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Wer ist hier das Opfer? Ist es der Journalist Asa Leventhal, der nach einigen Irrfahrten des Lebens zu einer guten Position bei einer Zeitung gelangt ist und der nun die mühsam erworbenen Annehmlichkeiten des Daseins, seine innere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit durch die unerwarteten bitteren Anschuldigungen eines längst vergessenen und plötzlich aufgetauchten Bekannten ins Wanken geraten sieht? Oder ist Allbee das Opfer, der Mann mit den zerschlissenen Kleidern und einem vom Alkohol gedunsenen Gesicht, der sich immer wieder Leventhal in den Weg stellt und ihn für sein Missgeschick verantwortlich macht? Obwohl Leventhal weiß, dass Allbee selbst für sein Schicksal verantwortlich ist, beginnt er doch zu zweifeln. Wie weit ist ein Mensch am Unglück des anderen mitschuldig? Die Frage Dostojewskis, die alte Kain-und-Abel-Frage, eine Urfrage der Menschen. Wie Allbee sich in Leventhals gepflegter Wohnung einnistet und dort Unordnung und Unruhe hineinbringt, wie er immer neue Forderungen an sein Opfer stellt und ihm allen Seelenfrieden raubt, wie dieser verzweifelte Kampf um Schuld und Unschuld zu einem Albtraum für Leventhal wird, aus dem es zunächst kein Erwachen zu geben scheint, das erlebt der Leser in einem brillant komponierten, ungeheuer spannenden Roman, der Saul Bellow die erste internationale Anerkennung eintrug.
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2020
Saul Bellow
Roman
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Über Saul Bellow
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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zur Kurzübersicht
Saul Bellow wurde am 10. Juni 1915 in Lachine / Quebec als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Montreal, 1924 zog die Familie nach Chicago. Dort besuchte er die Tuley High School und studierte später Anthropologie und Soziologie an der Northwestern University. Bellow übte verschiedene Tätigkeiten aus, bevor er seit 1938 dauerhaft an verschiedenen amerikanischen Universitäten lehrte, unter anderem an Princeton und an der Universität von Chicago. Am 5. April 2005 starb der Schriftsteller in Brookline, Massachusetts, im Alter von 89 Jahren. Bellow war mehrmals verheiratet und hatte vier Kinder. Saul Bellow selbst erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Nobelpreis für Literatur 1976.
Das gesamte Werk von Saul Bellow ist lieferbar bei Kiepenheuer & Witsch.
Der Übersetzer
Walter Hasenclever (1910–1992) hat während der Hitlerzeit in den Vereinigten Staaten gelebt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er zunächst der Herausgeber der deutschen Ausgabe der »Perspektiven«, später Mitbegründer des Literarischen Colloquiums in Berlin. Er arbeitete hauptsächlich als Übersetzer aus dem Englischen.
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Wer ist hier das Opfer? Ist es der Journalist Asa Leventhal, der nach einigen Irrfahrten des Lebens zu einer guten Position bei einer Zeitung gelangt ist und der nun die mühsam erworbenen Annehmlichkeiten des Daseins, seine innere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit durch die unerwarteten bitteren Anschuldigungen eines längst vergessenen und plötzlich aufgetauchten Bekannten ins Wanken geraten sieht? Oder ist Allbee das Opfer, der Mann mit den zerschlissenen Kleidern und einem vom Alkohol gedunsenen Gesicht, der sich immer wieder Leventhal in den Weg stellt und ihn für sein Missgeschick verantwortlich macht? Obwohl Leventhal weiß, dass Allbee selbst für sein Schicksal verantwortlich ist, beginnt er doch zu zweifeln. Wie weit ist ein Mensch am Unglück des anderen mitschuldig? Die Frage Dostojewskis, die alte Kain-und-Abel-Frage, eine Urfrage der Menschen.
Wie Allbee sich in Leventhals gepflegter Wohnung einnistet und dort Unordnung und Unruhe hineinbringt, wie er immer neue Forderungen an sein Opfer stellt und ihm allen Seelenfrieden raubt, wie dieser verzweifelte Kampf um Schuld und Unschuld zu einem Albtraum für Leventhal wird, aus dem es zunächst kein Erwachen zu geben scheint, das erlebt der Leser in einem brillant komponierten, ungeheuer spannenden Roman, der Saul Bellow die erste internationale Anerkennung eintrug.
Widmung
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Meinem Freund Paolo Milano
Man erzählt sich, o mächtiger König, dass dereinst der Größten einer unter den Kaufleuten lebte, der viel Reichtum besaß und seinen Handel auf viele Städte erstreckte. Dieser bestieg eines Tages sein Ross und ritt aus, um in gewissen Städten Geld einzutreiben, und die Hitze bedrückte ihn; er lagerte sich also unter einem Baum, steckte die Hand in die Satteltaschen und nahm daraus Brot und getrocknete Datteln und begann zu frühstücken. Als er die Datteln aufgegessen hatte, warf er die Steine kraftvoll von sich, und siehe! ein Ifrit erschien, von riesenhafter Gestalt und ein entblößtes Schwert schwingend, mit dem er sich dem Kaufmann näherte und sagte: »Stehe auf, damit ich dich erschlage, wie du meinen Sohn erschlagen hast.« Fragte der Kaufmann: »Wie habe ich deinen Sohn erschlagen?« Und er antwortete: »Als du Datteln aßest und die Steine fortwarfst, haben diese meinen Sohn, der vorbeiging, mitten auf die Brust getroffen, sodass er auf der Stelle starb.«
Tausendundeine Nacht
Wie dem auch sei: nun da es auf den wogenden Wassern des Ozeans war, begann sich das menschliche Antlitz zu offenbaren; das Meer schien mit unzähligen Gesichtern gepflastert, die himmelwärts gerichtet waren; Gesichter flehentlich, zornig, verzweifelnd; Gesichter, die zu Tausenden emporstrebten, zu Myriaden, in Generationen …
DE QINCEY, Die Leiden des Opiums
In manchen Nächten ist New York so heiß wie Bangkok. Der ganze Kontinent scheint von seinem Platz verzogen und näher an den Äquator gerutscht, der bittere, graue Atlantik grün und tropisch, und die Menschen, die die Straßen bevölkern, scheinen unter den erstaunlichen Monumenten ihrer Geheimnisse, deren Lichter in verwirrender Fülle endlos in die Hitze des Himmels emporsteigen, barbarische Fellachen geworden zu sein. In einer solchen Nacht stieg Asa Leventhal rasch aus einem Hochbahnzug der Third Avenue. In Gedanken versunken, wäre er beinahe an seiner Station vorbeigefahren. Als er sie erkannte, sprang er auf und rief dem Schaffner zu: »He, halten Sie noch einen Augenblick!« Die schwarze Tür des uralten Wagens schloss sich schon wieder; er kämpfte dagegen, drückte sie mit der Schulter zurück und zwängte sich durch. Der Zug flüchtete, und Leventhal, außer Atem, starrte ihm schimpfend nach, bevor er sich umwandte und zur Straße hinabstieg.
Er war voll bitteren Ärgers. Er hatte den Nachmittag auf Staten Island bei seiner Schwägerin, der Frau seines Bruders, verbracht. Oder besser gesagt, er hatte ihn ihretwegen verplempert. Kurz nach dem Lunch hatte sie ihn in seinem Büro angerufen – er war der Herausgeber einer kleinen Fachzeitschrift im südlichen Manhattan – und hatte ihn sofort mit fürchterlichen Wehrufen angefleht, zu ihr zu kommen, gleich zu kommen. Eins ihrer Kinder war krank.
»Elena«, sagte er, sobald er sich zu Gehör bringen konnte. »Ich habe zu tun. Also bitte beherrsche dich und sage mir: Ist es wirklich so ernst?«
»Komme sofort! Asa, bitte! Sofort!«
Er fasste sich ans Ohr, als wollte er sich vor ihrer schrillen Stimme schützen, und murmelte etwas von italienischer Erregbarkeit. Dann wurde das Gespräch unterbrochen. Er legte den Hörer auf und erwartete, dass sie ihn wieder anrufen würde, aber das Telefon blieb still. Er wusste nicht, wie er sie erreichen konnte; sein Bruder stand nicht im Telefonbuch von Staten Island. Sie hatte entweder von einem Laden oder einem Nachbarn aus angerufen. Schon seit Langem hatte Leventhal sehr wenig mit seinem Bruder und dessen Familie zu tun gehabt. Noch vor wenigen Wochen hatte er von ihm eine Postkarte erhalten, die in Galveston gestempelt war. Er arbeitete in einer Werft. Damals hatte Leventhal zu seiner Frau gesagt: »Erst Norfolk und jetzt Texas. Alles ist besser als zu Hause.« Es war die alte Geschichte: Max hatte mit jungen Jahren geheiratet und lief jetzt dem Neuen, dem Abenteuer nach. Es gab zahlreiche Werften und Arbeitsplätze in Brooklyn und Jersey. Währenddessen musste Elena die Sorge für die Kinder tragen.
