Opferweg - Dean Koontz - E-Book

Opferweg E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Odd Thomas ist am Ende seiner Reise angekommen. Seit seine Freundin ermordet wurde, hat er Entsetzliches erlebt und grauenhafte Untaten verhindert, er hat blinden Hass und Mordlust kennengelernt, aber auch tiefste menschliche Liebe. Nun kehrt er zurück in seinen Heimatort Pico Mundo, wo seine Feinde ein letztes blutiges Komplott planen. Sie sind viel mächtiger als er, der Tod scheint ihm gewiss – aber wer sollte sonst seine Freunde retten?

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Seitenzahl: 424

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Das Buch

Nach einer langen Odyssee kehrt Odd Thomas an den Ort zurück, wo alles begann: sein Heimatstädtchen Pico Mundo, in dem er ein friedliches Leben als geistersehender Grillkoch geführt hatte. Doch dann war die Liebe seines Lebens, Stormy Llewellyn, gewaltsam zu Tode gekommen, und Odd auf eine lange Odyssee aufgebrochen, die ihm ebenso Einblicke in das tiefste Böse wie in den reinsten menschlichen Edelmut gewährte. Alles, was er dabei gelernt hat, muss er nun anwenden, um seine Freunde zu beschützen: Denn seine grausamen Gegner sind dabei, sich noch einmal in Pico Mundo zusammenzurotten, um einen finalen Schlag gegen alle zu führen, die er liebt. Sie sind ihm hoffnungslos überlegen, aber Odd ist bereit, wirklich alles zu riskieren, um sie aufzuhalten.

Der Autor

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft.

Mit Opferweg vollendet Dean Koontz seine internationale Erfolgsreihe um den großartigen Helden Odd Thomas nach Die Anbetung, Seelenlos, Schattennacht, Meer der Finsternis, Schwarze Fluten und Abgrundtief. Alle sieben Bücher waren in den USA Top-Ten-Bestseller der New York Times.

DEAN KOONTZ

OPFERWEG

EIN ODD-THOMAS-ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Die Originalausgabe SAINTODD

erschien bei Bantam Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2015

Copyright © 2015 by Dean Koontz

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von © Bigstock/gorielov und Chrismp

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-16626-7V002

www.heyne.de

Die einzige Weisheit, die zu erwerben wir hoffen können, ist die Weisheit der Demut …T.S. Eliot, East Coker (1940)

1

Allein in der Weite der Mojavewüste, um zwei Uhr morgens mit siebzig Meilen in der Stunde dahinrasend, fühlte ich mich sicher und glaubte, falls mich irgendwelche Schrecken erwarteten, lägen sie noch viele Meilen weit vor mir. Dies sollte nicht das erste Mal in meinem seltsamen Leben sein, dass Sicherheit sich als Illusion erwies.

Ich neige dazu, stets das Beste zu hoffen, selbst wenn ich gerade mit dem Springseil eines kleinen Mädchens erdrosselt werde, das ein zorniger, hundertdreißig Kilogramm schwerer samoanischer Ringer mir um den Hals geknotet hat. Aus dieser kritischen Situation konnte ich mich hauptsächlich dadurch befreien, dass ich mir seinen geliebten Hut schnappte, den er für seinen Glücksbringer hielt. Als ich den Hut wie eine Frisbee-Scheibe wegschleuderte und er das Springseil losließ, um zu versuchen, ihn aus der Luft zu fangen, konnte ich einen Kricketschläger aufheben und ihn mit einem Schlag in die Genitalien überraschen, der besonders wirkungsvoll war, weil er nichts außer einem Lendenschurz trug. Stets aufs Beste zu hoffen, ja, das hat sich im Allgemeinen für mich bewährt.

Jedenfalls war die Wüste unter einem Vollmond so unheimlich wie die Landschaft eines fremden Planeten. Die große schwarze Schlange des Highways schlängelte sich über eine Folge von niedrigen Steigungen und sanften Gefällen, durch ebene Sandflächen, die schwach leuchteten, als seien sie radioaktiv, und vorbei an plötzlich aufragenden Felsformationen, die an manchen Stellen mit Quarzit oder dergleichen durchsetzt waren, der das Scheinwerferlicht des Big Dog, meines Choppers aus Wichita, zurückwarf und feurigen Adern gleich leuchtete.

Trotz des großen Monds und der drei gleißend hellen Augen meines Bikes versank die Mojave in ihrer Breite in zunehmender Dunkelheit. Nur halb erkennbare knorrige Umrisse von Mesquitebäumen und vereinzelte Gruppen anderer stachliger Pflanzen richteten ihre Spitzen gegen mich und schienen wie flinke, feindselige Tiere nach vorn springen zu wollen, als ich an ihnen vorbeiraste.

Mit seiner barock ausladenden Verkleidung und den Satteltaschen schien der Big Dog Bulldog Bagger für Ehepaare in Suburbia geschaffen zu sein, aber sein zweizylindriger V-Motor mit 1,8 Liter Hubraum und Benzineinspritzung machte ihn so schnell, wie man es sich nur wünschen konnte. Als ich zuvor die Interstate genommen hatte, bevor ich auf den weniger befahrenen State Highway abgebogen war, hatte ich nur kurz am Gasgriff drehen müssen, um an jedem Personenwagen oder großen Sattelschlepper vorbeizuschießen, der vor mir trödelte. Nun rollte ich mit siebzig dahin, saß bequem in dem niedrigen, tiefen und breiten Sitz und spürte von dem in Hartgummi gelagerten Motor nur ein Minimum an Vibrationen.

Obwohl ich eine Motorradbrille und einen Kohlefaserhelm trug, der meine Ohren freiließ, tarnten das Pfeifen des Fahrtwinds und der kehlig röhrende Auspuffklang des Big Dog das Motorengeräusch des Cadillac Escalade, der ohne Licht fahrend zu mir aufschloss und sich dann mit lautem Hupen ankündigte. Der Fahrer schaltete daraufhin seine Scheinwerfer ein, die mich in den Rückspiegeln blendeten, sodass ich mich umsehen musste, um festzustellen, dass er kaum fünfzehn Meter hinter mir war. In dieser Nähe, bei dieser Geschwindigkeit war der SUV ein erschreckendes Ungetüm.

Wiederholtes lautes Hupen ließ vermuten, der Fahrer könnte betrunken oder high sein, an Straßenkoller leiden oder einfach nur Lust auf ein krankes kleines Katz-und-Maus-Spiel haben. Als er einen Tusch tutete, dehnte er die letzte Note zu lange aus, und ich versuchte mir einzureden, wer solche Klischees gebrauchte und es dann nicht mal schaffte, sie zeitlich richtig hinzubekommen, könne kein gefährlicher Gegner sein.

Schon früher hatte ich die Erfahrung gemacht, dass der Big Dog sich am besten bei etwas über achtzig Meilen fahren ließ und sogar bei hundert noch vollkommen beherrschbar war. Ich drehte am Gasgriff, und mein Bike fraß Asphalt in sich hinein, ließ den Caddy weit hinter sich zurück. Zumindest vorläufig.

Weil dies nicht der Höhepunkt der Insektensaison in der Mojave war, bekam ich keine Nachtschmetterlinge oder hart gepanzerte Käfer in den Mund, als ich jetzt Verwünschungen murmelte. Ich saß angespannt und hoch aufgerichtet im Sattel, sodass mein Kopf über die niedrige Windschutzscheibe hinausragte, ließ zu, dass die warme Nachtluft meine Lippen rissig machte und auf meinen Wangen brannte.

Jeder verantwortungsbewusste Dermatologe hätte mich dafür kritisiert, dass ich mit ungeschütztem Gesicht in diesem trockenen Ödland unterwegs war. Aus vielen Gründen war jedoch kaum zu erwarten, dass ich meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag erleben würde, deshalb machte mir die Aussicht darauf, zwei Jahrzehnte später vorzeitig gealtert auszusehen, keine großen Sorgen.

Diesmal hörte ich den Escalade kommen: Er kreischte wie eine bösartige Maschine aus einem »TRANSFORMERS«-Film und fuhr nun wieder ohne Licht. Früher als erhofft schaltete der Fahrer seine Scheinwerfer ein, die mich in den Rückspiegeln blendeten und den Asphalt um mich herum erhellten.

Weniger als fünfzehn Meter.

