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Eine brillant erzählte Geschichte von zwei Städten, zwei Welten und zugleich eine Geschichte von Leben und Tod. In diesem Roman schildert Nobelpreisträger Saul Bellow die doppelte Krise im Leben eines Mannes. Albert Corde, ein ehemaliger Journalist, lehrt an einer Chicagoer Universität und ist zugleich Dekan für studentische Angelegenheiten. Mit seiner Frau Minna ist er nach Bukarest geflogen, wo ihre Mutter im Sterben liegt. Minna, die ihre Heimat früh verlassen hat, erfährt nach der Rückkehr die geballte Härte des kommunistischen Systems gegenüber der Renegatin. In diesen Tagen seelischer Anspannung, des Wartens und Trauerns im dezemberlich düsteren, von Verfall und Repression gezeichneten Bukarest lässt Chicago Corde nicht los. Er grübelt über den Verfall menschlichen Zusammenlebens, über Anarchie, Egoismus und Brutalität in einer sogenannten Vergnügungsgesellschaft, Themen, mit denen er sich in einer Artikelserie über Chicago vehement auseinandergesetzt hatte. Dies und sein Engagement in einem Prozess gegen zwei Schwarze, die des Mordes an einem weißen Studenten angeklagt sind, hat die Universität in Verlegenheit gebracht, ihn selbst heftiger Kritik ausgesetzt. In Bukarest wartet der Dekan auf den Urteilsspruch. Moralisch ist es für ihn ein Sieg, aber an der Universität muss er seinen Hut nehmen. Als er schließlich mit seiner trauernden Frau in die USA zurückkehrt, ist ihm klar, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Aber Albert Corde ist auch bereit für einen Neubeginn.
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Seitenzahl: 593
Veröffentlichungsjahr: 2020
Saul Bellow
Roman
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Über Saul Bellow
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
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zur Kurzübersicht
Saul Bellow wurde am 10. Juni 1915 in Lachine / Quebec als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Montreal, 1924 zog die Familie nach Chicago. Dort besuchte er die Tuley High School und studierte später Anthropologie und Soziologie an der Northwestern University. Bellow übte verschiedene Tätigkeiten aus, bevor er seit 1938 dauerhaft an verschiedenen amerikanischen Universitäten lehrte, unter anderem an Princeton und an der Universität von Chicago. Am 5. April 2005 starb der Schriftsteller in Brookline, Massachusetts, im Alter von 89 Jahren. Bellow war mehrmals verheiratet und hatte vier Kinder. Saul Bellow selbst erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Nobelpreis für Literatur 1976.
Das gesamte Werk von Saul Bellow ist lieferbar bei Kiepenheuer & Witsch.
Der Übersetzer
Walter Hasenclever (1910–1992) hat während der Hitlerzeit in den Vereinigten Staaten gelebt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er zunächst der Herausgeber der deutschen Ausgabe der »Perspektiven«, später Mitbegründer des Literarischen Colloquiums in Berlin. Er arbeitete hauptsächlich als Übersetzer aus dem Englischen.
zur Kurzübersicht
In diesem Roman schildert Nobelpreisträger Saul Bellow die doppelte Krise im Leben eines Mannes. Albert Corde, ein ehemaliger Journalist, lehrt an einer Chicagoer Universität und ist zugleich Dekan für studentische Angelegenheiten. Mit seiner Frau Minna ist er nach Bukarest geflogen, wo ihre Mutter im Sterben liegt. Minna, die ihre Heimat früh verlassen hat, erfährt nach der Rückkehr die geballte Härte des kommunistischen Systems gegenüber der Renegatin. In diesen Tagen seelischer Anspannung, des Wartens und Trauerns im dezemberlich düsteren, von Verfall und Repression gezeichneten Bukarest lässt Chicago Corde nicht los. Er grübelt über den Verfall menschlichen Zusammenlebens, über Anarchie, Egoismus und Brutalität in einer sogenannten Vergnügungsgesellschaft, Themen, mit denen er sich in einer Artikelserie über Chicago vehement auseinandergesetzt hatte. Dies und sein Engagement in einem Prozess gegen zwei Schwarze, die des Mordes an einem weißen Studenten angeklagt sind, hat die Universität in Verlegenheit gebracht, ihn selbst heftiger Kritik ausgesetzt. In Bukarest wartet der Dekan auf den Urteilsspruch. Moralisch ist es für ihn ein Sieg, aber an der Universität muss er seinen Hut nehmen. Als er schließlich mit seiner trauernden Frau in die USA zurückkehrt, ist ihm klar, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Aber Albert Corde ist auch bereit für einen Neubeginn.