Leventhal hatte ihr die Wahrheit gesagt. Er hatte zu tun. Vor ihm lag ein Stapel unkorrigierter Fahnen. Nach einer Wartezeit von einigen Minuten stieß er das Telefon von sich und nahm mit einem ungeduldigen Knurren in der Kehle ein Manuskript zur Hand. Unzweifelhaft war das Kind krank, wahrscheinlich sogar ernstlich krank, oder sie hätte sich nicht so angestellt. Und da sein Bruder abwesend war, hatte er gewissermaßen die Verpflichtung, hinzugehen. Er wollte am Abend gehen. Es konnte nicht so dringend sein. Es lag einfach nicht in Elenas Möglichkeiten, sich über irgendein Thema in ruhigem Ton zu äußern. Er hielt sich das mehrmals vor, dennoch klangen ihre Schreie ihm zusammen mit dem windigen Summen der langstieligen elektrischen Ventilatoren und dem Ticken der Schreibmaschinen noch weiter in den Ohren. Wenn es nun wirklich gefährlich wäre? Und plötzlich, einer Eingebung folgend, derentwegen er sich gleichzeitig schalt, stand er auf, nahm seine Jacke von der Stuhllehne, ging zum Mädchen in der Telefonzentrale und sagte: »Ich möchte Mr. Beard sprechen. Melden Sie mich bitte an.«
Die Hände in den Gesäßtaschen, gegen den Schreibtisch seines Chefs gedrückt und ihm ein wenig zugeneigt, erklärte er ruhig, dass er fortgehen müsse.
Mr. Beard, dessen durch die Glatze gleichsam vergrößertes Gesicht eine scharfe knochige Nase sowie eine von Adern gezeichnete Stirn aufwies, sah ihn ungläubig und forschend an.
»Wo gerade heute die Nummer fertig werden muss?«, fragte er.
»Es handelt sich um eine Familienkrise.«
»Kann sie nicht ein paar Stunden warten?«
»Wenn ich davon überzeugt wäre, würde ich nicht gehen.«
Mr. Beards Reaktion darauf war kurz und unangenehm. Er schlug mit dem Metalllineal auf die Seiten des Typenbuchs. »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte er. Mehr war dazu nicht zu sagen, aber Leventhal zögerte noch neben dem Schreibtisch, weil er ein weiteres Wort erhoffte. Mr. Beard bedeckte jedoch seine zerklüftete Stirn mit einer zitternden Hand und versenkte sich schweigend in einen Artikel.
»Verdammter Fisch!«, dachte Leventhal.
Als er die Haustür erreichte, ging gerade ein gewittriger Wolkenbruch nieder. Er sah ihm eine Weile zu. Die Luft war plötzlich so blau wie Siphonglas. Die Brandmauer des Speichers an der Ecke war mit Schwarz gestreift, und die gewaschenen Pflastersteine sowie die Teerritzen glänzten auf der gebogenen Straße. Leventhal kehrte ins Büro zurück, um sich den Regenmantel zu holen, und hörte, als er den Gang entlangschritt, Mr. Beard mit seiner nörgelnden, hetzerischen Stimme sagen: »Läuft mitten in der Arbeit davon. Wo uns das Wasser bis an die Kehle steht. Während alle anderen überlastet sind.« Eine andere Stimme, die von Mr. Fay, dem Geschäftsführer, erwiderte: »Es ist sonderbar, dass er auf einmal davonläuft. Da muss etwas passiert sein.«
»Nutzt es unanständig aus«, fuhr Mr. Beard fort. »Wie alle von dieser Brüderschaft. Ich habe noch keinen gekannt, der’s nicht tut. Bedienen sich immer zuerst. Warum hat er nicht wenigstens angeboten, später wiederzukommen?«
Mr. Fay erwiderte nichts.
Mit unbewegter Miene zog sich Leventhal den Regenmantel an. Seine Hand, die sich im Ärmel verfing, stieß er gewaltsam durch. Dann ging er mit seinem etwas schwerfälligen Gang aus dem Büro und hielt nur im Vorzimmer an, um sich am Wasserbehälter einen Trunk zu zapfen. Als er auf den Fahrstuhl wartete, entdeckte er, dass er noch immer den Papierbecher in der Hand hielt. Er zerdrückte ihn und warf ihn mit energischem Schwung durch das Gestänge in den Schacht.
Da die Fahrt zur Fähre kurz war, zog Leventhal in der Untergrundbahn seinen Gummimantel nicht aus. Die Luft war stickig, sein Gesicht schwitzte. Die Propeller des Ventilators drehten sich so langsam im gelben Zwielicht, dass er die Umdrehungen zählen konnte. Als er die Straße erreichte, war der Wolkenbruch vorüber, und als sich das Boot von der Anlegestelle über die leichte Dünung schob, kam die Sonne wieder zum Vorschein. Leventhal stand im Freien, den Mantel über die Schulter geworfen, die Falten in der Hand gerafft. Die frisch gestrichenen und verrosteten Schiffsrümpfe im Hafen hoben und senkten sich langsam. Der Regen hatte sich zum Horizont hin verzogen, als dunkler Streifen, der weit über die schwachen Umrisse des Ufers hinausreichte. Auf dem Wasser war die Luft kühler, aber auf der Seite von Staten Island glühten die großen Speicher im fleckigen Grün, und die riesigen Zementflächen waren mit Sonnenlicht übergossen. Über diese Flächen zerstreute sich die von Bord gehende Menge und begab sich zu der Schlange von Bussen, die mit mahlenden Motoren in einem Dunstschimmer am Straßenrand warteten.
Max wohnte in einem großen Mietshaus. Seine Wohnung wie auch Leventhals am Irving Place lag hoch. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Kinder tobten im Treppenhaus. Die Wände waren mit kindlichem Gekritzel bedeckt. Ein schwarzer Hausmeister mit Militärkappe war dabei, die Treppe zu putzen, und sah voller Wut auf Leventhals Fußspuren. Im Hof flatterte die Wäsche steif und gelb in der starken Sonne; die Seilrollen knarrten. Elena hatte auf Leventhals Klingeln nicht geöffnet. Der ältere seiner zwei Neffen kam zur Tür, als er klopfte. Der Junge erkannte ihn nicht. Natürlich, überlegte Leventhal, wie sollte er auch? Er blickte zu dem Fremdling auf und legte den Arm über die Augen, um sie in dem sonnigen, staubigen, trostlosen weißen Gang zu schützen. Die Wohnung hinter ihm war dunkel, die Jalousien waren heruntergelassen, und eine Lampe brannte mitten auf dem unabgeräumten Esstisch.
»Wo ist deine Mutter?«
»Sie ist da drin. Wer sind Sie?«
»Dein Onkel«, sagte Leventhal. Als er in die Diele trat, stieß er, ohne dass er’s vermeiden konnte, gegen den Jungen.
Seine Schwägerin kam ihm aus der Küche entgegengestürzt. Sie hatte sich verändert; sie war dicker geworden, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte.
»Nun, Elena?«, sagte er.
»Ach, Asa, du bist hier?« Sie griff nach seiner Hand.
»Selbstverständlich bin ich hier. Du hast mich doch gebeten zu kommen, oder nicht?«
»Ich habe noch einmal versucht, dich zu erreichen, aber man hat mir gesagt, dass du fort bist.«
»Warum noch einmal?«
»Phillie, nimm deinem Onkel den Mantel ab«, gebot Elena.
»Ist die Klingel nicht in Ordnung?«
»Ich habe sie wegen des Babys abgestellt.«
Leventhal ließ seinen Mantel in die Arme des Jungen fallen und folgte ihr in das Speisezimmer, wo sie versuchte, ihm einen Stuhl frei zu machen.
