinst du mit: ›Sie ist auf die stillen Wiesen gekommen‹?«

»Nach Stille Wiesen. Das ist der Friedhof oben an der Brown Bear Road. Die Biene, die hat sie gestochen und ist einfach davongeschwirrt, aber Kiku, die ist gestorben, also weiß man es nie so genau.«

»Haben die beiden Kinder?«

»Der Boze und Kiku? Nein. Und das ist gut so, weil der Boze jetzt auch tot ist. Die Kinder wären Waisenkinder und furchtbar traurig.«

»Nein, sie wären Monsterfutter, genau wie der Boze es war. Und da er ein Bulle ist und jetzt ein Monsterbulle«, fuhr Mr Lyss fort, »werden wir uns sein Schneemobil holen können, weil er nicht zu Hause sein wird und uns nicht davon abhalten kann. Sämtliche Bullen werden unterwegs sein und sind bestimmt vollauf damit beschäftigt, Leute zu töten und Kokons wie die zu spinnen, die wir gesehen haben, und anderes schmutziges Zeug zu tun, eben das, was dieses stinkende Pack von Aliens so tut.«

»Mir ist nicht aufgefallen, dass sie stinken«, sagte Nummy.

»Oh doch, sie stinken. Und wie die stinken.«

»Dann stimmt wohl etwas nicht mit meiner Nase.«

4.

Carson O’Connor-Maddison saß mit zusammengekniffenen Augen hinter dem Steuer des Jeep Grand Cherokee und versuchte in dem Schneetreiben etwas zu erkennen, während sie mit Michael Maddison auf Monsterjagd durch Rainbow Falls fuhr.

Vor wenigen Stunden hatte ihnen Deucalion von den großen fensterlosen Lieferwagen mit der mitternachtsblauen Fahrerkabine und dem weißen Laderaum berichtet, die im Grunde genommen einen Auschwitz-Auftrag ausführten, indem sie Einwohner der Stadt, die zwangsweise ruhiggestellt worden waren, abholten und zu einem Lagerhaus transportierten, in dem sie vernichtet werden sollten. Sie hatten einen der Lieferwagen gefunden und versucht, das zweiköpfige Team gefangen zu nehmen, um die Männer zu verhören, indem sie vorgaben, auch sie seien Victors Geschöpfe. Aber der Fahrer hatte den Schwindel schnell durchschaut und gesagt: »Ihr seid keine Kommunitaristen«, und dann war außer Töten oder Getötetwerden nichts mehr drin.

Bei einer früheren Begegnung hatte Carson gelernt, dass Victors neueste Geschöpfe zwar schwerer umzubringen waren als gewöhnliche Männer oder Frauen, aber doch viel weniger zäh, als es ihre Vorgängermodelle in New Orleans gewesen waren. Sie wusste nicht, warum er aufgehört hatte, diese nahezu unbesiegbaren Exemplare zu produzieren, die er die Neue Rasse genannt hatte, es sei denn, seine Unfähigkeit, sie vollständig und immer unter Kontrolle zu haben, hätte ihm Furcht vor seinen eigenen Geschöpfen eingeflößt.

Da ihnen nichts anderes einfiel, was sie hätten tun können, waren sie jetzt auf der Suche nach einem weiteren blau-weißen Lieferwagen und hegten die Hoffnung, sie würden es schaffen, die Besatzung zu verwunden, statt sie zu töten. Mit den richtigen Techniken des verschärften Verhörs ließen sich die Verwundeten vielleicht dazu bringen, Victors derzeitigen Firmensitz zu verraten.

Der Schnee erschwerte die Suche, verringerte die Sicht und behinderte das Vorankommen selbst eines Fahrzeugs mit Vierradantrieb. Carson musste Gas geben können, wenn sie am Steuer saß, aber das ließen die Straßenverhältnisse nicht zu. Schnee war ätzend.