Der Geländewagen war offensichtlich getunt. Dies war kein gewöhnlicher Mama-fährt-mit-Baby-zum-Spielplatz-Caddy. Der Motor klang, als hätte General Motors ihn von Boeing als Zulieferer bezogen. Falls er mich überfahren wollte, sodass ich am Kühler des Caddy klebte – und das wollte er anscheinend –, würde ich dem auf Leistung getrimmten Motor, der ihn zum King of the Road machte, niemals davonfahren können.

Weil er sein Fahrzeug mit verschiedenen Mehrklanghörnern ausgestattet hatte, die jeweils ein paar Takte bekannter Melodien spielen konnten, forderte er mich jetzt mit den ohrenbetäubend laut gespielten Klängen des Songs »THE BEAT GOES ON« von Sonny und Cher heraus.

Der Big Dog hatte eine Sechsgangschaltung. Dieser zusätzliche Gang und das rechts angebrachte Schwungrad bewirkten besseren Massenausgleich und besseres Handling als bei gewöhnlichen Tourenmaschinen. Der mit 250 Millimetern extrabreite Hinterreifen und der um 34 Grad nach hinten geneigte Lenkerkopf gaben mir das Vertrauen, eine kleine Show abzuziehen, obwohl der Tacho inzwischen schon eine fast dreistellige Geschwindigkeit anzeigte.

Jetzt spielte er mir mit den ersten sieben Noten von »LOUIE, LOUIE« der Kingsmen auf. Und gleich noch mal.

Mein einziger Vorteil konnte Beweglichkeit sein, also Schnelligkeit, Geschwindigkeit. Die gute alte Velozität. Forsch rutschte ich im Sattel tiefer, sodass die gebogene Windschutzscheibe den Fahrtwind über meinen Sturzhelm leitete, und nutzte den dreispurigen Highway aggressiver, indem ich in Schlangenlinien von einer Seite zur anderen fuhr. Ich saß dicht über der Straße, und der Escalade hatte einen weit höheren Schwerpunkt als der Big Dog; versuchte der Fahrer, hinter mir zu bleiben, konnte er mit seinem Geländewagen schleudern und umkippen.

War er clever, würde er erkennen, dass er rasch Boden gewinnen konnte, wenn er mich nicht imitierte, während ich in Schlangenlinien fuhr, sondern geradeaus weiterraste. Und durch einfache Berechnung konnte er mich abfangen, wenn ich von einer Straßenseite auf die andere wechselte.

Die zweite Wiederholung von »LOUIE, LOUIE« bewies mir: Er war entweder nicht besonders clever oder so durch den Wind, dass er mir in eine Feuergrube gefolgt wäre, bevor er merkte, was er getan hatte. Eine weitere programmierbare Hupe trompetete mehrere Noten, aber ich kam nicht auf den Song, obwohl sie in mir Erinnerungen an einen fast völlig vergessenen Softrocker – Boy George – weckten.

Als Bremsen kreischten, sah ich mich um und konnte beobachten, wie der Escalade mit rauchenden Reifen umzukippen drohte, während der Fahrer das Lenkrad scharf rechts einschlug, um nicht in Richtung Norden von der Straße abzukommen. Ich beschrieb ein großes S nach dem anderen, lenkte den Big Dog aus der jetzigen Kurve, wobei ich für den zu Recht gelobten Balance Drive dankbar war, und legte mich in die nächste Kurve. Mit erneutem Kreischen hinterließen die Reifen eine Spur aus heißem Gummi auf dem Asphalt, als der Fahrer das Steuer nach links riss. Der Wagen rutschte beinahe über das südliche Bankett des Highways, war wieder stark geneigt und richtete sich dann jedoch auf, bevor er auch nur in Gefahr geriet, umzukippen.

Der Fahrer kehrte zu seinem Grundhorn bzw. Grundton zurück, versuchte dieses Mal aber gar nicht erst, eine Melodie zu spielen, sondern hupte nur immer wieder kräftig, als glaubte er, mich durch Schalldruck von meinem Bike pusten zu können.

Meine Schilderung könnte so klingen, als sei ich während dieser Verfolgungsjagd ruhig und beherrscht geblieben; tatsächlich fürchtete ich jedoch, ich könnte jeden Augenblick bedauern, keine Erwachsenenwindel zu tragen.

Unabhängig davon, welche Drogen oder Getränke den Caddy-Fahrer hatten ausrasten lassen und in mörderische Wut versetzt hatten, behielt er gerade noch so viel Vernunft, um zu erkennen, dass er mit seinem Wagen umkippen würde, wenn er weiter hinter mir herfuhr. Er raste jetzt geradeaus auf der mittleren der drei Spuren, holte verlorenen Boden auf und wollte mein Bike zwischen zwei Kurven meines Flachlandslaloms abfangen.

Der Big Dog Bulldog Bagger war nicht als Geländemaschine ausgelegt. Die Diät, die ihn glücklich machte, bestand aus Beton und Asphalt, und er wollte wegen seiner aerodynamisch gelungenen Linien, seiner Sonderlackierung nach Kundenwunsch und seines üppigen Chroms bewundert werden, nicht wegen seiner Robustheit und der Fähigkeit, mühelos durch wilde Landschaften brettern zu können.

Trotzdem wagte ich mich ins Gelände. Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindungsgabe, heißt es, aber sie ist auch die Großmutter der Verzweiflung. Der Highway lag gut einen halben Meter über dem Gelände, durch das er führte, und ich raste mit solchem Tempo übers Bankett, dass mein Bike meterweit durch die Luft flog, bevor es mit gewaltigem Krachen, das mich kurz vom Sitz hob und meine Füße auf den Bodenbrettern tanzen ließ, wieder aufkam.

In dieser Gegend war die Wüste keine weiche Landschaft aus Sanddünen und ausgetrockneten Seen mit pulverförmigen Ablagerungen, was nur gut war, denn auf solchem Untergrund hätte der Big Dog sich binnen hundert Metern festgewühlt. Nach Jahrtausenden unter sengender Sonne und scharfen Winden war der Boden fest, das Magmagestein reich an Feldspat, das Land größtenteils baumlos, aber vereinzelt mit purpurrotem Salbei und Mesquite und dürren Pflanzen bewachsen, die sich weniger leicht identifizieren ließen.

Der auf übergroßen Breitreifen rollende Escalade mit Allradantrieb war für Geländefahrten weit besser geeignet als mein Bike, als er jetzt in meinem Kielwasser den Highway verließ. Ich war auf der Suche nach einer Senke, die tief genug war, um als Versteck dienen zu können, einer überhängenden Steilwand oder einem jäh aufragenden Felssporn, der mich den Blicken meines offensichtlich geistesgestörten Verfolgers entziehen konnte. Dann würde ich die Scheinwerfer ausschalten, viel langsamer weiterfahren, mich bei Mondschein orientieren und versuchen, möglichst rasch möglichst viele natürliche Hindernisse zwischen ihn und mich zu bringen. Irgendwann würde ich vielleicht einen Ort finden, der mir Schutz bot, sodass ich den Motor abstellen, horchen und warten konnte.

Plötzlich überflutete helleres Licht das Land, und als ich einen Blick nach hinten riskierte, sah ich, dass der Escalade einen Dachständer mit starken Scheinwerfern besaß, die der Fahrer gerade eingeschaltet hatte. Die Wüste vor mir erinnerte an eine Szene aus einem frühen Film von Steven Spielberg: ein abgelegener kleiner Flugplatz, auf dem aufgeregte und glamouröse Wissenschaftler einer geheimen Regierungsbehörde bereitstehen, um eine Gruppe friedlicher Außerirdischer und ihr Mutterschiff zu empfangen. Statt Wissenschaftlern und Aliens gab es hier jedoch einen durch Inzucht gezeugten Banjospieler aus Deliverance, der mich mit bösen Absichten verfolgte.

In dieser weitreichenden grellen Lichtflut warf jedes bisschen kümmerliche Vegetation einen langen tintenschwarzen Schatten. Das bleiche Land erwies sich als weniger unregelmäßig, als ich gehofft hatte: allem Anschein nach eine Ebene, auf der ich so wenig auf ein Versteck hoffen durfte wie auf ein McDonald’s-Restaurant inklusive Kinderspielplatz für die Kleinen.