»Sieh dir nur mal die Wohnung an«, sagte sie. »Ich habe noch keine Zeit gefunden, sie aufzuräumen. Meine Gedanken sind meilenweit entfernt. Ich habe die Vorhänge schon vor drei Wochen runtergenommen und noch nicht wieder aufgehängt. Und sieh mich selber an.« Sie legte die Kleider nieder, die sie vom Stuhl aufgenommen hatte, und zeigte sich ihm mit ausgebreiteten Armen. Ihr schwarzes Haar war zerzaust, sie trug unter dem Baumwollkleid ein Nachthemd und war barfuß. Sie lächelte schmerzlich. Leventhal, wie gewöhnlich unbewegten Gesichts, nickte nur. Er bemerkte, dass ihre Augen eine Bitte enthielten; sie waren zu glänzend und feucht, ihre Bewegungen bewiesen eine überflüssige Energie, eine Andeutung der Verwirrung oder gar Verrücktheit, die nicht mehr sicher gezügelt war. Aber er war solchen Anzeichen gegenüber nur allzu aufgeschlossen. Dessen war er sich bewusst und warnte sich daher, nicht zu hastig zu urteilen. Er blickte sie wieder an. Ihr Gesicht, das früher frisch und dunkel gewesen war, erschien jetzt weicher, voller und blasser, ein wenig gelblich. Wenn er seinen Neffen ansah, konnte er sich vorstellen, wie sie einst gewesen war. Er hatte eine starke Ähnlichkeit mit ihr. Nur die leicht gebogene Nase stammte von den Leventhals.
»Was ist denn nun geschehen, Elena?«
»Oh, Mickey ist krank, er ist furchtbar krank«, sagte sie.
»Was fehlt ihm denn?«
»Der Arzt sagt, er weiß nicht, was es ist. Er kann nichts mit ihm anfangen. Er hat die ganze Zeit hohes Fieber. Das hat vor ein paar Wochen angefangen. Ich gebe ihm zu essen, aber er kann’s nicht bei sich behalten. Ich versuche alles. Ich weiß nicht, was ich mit ihm tun soll. Und heute habe ich einen solchen Schreck gekriegt. Ich bin in sein Zimmer gegangen und habe ihn nicht atmen hören.«
»Ach, was soll das heißen?«, sagte Leventhal.
»Genau was ich dir sage. Ich habe ihn nicht atmen hören«, sagte sie mit Nachdruck. »Er atmete nicht. Ich habe meinen Kopf neben seinen aufs Kissen gelegt. Ich konnte nichts hören. Ich habe meine Hand über seine Nase gehalten. Ich konnte nichts fühlen. Ich wurde ganz kalt. Ich dachte, ich würde selber sterben. Ich rannte raus, um den Arzt anzurufen. Ich konnte ihn nicht erreichen. Ich rief in seiner Praxis an und überall sonst. Ich konnte ihn nicht finden. Dann rief ich dich an. Als ich zurückkam, atmete er. Er war in Ordnung. Darauf versuchte ich wieder, dich anzutelefonieren.«
Elenas Hand ruhte auf dem Busen; die langen spitzen Finger waren schmutzig, die Haut darunter war weiß und sehr zart.
Das war also die Krise. Er hätte sich’s etwa denken können.
»Er hat die ganze Zeit geatmet«, sagte er ein wenig rau. »Wie konnte er aufhören und wieder anfangen?«
»Nein, nein«, beharrte sie. »Er hat nicht geatmet.«
Leventhals Ruhe war trügerisch; sie war mit Angst durchsetzt. Er sah von Elena fort zur Zimmerdecke empor und dachte: »Welch ein Aberglaube. Wie in der alten Heimat. Wahrscheinlich können auch die Toten ins Leben zurückkehren und was sonst noch dazugehört.«
»Warum hast du nicht seinen Herzschlag gefühlt?«
»Das hätte ich vielleicht tun sollen …«
»Ja, allerdings.«
»Du hattest zu tun, nicht wahr?«
»Ja natürlich, ich hatte zu arbeiten …«
Sie zeigte sich darüber so zerknirscht, dass er sich vornahm, freundlicher zu sein. Warum auch nicht; er war nun einmal hier, das Unheil war geschehen. Er versicherte ihr, dass er Anspruch auf einen freien Nachmittag hatte. Er war schon seit sechs Jahren bei der Firma, und wenn er sich nach sechs Jahren nicht ein paar Stunden wegen einer persönlichen Angelegenheit freinehmen konnte, dann taugte die Stellung sowieso nichts. Selbst wenn er einen ganzen Monat lang jeden Nachmittag nach Hause ging, waren noch nicht im Entferntesten die unbezahlten Überstunden abgegolten, die er gemacht hatte. Nachdem er zu sprechen aufgehört hatte, liefen seine Gedanken in der gleichen Richtung weiter. Im öffentlichen Dienst war das anders. Da hatte man Krankenurlaub und ging nach Hause, wenn man Kopfweh hatte. Und man war Beamter … Aber er wollte dabei nicht verweilen. Er stand auf und drehte den Stuhl um, als wollte er das Thema seiner Überlegungen dadurch wechseln, dass er seine Position wechselte.
»Du solltest die Jalousien hochziehen«, sagte er zu Elena. »Warum lässt du sie unten?«
»Es macht das Zimmer kühler.«
»Es schneidet die Luftzufuhr ab … Und du musst die Lampe brennen lassen. Die strahlt Hitze aus.«
Sie hatte die Kleider vom Stuhl auf den Tisch gepackt, indem sie Geschirr, Brot, Milchschachteln und Zeitschriften beiseiteschob. Er vermutete, dass sie die Jalousien nur deshalb unten ließ, um ihre Schlamperei vor den Nachbarn über den Hof zu verbergen. Er betrachtete den Raum mit Missvergnügen. Und Max ließ sich von Norfolk nach Galveston und von dort nach Gott weiß wohin treiben. Vielleicht zog er es vor, in Absteigequartieren und Hotels zu hausen.
Elena gab Philip einen Dollar und schickte ihn Bier holen. Sie nahm das Geld aus einer Tasche in ihrem Rock, die mit Geldmünzen gefüllt war. Als er fort war, verlangte Leventhal, Mickey zu sehen.
Er lag in Elenas heißem, schattigem, stickigem Zimmer und döste in dem großen Bett, das gegen die Wand stand. Das Laken war ihm bis zur Taille heruntergerutscht. Sein kurzes schwarzes Haar schien feucht, sein Mund war geöffnet. Er trug ein ärmelloses Unterhemd. Leventhal legte vorsichtig seinen Handrücken gegen die Wange des Jungen; sie glühte. Als er die Hand zurückzog, stieß er mit dem Ring gegen den Bettpfosten. Der Blick, den Elena ihm zuschoss, erschreckte ihn. Er hob entschuldigend dieselbe Hand und fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht strömte. Aber sie sah nicht mehr nach ihm hin, sie zog dem Kind das Laken über die Schulter. Leventhal ging in den Korridor hinaus und wartete dort auf sie. Sie schloss die Tür langsam mit so viel Sorgfalt, dass ganze Minuten zu vergehen schienen. Er sah ins Zimmer; es wurde dunkler um die Gestalt im Bett, die durch die ausladende Chiffoniere seinen Blicken teilweise verborgen war. Endlich ließ sie den Türknauf fahren und kehrte ins Esszimmer zurück.
Niedergeschlagen und verdrossen setzte er sich hin. Er begann sogleich dafür zu plädieren, dass Mickey ins Krankenhaus gebracht werde. »Wer ist denn dein Arzt?«, fragte er. »Welcher Teufel reitet ihn, dass er dich das Kind im Haus behalten lässt? Es gehört ins Krankenhaus.« Aber er merkte bald, dass die Schuld bei Elena lag und nicht beim Arzt. Sie sagte mit großem Eigensinn, dass der Junge zu Hause besser aufgehoben sei, wo sie ihn selber pflegen könne. Sie zeigte solches Entsetzen vor Krankenhäusern, dass er schließlich ausrief: »Sei doch nicht so engstirnig, Elena!« Sie schwieg, obgleich sie mehr bekümmert als beleidigt schien und ihn wahrscheinlich gar nicht verstand. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er so heftig gewesen war, aber hier bedrückte ihn alles – das Haus, seine Schwägerin, das kranke Kind. Wie konnte der Junge in einer solchen Wohnung, in jenem Zimmer wieder gesund werden! »Um Gottes willen, Elena«, versuchte er sie in anderem Ton zu überzeugen, »es besteht kein Grund, sich vor einem Krankenhaus zu fürchten.« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf; er schickte sich an, einen anderen Satz zu formulieren, hielt aber inne und legte sich in seinem Polsterstuhl zurück.