Carson war im Bayou geboren. Sie war ein Mädchen aus Louisiana, sie liebte ihr Cajun Food, eine rustikalere Spielart der kreolischen Küche, und sie tanzte mit Begeisterung zum Zydeco. Als Beamtin der Mordkommission von New Orleans hatte sie Victor Helios alias Frankenstein zur Strecke gebracht, und nachdem er und alle seine Geschöpfe im Big Easy tot waren, hatte sie den Fall im Rückblick als ein berauschendes Abenteuer ansehen können. Tatsächlich hatten sie und ihr Partner Michael, mit dem sie jetzt verheiratet war, sogar auf dem Gipfel des Grauens ihren Spaß gehabt. Polizeiarbeit machte immer Spaß. Es gab gar keinen größeren Spaß als den, Bösewichte dingfest zu machen. Waffen machten Spaß. Es machte sogar Spaß, wenn auf einen geschossen wurde, vorausgesetzt, die Schützen verfehlten ihr Ziel.

Jetzt waren sie keine Bullen mehr. Sie waren private Ermittler, und sie lebten in San Francisco. Hier in Montana waren sie nicht in ihrem Element, und sie hatten auch keine Amtsgewalt, dafür aber dicke Schießeisen, darunter auch Urban Snipers, Schrotflinten mit abgesägten Läufen, die Munition verschossen, mit der man einen Grizzlybären umlegen konnte. Eine Waffe mit dieser Feuerkraft besaß ihre eigene Form von Amtsgewalt. Trotz der Waffen und obwohl sie sich aufgedonnert hatten und in ultracoolen schwarzen Gore-Tex-/Thermolite-Regenanzügen für stürmisches Wetter steckten, war die Lage in Rainbow Falls so verzweifelt, dass sie vor Sonnenuntergang das letzte Mal gelacht hatten, und die Aussicht auf Spaß schien extrem gering zu sein.

»Schnee ist ätzend«, sagte Carson.

»Diese Bemerkung machst du jetzt schon zum ungefähr zehnten Mal«, stellte Michael fest.

»Langweile ich dich? Ist das das Ende unserer Ehe? Willst du eine Frau, die nur Gutes über Schnee zu sagen hat?«

»Langweilig macht mich, ehrlich gesagt, an. Ich habe genug Aufregung für ein ganzes Leben gehabt. Je langweiliger du bist, desto schärfer werde ich auf dich.«

»Reiß dich zusammen – dein Benehmen ist hart an der Grenze.«

In dieser Wohngegend im Süden der Stadt waren die Grundstücke zweitausend Quadratmeter groß oder noch größer. Die immergrünen Bäume ragten so hoch auf, dass sich ihre oberen Äste mit dem Himmel zu verflechten schienen, und die Häuser unter ihnen wirkten im Gegensatz dazu kleiner, als sie waren. Hier hatte man das Gefühl, im Schwarzwald zu sein, in einer märchenhaften Atmosphäre, aber in diesem Märchen konnte jeden Moment ein Troll mit teuflischen Gelüsten auftauchen. Durch den zitternden Vorhang dichten Schneefalls betrachtet, schienen die Lichter in jedem Haus vielversprechend zu funkeln und ein Geheimnis oder einen Zauber zu verheißen.

Ein Haus, das weiter von der Straße zurückversetzt lag als viele der anderen und auf mindestens viertausend Quadratmetern Land stand, fiel durch beträchtliche Aktivitäten auf. Mehrere Pick-ups und Geländefahrzeuge standen in der Nähe des Hauses auf der Auffahrt; jeder Wagen war in einem anderen Winkel geparkt, die Motoren liefen, und die Scheinwerfer waren aufgeblendet. Schwaden von Auspuffgasen zogen durch den Schnee himmelwärts, und helle Strahlen gruben paarweise Tunnel in das Dunkel und trafen in unterschiedlicher Entfernung auf die rissige Rinde von Baumstämmen.

Da es in diesem Wohnviertel weder Bürgersteige noch Straßenlaternen gab, fuhr Carson auf den befestigten Seitenstreifen und hielt an, um sich ein klareres Bild von dem Geschehen zu machen. Ein paar Leute standen um die Fahrzeuge herum, und ein Mann – aus dieser Entfernung nicht mehr als eine Silhouette – stand, wo die Stufen zu ihr emporführten, auf der Veranda, als bewachte er den Eingang des Hauses. Hinter allen Fenstern waren die Zimmer hell erleuchtet, und durch die Fensterscheiben waren geschäftige Gestalten zu sehen.