Eine brillant erzählte Geschichte von zwei Städten, zwei Welten und zugleich eine Geschichte von Leben und Tod.
Hinweis
I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel
IV. Kapitel
V. Kapitel
VI. Kapitel
VII. Kapitel
VIII. Kapitel
IX. Kapitel
X. Kapitel
XI. Kapitel
XII. Kapitel
XIII. Kapitel
XIV. Kapitel
XV. Kapitel
XVI. Kapitel
XVII. Kapitel
XVIII. Kapitel
XIX. Kapitel
Obwohl dem Geschehen dieses Romans teilweise wahre Begebenheiten zugrunde liegen, sind alle darin vorkommenden Personen erfunden oder ergeben sich aus einer Mischung mehrerer Persönlichkeiten und freier Erfindung. Kein Bezug auf eine lebende Person ist beabsichtigt oder sollte hergestellt werden.
Corde, der das Leben eines leitenden Angestellten in Amerika führte – war der Dekan einer Universität nicht eine Art leitender Angestellter? –, fand sich sechs- oder siebentausend Meilen von seiner Basis entfernt in Bukarest, im Winter, in einer altmodischen Wohnung eingeschlossen. Alle Leute hier waren liebenswürdig – Familie und Freunde, warmherzige Menschen –, er mochte sie sehr gern, für ihn waren sie das »alte Europa«. Aber sie wurden von ihren eigenen Angelegenheiten aufgezehrt. Dies war kein gewöhnlicher Besuch. Die Mutter seiner Frau lag im Sterben. Corde war mitgekommen, um Beistand zu leisten. Aber er konnte nur wenig für Minna tun. Die Sprache war ein Problem. Die Leute sprachen wenig Französisch, weniger Englisch. So verbrachte denn Corde, der Dekan, seine Tage in Minnas altem Zimmer, schlürfte starken Pflaumenschnaps, durchblätterte alte Bücher, starrte aus den Fenstern auf erdbebenbeschädigte Gebäude, auf den winterlichen Himmel, graue Tauben, gestutzte Bäume, verschmutzte orange-rostige Straßenbahnen, die unter den Drähten der Oberleitung entlangzischten.
Cordes Schwiegermutter, die erst einen Herzanfall und darauf einen Schlaganfall erlitten hatte, befand sich im Krankenhaus. Nur das Parteihospital verfügte über die Apparate, die sie am Leben halten konnten, aber die Vorschriften waren dort streng. Sie lag auf der Intensivstation, und Besuche waren verboten. Corde und Minna waren einen Tag und eine Nacht geflogen, um bei ihr zu sein, hatten sie aber in fünf Tagen nur zweimal gesehen – das erste Mal mit einer Sondererlaubnis, das zweite Mal ohne amtliche Genehmigung. Der Direktor des Krankenhauses, ein Oberst der Geheimpolizei, war äußerst empört, weil seine Vorschriften durchbrochen worden waren. Er war ein strenger Bürokrat. Sein Stab lebte in Furcht vor ihm. Minna und ihre Tante Gigi hatten beschlossen (Corde nahm an ihren Beratungen teil), ihn aus Höflichkeit um eine Unterredung zu bitten. »Versuchen wir, vernünftig mit ihm zu reden.«
Am Telefon hatte der Oberst gesagt: »Jawohl, kommen Sie.«
Als Minna zu ihm ging, nahm sie ihren Mann mit – vielleicht konnte ein Amerikaner, ein Dekan aus Chicago, zwar noch nicht alt, aber auf dem besten Wege dahin, den Zorn des Obersten beschwichtigen. Nichts dergleichen geschah. Der Oberst war ein hagerer Typ von einem Mann, mit hohlen Schläfen und fest verschnürt wie eine geflochtene Peitsche. Offenbar war er nicht gesonnen, irgendwelche Genugtuung zu gewähren. Eine Anstalt muss ihre Vorschriften wahren. Corde gab seinen Senf dazu, erwähnte, dass er seinerseits mit Verwaltung zu tun habe – er hatte fünf Jahre lang beim Paris-Herald gearbeitet und sprach daher einigermaßen gut Französisch. Der Oberst ließ ihn höflicherweise sein Sprüchlein vortragen; er hörte düster, trocken zu, mit verkniffenem Mund. Er nahm den Vergleich der Verwaltungen zur Kenntnis, tolerierte ihn, verachtete ihn. Er erwiderte nichts und wandte sich, als der Dekan fertig war, wieder an Minna.