Plötzlich sagte sie froh, fast glücklich: »Da ist Philip und das Bier.« Sie stand auf, um Gläser zu holen. Sie suchte nach einem Flaschenöffner, den sie jedoch nicht fand, und Philip stemmte die Kappen am Griff eines Metallschrankes in der Küche auf. Elena wollte auch Sandwiches machen, aber Leventhal sagte, dass er nicht hungrig sei. »Ach ja, es ist bald Abendbrotzeit. Deine Frau wird böse sein, wenn du keinen Appetit hast. Wie geht es ihr? Sie ist so ein hübsches Mädchen.« Elena lächelte herzlich. Sie kannte nicht einmal den Namen seiner Frau. Sie waren sich nur ein- oder zweimal begegnet. Er wollte ihr nicht erzählen, dass seine Frau auf ein paar Wochen in den Süden gefahren war, um ihre Mutter zu besuchen. Elena hätte darauf bestanden, dass er blieb.
Um das Thema zu wechseln, fragte er nach seinem Bruder. Max war seit Februar in Galveston. Er wollte die Familie nachkommen lassen, aber die Stadt war so überfüllt, dass es unmöglich war, eine Wohnung zu finden. Er war immer auf Suche, wenn es die Zeit erlaubte.
»Warum kehrt er denn nicht nach New York zurück, wo er eine Wohnung hat?«, fragte Leventhal.
»Oh, er verdient dort unten sehr gut; er arbeitet fünfzig, sechzig Stunden die Woche. Er schickt mir eine Menge.« Sie schien sich nicht verlassen zu fühlen, und die Abwesenheit ihres Mannes kümmerte sie offenbar nicht allzu sehr.
Leventhal trank schnell sein Bier aus und stand auf. Er sagte, er müsse vielleicht noch eine Stunde ins Büro zurück, um einiges zu erledigen. Elena gab ihm die Telefonnummer eines Nachbarn; er schrieb sie in sein Notizbuch und sagte ihr, sie solle ihn in den nächsten Tagen anrufen, wenn es Mickey nicht besser ginge. An der Tür rief er Philipp und gab ihm einen Vierteldollar für eine Flasche Soda. Der Junge nahm ihn mit einem gemurmelten »Danke« entgegen, aber auch mit einem Blick, der eine Verpflichtung ablehnte. Wahrscheinlich hatte ein Vierteldollar für Philip nicht viel Bedeutung. Elenas Tasche war voller Münzen; sie war sicher sehr freigebig damit. Leventhal strich dem Jungen mit dem Finger über die Backe. Philip senkte den Kopf, und Leventhal, etwas enttäuscht und unzufrieden mit sich selbst, verließ das Haus.
Da er lange auf den Omnibus warten musste, dämmerte es schon, als er Manhattan erreichte. Es war zu spät, um sich im Büro noch nützlich zu machen, aber er war trotzdem in der düsteren braunen Hitze von South Ferry mit sich uneins, ob er nicht doch noch hingehen solle. »Ach, die kommen heute schon ohne mich zurecht«, entschied er zuletzt. Beard würde sein Kommen jetzt nur als ein Eingeständnis werten, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Es konnte außerdem auch so aussehen, als wolle er sich als einer der »Brüderschaft« aufspielen, der anders war. Nein, nicht eine Spur davon, dachte Leventhal. Er wollte früh zu Abend essen und nach Hause gehen. Er fühlte sich mehr ausgedörrt als hungrig, aber er musste essen. Er wandte sich jäh zum Gehen und begab sich zum Zug.
Leventhal hatte eine kräftige Figur, einen großen Kopf und eine ebensolche Nase. Sein schwarzes Haar war wellig-kraus, und die Augen unter den zusammengewachsenen Brauen waren tiefschwarz und von einer Größe, wie sie im Gesicht eines Erwachsenen ungewöhnlich ist. Aber obwohl sie kindlich groß waren, waren sie nicht kindlich im Ausdruck. Sie schienen eine Intelligenz zu enthüllen, die sich für ihre eigenen Fähigkeiten nicht sonderlich interessierte, als zöge sie vor, von ihnen nicht behelligt zu werden und teilnahmslos zu bleiben; und diese Teilnahmslosigkeit schien sich auch auf die anderen Menschen zu erstrecken. Er sah nicht mürrisch aus, sondern eher unzugänglich, phlegmatisch. Heute Abend machte er wegen der Hitze einen verschlampten Eindruck, aber er war selbst unter normalen Umständen nicht ordentlich. Sein Schlips hing schief und lag nicht am Kragen an, seine Hemdmanschetten kamen unter den Jackenärmeln hervor und bedeckten seine dicken braunen Handgelenke, seine Hosen beulten sich an den Knien.
Leventhal kam ursprünglich aus Hartford. Er hatte dort die höhere Schule absolviert und danach sein Elternhaus verlassen. Sein Vater, der einen kleinen Textilwarenladen hatte, war ein ungestümer Mann, hart und selbstsüchtig seinen Söhnen gegenüber. Seine Mutter war in einer Irrenanstalt gestorben, als Leventhal acht und sein Bruder sechs Jahre alt war. Als sie aus dem Haus verschwand, hatte der alte Leventhal ihre Fragen nach ihrem Verbleib mit einem verbitterten »Fortgegangen« beantwortet, als hätte sie ihn im Stich gelassen. Sie waren fast erwachsen, ehe sie erfuhren, was mit ihr geschehen war.
Max hatte die Schule nicht beendet; er ging zwei Jahre vor der Abschlussprüfung ab. Als Leventhal sie bestanden hatte, zog er nach New York, wo er für einen Auktionator namens Harkavy arbeitete, einen Freund seines Onkels Schacter. Harkavy nahm Leventhal unter seinen Schutz; er riet ihm, abends das College zu besuchen, und lieh ihm sogar Geld. Leventhal belegte eine vor juristische Vorlesung, aber ohne viel Erfolg. Vielleicht hatte das Bewusstsein, dass er etwas Schweres unternahm, zu drückend auf ihm gelastet. Und die Schule selbst – die Atmosphäre, besonders an blauen Winterabenden, die Verbissenheit mancher Studenten, von denen viele schon über fünfzig waren, weltgezaust, aber unbeirrbar – verstörte ihn. Er konnte nicht arbeiten, er hatte es im Zimmer hinter seines Vaters Laden nie gelernt. Er beendete zwar den Kurs, aber ohne Auszeichnung, und niemand ermutigte ihn, sich ernstlich dem juristischen Studium zu widmen. Es hätte ihm genügt, Harkavys Assistent zu bleiben, aber der alte Mann zog sich eine Lungenentzündung zu und starb. Sein Sohn Daniel, damals im dritten Studienjahr in Cornell, ging von der Universität ab, um das Geschäft zu übernehmen. Leventhal erinnerte sich noch, wie er nach dem Begräbnis ins Geschäft getreten war, in einem Bärenpelzmantel, groß, blond, ernsthaft, und jedem der Angestellten voller Gefühl gesagt hatte: »Wir wollen uns verschanzen und die Stellung halten!« Leventhal, der praktisch das Mündel des alten Mannes gewesen war, war von dessen Tod zu sehr betroffen und traute sich zu wenig zu, als dass er für Daniel noch hätte nützlich sein können. Das Geschäft wurde bald geschlossen. Es kam für ihn nicht infrage, nach Hartford zurückzukehren (sein Vater hatte wieder geheiratet), und da er begann, sich treiben zu lassen, lebte er binnen Kurzem, nur wenige Monate nach Harkavys Tod, in einem schmutzigen Massenquartier auf der Ostseite der Stadt, verhungert und abgemagert. Eine Zeit lang verkaufte er sonnabends Schuhe im Untergeschoss eines Warenhauses. Später fand er eine ständige Arbeit als Pelzfärber; danach war er etwa ein Jahr lang in einem Absteigehotel des südlichen Broadway angestellt. Dann wurde er zur Zivilverwaltung aufgerufen, für die er sich zur »Verwendung irgendwo in den Vereinigten Staaten« hatte vormerken lassen. Er wurde zum Zollamt in Baltimore geschickt.