Obwohl ich selbst angesichts von Gefahren und drohendem Unheil von Natur aus optimistisch, sogar fröhlich bin, gab es Zeiten wie diese, wo mir die ganze Welt wie ein Todestrakt vorkam und ich zu wissen glaubte, meine letzte Mahlzeit sei mein Henkersmahl gewesen.

Statt zu versuchen, wieder den Highway zu erreichen, fuhr ich nach Norden in die Wildnis weiter, wobei ich mir selbst versicherte, mir sei nicht bestimmt, in diesem Gebiet zu sterben, sondern im weiteren Verlauf einen Zufluchtsort zu finden. Meine Bestimmung war es, etwa dreißig Meilen von hier in der Kleinstadt Pico Mundo zu sterben – nicht heute Nacht, sondern morgen oder übermorgen oder am Tag danach. Außerdem würde ich nicht durch einen Cadillac Escalade sterben; mein Ende würde nicht so einfach sein, nicht so glatt und sauber kommen. Nachdem ich mir diesen fragilen Optimismus eingeredet hatte, setzte ich mich im Sattel auf und grinste der warmen Nachtluft mutig entgegen.

Während der Geländewagen allmählich zu mir aufschloss, benutzte der Psycho hinter mir wieder eine seiner speziellen Hupen. Diesmal erkannte ich die Titeltöne von »KARMA CHAMELEON« von Culture Club, deren Frontmann Boy George gewesen war. Dieser Song erschien mir so passend, dass ich lachte, und mein Lachen hätte mich aufgeheitert, wenn es nicht auch ein bisschen verrückt geklungen hätte.

Die mit Stickstoff gefüllten Stoßdämpfer, die mit Gummi isolierten Fußbretter und die Handgriffe aus Gummi – all das trug dazu bei, die Fahrt durchs Gelände angenehmer zu machen, als ich erwartet hatte, aber ich rechnete damit, dass mir irgendein mechanisches Versagen bevorstehen würde, oder erwartete einen Zusammenstoß mit einem zu spät erkannten Felsbrocken, bei dem ich aus dem Sattel fliegen würde, oder dass ein Knäuel Klapperschlangen, die mitten im Geschlechtsakt in die Luft geschleudert worden waren, zischend auf mich herabregnen würde.

Ich erlitt einen kurzen Rückschlag in meinem charakteristischen Optimismus.

Vor mir führte auf längerer Strecke leicht abfallendes Gelände zu einem schmalen dunklen Streifen, bevor die Scheinwerfer des Escalade mir etwas höheres Gelände zeigten, das wie eine Fata Morgana schimmerte. Ich wusste nicht genau, was ich vor mir hatte; dieser Anblick war kaum weniger rätselhaft als der eines abstrakten Gemäldes, das ganz aus geometrischen Formen in blassem Beige und Schwarz bestand. Aber für den Fall, dass dort vorn lag, was ich brauchte, beschleunigte ich etwas.

Ich musste mich zwischen den hohen Grasbüscheln einer Kolonie Pampasgras hindurchschlängeln, die wegen Wassermangel halb vertrocknet waren. Die schmalen, eineinhalb Meter hohen, lanzettförmigen Halme waren möglicherweise scharf genug, um mich zu schneiden, und seine unzähligen gefiederten Rispen wehten wie weiße Fahnen, die eine Kapitulation signalisierten.

Der Verrückte, der mich verfolgte, war offenbar kein Mitglied des Sierra Clubs, denn der Escalade bretterte ohne zu zögern mitten durchs Pampasgras, hinterließ eine Spur der Verwüstung aus geknickter und geschredderter Vegetation und kam mir rasch näher.

Die unablässig wiederholten Anfangstöne von »KARMA CHAMELEON« und das Röhren des getunten Escalade-Motors waren so laut, dass mir klar wurde, er musste dicht hinter mir sein, vielleicht nur noch wenige Meter entfernt. Ich sah mich nicht wieder nach ihm um.

Als mir nur noch drei, vier Sekunden Zeit blieben, richtig zu reagieren, sah ich, dass ich das Gelände vor mir zutreffend beurteilt hatte. Ich kurvte unmittelbar vor dem Rand scharf rechts weg.

Der Big Dog geriet ins Schleudern, und sein Hinterreifen fräste einen Augenblick lang Steine vom Rand des Abgrunds weg, bevor er wieder Bodenhaftung bekam.

Unabhängig davon, ob der Fahrer sich plötzlich auf das vor ihm liegende höhere Gelände konzentrierte oder wie bisher nur Augen für mich hatte, besaß der Escalade zu viel Masse und Bewegungsenergie, um rechtzeitig bremsen zu können, und war weit weniger wendig als mein Bike. Seine Wirbelschleppe ließ Staub und vertrocknete Pflanzenteile auf mich herabregnen, als der große Geländewagen über den Rand der Klippe hinausraste, wobei er weiter »KARMA CHAMELEON« trötete, als er zu einem kurzen Flug ansetzte.

Wegen seiner Bremssättel mit vier Kolben konnte ich den Big Dog nicht gerade auf der Stelle, aber doch auf kürzeste Entfernung zum Stehen bringen. Ich stellte ihn auf den Seitenständer, stieg ab und stand am Rand des Abgrunds, als der mit Zusatzscheinwerfern ausgerüstete Caddy, der jetzt mit der Motorhaube voraus wie eine Bombe fiel, sein endgültiges Ziel beleuchtete.

Die in vielen Jahrtausenden durch Überschwemmungen, Wüstenwinde und seismische Aktivitäten entstandene Spalte, eher eine kleine Schlucht, schien oben ungefähr zehn Meter und unten weniger als drei Meter breit und ungefähr fünfzehn Meter tief zu sein. Der abstürzende Geländewagen testete den Boden aus gewachsenem Fels, und der gewachsene Fels blieb Sieger. Der letzte Ton des Songs von Boy George erklang im letzten Augenblick vor dem Aufprall. Die Scheinwerfer erloschen schlagartig, und in der plötzlichen Dunkelheit verlor der Geländewagen Teile, die krachend und scheppernd von den Felswänden abprallten.

Ich sagte »Wow«, was für einen Filmdialog nicht witzig genug gewesen wäre, aber genau das sagte ich. Ich bin nicht Tom Cruise.

Nach einigen Sekunden Dunkelheit brach das Feuer aus. Es begann nicht mit einer Explosion, sondern mit niedrig züngelnden Flammen, die rasch höher und heller tanzten. Die Felsspalte erwies sich als Falle für buschige Steppenläufer, die sich auf ihrem Boden angesammelt hatten, und diese kugelförmigen Gebilde gerieten westlich des Autowracks, wohin das Benzin aus dem geplatzten Tank gelaufen sein musste, zuerst in Brand.

Die Wände der kleinen Schlucht waren steil, aber zu Fuß zu bewältigen. Loses Geröll rutschte unter meinen Füßen weg, als ich mich mit der Eleganz – ich weiß nicht, weshalb dieser unwahrscheinliche Vergleich mir in diesem Augenblick einfiel – eines Pinguins auf Stelzen beeilte, den Boden zu erreichen. Wer zu viele Jahre damit verbringt, sich alte Warner-Brothers-Cartoons von Chuck Jones reinzuziehen, gerät in Gefahr, sich indirekt mit einem Albernheits-Gen zu infizieren.

Ebenso albern war vielleicht, dass ich mich in meinem Barmherziger-Samariter-Modus befand. Gewiss, der Fahrer hatte ganz offenbar versucht, mich umzubringen, aber seine Mordlust konnte eine Folge übermäßigen Alkoholgenusses gewesen sein, und er war vielleicht ein Pfundskerl, wenn er nüchtern war. Ich konnte ihn nicht dort unten verbluten oder verbrennen lassen, nur weil er sich am Steuer seines SUV wie ein Idiot aufgeführt hatte. Manchmal behindert mich mein Moralkodex, aber ich habe ihn trotzdem wie einen Grat unter dem Gehirn, an den ich nicht herankommen kann.

Auf beiden Seiten des Escalade schlugen Flammen hoch, und auch unter dem Wagen züngelten niedrige Flammen, sein Inneres stand aber noch nicht in Brand. Hier unten gab es so viele staubtrockene Steppenläufer, dass es in der Schlucht noch lange brennen würde.