Es war etwas Ordnungswidriges geschehen. Unter keinen Umständen konnte eine Verwaltung das zulassen. Tief empört bewahrte Minna Schweigen. Was konnte sie sonst tun? Hier hatte nur der Oberst das Recht, empört zu sein. Seine hochgehenden Gefühle – und er ließ sie sehr hoch gehen – wurden in der Emphase nur durch die Tiefe seiner Stimme gemildert. Wie scharf konnte ein Bass tönen? Corde hatte selbst eine tiefe Stimme, tiefer als die des Obersten, mit mehr Vibrato. Während der Oberst verkrampft war, neigte Corde zur Lockerheit. Das spärliche Haar des Obersten war militärisch straff nach hinten gestriegelt; Cordes kahle Stellen waren mehr dem Zufall anheimgegeben: eine breite Lücke, ein schütterer Wuchs von Hinterhaar. Aus dem groß geratenen Gesicht folgte der braune Blick eines tüftelnden, zur Zerstreuung und vermutlich auch zur Träumerei neigenden Geistes dem Gespräch. Man konnte nicht erwarten, dass ein kommunistischer Oberst der Geheimpolizei eine derartige Person ernst nehmen würde. Er war ja nur ein Amerikaner, ein Dekan für Studenten, von irgendwo aus der Landesmitte. Von diesen zwei Besuchern war Minna die bei Weitem prominentere. Diese schöne Frau war, wie der Oberst unzweifelhaft wusste, Professor der Astronomie, international berühmt. Eine »strenge« Wissenschaftlerin. Es war für den Oberst wichtig, sich von derartigen Eindrücken nicht betören zu lassen. Sein Bereich war so »streng« wie der ihre. Strenger.
Minna sprach gefühlvoll von ihrer Mutter. Sie war einziges Kind. Die Anhörung, die der Oberst ihr gewährte, war absolut korrekt. Eine Tochter, die so weit gereist war; eine Mutter auf der Intensivstation, halb gelähmt. Ohne die Sprache zu kennen, konnte Corde dies alles ganz leicht verstehen und deutete sich den Standpunkt des Obersten: Wo man Krankenhäuser hatte, hatte man naturgemäß auch sterbende Menschen. Wegen dieser besonderen Umstände hatte man für die doamna und ihren Mann bei der Ankunft eine Ausnahme gemacht. Aber ein zweiter Besuch hatte stattgefunden (hier wieder die empörte Betonung), ohne Erlaubnis.
Minna dolmetschte in raffenden Zwischenbemerkungen für ihren Mann. Es war nicht eigentlich nötig. Er saß dort liederlich, in zerknitterter Wollhose und Sportjackett, das Urbild des aus der Rolle fallenden Amerikaners – unter allen Umständen aus der Rolle fallend, unfähig, sich die Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu eigen zu machen; von den Mächten der Geschichte oder des Geschicks, oder wie ein Europäer sie sonst nennen mochte, verschont oder verschmäht. Corde war sich dessen voll bewusst.
Er nickte, seine etwas vortretenden braunen Augen in Einklang mit dem unruhig gesprenkelten Fußboden, der im gesamten Hospital einheitlich gesprenkelt war. Das Büro des Direktors war hoch, aber kaum geräumiger als ein großes Nebengelass – wie eine Kleiderkammer in der Heimat. Auch der Schreibtisch war klein. Nichts war groß außer der Autorität des Obersten. Die elektrische Lampe hing sehr hoch, entrückt. Hier, wie überall in Bukarest, war das Licht unzureichend. Es herrschte Energiemangel in Rumänien – hing irgendwie zusammen mit ungenügenden Regenfallen und niedrigem Wasserstand an den Staudämmen. So ist’s richtig: schiebt’s auf die Natur! Die Dezemberdämmerung setzte etwa um drei Uhr nachmittags ein. Gegen vier hatte sie sich über den Stuck alter Mauern, über die grauen kommunistischen Wohnblocks gesenkt; braune Düsternis nahm Besitz vom Straßenpflaster, stieg dann verdichtet vom Pflaster wieder hoch und isolierte die Straßenlampen. Diese leuchteten mit schwächlichem Gelb im unreinen trübseligen Winterbrodem. Luft-Trauer nannte es Corde. Im letzten Stadium der Dämmerung schien eine braune Schicht die Lampen einzukreisen. Darauf folgte ein fahler Augenblick des Todes. Die Nacht begann. Die Nacht war hier sehr schwierig, fand Albert Corde. Er saß zusammengesunken und mit schwerem Kopf da; sein breiter Kopf suchte nach einer Stütze, die ihm der Stiel nicht bot. Das ließ seine schwermütigen Augen, die zusammengewachsenen Brauen, den schiefen Steg seiner Brille noch deutlicher hervortreten. Seine Frau mit ihrem zarten Rücken, dem Hals, der hübschen Erscheinung machte den guten Eindruck. Aber das bedeutete nicht viel für den knutenschwingenden Oberst. Vielleicht erinnerte es ihn nur daran, dass sich diese vornehme Dame vor zwanzig Jahren abgesetzt hatte, als man sie zum Studium ins Ausland gelassen hatte; und dass sie jetzt nur deshalb hier war, weil ihre Mutter im Sterben lag, und sie unter dem Schutz ihres Mannes, dieses amerikanischen Dekans, gekommen war; dass sie ohne Visum gelandet und von einem amerikanischen Beauftragten in Empfang genommen worden war (das bedeutete einen gewissen Grad an Wichtigkeit). Selbstverständlich verfügte der Oberst über diese gesamte Information. Und Minna hatte keine besonders starke Position: sie hatte niemals formell ihre rumänische Staatsbürgerschaft aufgekündigt. Wenn die Regierung so gesonnen war, konnte sie ihr das Leben schwermachen.