Das Leben, das er in Baltimore führte, war von ganz anderer Art, es war nicht so einsam. Es dämmerte ihm mit der Zeit, dass er in New York das Alleinsein als gegeben hingenommen hatte; er war sich kaum bewusst geworden, wie traurig es ihn machte. Beim Zoll wurde er schon im ersten Winter eingeladen, samstags mit mehreren Leuten nach Washington in die Oper zu fahren. Er hörte sich fünf oder sechs Vorstellungen mit einer Art von entrücktem, skeptischem Interesse an. Aber er begann, regelmäßig auszugehen. Er gewann Geschmack an Hummer- und Muschelgerichten. Er kaufte sich zwei Anzüge und einen Mantel – nachdem er von Oktober bis April in einem schweren Kamelhaarmantel, einem Geschenk des alten Harkavy, geschwitzt hatte.
Bei einem Picknick am Gestade der Chesapeake Bay zur Feier des 4. Juli verliebte er sich in die Schwester eines seiner Freunde. Sie war ein großes hübsches Mädchen mit schwerfälligen Bewegungen. Er folgte ihr in dem stetigen, feurigen Glanz der Bucht mit den Augen, als sie von dem Ausflugsdampfer herunterstieg und Arm in Arm mit ihrem Bruder zum Wäldchen ging, dem würzigen Rauch der Kochstellen entgegen, der sich in den Bäumen wölkte. Später sah er sie mit eng an den Körper gehaltenen Armen im Wettlauf der Damen mitrennen. Sie war bei den Nachzüglern, hielt an und verließ die Bahn lachend, Gesicht und Kehle mit einem Taschentuch trocknend, das aus demselben Stoff gemacht war wie ihr seidenes Sommerkleid. Leventhal stand nahe bei ihrem Bruder. Sie kam zu ihnen und sagte: »Ja, ich konnte mal ganz gut rennen, als ich noch kleiner war.« Dass sie sich noch nicht als Frau, geschweige denn als schöne Frau empfinden mochte, weckte Leventhals Zärtlichkeit. Sie beherrschte seine Gedanken, als er die Teilnehmer im Dreibein-Wettlauf über die Wiesen hüpfen sah. Besonders fiel ihm dabei ein rothaariger Mann auf, der sich vorwärtsmühte, voller Wut auf seine Partnerin, als sei das Rennen eine Qual und eine Demütigung, die er nur durch einen Sieg aus der Welt schaffen könne. »Welch ein Unterschied«, sagte sich Leventhal. »Welch ein Unterschied zwischen den Menschen.«
Er nahm am Eierlauf teil, er schwamm, er fühlte, wie seine Lebensgeister an diesem Tage auftauten. Den größten Teil des Nachmittags war er mit Mary zusammen. Sie nahmen ihre Sandwiches mit zum Strand und gingen leichtfüßig im weißen Sand, um sich ein abgelegenes Plätzchen zu suchen. Als sie in der Abenddämmerung mit dem Dampfer nach Hause aufbrachen und in die Hitze des stagnierenden Hafens gelangten, zwischen den Hecks von Tankern und durch den gelben Film hindurch, der sich von den Fabriken und Landungsstegen aus über dem Wasser und in der Luft ausbreitete, saßen sie zusammen auf dem Hinterdeck des kleinen Dampfers. Ihr Bruder erwartete sie in der Menge an der Landungsbrücke, und sie sagten sich im Lärm des Dampfes, der locker himmelwärts stieg, Gute Nacht.
Im Herbst waren sie verlobt, und Leventhal war erstaunt über seinen Erfolg. Er glaubte, dass die Härte seines Lebens ihn entstellt hatte und dass diese Entstellung für ein Mädchen wie Mary sichtbar und abstoßend sein müsste. Er war ihrer nicht ganz sicher, und tatsächlich ereignete sich auch einen Monat nach der Verlobung etwas Furchtbares. Mary bekannte, dass sie es nicht fertiggebracht habe, ein altes Verhältnis mit einem anderen, einem verheirateten Mann, aufzulösen. Im Schmerz des Augenblicks war Leventhal fast außerstande zu sprechen. Er sah sie an – sie saßen in einem Restaurant. Dann fragte er sie, ob sie während der Verlobungszeit mit dem Mann zusammen gewesen sei. Sie bejahte das und schien erst in diesem Augenblick zu begreifen, wie ernst die Sache war. Er schickte sich an zu gehen, und als sie ihn zurückzuhalten suchte, stieß er sie, sodass sie den Halt verlor und zu Boden fiel. Er half ihr beim Aufstehen; ihre Lippen waren weiß geworden, und sie wandte die Augen von ihm ab. Sie verließen das Restaurant zusammen – sie wartete sogar, als er die Rechnung bezahlte –, trennten sich aber draußen sogleich und ohne ein Wort.
Ungefähr zwei Jahre später schickte sie ihm einen freundlichen Brief. Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Über einen Monat stand der Brief auf seiner Kommode, mahnte ihn jeden Abend und überschattete alle seine anderen Gedanken. Er dachte noch darüber nach, als er von ihr einen zweiten Brief erhielt. Darin bat sie ihn ohne Umschweife, doch zu bedenken, wie sehr sie sich gequält habe; sie gab zu, dass sie versucht hätte, ihr Liebesverhältnis zu beenden, indem sie sich mit ihm verlobte, aber das sei nicht der einzige Grund gewesen; sie hätte ihn nicht aufs Geratewohl ausgesucht. Leventhal fand diesen Brief leichter zu beantworten. Sie fingen an, sich gegenseitig zu schreiben. Als er Weihnachten zu ihr auf Besuch fuhr, ließen sie sich von einem Friedensrichter in Wilmington trauen. Er war inzwischen wieder nach New York gezogen, denn er hatte Baltimore einige Wochen nach der Entlobung verlassen. Daniel Harkavy war irgendwie bei einer Fachzeitschrift gelandet. Leventhal, der beim Zoll die Herausgabe eines Buches über den Innendienst betreut hatte, fand, dass er diese Arbeit auch leisten könne. Er wandte sich an Harkavy, und dieser antwortete, dass er ihn sicher bei einer Zeitschrift unterbringen könne, wenn er nach New York kommen wolle. Harkavy hatte viele Beziehungen. Leventhal packte also an einem Wochenende seinen Koffer und schickte ihn in Harkavys Haus. Er konnte Baltimore nicht mehr ertragen, ihm war zu elend zumute. Später konnte er nicht daran denken, ohne zu erröten und zusammenzuzucken. Ein Mann, der unter Entbehrungen aufgewachsen ist, hätte vermeiden sollen, sich so dem Schicksal auszuliefern. Schon damals hatte er gemerkt, dass es hirnverbrannt war, seine Stellung aufzugeben und, schlimmer noch, sich Harkavy anzuvertrauen; deshalb sagte er seinem Vorgesetzten, er kündige, um eine andere Stellung anzunehmen. Er schämte sich, ihm die Wahrheit zu sagen.
Er fand, dass Harkavy sich etwas verändert hatte. Sein Haar war gelichtet, er ließ sich einen roten Schnurrbart stehen. Er trat mit einem gewissen Aplomb auf; er trug jetzt große Halsbinden und schwarze Wildlederschuhe. Aber er war im Grunde der Gleiche geblieben. Er hatte zwar über seine Beziehungen geschrieben, vermochte sich aber nur an einen einzigen Mann zu erinnern, an den er sich wenden konnte. Das war ein Mann mittleren Alters aus Kentucky mit Namen Williston, klein und rötlich, mit einem breiten Schädel, über den das braune Haar mit einer Art hinterwäldlerischer Sonntagssorgfalt gebürstet war. Er gehörte zu jenen Leuten, die sich ihre regionalen Eigenheiten durch zwanzig Jahre in New York bewahrt haben. Da es ein kalter Herbsttag war, hatte er neben seinem Schreibtisch eine elektrische Heizsonne. Er saß in seinem Drehstuhl zurückgelehnt und hob nur gelegentlich einen Fuß, um ihn über den Heizdrähten anzuwärmen.
Nein, sagte er, es gebe keine freie Stelle in seiner Redaktion. Ein erfahrener Mann könne selbst in diesen schlechten Zeiten noch etwas finden. Ein unerfahrener habe keine Chancen. Vielleicht durch einen blöden Zufall – sein Schuh glänzte über dem polierten Heizinstrument –, vielleicht wenn man jemanden mit großem Einfluss kenne.