Als ich mich dem Fahrzeug näherte, sah ich auf seiner Hecktür sauber gemalte Schriftzeichen einer Bildersprache – weiß auf schwarzem Lack –, die an altägyptische Hieroglyphen erinnerten. Ich machte halt und dachte nochmals über die Bedeutung meines Zusammentreffens mit dem unbekannten SUV-Fahrer nach.

Vor einigen Monaten hatte ich es auf einem Berg in Nevada nötig gefunden, in ein gut bewachtes Anwesen einzudringen, in dem – wie sich dann zeigte – entführte Kinder gefangen gehalten wurden, um von Anhängern eines satanischen Kults bei Ritualmorden geopfert zu werden. Bevor ich die Kinder gefunden hatte, hatte ich einen Stall entdeckt, der nicht voller Pferde, sondern voller antiker Vitrinenschränke war, in denen dicke Glasgefäße, fast schon Krüge, mit zugelöteten Deckeln standen, die mit einer durchsichtigen Konservierungsflüssigkeit gefüllt waren. In diesen Glasgefäßen wurden Erinnerungen an frühere Menschenopfer aufbewahrt: abgetrennte Köpfe mit aufgerissenen Augen und weit offenen Mündern, als seien sie in Schock und Entsetzen erstarrt. Und auf jeder Stirn hatte eine andere Zeile in einer Bildersprache gestanden, die dieser hier auf der Hecktür des Escalade genau glich.

Kleinstadtjunge begegnet dem großen Bösen.

Der Fahrer des Geländewagens war also nicht zufällig auf mich gestoßen. Er hatte gewusst, welche Strecke ich fahren würde, wann ich sie in Angriff nehmen würde, und hatte sich an die Verfolgung gemacht – zweifelsohne, um den Schaden, den der Kult erlitten hatte, an mir zu rächen. Ich hatte einen Kultangehörigen getötet. Aber ihre Ressourcen waren eindrucksvoll – tatsächlich nicht von dieser Welt –, und wir waren noch längst nicht fertig miteinander.

Mein Verhaltenskodex verpflichtete mich nicht mehr dazu, das Leben schurkischer Mörder zu retten, als er von mir verlangte, mich einem Hai in den Rachen zu werfen, nur weil dieser gerade hungrig war. Tatsächlich fühlte ich mich dazu verpflichtet, mörderische Soziopathen zu liquidieren, wenn das die einzige Möglichkeit war, sie daran zu hindern, weitere unschuldige Menschen abzuschlachten. Im Allgemeinen erwies sich das als der einzig gangbare Weg, weil nur sehr wenige dieser Leute gut auf Vernunftgründe oder strenge Ermahnungen reagieren – oder auf die Weisheit der Beatles, die uns versichern: »ALL YOU NEED IS LOVE«.

Die Türen des Escalade waren verbeult, aber nicht aufgesprungen, und falls jemand aus einem der zersplitterten Fenster geklettert war, hatte ich ihn nicht gesehen. Der Fahrer – und sein Beifahrer, falls es einen gab – befand sich ziemlich sicher noch in dem Wagen. Vielleicht tot, zumindest aber schwer verwundet. Vielleicht bewusstlos.

Als ich den Rückzug antrat, fand das unter dem Wagen knisternde Feuer plötzlich den Weg nach innen, und mit einem dumpfen Knall stand das Wageninnere in Flammen. Keine um sich schlagenden Schatten in dem Escalade, keine Schreie.

Ich konnte mir nicht vorstellen, woher sie gewusst hatten, dass ich nach Pico Mundo heimkehren würde oder wann ich die Fahrt antreten wollte oder womit ich fahren würde. Aber dass ich außergewöhnliche Talente, Fähigkeiten und Verbindungen besaß, traf auch auf sie zu. Wie sie mich aufgespürt hatten, würde ich vielleicht nie erfahren. Wichtig war jetzt, dass sie mich suchten, und wenn sie mich ein Mal gefunden hatten, konnten sie mich jederzeit wieder finden.

Sie hätten jedoch nicht versucht, mich unterwegs abzupassen und zu ermorden, wenn sie gewusst hätten, wo ich in Pico Mundo zu bleiben gedachte. Dann hätten sie mir stattdessen dort aufgelauert und mich bei der Ankunft liquidiert. Das sichere Haus, das auf mich wartete, war also weiterhin sicher.

Der Aufstieg über den mit losem Geröll bedeckten Steilhang erwies sich als noch schwieriger als der Abstieg. Ich sah mich immer wieder um, weil ich fast erwartete, einen Verfolger zu entdecken: irgendeine groteske Nemesis mit in Flammen stehendem Haar und grausig verzerrtem Mund, aus dem Rauch quoll.

Oben angelangt, sah ich bei einem Blick in die Tiefe, dass die Flammen, eine helle Feuersbrunst, sich von einem verdorrten Steppenläufer zum nächsten springend ungefähr sechzig Meter weit nach Westen ausgebreitet hatten. Die Wände der kleinen Schlucht mussten mit Schwefelkies durchsetzt sein, denn in dem flackernden Feuerschein leuchteten gelbe Bänder heller als das umliegende Gestein. Der brennende Escalade knarrte und klirrte. Während seine metallischen Proteste durch die Schlucht echoten und nochmals zurückgeworfen wurden, wurden sie verzerrt und so verändert, dass ich fast hätte glauben können, die Stimmen leidender Menschen zu hören, die dort unten ihr Leid beklagten.

Ich hatte ihre Gesichter nicht gesehen. Ich hatte sie nicht ermordet, sondern ihnen nur Gelegenheit gegeben, Selbstmord zu verüben. Trotzdem kam es mir falsch vor, dass ich die Gesichter derer, denen ich zu sterben erlaubt hatte, nicht kennen sollte.

Der Lärm und die Feuerhitze mussten eine Kolonie von Fledermäusen aufgeschreckt haben. Nachdem sie vermutlich erst vor Kurzem von ihrer nächtlichen Insektenjagd in ihre Höhle zurückgekehrt waren, schwärmten sie jetzt aufgeregt aus und kreischten, während sie in den Aufwinden segelten: viele Hunderte, vielleicht sogar Tausende, deren membranartige Flügel so laut schwirrten, dass sie das Brausen der Flammen übertönten. Sie stiegen bis zum Rand der Schlucht auf, gingen dann wieder tiefer, nur um sofort wieder hochzusteigen, flogen als Schwarm nach Osten, dann nach Westen und schließlich wieder nach Osten, als seien sie verwirrt und suchten etwas und konnten es nicht finden, wobei ihre schrillen Schreie zornig und verzweifelt zugleich klangen.

Das Leben hatte mich gelehrt, an Omina zu glauben.

Ich hatte einen Blick dafür bekommen.

Die Fledermäuse waren ein Omen, und was auch immer sie vorhersagten, würde kein Ereignis sein, das durch Güte, Harmonie und Freude gekennzeichnet war.

2

Ich kam heim, um zu sterben und im Tod weiterzuleben. Mein Leben hatte in der kalifornischen Wüstenstadt Pico Mundo begonnen, und ich hatte dort gelebt, bis ich zwanzig war, als ich verlor, was mir auf der ganzen Welt am meisten bedeutete. In den seither vergangenen einundzwanzig Monaten war ich auf der Suche nach meinem Lebenszweck viel gereist und hatte erst unterwegs erfahren, wohin ich musste. Dass ich einen vollständigen Kreis beschrieben hatte, hätte mich nicht überraschen sollen, denn wir werden nur in die Zeit hineingeboren, um aus ihr wieder hinausgeboren zu werden, nachdem wir den Zyklus der Jahreszeiten unter Sternen durchlebt haben, die sich zu drehen scheinen, weil die Welt sich dreht; in Unwissenheit geboren, um das Wissen zu erwerben, das uns letztlich unsere fortdauernde Unwissenheit vor Augen führt: Der Kreis ist das Grundmuster unserer Existenz.

Die Green Moon Mall stand an der Green Moon Road genau zwischen der Altstadt von Pico Mundo und ihren moderneren Vororten. Das Einkaufszentrum war riesig, denn es hätte nicht nur unsere Stadt, sondern auch die umliegenden Ortschaften versorgen sollen, die für eine eigene Mall zu klein waren. Mit sandfarbenen Wänden und gewölbten Glasscheiben und abgerundeten Ecken hatte der Architekt Erinnerungen an gemütliche Lehmbauten wecken wollen. Um die Hitze der Mojave möglichst auszusperren, hat das Gebäude nur sehr wenige Fenster, und das sichtbare Glas konzentriert sich vor allem auf die Eingänge, wo früher Automatiktüren zur Seite geglitten waren, um Kunden einzulassen.