»Gehören die zu uns oder zu denen?«, fragte sich Michael.

Carson sah an ihm vorbei auf das Haus und sagte: »Schwer zu beurteilen.«

Ein forsches Pochen an dem Fenster der Fahrertür lenkte ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Ein Mann mit Schnauzbart, Cowboyhut und Wintermantel hatte mit der Mündung einer Schrotflinte, die auf Carsons Gesicht gerichtet war, an die Scheibe geklopft.

5.

Transport Nr. 1 war noch nicht eingetroffen, als Deucalion aus der Russell Street auf den Parkplatz von KBOW trat. Vier Fahrzeuge standen in einer Reihe links neben dem Gebäude, und ein Ford Explorer stand in der Nähe des Haupteingangs im Parkverbot. Nach dem Dampf zu urteilen, der von dem Schnee aufstieg, der auf der Motorhaube des Fords schmolz, war der Motor des Geländefahrzeugs gerade erst vor einem Moment abgeschaltet worden.

Der Rundfunksender war in einem einstöckigen Backsteinbau untergebracht. Dahinter erhob sich der Sendemast, an dessen Spitze hoch oben im nächtlichen Schneetreiben eine Anzahl von roten Lichtern blinkte.

Zwei Männer, die offensichtlich aus dem Explorer ausgestiegen waren, gingen auf den Haupteingang zu. Sie hatten Deucalion den Rücken zugewandt und nahmen seine Anwesenheit nicht wahr, als er sich ihnen näherte. Höchstwahrscheinlich waren es Victors Leute, die Vorhut, die vorausgeschickt worden war, um den Angriff auf die Nachtschicht des Senders anzuführen. Aber er konnte sie nicht angreifen, solange er keine klaren Anhaltspunkte für ihr Vorhaben hatte.

Mit einem einzigen Schritt vollzog Deucalion den Übergang vom Parkplatz in die Empfangshalle hinter der Eingangstür. Die Lichter waren heruntergedreht, und der Empfangsschalter war nicht besetzt.

Als er hörte, wie ein Schlüssel in der Eingangstür umgedreht wurde, machte Deucalion auf dem Absatz kehrt und bog im selben Moment von der Eingangshalle in einen Flur hinter einer geschlossenen Tür ab. Er folgte den Männern, indem er ihnen vorausging, und dazu war es erforderlich, dass er richtig erriet, wohin sie als Nächstes gehen würden.

Aus Deckenlautsprechern drang leise die Stimme desjenigen, der gerade auf Sendung war. Nach seinen Worten und dem leichten Akzent der Gegend zu urteilen, musste es sich um den Moderator einer regionalen Talkshow von der Sorte handeln, wie man sie in diesen quotenschwächeren Stunden brachte, wenn es unklug gewesen wäre, eine Sendung auszustrahlen, die man für die Hauptsendezeit erworben hatte.

Die erste Tür links trug die Aufschrift HERREN. Deucalion betrat die kleine Toilette, die nach Klosteinen mit Kiefernnadelduft roch. Er schaltete das Licht nicht an, sondern ließ die Tür einen zwei Zentimeter breiten Spalt offen, damit er in den Flur hinausschauen konnte.

Er hörte sie aus der Eingangshalle hereinkommen, und im nächsten Moment gingen sie an ihm vorbei, ohne einen Blick in seine Richtung zu werfen. Sie wirkten feierlich ernst und entschlossen.

Weiter hinten in dem Gebäude öffneten sie eine Tür, und jemand in diesem anderen Raum sagte: »Warren? Bist du nicht nach Hause gegangen?«

Da die Toilettentür bei seinem Eintreten kein Geräusch von sich gegeben hatte, öffnete Deucalion sie jetzt kühn und trat in den Flur. Warren und der andere Mann waren bereits in dem Raum, der weiter hinten vom Flur abging, verschwunden, dessen Tür weit offen stand.

Die Stimme, die Warren begrüßt hatte, klang plötzlich besorgt – »He, he, was zum Teufel ...« –, und die Geräusche eines Kampfes waren zu hören.