»Kennen wir nicht«, meinte Harkavy. »Wir haben keine Beziehungen. Und wie soll er sich Erfahrung aneignen?«
Er wolle nicht raten, sagte Williston, dass Leventhal sich bemühe, als Laufbursche mit einer Schar junger Männer für sechs Dollar die Woche anzufangen. Selbst diese Stellungen seien jetzt schwer zu kriegen. Er würde vorschlagen, dass er bei seinem Leisten bleibe. Leventhals Miene verdüsterte sich, mehr weil er sich selbst Vorwürfe machte, als weil er den Rat übel nahm. Er hätte bei der Zivilverwaltung ja um eine Versetzung bitten können, statt sie ganz zu verlassen, und abwarten können, solange es eben dauerte. Er argwöhnte, dass Williston teilweise ahnte, was sich abgespielt hatte. Seine Handlungsweise schien ihm ganz unsinnig. Aber Harkavy sprach von seinen eigenen Erlebnissen und sagte, dass er seine Stellung ohne jede Erfahrung, nur durch einen glücklichen Zufall gefunden habe. Aber nein, meinte Williston, der Name seines Vaters habe Gewicht im Antiquitätenhandel – Harkavy arbeitete an einer Zeitschrift für Auktionäre und Antiquitätenhändler. »Leventhal hat lange bei meinem Vater und mir gearbeitet«, berichtete Harkavy. Und Williston hob die Achseln und starrte in die Heizsonne, als wollte er sagen: »In dem Falle ist nichts zu gut für ihn.« Er schien es zu bedauern, als er Leventhals gepeinigten und gesenkten Blick wahrnahm. Er wolle selbstverständlich tun, was er könne, aber er wolle nicht den Eindruck erwecken, als sei da viel zu machen. Er werde einige Leute anrufen, und inzwischen könne Leventhal ja anfangen, die Runde zu machen.
Er tat es mit einem Gefühl der äußersten Hoffnungslosigkeit. Die kleineren Fachzeitschriften wiesen ihn schlankweg ab. Die größeren gaben ihm Antragsformulare auszufüllen; hin und wieder verbrachte er ein paar Minuten mit einem Personalchef oder fand Gelegenheit, jemandem die Hand zu schütteln. Allmählich wurde er sonderbar aggressiv und drang unter Vermeidung der Empfangsdamen direkt ins innere Büro vor, hielt jeden an, der eine gehobene Stellung zu haben schien, und stellte sich vor. Man begegnete ihm mit Erstaunen, mit Kälte und mit Ärger. Er wurde selbst oft ärgerlich. Sie bekamen es mit der Angst, erklärte er Harkavy, wenn man aus der Reihe tanzte und aus der vorgeschriebenen Bahn ausscherte. Aber die Bahn führte zur Tür hinaus. Wie konnten sie auch erwarten, dass man drinnen blieb? Er besprach das recht vernünftig mit Harkavy, aber die Provokationen und Reibereien gingen weiter, und in der Hitze der Provokationen verlor er häufig sein eigentliches Ziel aus den Augen. Wenn er sich rasierte oder die Bank betrat, um Geld von seinem Sparkonto abzuheben, konnte er sich ermahnen, dass er schließlich den eigenen Absichten im Wege stand und dass jemand, der unerwarteterweise eine Stellung zu vergeben hatte, sie bestimmt nicht ihm geben würde. Aber er änderte sich nicht.
Dieser verrückte Zustand dauerte etwa zwei Monate. Dann entschloss sich Leventhal, da es zunehmend schwierig wurde, mit Harkavy zusammenzuleben (mehrmals in der Woche empfing er nachts eine Dame, und Leventhal, der sein Zimmer verlassen musste, ging ins Kino oder saß in einem Restaurant), und da seine Ersparnisse zusammenschmolzen, irgendeine Stelle anzunehmen, was immer ihm über den Weg lief – er wollte sogar sein altes Absteigequartier im südlichen Broadway versuchen –, als er einen Brief von Williston erhielt, der ihm bei sich eine Stellung anbot. Einer seiner Leute sei erkrankt und müsse den Winter über nach Arizona reisen; Leventhal könne ihn vertreten, bis er wieder zurückkomme.
Es war also Williston, der ihm in dieser Branche das Tor öffnete. Er war dankbar und arbeitete fleißig für ihn; zudem entdeckte er, dass er für diese Tätigkeit Talent besaß. Von Juni bis zum Ende des Sommers war er wieder arbeitslos – auch das war eine schwierige Zeit. Aber jetzt hatte er die Erfahrung eines halben Jahres und fand schließlich einen Arbeitsplatz bei Burke-Beard & Co. Abgesehen von gelegentlichen Zwistigkeiten mit Beard war er zufrieden. Er war tatsächlich besser dran als bei der Zivilverwaltung.
Zuweilen sagte er zu Mary aus seinem tiefsten Empfinden heraus: »Ich hatte Glück. Ich hab’s geschafft.« Er meinte, dass sein schlimmer Start, seine Fehler, die Dinge, die ihn hätten vernichten können, sich irgendwie zusammengetan hatten, um seinen Erfolg zu begründen. Er wäre beinahe unter jene Menschen geraten, an die er immer denken musste (er vergaß nie das Hotel im südlichen Broadway), jene Menschen, die es nicht schafften – die Verlorenen, die Ausgestoßenen, die Besiegten, die Ausgelöschten, die Ruinierten.
Leventhals Schwiegervater war vor Kurzem gestorben, und seine Schwiegermutter hatte sich von der Familie überreden lassen, ihr Haus in Baltimore aufzugeben und in Charleston bei ihrem Sohn zu leben. Mary war zu ihr gefahren, um ihr beim Umzug zu helfen. In ihrer Abwesenheit hatte Leventhal in einem nahe gelegenen italienischen Restaurant gegessen. Es befand sich im Untergeschoss eines alten Mietshauses. Die Stuckwände waren fast schwarz. Von dem Sägemehl, das über den Parkettfußboden verstreut war, strömte ein feuchter holziger Geruch aus. Aber es war ihm gelegen; die Mahlzeiten waren billig, und er brauchte im Allgemeinen nicht auf einen Tisch zu warten. Heute Abend war jedoch nur einer frei. Der Kellner führte ihn hin. Er stand in einer Ecke hinter einer Schutzwand, die die Luftzufuhr des Ventilators abschnitt. Er war schon im Begriff zu protestieren und öffnete unwillig den Mund, aber der Kellner, ein dunkler Mann, dessen dünnes Haar sich auf seiner schweißigen Stirn wellte, kam ihm mit einem matten und ziemlich unaufrichtigen Achselzucken zuvor und zeigte mit einer Bewegung seines mit der Serviette bedeckten Armes, dass das Lokal besetzt sei. Leventhal warf den Hut hin, schob das Geschirr beiseite und stützte sich vornüber auf die Ellbogen. Neben der Stufe zur Küche beendeten der Besitzer und seine Frau gerade ihr Abendessen. Sie warf Leventhal einen Blick des Erkennens zu, für den er mit einem kurzen Ruck auf dem Stuhl dankte. Der Kellner brachte seine Mahlzeit, ein Omelette in einer angestoßenen, schwarz angelaufenen Schüssel, an deren Rand die Tomatensoße angetrocknet war, einen Salat und einige Aprikosen aus der Büchse. Als er aß, besserte sich seine Stimmung allmählich. Der Kaffee war süß und dick; er schluckte sogar noch den Satz und setzte die Tasse mit einem Seufzer nieder. Darauf zündete er sich eine Zigarre an. Da niemand auf den Tisch wartete, blieb er noch ein wenig sitzen, zurückgelehnt und rauchend, und verschränkte die Hände hinter seinem mit dichtem Haar bewachsenen Nacken.
Aus der Taverne auf der anderen Straßenseite tönten die langsamen Klänge einer Gitarre herüber, von denen die leichten davongetragen und die tieferen ruhig wiederholt wurden.
Wenig später schob er ein Trinkgeld unter die Untertasse und ging hinaus.