Valeria, die alte Frau, gehörte inzwischen der Partei nicht mehr an; schon lange nicht mehr, seit sie als Gesundheitsministerin in Ungnade geraten war. Das war nun dreißig Jahre her. Sie war damals öffentlich, in Presse und Rundfunk, verunglimpft, ausgestoßen, mit Gefängnis und sogar mit dem Tode bedroht worden. Einer ihrer Kollegen, der in derselben Säuberungswelle stürzte, wurde sogar in seiner Zelle enthauptet, bevor er vor Gericht erscheinen konnte. Dieser alte Kämpfer, der Antonescu und sogar die Nazis überlebt hatte, wurde mit einer Axt oder einem Schlachtbeil hingerichtet. Dr. Valeria kam irgendwie durch. Dr. Valeria hatte eben dieses Hospital, das Parteihospital, selber gegründet. Vor drei Wochen, als sie vielleicht die ersten Anzeichen der Krankheit spürte (Corde stellte es sich als einen ankündigenden Todesschauer vor, die Vorahnung des Endes; wir stehen alle in seltsamer Verbindung mit den eigenen Organen und ihren Krankheitssignalen), begann sie, die Runde zu machen, den ganzen Tag in Bus und Straßenbahn, sagte Gigi, besuchte alte Bekannte, und versicherte sich vorher, dass sie auch empfangen würde. Sie war erst spät in den Fünfzigerjahren rehabilitiert worden; ihre Pension wurde ihr wieder gezahlt, und sie hatte diskrete eigene Verbindungen zu den alten Trägern der Bürokratie.
Jetzt war sie an einen Respirator, ein Pulszählgerät, einen Monitor angeschlossen. Der Schlaganfall hatte das Atmungszentrum zerstört; sie war linksseitig gelähmt. Sie konnte nicht sprechen, nicht die Augen öffnen. Sie konnte jedoch hören und die Finger der rechten Hand bewegen. Ihr Gesicht war kreuz und quer mit Pflasterstreifen bedeckt – wie die britische Flagge. Oder wie Fensterscheiben in Städten, die bombardiert wurden. Corde, alter Zeitungshase, bevor er Dekan wurde, kannte diese Kriegsszenen – Sandsäcke, mit Streifen verklebte Fenster. Sah jedoch niemals dieses Kreuzmuster auf einem Gesicht wie dem ihren; dafür war es zu fein. Allerdings, der nächste Schritt, eine Tracheotomie, wäre noch schlimmer. Er war ein erfahrener Mann. Er kannte die verschiedenen Stufen.
Bevor man zu Valeria durfte, musste man einen sterilisierten Kittel und Übersocken anziehen, die riesig waren und steif. Dazu eine Operationskappe und -maske. Valeria verstand, dass ihre Tochter gekommen war, und ihre Augen bewegten sich unter den Lidern. Minna war da. Und von ihrem Mann behütet – ein weiterer Beweis seiner Zuverlässigkeit. Als Corde zu ihr sprach, antwortete sie, indem sie seine Finger drückte. Dabei bemerkte ihr Schwiegersohn zum ersten Mal die Verunstaltung eines ihrer Knöchel. Hatte sie ihn einmal gebrochen, war es arthritisch? Er war verfärbt. Corde hatte sie noch nie mit offenem Haar gesehen, nur geflochten und hochgesteckt. Er hätte nicht vermutet, dass dieses feine weiße Haar so lang sein könnte. Und dann ihr großer Bauch. Und darunter die dünnen Beine. Auch das war ein schmerzlicher Anblick. Jedes kleinste bisschen rührte ihn – mehr noch, es bedrängte ihn, mehr noch, es machte ihn wild, bereitete ihm wüste Fantasien. Er hätte gern wie seine Frau geweint, Tränen kamen, aber ebenso eine gierige Gewalttätigkeit, ein ekstatisches Machen-wir-endlich-Schluss-damit, in dem sich Mitleid und Zerstörungswut mischten. Er war zum Teil ein Unmensch. Was sonst konnte es sein?