Als er die Schwelle überquerte, sah Deucalion zwei Männer in Schneekluft – die beiden aus dem Explorer – und einen dritten Mann, der Jeans und ein Sweatshirt trug. Der Typ in Jeans saß auf einem Stuhl an einem L-förmigen Mischpult mit Lämpchen, Anzeigen und Reglern. Einer seiner Angreifer hielt ihn fest und presste die rechte Seite seines Gesichts mit großer Kraft auf das Pult, während der andere Mann ein kleines pistolenähnliches Instrument aus einer Tasche seiner Skijacke zog. Das Gerät würde zweifellos eine dieser silbernen Nadeln mit den runden Köpfen abfeuern, die den Leuten ihren freien Willen raubten und die vielleicht auch noch andere, nicht weniger grauenvolle Funktionen hatten.

Deucalion bewegte sich so lautlos wie ein Schatten und überraschte diese Drohne aus Victors Bienenstock. Er packte das Handgelenk, brach Finger, als seien es Salzstangen, entwand die Waffe dem Griff des Replikanten, presste ihm die Mündung an die Schläfe und drückte ab.

Deucalion sah aus nächster Nähe, wie sich die Pupillen der Drohne im ersten Moment weiteten und dann auf Stecknadelkopfgröße schrumpften, als sei das Licht im Zimmer erst gedämpft worden und hätte dann heller als die Sonne aufgeleuchtet. Der Replikant brach so wirkungsvoll zusammen, als hätte die schimmernde Perle an seiner Schläfe die Masse eines Felsbrockens besessen, der ihn zu Boden warf.

Als die zweite Drohne den Techniker losließ, dessen Gesicht sie auf das Mischpult gepresst hatte, reagierte sie vielleicht schneller, als es ein Durchschnittsmensch getan hätte, aber im Vergleich zu Deucalion nahm sie sich aus wie eine Schildkröte gegen einen Hasen. Der Replikant griff in eine Tasche seiner Skijacke. Sein Selbstvertrauen entsprang seiner programmierten Identität, die verkündete, Angehörige von Victors neuester Rasse seien jedem überlegen, dem sie jemals begegnen würden. Aber wie jede Ideologie, die auf einer Lüge gründet, würde sie ihn in einer Konfrontation mit der harten Realität im Stich lassen und ihm keine Stütze sein. Die härteste Realität, mit der sich dieses Geschöpf jemals konfrontiert sehen würde, waren die Geschwindigkeit und die Kraft, die Deucalion von dem seltsamen Blitzschlag empfangen hatte, der ihn während des Gewitters zum Leben – und zu weit mehr als dem Leben – erweckt hatte.

Deucalions Fäuste hatten die Größe von Vorschlaghämmern. Ein brutaler Schlag nach dem anderen ließ die verblüffte Drohne rückwärts taumeln. Eine rasche Folge von Hieben auf die Kehle zerquetschte die Luftröhre des Replikanten. Er japste und bekam keine Luft. Ohne Atem hatte er nicht die Kraft, Deucalions Würgegriff zu entkommen. In dieser schraubstockartigen Umklammerung zersplitterte seine Halswirbelsäule, und er brach in den Armen seines Henkers zusammen und rutschte aus ihnen auf den Boden, so schlaff und biegsam und leblos wie ein paar verknotete Lumpen.

Die Gehirnsonde wirkte sich auf die erste Drohne nicht so aus wie auf echte Menschen. Das Geschöpf blieb am Leben, lag zuckend auf dem Boden wie ein Käfer mit zerbrochenem Panzer und krallte seine Hände in den Teppich. Die Zuckungen ließen seine Zähne aufeinanderschlagen. Seine Augen verdrehten sich wild in ihren Höhlen. Blassblauer Dampf kam in Schwaden aus seiner Nase, kein rhythmisches Ausatmen, sondern ein unablässiges Strömen.

Deucalion setzte der Kreatur seinen Stiefel auf den Hals und hielt sie damit fest. Er verlagerte sein gesamtes Körpergewicht auf den Fuß, bis ein Knacken und Knirschen von Wirbeln den spastischen Bewegungen und den Dampfschwaden wie auf Knopfdruck ein Ende bereiteten.