Am Himmel glühte noch eine Röte wie die Flamme im Hintergrund eines riesigen Backofens; der Tag hielt sich noch und klaffte feurig über der Schwärze des gegenüberliegenden Ufers. Der Hudson zeigte einen schwachen Glanz, und Leventhal überlegte, dass das Meer in seiner Kälte wahrscheinlich nicht lähmender wirkte als die Untergrundbahn unter seinen Füßen in ihrer Hitze; die Züge, die unter den Luftschächten und an den schrägen braunen Felswänden vorbeibrausten, schienen Explosionen von Metallstaub zu verursachen. Er ging durch einen kleinen Park, in dem der Doppelkreis der Bänke voll besetzt war. Schlangen von Leuten standen vor jedem Trinkbrunnen; das warme Wasser stotterte und sprühte in die Steinschalen. Auf allen Seiten dieses grünen Vierecks brauste endlos der Verkehr der Autos und Taxis, und die schwerfälligen Busse krochen ächzend ihres Weges. Von dem hohen blauen Lichtkegel der Straßenhöhe nahten sie durch ein bläuliches Schummerlicht. In den buschigen, baumbestandenen Ecken spielten Kinder und lärmten, und eine Wiedererweckungskapelle sang, trommelte und trompetete auf einem der Bürgersteige. Leventhal hielt sich nicht lange im Park auf. Er schlenderte heimwärts. Er wollte sich ein kaltes Getränk mixen und sich dann neben einem offenen Fenster niederlegen.
Leventhals Wohnung war geräumig. In einem besseren Wohnviertel oder drei Stockwerke tiefer hätte er doppelt so viel Miete bezahlen müssen. Aber die Treppe war eng und stickig und voller Windungen. Obwohl er langsam stieg, war er außer Atem, als er den dritten Stock erreichte, und sein Herz schlug schwer. Er verschnaufte, bevor er die Haustür aufschloss. Nachdem er eingetreten war, warf er den Regenmantel auf den Boden und ließ sich auf den mit einem Teppich bedeckten Diwan im Vorderzimmer fallen. Mary hatte einige Stühle in die Ecken gestellt und sie mit Tüchern bedeckt. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass er während des Tages die Fenster geschlossen hielt und die Jalousien herunterließ. An diesem Nachmittag war die Putzfrau da gewesen; es herrschte ein alles durchdringender Geruch nach Seifenpulver. Er stand auf und öffnete ein Fenster. Die Vorhänge bauschten sich ein einziges Mal und waren dann reglos wie zuvor. Auf der anderen Seite der Straße war ein Filmtheater mit einer dicht gereihten Lichterkette. Auf seinem Dach thronte ein Wassertank wuchtig und schief auf Holzklötzen; die Kappen der Schornsteine, die beim leisesten Lufthauch klapperten, waren still.
Der Motor des Kühlschranks begann zu laufen. Die Eisbehälter waren leer und klirrten. Wilma, die Putzfrau, hatte das Gerät entfrostet und vergessen, sie wieder zu füllen. Er suchte nach der Bierflasche, die er gestern bemerkt hatte; sie war verschwunden. Der Kühlschrank war leer bis auf ein paar Zitronen und etwas Milch. Er trank ein Glas Milch, das ihn erfrischte. Er hatte bereits sein Hemd ausgezogen; nun saß er auf dem Bett und schnürte sich die Schuhe auf, als es kurz klingelte. Erwartungsvoll machte er die Tür auf und rief: »Wer ist denn da?« Die Wohnung war unerträglich leer. Er hoffte, jemand könne sich erinnert haben, dass Mary fort war, und sei gekommen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Von unten kam keine Antwort. Er rief ungeduldig ein zweites Mal. Es war sehr wahrscheinlich, dass einer den falschen Knopf gedrückt hatte, aber er hörte keine anderen Türen, die geöffnet wurden. Konnte es ein dummer Streich sein? Es war nicht die Jahreszeit dafür. Nichts rührte sich im Treppenhaus, und die Erkenntnis, wie sehr er sich nach einem Besucher gesehnt hatte, verstärkte nur seinen Missmut. Er streckte sich auf dem Bett aus, zog ein Kissen unter dem Bezug hervor und legte es doppelt. Er dachte, er würde einschlummern. Aber ein wenig später fand er sich am Fenster stehen und den Vorhang mit beiden Händen festhalten. Er stand unter dem Eindruck, dass er geschlafen hatte. Es war jedoch nach der schnurrenden elektrischen Uhr auf dem Nachttisch erst halb neun. Nur fünf Minuten waren vergangen.
»Nein, ich hätte nicht fortgehen sollen«, sagte er sich. Er war plötzlich voller böser Ahnungen. Es war ein Fehler gewesen, so aus dem Büro davonzulaufen. Wenn er sich die Angelegenheit vernünftig überlegt hätte, dann hätte er bis zum Abend gewartet. Noch fünf Minuten, und Elena hätte ihn wieder angerufen. Warum hatte er dann nicht gewartet? Wollte er tatsächlich Beard wenigstens einmal aufsitzen lassen, war das der Grund? Nein, und Beards Bemerkung war noch dazu widerlich. Sie kam allerdings nicht unerwartet. Er hatte schon immer gewusst, dass Beard derartiger Äußerungen fähig war. Wenn jemand einen anderen nicht leiden konnte, dann konnte er ihn aus allen Gründen nicht leiden, die er sich ausdenken konnte. Das war nicht wichtig, sondern nur ekelhaft. Trotzdem hätte er nicht fortgehen sollen. Er wusch sich das Gesicht, zog sich das Hemd an und ging aus der Wohnung.
Seine Schwäche war, überlegte er, dass er sich aufführte wie ein Narr, wenn er nicht genügend Zeit zum Nachdenken hatte und unter Druck stand. Das war sein größtes Manko. Neulich hatte ihm zum Beispiel Dunhill, der Setzer in der Druckerei, eine Theaterkarte verkauft, die er gar nicht haben wollte. Er wehrte ab, dass er sich aus dem Theater nichts mache und auch mit einer einzelnen Karte nichts anfangen könne – es war vor Marys Reise. Weil aber Dunhill darauf bestand, hatte er die Karte gekauft. Er schenkte sie einem der Mädchen im Büro. Wenn er nur gleich von Anfang an imstande gewesen wäre zu sagen: »Ich will Ihre Karte nicht kaufen …« Er murmelte: »Wozu tue ich das eigentlich?«, und runzelte die Stirn. Einer seiner Nachbarn erschien mit bloßer Brust und in kurzen Tennishosen und stellte eine klirrende Tüte voller Flaschen vor die Tür, damit sie der Hausmeister wegschaffen konnte.
Der portorikanische Hausmeister, Mr. Nunez, einen Strohhut auf dem Kopf und die Füße in chinesischen Strohsandalen, saß auf der Treppe zur Straße. Leventhal fragte ihn, ob er jemanden bemerkt hätte, der bei ihm klingelte, und er entgegnete, dass er schon seit einer halben Stunde auf den Stufen sitze und in der letzten Viertelstunde niemand aus dem Haus gekommen oder in das Haus gegangen sei. »Vielleicht haben Sie das Radio gehört«, meinte er. »Manchmal glaube ich, dass jemand im Haus ist und mit mir spricht, aber es ist das Radio von irgendwoher.«
»Nein, es hat geklingelt«, sagte Leventhal bestimmt; er sah den Hausmeister ernsthaft an. »Könnte es die Klingel vom Lastenaufzug gewesen sein?«
»Nur wenn jemand im Keller seinen Schabernack getrieben hat. Ich habe sie heute Abend nicht angerührt.«
Leventhal ging zum Park hinüber. Vielleicht war es ein Rundfunkgerät gewesen, aber er konnte es nicht glauben. Vielleicht etwas im Klingeldraht, durch die Hitze ausgelöst – er verstand nicht viel von Elektrizität –, oder der Wandaufzug. Was ihn wirklich beunruhigte, war der Gedanke, dass es vielleicht an seinen Nerven lag und dass er sich das Klingeln eingebildet hatte, wie er sich auch eingebildet hatte, dass er schlief. Seit Marys Abreise waren seine Nerven labil. Er ließ nachts das Licht im Badezimmer brennen. Da er sich ein wenig schämte, hatte er gestern die Tür zum Badezimmer geschlossen, bevor er zu Bett ging, aber das Licht trotzdem angelassen. Dieses Gefühl, dass er von etwas bedroht sei, während er schlief, war absurd. Und das war noch nicht alles. Er bildete sich ein, dass er Mäuse an den Wänden entlanghuschen sah. Es gab tatsächlich Mäuse in der Wohnung. Das Gebäude war alt, es war zu erwarten, dass unter den Bohlen Nester existierten. Er hegte keinen Abscheu davor, und doch hatte er angefangen, ruckartig den Kopf zu drehen, wenn er eine Bewegung zu spüren glaubte. Und jetzt hatte er auch nicht einschlafen können. Bisher hatte die Hitze noch nie seinen Schlaf beeinträchtigt. Bestimmt war er nicht ganz auf der Höhe.