Die Mall war seit Langem geschlossen, infolge ihrer Vergangenheit als Tatort eines Massenmords kontaminiert. Viele fürchteten, eine Wiedereröffnung könnte irgendeinen Geistesgestörten zu dem Versuch animieren, die Zahl der an jenem Tag ermordeten neunzehn Opfer noch zu übertreffen. Von den einundvierzig Verletzten würden mehrere ihr Leben lang schwerbehindert bleiben. Starbucks, Crate&Barrel, Donna Karan und weitere Einzelhändler hatten ihre Mietverträge vorzeitig aufgelöst, weil sie nicht mit einem solchen Schreckensort in Verbindung gebracht werden wollten. Mit gesundem Menschenverstand, der im modernen Amerika selten geworden ist, hatten die Besitzer der Mall gegen keinen der Mieter geklagt, sondern stattdessen bekanntgegeben, sie solle abgerissen und das Gelände mit Luxuswohnungen bebaut werden.

Nachdem ich den Big Dog in einer benachbarten Wohnstraße geparkt hatte, besuchte ich die Mall über eine Stunde vor Tagesanbruch, wobei ich meine Ausrüstung in einem Kopfkissenbezug mitführte: einen Bolzenschneider, ein Brecheisen und einen pfundschweren Hammer, den ich von der Küste mitgebracht hatte. Eine kleine Stablampe zeigte mir den Weg eine lange, breite Rampe hinunter bis zu einem riesigen Segmenttor, durch das einst zahlreiche Sattelschlepper mit Warenladungen für die beiden Kaufhäuser und die vielen kleineren Geschäfte gerollt waren.

Der Mond war untergegangen, die glitzernden Sternenbilder erschienen unendlich fern, und selbst im Mai war die Mojavenacht mild wie Milch in einem Babyfläschchen. Auf den seitlichen Betonmauern, die immer höher aufragten, je tiefer die Rampe hinunterführte, glitten von der Stablampe stammende schwache Lichtreflexe wie geisterhafte Gefährten neben mir her.

Ich wusste sehr viel über die Geister, die in jener Welt spukten. Ich sah alle, die gestorben waren, aber aus irgendwelchen Gründen nicht in die nächste Welt übertreten wollten oder konnten. Mein Leben war durch diese zurückgebliebenen Toten geformt worden – von ihrem Bedauern, ihren Hoffnungen, ihren Bedürfnissen, ihrer Melancholie. In den einundzwanzig Jahren meines Lebens hatte ich gelernt, selbst zornigen Geistern gleichmütig zu begegnen und meine Angstgefühle für bestimmte noch lebende Menschen und die Untaten aufzusparen, zu denen sie imstande waren.

Links von dem riesigen Rolltor befand sich eines mit gewöhnlichen Abmessungen, das durch ein Einsteckschloss und ein großes Vorhängeschloss gesichert war. Ich lehnte meine Stablampe unten ans Tor, sodass ihr Lichtstrahl schräg nach oben leuchtete.

Mit dem Bolzenschneider zwickte ich den Bügel des Vorhängeschlosses auf. Dann hängte ich das Schloss aus und warf es beiseite.

Der randlose Schließzylinder ließ sich nicht einfach mit einer Kneifzange packen und herausziehen. Aus der Brusttasche meines Hemds zog ich einen keilförmig spitzen Durchschlag mit breitem Ende, den ich mit meinem Hammer in das Einsteckschloss trieb. Unter klirrenden Hammerschlägen kreischten die Stifte des Sicherheitsschlosses, als sein Inneres demoliert wurde, und das Tor, dem mein Angriff galt, erzitterte in seinem Rahmen.

Dass der Krach, den ich bei meinem Einbruch verursachte, unerwünschte Aufmerksamkeit erregen könnte, machte mir keine Sorgen. Das verlassene Einkaufszentrum war von den Weiten eines leeren Parkplatzes umgeben, der heutzutage von einem mit Stacheldrahtrollen gekrönten Maschendrahtzaun umgeben war, um romantisch veranlagte Teenager mit ihren Autos, Obdachlose, die ihre Habseligkeiten in Einkaufswagen mit sich führten, und etwaige Perverse fernzuhalten, die sich zum Ort eines Verbrechens hingezogen fühlen mochten. Die Polizei hatte entschieden, keine Streifenfahrten mehr zu der Mall zu machen, denn schließlich sollte sie in ein paar Monaten abgerissen werden.

Meine Version des »ANVIL CHORUS« war nicht lang. Als ich den Durchschlag tief genug in den Zylinder getrieben hatte, klapperte der Schlossriegel locker in seiner Führung, und zwischen Tor und Bodenschiene entstand ein kleiner Spalt. Nun benutzte ich das Brecheisen und geriet in Schweiß, bis ich das Tor zu den unterirdischen Ladebuchten und der Tiefgarage fürs Personal der Green Moon Mall so weit aufgehebelt hatte, dass ich hindurchschlüpfen konnte, wobei ich mein Werkzeug zurückließ.

Ich bin ein Grillkoch, in Hochform, wenn ich am Grill stehe, Meister des Pfannenwenders, Spezialist für Pfannkuchen, die so luftig leicht sind, dass man glaubt, sie könnten vom Teller entschweben. Ich bin ein Grillkoch und möchte nichts anderes sein, aber wegen der vielen Gefahren, die mir drohen, habe ich Fähigkeiten entwickeln müssen, die nichts mit der Küche eines Schnellrestaurants zu tun haben – zum Beispiel, wie man irgendwo einbricht.

Fleckiger Beton unter meinen Füßen, über mir, auf allen Seiten, die Decke von massiven Säulen getragen, von denen ich eine nicht allein hätte umspannen können: Wie ein Tiefseetaucher trotz Druckanzug und Metallhelm das gewaltige Gewicht der über ihm liegenden Wassermassen spüren kann, spürte ich die Masse der einstöckigen Mall und ihrer größten Geschäfte – der beiden zweistöckigen Kaufhäuser – über mir. Einen Augenblick lang fühlte ich mich begraben, als wäre ich an jenem Tag des Verbrechens gestorben und müsste nun als Gespenst in dieser gewaltigen Katakombe umgehen.

Hier und da lagen kleine Haufen Abfall: die zersplitterten Bretter einer demolierten Packkiste, leere Kartons, die allmählich verrotteten, und weitere Gegenstände, die sich im nicht sehr weit reichenden Lichtstrahl der Stablampe und den tanzenden Schatten nicht ohne Weiteres identifizieren ließen.

Die Gummisohlen meiner Sneakers störten die absolute Stille nicht, sodass ich mich wie körperlos bewegte. Einmal war links vor mir ein kurzes, lautes Rascheln zu hören. Musste wohl eine Ratte sein, die ich in ihrem Nest aus Abfällen gestört hatte, aber trotzdem sagte ich: »Hallo?« Die einzige Antwort bestand aus dem Echo dieses Worts, das im Dunkel zwischen den Säulen von allen Seiten zu mir zurückkam.

Als ich letztes Mal hier gewesen war, hatte die Mall von Leben gesummt, während unzählige Lastwagen Waren abluden und leicht genervtes Personal Gabelstapler und Elektrokarren und Hubwagen benutzte, um alles in Lager- oder Verkaufsräume abzutransportieren.

Die erhöhte Laderampe verlief entlang der gesamten Länge der riesigen Kaverne. Ich stieg eine in den Beton eingelassene Stahltreppe hinauf, überquerte die Laderampe und stieß eine besonders breite zweiflüglige Tür auf, hinter der ein geräumiger Korridor mit weiß gestrichenen Betonwänden lag. Links warteten zwei Lastenaufzüge, aber selbst wenn sie noch funktionierten – was ich bezweifelte –, wollte ich nicht in einem von ihnen eingesperrt sein. Also zog ich eine mit TREPPE beschriftete Tür auf und stieg nach oben.

Aus einem Lagerraum im Erdgeschoss gelangte ich in eines der beiden ehemaligen Kaufhäuser. In dem höhlenartigen Riesenbau herrschte tiefe Stille, aber ich hatte das Gefühl, als schwämmen mit Haien verwandte Wesen durchs wasserlose Dunkel und umkreisten mich außerhalb der Reichweite meiner Stablampe.