Als er von der toten Drohne aufblickte, stellte er fest, dass ihn der Techniker mit blankem Entsetzen betrachtete. Deucalions Größe war nicht das Einzige an ihm, was selbst in den furchtlosesten Männern lähmende Angst hervorrufen konnte.

Mit einer Ausnahme heilten seine Wunden schnell, und er war nie krank, aber seine zerstörte Gesichtshälfte, die schon vor Jahrhunderten bei einer Auseinandersetzung mit seinem Schöpfer verheert worden war, diente als ständige Erinnerung daran, dass auch er letzten Endes sterblich war. Vielleicht besaß auf der ganzen Welt niemand außer Victor die Macht, ihn zu zerstören, aber er vermied es, Beweise für diese Theorie zu suchen. Die zerklüfteten Flächen und die grotesken Krater auf dieser Gesichtshälfte wurden teilweise durch eine kunstvoll gearbeitete vielfarbige Tätowierung verborgen, mit der ihn ein Mönch in einem tibetischen Kloster versehen hatte. Das Muster war genial, denn es lenkte den Blick von den wulstigen Narben und den grässlichen Konturen ab, über denen die leuchtend bunte Tinte ständig in Bewegung zu sein schien. Dennoch spielte sich Deucalions Leben weiterhin vorwiegend nachts und in den Schatten ab, weil jeder, der lange genug hinsah, die Wahrheit unter der Tätowierung sehen konnte – ebenso, wie dieser Rundfunktechniker sie jetzt sah.

Zeitweise pulsierte in Deucalions Augen auch ein subtiles Leuchten, als sei der Blitz, der ihn zum Leben erweckt hatte, in ihm geblieben und reiste endlos durch seine Nervenbahnen. Im Lauf der Jahrhunderte hatte er dieses Phänomen in zahlreichen Spiegeln gesehen, und sogar ihn konnte es verstören, wenn auch nicht aus demselben Grund wie andere, die es erschreckte.

Da er aus Leichenteilen zusammengeflickt worden war, fragte er sich manchmal, ob dieses innere Licht ein Beweis dafür sein könnte, dass ihm, als ihn der Blitz zum Leben erweckt hatte, nicht nur seine vielfältigen Kräfte verliehen worden waren, sondern auch eine Seele, vielleicht sogar eine Seele, die in ihrer Art einmalig war. Obwohl er diese kunstvoll gewebte Welt mit all ihrer Anmut und Schönheit mit der Zeit lieben gelernt hatte, war er der Zwietracht überdrüssig, die ebenfalls ein Element dieses Gewebes war. Und er war die Einsamkeit dessen müde, der nicht von Mann und Frau gezeugt worden war. Er hoffte auf eine bessere Welt jenseits dieser Welt, ein Reich des Friedens und der Mildtätigkeit ... der reinen Zärtlichkeit und der Nächstenliebe. Aber die Möglichkeit, dass er eine Seele besaß, beunruhigte ihn auch, denn die Tobsucht und die blutdürstige Gewalttätigkeit seiner frühen Jahre, als er so erbittert und verwirrt gewesen war, hatten ihn mit einer beängstigend großen Schuld beladen, von der er erlöst werden musste. Vielleicht war ein Reich des Friedens keine Belohnung, die er sich jemals verdienen konnte. Sein inneres Licht könnte auch ein unabwendbares Höllenfeuer sein.

Der Rundfunktechniker hatte sich von seinem Stuhl erhoben, stand in der Ecke, die durch das L-förmige Mischpult gebildet wurde, und betrachtete Deucalion, als sei dieser in der Tat ein Dämon. Sein rundes Gesicht, seine weichen Gesichtszüge waren wie geschaffen für ein Lächeln oder Lachen. Der Ausdruck des Grauens auf seinem schockierten Gesicht stand in einem solchen Widerspruch zu seiner eigentlichen Natur und zu dem, was in seinem Äußeren angelegt war, dass es komisch wirkte, wie ein Ausdruck von übertriebener Furcht, den ein Pantomime aufsetzen mochte, wenn er sich gewaltig anstrengte, das Publikum ohne Worte von seinen Gefühlen zu überzeugen.