Der Park war belebter noch als zuvor und voller Lärm. An der Ecke hatte sich noch eine Wiedererweckungskapelle eingefunden, und das Getöse der beiden vermischte sich verwirrend über den anderen Geräuschen. Die Lampen waren vergilbt, mit Fliegen und Motten bedeckt. Auf einem der Pfade putzte ein alter, sonnenverbrannter, sehniger Mann mit einer Leinenkappe auf dem Kopf Schuhe. Der Brunnen lief mit einem grünen, bleiernen Schimmer. Kinder im Unterzeug wateten und kugelten sich in den Spritzern, während die Eltern zusahen. Die Augen schienen sanfter als bei Tage, auch größer; sie blickten einen länger an, als habe man in der dunklen Hitze ein Niemandsland der Zurückhaltung überquert und als könnten sich Fremde gleichsam mit einem Erkennen einander nähern. Man sah und glaubte zumindest, dass man kannte, wen man gesehen hatte.
Derartig verschwommene Gedanken spukten in Leventhals Kopf, während er vor der Trinkwasserfontäne wartete, als er plötzlich das Gefühl hatte, dass man ihn nicht nur sah, sondern beobachtete. Wenn ihn nicht alles täuschte, wurde er von einem Mann gemustert, der langsam mit ihm vorrückte, wenn sich die Schlange der Wartenden bewegte. »Er scheint mich zu kennen«, dachte er. Oder lungerte dieser Mann nur hier herum, war nur ein Bummelant? Sofort wurde Leventhal unnahbar, teils um seine Nerven und seine überreizte Fantasie zurechtzuweisen. Aber es war keine Fantasie. Wenn er sich vorwärtsbewegte, ging der Mann mit. Er senkte dabei den Kopf, als wollte er ein Grinsen über die dünnlippige Förmlichkeit von Leventhals Gesichtsausdruck verbergen. In seinen Augen war jedoch keine Spur von Heiterkeit – er stand jetzt sehr nahe; sie waren spöttisch und hart.
»Wer ist dieser Bursche?«, fragte sich Leventhal. »Ein Schauspieler, wie er im Buch steht. Mein Gott, mein Gott, was ist das für ein Vogel? Einer dieser Leute, die den Eindruck erwecken wollen, dass sie einem auf den Grund der Seele blicken können.« Er versuchte, ihn mit seinen Blicken einzuschüchtern, da er erst jetzt bemerkte, wie unverschämt der andere war. Aber der Mann wich nicht. Er war größer als Leventhal, aber nicht annähernd so stämmig; breit, aber nicht robust. »Wenn er tätlich wird«, dachte Leventhal, »ergreife ich seinen rechten Arm und bringe ihn aus dem Gleichgewicht … Nein, seinen linken Arm und ziehe zu meiner Linken herüber; das ist meine stärkere Seite. Und wenn er zu Boden geht, gebe ich ihm einen Genickschlag. Aber warum sollte er eigentlich tätlich werden? Dafür besteht doch gar kein Grund.«
Er war gerüstet und entschlossen; dennoch spürte er ein Zittern in seinen Armen und fühlte die ganze Zeit, dass er selbst mit seinen unzuverlässigen Nerven die Ursache seiner Erregung und seines Argwohns war. Dann hörte er mit Verwunderung den Fremden seinen Namen nennen.
»Was, kennen Sie mich?«, fragte er laut.
»Ob ich Sie kenne? Sie sind doch Leventhal, nicht? Warum sollte ich Sie nicht kennen? Ich dachte allerdings, Sie würden mich vielleicht erkennen. Wir sind uns nur einige Male begegnet, und ich nehme an, dass ich ein bisschen verändert aussehe.«
»Ach Allbee, nicht wahr, Allbee?«, sagte Leventhal langsam mit allmählichem Erkennen.
»Kirby Allbee. Sie erkennen mich also doch?«
»Nein, wer hätte das gedacht!«, sagte Leventhal, aber er sagte es ziemlich gleichgültig. Und wenn es auch Kirby Allbee wäre! Er sah wirklich verändert aus, aber was machte das schon?
Gerade in diesem Augenblick wurde er von einigen Leuten in der Schlange angestoßen. Er war nun an der Reihe bei der Fontäne, und als er einen Schluck von dem warmen Wasser nahm, sah er Allbee von der Seite an. Die Frau, die vor ihm getrunken hatte – sie war kräftig bemalt und sah aus wie ein Chorgirl, das aus dem Theater geschlüpft war, um etwas frische Luft zu schnappen –, stand Allbee im Weg, und als dieser versuchte, in dem Kreis um die Fontäne, in dem er eingeschlossen war, beiseitezutreten, machte sich Leventhal davon.
Er hatte diesen Allbee nie leiden können, aber er hatte eigentlich auch nie viel über ihn nachgedacht. Wie kam es dann, dass ihm sein Name so mühelos einfiel? Er hatte ein schlechtes Gedächtnis für Namen, dennoch hatte er den Mann fast unmittelbar erkannt. »Was für ein Gehäuse, dieser menschliche Geist«, dachte er, wobei sich fast so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht andeutete. »Wenn einem Haare aus der Handfläche wüchsen, würde man sich darüber weniger wundern als über manches, was einem aus dem Kopf sprießt.«
»Heda, warten Sie.«
Allbee zwängte sich hinter ihm durch die Menge. »Was will er nur?«, fragte Leventhal sich missmutig.
»Warten Sie, wohin gehen Sie denn?«
Leventhal gab keine Antwort. Was ging es ihn an?
»Gehen Sie nach Hause?«
»Ja, so allmählich«, sagte er unbeteiligt.
»So, Sie haben also festgestellt, dass ich noch existiere, und gehen nun nach Hause, wie?« Er hatte ein seltsames Lächeln.
»Warum sollte ich daran zweifeln, dass Sie existieren?« Auch Leventhal lächelte, aber ohne amüsiert zu sein. »Besteht ein Grund, dass Sie nicht existieren sollten? Ich begreife das nicht ganz.«
»Ich meine, dass Sie mich nur einmal ansehen wollten.«
»Wie bitte?«, fragte Leventhal. Er zog die Augenbrauen hoch. »Sie ansehen?«
»Ja, das wollten Sie meiner Meinung nach, um festzustellen, was aus mir geworden ist. Das Ergebnis.«
»Ich bin auf die Straße gegangen, um mich ein wenig abzukühlen.« Er fing an, sich richtig zu ärgern. »Was bringt Sie auf den Gedanken, dass Sie etwas damit zu tun haben?«
»Nun, das habe ich nicht erwartet«, erklärte Allbee. »Natürlich habe ich nicht gewusst, was ich erwarten sollte. Ich war gespannt, wie Sie mir gegenübertreten würden.« Er presste die Lippen zusammen, als wolle er ein Lachen unterdrücken, leicht spöttisch, anmaßend, und strich mit der Hand abwärts über die Wange mit den blonden Stoppeln, während gleichzeitig seine Augen, von tiefen Ringen umschattet, zornig in Leventhals Gesicht starrten. Er schien zu behaupten, dass er sehr genau wisse, was er sagte, und dass es eine Frechheit und Unverschämtheit sei, das zu leugnen.
»Es ist das Zeichen der Unmanierlichen, dass sie jedermann der Unmanierlichkeit bezichtigen«, dachte Leventhal, war aber trotzdem beunruhigt. Was hatte jener im Sinn? Er musterte Allbee eingehender; bisher hatte er nicht bemerkt, wie heruntergekommen er aussah, wie einer jener Männer, die in der Third Avenue ihren Whiskyrausch ausschliefen, in den Toreingängen oder vor den Kellerluken lagen, fühllos gegen die Kälte oder das Getöse oder den Sonnenstrahl prall im Gesicht. Er trank auch, so viel war sicher. Seine Stimme war heiser. Sein blondes Haar war in der Mitte über der großen Stirn gescheitelt und schien feucht im Laternenlicht. Er trug ein dünnes Hemd aus einem Stoff, der Kunstseide sein musste; es klaffte über der Brust und zeigte den schmutzigen Saum eines Unterhemdes; sein leichter Baumwollanzug war fleckig.
»Die Tatsache bleibt bestehen, dass Sie mich sehen wollten«, nahm er das Gespräch wieder auf.
»Sie irren sich.«
»Sie haben doch meinen Brief bekommen, oder? Und ich habe Sie gebeten, mich heute Abend hier zu treffen …?«