Manchmal erscheinen mir Wesen, die außer mir niemand sehen kann: nachtschwarz und wogend, flink und geschmeidig wie Wölfe, jedoch ohne ihre Gestalt, schreckliche raubtierhafte Schatten, die durch den schmalsten Spalt zwischen Tür und Schwelle oder durchs Schlüsselloch in einen Raum eindringen können. Ich nenne sie »Bodachs« – aber nur deshalb, weil ein englischer Junge, der auf Besuch in Pico Mundo war, sie einmal gemeinsam mit mir gesehen und so genannt hat.

Er war der erste Mensch in meinem Leben, der meine Fähigkeit besaß, Bodachs und die verweilenden Toten zu sehen. Später entdeckte ich, dass Bodachs mythische Tiere der britischen Inseln waren; ihnen wurde nachgesagt, sie schlängelten sich nachts durch Kamine hinunter, um unartige Kinder zu verschleppen. Die Wesen, die ich sah, waren nur allzu real, und sie interessierten sich keineswegs nur für unartige Kinder.

Sie erschienen ausschließlich zu schrecklichen Ereignissen: zu einer Explosion in einem Chemiewerk, dem Einsturz eines Pflegeheims bei einem Erdbeben oder einem Massenmord in einem Einkaufszentrum. Sie schienen sich von menschlichem Leid und Tod zu nähren, als wären sie psychische Vampire, denen unser Entsetzen, unsere Angst und unsere Trauer süßer schmeckt als Blut.

Ich wusste nicht, woher sie kamen. Ich wusste auch nicht, wohin sie verschwanden, wenn sie nicht da waren. Natürlich hatte ich Theorien, aber alle meine Theorien zusammengenommen bewiesen nichts, außer dass ich kein Einstein bin.

Wären in den entlegenen Winkeln der finsteren Höhle dieses ehemaligen Kaufhauses jetzt Bodachs unterwegs gewesen, hätte ich sie als nachtschwarze Formen in nachtschwarzer Dunkelheit nicht sehen können. Zweifellos war ich allein, denn in diesem immer mehr verfallenden und menschenleeren Bau gab es keine Massen von Menschen, die ein Amokschütze in den Mengen hätte erschießen können, die Bodachs anzogen. Sie geruhten niemals, zu nur einem einzelnen Tod oder zu zwei oder drei Toden zu erscheinen; ihr Geschmack ging in Richtung opernhafte Gewalt.

Als ich an jenem schrecklichen Tag aus dem belebten Kaufhaus auf die noch belebtere Promenade getreten war, die die übrigen Geschäfte miteinander verband, hatte ich am Geländer im ersten Stock Hunderte – vielleicht Tausende – von Bodachs gesehen, die aufgeregt nach unten starrten und sich vor lauter Vorfreude auf Blutvergießen tänzelnd drehten und wanden.

Und ich hatte zu glauben begonnen, sie verspotteten mich, hätten vielleicht schon immer gewusst, dass ich sie sehen konnte. Statt zu versuchen, mich mithilfe eines fahrerlosen Lastwagens und einer Mauer aus Hohlblocksteinen zu beseitigen, hatten sie vielleicht den Plan gefasst, mich bis zu meinem Verlust hin zu manipulieren – hin zu dem bodenlosen Schmerz, der aus einem Verlust dieser Art entstehen musste. Bestimmt war solcher Schmerz für sie köstlich, eine Delikatesse.

Am Nordende der Mall hatte es auf der Erdgeschosspromenade einst einen zwölf Meter hohen Wasserfall gegeben, der über künstliche Felsen geschäumt und nach Süden abgeflossen war, wo er einen Teich mit Koikarpfen gespeist hatte. Von der Ost- bis zur Westküste hatte dieses Land glitzernde Malls gebaut, die ebenso zur Unterhaltung wie zum Einkaufen dienten, und Pico Mundo war stolz darauf gewesen, die Lust der Amerikaner, unterhalten zu werden, selbst noch beim Sockenkauf zu befriedigen. Nun floss hier kein Wasser mehr.

Im Licht meiner Stablampe folgte ich der Promenade nach Süden. Die gesamte Beschilderung war längst abgenommen worden. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, welchen Firmen welche Geschäfte gehört hatten. Einige der Schaufenster waren zersplittert, aber in den Metallrahmen, in denen die großen Scheiben gestanden hatten, glitzerten noch herabgefallene Glassplitter. Die intakt gebliebenen Schaufensterscheiben waren mit einem Staubfilm überzogen, der sie fast undurchsichtig machte.

Ich war mit Entschlossenheit hergekommen, aber als ich mich dem Südende des Gebäudes näherte, bewegte ich mich stetig langsamer und noch langsamer, weil mich eine Kälte übermannte, die nichts mit der nachts in der verlassenen Mall herrschenden Temperatur zu tun hatte. In meiner Erinnerung hörte ich die Schüsse, das Kreischen, die durchdringenden Schreckensschreie, das klatsch-klatsch-klatsch von rennenden Füßen auf Travertin.

Am Südende der Promenade stand ein zweites verlassenes Kaufhaus, aber kurz davor lag auf der linken Seite der ehemalige Laden von Burke&Bailey’s: die Eisdiele, die Stormy Llewellyn geführt hatte.

Über dem Eingang hing eine zerfetzte Markise in grellem Pink mit bogenförmig zugeschnittenem Rand. In Gedanken hörte ich den Kugelhagel, unter dem die Tür und die Fenster zersplittert waren, und sah Simon Varner in einem schwarzen Overall und mit schwarzer Sturmhaube, wie er sein auf Dauerfeuer gestelltes Sturmgewehr von links nach rechts, von rechts nach links schwenkte.

Er war ein Cop gewesen. In zweiter Linie ein Cop. Hauptsächlich ein geistesgestörter Kultanhänger. Insgesamt waren sie zu viert gewesen. Sie hatten einen der Ihren ermordet, und ich hatte einen von ihnen getötet. Die beiden anderen saßen jetzt lebenslänglich im Gefängnis, von wo aus sie auch weiterhin ihren satanischen Meister anbeteten.

In diesem Augenblick meiner Rückkehr fühlte ich mich wie ein Gespenst, als wäre ich in irgendeinem vergessenen Krieg gefallen, als wäre mein Körper auf einem fernen Schlachtfeld geblieben und der Verwesung anheimgegeben. Mir war nicht bewusst, dass ich meine Beine bewegte, und ich hörte nicht mehr, wie meine gefühllosen Füße über den schmutzigen Travertin weitergingen. Ich schien auf die Eisdiele zuzuschweben, als käme der weiße Lichtstrahl vor mir nicht aus der Stablampe in meiner Hand, sondern aus irgendeiner geheimnisvollen fernen Quelle, die mich durch Levitation zu Burke&Bailey’s transportierte.

Das zersplitterte Glas war zu kleinen Haufen zusammengekehrt worden; selbst unter der dünnen Staubschicht glitzerten die scharfen Bruchkanten der Splitter noch. Hier liegen deine Hoffnungen und Träume, zerschellt und beiseite gekehrt, sagte ich mir und schaffte es nicht, auch nur eine Andeutung des Optimismus zu empfinden, der mir bisher selbst in schwärzesten Augenblicken zur Verfügung gestanden hatte.

Als ich über die Schwelle trat, sah ich in meiner Erinnerung Stormy Llewellyn, wie sie an jenem Tag in ihrer Arbeitskleidung ausgesehen hatte: rosa Schuhe, weiße Socken, rosa Rock, dazu passende rosa-weiße Bluse und eine kesse weiße Kappe. Sie hatte geschworen, wenn sie eines Tages ihre eigene Eisdiele haben würde – womit sie mit vierundzwanzig Jahren, wenn nicht schon früher rechnete –, würde sie ihre Angestellten nicht in bekloppte Uniformen stecken. Aber selbst in dieser fast lächerlichen Aufmachung blieb sie eine unvergleichliche Schönheit mit rabenschwarzem Haar, geheimnisvoll unergründlichen dunklen Augen, ebenmäßigen Zügen und perfekter Figur.

Das war sie gewesen. Nun nicht mehr.

Ich finde, du siehst bezaubernd aus.

Red keinen Unsinn, Oddie. Ich seh wie ’ne Grufti-Gidget aus.

Sie hatte hinter der Theke gestanden, als Simon Varner das Feuer eröffnet hatte. Vielleicht hatte sie aufgesehen, als die Scheiben zersplittert waren, die bedrohliche maskierte Gestalt gesehen und nicht an den Tod, sondern an mich gedacht. Sie hatte stets weniger an die eigenen Bedürfnisse als an die anderer gedacht, und ich glaubte, ihr letzter Gedanke auf dieser Welt sei nicht Bedauern darüber gewesen, so jung sterben zu müssen, sondern Sorge um mich, der nun mit seinem Schmerz allein bleiben würde.

Vielleicht können wir miteinander arbeiten, wenn ich eines Tages einen eigenen Laden habe.

Das Eiscremegeschäft ist nicht mein Ding. Ich grille lieber.

Ja, das stimmt wohl.

Was?

Gegensätze ziehen sich an.

Bis zu diesem Augenblick war ich nach jenem Schreckenstag nicht mehr zu Burke&Bailey’s zurückgekehrt. Ich weiß, dass Leid reinigend wirken kann, dass es eine Art Feuer ist, das zu erdulden sich lohnen kann, aber es gab Abstufungen, was den Umfang betraf, in dem ich mich dieser reinigenden Kraft aussetzen wollte.

Die Stühle und Tische, aber auch die Kühltruhen und Milchmixer und übrigen Gerätschaften waren abtransportiert worden. An der Rückwand des Raums hing noch eine Tafel mit den erhältlichen Geschmacksrichtungen – in der obersten Zeile die damals neueste Kreation von Burke&Bailey’s: KOKOS-KIRSCHE-SCHOKOSTÜCKE.

Ich erinnerte mich, von Kirsche-Schoko-Kokosstücken gesprochen zu haben, worauf Stormy mich korrigiert hatte.

Kokos-Kirsche-Schokostücke. Du musst die Stücke richtig bezeichnen, sonst bist du erledigt.

Ich wusste gar nicht, dass die Eiscremeindustrie solch starre Grammatikregeln hat.

Bei deiner Beschreibung schlägt irgendein fieser Gast sich damit voll und verlangt dann sein Geld zurück, weil keine Kokosstücke drin waren. Und nenn mich nie wieder bezaubernd. Hundewelpen sind bezaubernd.

Am Ende der langen Theke öffnete ich eine halbhohe Tür und betrat den Arbeitsbereich, von dem aus Stormy Kunden bedient hatte, als die Schießerei angefangen hatte. Der Lichtstrahl der Stablampe zeigte mir PVC-Fliesen, auf denen Plastiklöffel, rosa-weiß gestreifte Strohhalme und einige Wollmäuse, die zitternd vor mir wegrollten, verstreut waren.

Ich verließ mich auf meine Intuition, um die Stelle zu finden, an der Stormy gestanden hatte, als sie niedergeschossen worden war. Die Flecken unter meinen Füßen waren über eineinhalb Jahre alt, und ich betrachtete sie nur kurz, bevor ich weiterging und mich auf den Boden setzte.

Dies war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, die Achse meiner Welt. Hier war sie gestorben.

Ich schaltete die Stablampe aus und saß nun in so völliger Dunkelheit, dass ich den Eindruck hatte, alles Licht sei aus der Welt gewichen und werde nie mehr zurückkehren.

Nach ihrem Tod hatte ihr Geist noch ein paar Tage diesseits des Schleiers verharrt. Meine Trauer war so groß, so bitter, dass ich sie nicht ertragen konnte und mich eine Zeit lang in irgendwelche Traumwelten flüchtete. Für mich sehen noch verweilende Geister ebenso real aus wie lebende Menschen. Sie sind nicht durchsichtig. Sie leuchten auch nicht mittels übernatürlicher Energie. Berühre ich sie, besitzen sie Substanz. Sie reden jedoch nicht, und Stormys Schweigen hätte mir sagen müssen, dass ihr Geist ihren Körper verlassen hatte, sodass vor mir die Essenz des Mädchens stand, das ich geliebt hatte, seine wundervolle Seele, aber nicht das vollständige physische Mädchen. Mein Leugnen hatte etwas Wahnhaftes an sich; ich bildete mir Gespräche zwischen uns ein, bereitete Mahlzeiten zu, die sie nicht essen konnte, schenkte Wein ein, den sie nicht trinken konnte, und plante eine Hochzeit, die nie vollzogen werden würde. Durch mein verzweifeltes Sehnen hielt ich sie in dieser Welt zurück, als sie schon tagelang in der nächsten hätte sein sollen.

Jetzt redete ich hinter der Theke der Eisdiele auf dem Fußboden sitzend, ohne zu fürchten, meine paranormale Begabung könnte sie in diese unruhige Welt zurückholen. Wer einmal ins nächste Leben hinübergeht, kehrt nie wieder zurück. Nicht einmal die Macht einer Liebe von einer Intensität, wie sie vielleicht noch niemals ein Mann für eine Frau empfunden hatte, konnte eine Bresche in die Barriere zwischen Stormy und mir schlagen.

»Nun dauert’s nicht mehr lange«, sagte ich leise.

Ich hatte das Gefühl, sie könne meine Worte selbst in ihrer anderen Welt hören. Das mag seltsam klingen, aber ich habe schon merkwürdigere Dinge erlebt. Hat man einmal einem Senoculus – einem sechsäugigen Dämon in Menschengestalt und mit einem Ziegenkopf – gegenübergestanden, denkt man in der Frage, was es alles geben könnte oder nicht, zukünftig weit aufgeschlossener.

Außerdem blieb mir nichts anderes übrig, als zu glauben, das Leben eines jeden sei mit Gnade durchwoben, denn nur sie konnte das Versprechen, das Stormy und ich erhalten hatten, wahr werden lassen.

Vor sechs Jahren, als wir sechzehn gewesen waren, waren wir in Pico Mundo auf dem alljährlichen Jahrmarkt gewesen. An der Rückseite eines Zelts an der Promenade hatte ein Wahrsageautomat gestanden. Wir steckten einen Quarter in den Schlitz und fragten, ob wir auf eine lange, glückliche Ehe hoffen könnten. Die Karte, die das Gerät ausspuckte, hätte nicht beruhigender sein können: IHRSEIDDAZUBESTIMMT, FÜRIMMERZUSAMMENZUSEIN.

Hinter Glas gerahmt hatte diese Karte über Stormys Bett gehangen, solange sie gelebt hatte. Jetzt trug ich sie in meiner Geldbörse bei mir.

Ich flüsterte nochmals: »Nun dauert’s nicht mehr lange.«

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, sich einen Lieblingsduft vorzustellen, sich so lebhaft an eine Duftnote zu erinnern, wie man in Gedanken eine Melodie hören oder sich einen Ort vorstellen kann, an dem man vor langer Zeit einmal gewesen ist. Trotzdem roch ich, als ich bei völliger Dunkelheit in der ehemaligen Eisdiele saß, das Shampoo mit Pfirsichduft, das Stormy benutzt hatte. Wenn mein Haar nach einer Schicht im Pico Mundo-Grill manchmal nach Frittierfett und gebratenen Zwiebeln gerochen hatte, hatte sie mir dieses Shampoo gegeben, aber ich hatte es in keinem Laden mehr gefunden und seit Monaten nicht mehr benutzt.

»Sie kommen nach Pico Mundo. Noch mehr Kultanhänger. Von denen inspiriert, die … dich ermordet haben. Sie geben sich nicht mehr mit stillen Ritualen und Menschenopfern auf geheimen Altären zufrieden. Was hier passiert ist, hat ihnen gezeigt, dass es eine aufregendere Methode gibt, ihren … Glauben auszuüben. Ich glaube sogar, dass sie schon in der Stadt sind.«

Kaum hatte ich das gesagt, als ich in der Ferne Lachen und danach Stimmen hörte, die durch das Gebäude hallten.

Ich wollte schon aufstehen, aber dann erhellte ein schwacher Lichtschein die Dunkelheit, und ich blieb lieber unter der Theke.

3

Die Stimmen wurden abrupt lauter, als die drei Neuankömmlinge die ehemalige Eisdiele betraten. Falls nicht noch andere anwesend waren, die nicht sprachen, waren sie zu dritt: eine Frau und zwei Männer.

Weil ich fürchtete, sie könnten sich über die Theke lehnen oder durch die halbhohe Tür gehen, um mit ihren Stablampen den Arbeitsbereich abzuleuchten, zog ich mich lautlos in einen Hohlraum zurück, den früher ein Kühlschrank oder irgendein anderes Unterbaugerät eingenommen hatte – in Spinnweben, die wie ein Schleier vor meinem Gesicht hingen und meine Nase so stark kitzelten, dass ich alle Mühe hatte, ein Niesen zu unterdrücken.

Als ich den Schleier wegwischte und mir dabei Giftspinnen vorstellte, fragte die Frau: »Wie hoch waren die Verluste, Wolfgang? Ich meine, allein in diesem Laden hier?«

Wolfgang hatte eine Stimme, die anscheinend durch unzählige Packungen Zigaretten oder mehr als nur ein bisschen pur getrunkenen Whiskey, der die Kehle aufraute, kratzig geworden war. »Vier, darunter eine schwangere Frau.«

Ich hatte geglaubt, sie müssten das aufgebrochene Tor, durch das ich hereingekommen war, und mein zurückgelassenes Werkzeug gefunden haben. Aber sie schienen niemanden zu suchen; offenbar waren sie auf einem anderen Weg als ich in das Gebäude gelangt.

Der zweite Mann hatte eine sanfte, von Natur aus einschmeichelnde Stimme, die aber zu honigsüß klang, so, als seien Lüge und Betrug ihm derart zur zweiten Natur geworden, dass er seinen Tonfall nicht einmal verändern konnte, wenn er in Gesellschaft seiner Genossen ganz aufrichtig sprach. »Mutter und Kind gemeinsam erledigt. Bewundernswürdig effizient. Zwei zum Preis von nur einer Kugel.«

»Als ich ›vier‹ gesagt habe«, stellte Wolfgang ungeduldig korrigierend fest, »habe ich das Ungeborene natürlich nicht mitgezählt.«

»Inkunabeln«, meinte die Frau, was mir nichts sagte. »Es hat auch nicht in der Zeitung gestanden, als von neunzehn berichtet wurde. Woher kommt das wohl, Jonathan?«

Statt zu antworten, wechselte der korrigierte Effizienzfachmann Jonathan das Thema: »Wer waren die anderen drei?«

Wolfgang sagte: »Ein Vater und seine kleine Tochter …«

Ich hatte die beiden gekannt. Rob Norwich, Englischlehrer an der High School, war samstagsmorgens manchmal mit seiner Tochter Emily in den Pico Mundo-Grill gekommen. Er liebte meine Rösti-Ecken. Seine Frau war an Krebs gestorben, als Emily erst vier gewesen war.

»Wie alt war das Kind?«, fragte die Frau.

»Sechs«, antwortete Wolfgang und fügte eine Art Seufzer in das Wort ein, sodass es zwei Silben bekam.

Ich fragte mich, wer diese Leute waren und zu welchem Zweck sie sich nachts Zutritt zu der Mall verschafft hatten. Vielleicht waren sie nur drei weitere Subjekte aus jenen Legionen, deren Kundschaft Folterpornofilme zu Kassenschlagern machte: auf einer Urlaubsreise und begierig, ihre morbide Neugier durch den Besuch von Tatorten, an denen es Massenmorde gegeben hatte, zu befriedigen. Oder vielleicht waren sie doch nicht so harmlos.

»Erst sechs«, sagte die Frau, als lasse sie sich die Zahl auf der Zunge zergehen. »Dafür wäre Varner gut belohnt worden.«

Simon Varner, der böse Cop und Todesschütze.

Wolfgang hatte alle Fakten parat. »Ihrem Vater wurde das Gesicht weggeschossen.«

Jonathan fragte: »Hat der Gerichtsmediziner vielleicht feststellen können, welcher der beiden zuerst erschossen wurde – Daddy’s Girl oder Daddy selbst?«

»Der Vater. Die Tochter soll noch ungefähr eine halbe Stunde lang durchgehalten haben.«

»Also hat sie gesehen, wie er im Gesicht getroffen wurde«, sagte die Frau und schien aus dieser deprimierenden Tatsache eine süffisante Befriedigung zu ziehen.

Der Lichtstrahl einer Stablampe wanderte die lange Liste von Eiscremesorten hinauf, die ich aus meinem Versteck unter der Theke noch sehen konnte, und machte oben kurz bei der Zeile KOKOS-KIRSCHE-SCHOKOSTÜCKE halt.

»Opfer Nummer vier«, sagte Wolfgang, »war Bronwyn Llewellyn. Zwanzig Jahre alt. Hat den Laden geführt.«

Meine verlorene Liebe. Den Vornamen Bronwyn hatte sie nicht gemocht. Alle hatten sie »Stormy« genannt.

Wolfgang sagte: »Eine verdammt hübsche Schlampe. Im TV haben sie ihr Foto öfter als die der anderen gezeigt, weil sie echt heiß war.«

Der Lichtstrahl wanderte über die Eiskarte, glitt die Wand hinunter und machte einige Augenblicke lang bei den Blutspritzern halt, die ursprünglich hellrot gewesen, jetzt aber rostbraun waren.

»Ist diese Bronwyn Llewellyn wichtig?«, fragte Jonathan. »Sind wir ihretwegen hergekommen?«

»Sie ist einer der Gründe.« Der Lichtstrahl bewegte sich von den Blutflecken weg. »Idealerweise wäre sie irgendwo beigesetzt, sodass wir sie ausgraben, die Leiche dazu benutzen könnten, seinen Verstand durcheinanderzubringen. Aber sie ist feuerbestattet und nie beigesetzt worden.«

Ich kann nicht nur die Geister der Toten sehen, sondern besitze eine Gabe, die Stormy »psychischen Magnetismus« genannt hat. Fahre ich herum oder bin mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs, während ich an etwas denke – einen Namen, ein Gesicht –, werde ich früher oder später zu ihnen hingezogen. Oder sie zu mir. Ich kannte diese drei Leute nicht, hatte vor ihrer Ankunft nicht an sie gedacht, und trotzdem waren sie hier. Das konnte unbewusster psychischer Magnetismus sein – oder bloßer Zufall.

»Wer hat ihre Asche?«, fragte die Frau.

»Weiß ich nicht. Mehrere Möglichkeiten.«

Ihre Schritte entfernten sich aus der Eisdiele, und mit zunehmender Entfernung wurde das Licht ihrer Stablampen schwächer.

Ich kroch aus meinem Versteck, rappelte mich auf und hastete zu der halbhohen Tür am Ende der Theke. Ungeachtet aller Risiken musste ich mehr über diese Leute erfahren.

4

Das Trio, für mich nur schemenhafte Gestalten, die Lichtschwerter führten, war gemächlich zum Nordende der Mall unterwegs und blieb zwischendurch mehrmals stehen, um mit der Dunkelheit zu fechten und den einen oder anderen interessanten Punkt zu beleuchten.

Ich wagte nicht, meine Stablampe einzuschalten. Ihre Unterhaltung tarnte mich ein bisschen, aber wenn ich blindlings in ihrem Kielwasser folgte, riskierte ich, irgendwann über etwas zu stolpern und dabei genügend Lärm zu machen, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

Mein Dilemma wurde gelöst, als eine Hand, die sich auf meine Schulter legte, mich dazu brachte, mich umzudrehen, worauf ich einem sanft leuchtenden Mann gegenüberstand, der kein Gesicht hatte. Leere Augenhöhlen starrten mich durch eine Maske aus von Kugeln zerfetztem Fleisch und zersplitterten Knochen an.

Nach so vielen Jahren übernatürlicher Erfahrungen war ich unterdessen immun gegen die plötzliche Angst, die andere empfunden hätten, wenn sie im Dunkeln unerwartet von einer Hand berührt wurden. Auch das grausige Gesicht – oder wie in diesem Fall sein Fehlen – löste statt Angst nur Mitleid und Traurigkeit aus.

Ich konnte nur vermuten, dass dort der Geist von Rob Norwich stand, der vor fast zwei Jahren hier in der Eisdiele ermordet worden war: der Vater der sechsjährigen Emily, ebenfalls erschossen. Während das Kind anscheinend in die andere Welt hinübergegangen war, verharrte sein Vater noch in dieser.