Diese Reaktionen waren teilweise eine Folge der Ermüdung. So musste es sein. Die Reise war lang gewesen. Er war erschöpft, ausgepumpt. Seine Gedärme waren in Aufruhr. Er fühlte sich hinten verstopft. Die Blutzufuhr zum Gesicht und zur Kopfhaut schien unzureichend. Und eine Art dämonischer Erregung wallte auf, für die es keine Beschwichtigung zu geben schien. Wie böse Kräfte, wüst und widerlich, die am Werk waren. Zugleich waren aber auch seine Tränen um die alte Frau echt. In diesem Augenblick konnte er nichts unterdrücken, nichts erzwingen. Gleich hilflos vor Gut und Böse. Auf dem elektronischen Bildschirm des Monitors tanzten und wirbelten Symbole und Zahlen; er hörte ein schwaches Kratzen und Ticken.
Gegen Ende der Unterredung sah sie der Oberst mit einem langen forschenden Blick an – verschlagen, das Messer in der Wunde drehend – und sagte, falls Valeria aus der Intensivstation verlegt würde, könne Minna kommen, sooft sie wolle. Von den Maschinen abgeschaltet, sei die alte Frau in fünfzehn Minuten tot. Das sprach er freilich nicht aus. Aber das ist Ihre Alternative, Madame. Dies war die Vorstellung jenes Mannes von einem Scherz. Man bot ihn an auf der Spitze eines Dolches.
Diesen Teil der Unterredung hatte Corde nicht mitbekommen. Minna hatte ihm davon erzählt. »Meine Heimkehr«, sagte sie nach der Unterredung, als sie über den betonierten Weg zum Parkplatz gingen.
»Als ob man dir eine Plastiktüte über das Gesicht bände und dich aufforderte, tief zu atmen.«
»Ich könnte ihn umbringen.« Vielleicht könnte sie es, nach ihrer entschlossenen Miene zu urteilen – große Augen, verkniffene Lippen. »Was soll ich nun tun, Albert? Sie wird nach uns bangen, auf uns warten.«
Sie kehrten in Petrescus russischem Kompaktwagen zurück, einem jener kräftigen trostlosen Fahrzeuge, wie sie in den Satellitenländern gefahren werden.
Mihai Petrescu war der chef de cabinet von Minnas Vater und später von Valeria gewesen, als sie ihrem verstorbenen Mann im Ministerium nachfolgte. Er war der Familie ergeben. Da er selbst kein Arzt war, muss er der Aufpasser der Partei gewesen sein. Er kann nicht viel zu melden gehabt haben. Dr. Raresch hatte zu den naiven Ideologen gehört, war Christ und moralischer Kommunist gewesen und hatte um Gottes Hilfe gebetet, bevor er einem Patienten den Schädel öffnete. Als erster Neurochirurg des Landes, der in Boston bei dem berühmten Cushing seine Ausbildung erhalten hatte, war er zu gefühlsbetont, zu gut, zu sehr der von hohen Prinzipien beflügelte Arzt, um einen kommunistischen Funktionär abzugeben. Minna sagte, sie habe nie verstehen können, wie er sich so vollständig habe vereinnahmen lassen. In den Dreißigerjahren hatte er das, was er in der Weltpresse über die Schreckensherrschaft, Stalins Arbeitslager, die Kommunisten in Spanien, den Pakt mit Hitler gelesen hatte, als bourgeoise Propaganda abgetan. Voller Begeisterung ging er, als die russischen Truppen Bukarest erreichten, mit Rosen für die Soldaten auf die Straße. Innerhalb einer Woche hatten sie ihm die Uhr vom Handgelenk gerissen, ihn aus seinem kleinen Mercedes verjagt und waren mit diesem davongefahren. Aber er beschwerte sich nicht. Er zog nicht in eine Villa wie andere Minister. Seine Kollegen waren deswegen sauer. Seine strenge Einfachheit war zu auffällig. Bevor er starb, hatte das Regime bereits entschieden, dass dieser Mann ein Idiot war, und ihn die Treppe hinauffallen lassen. Er wurde zum Botschafter in den Vereinigten Staaten ernannt. Sie wollten ihn los sein mit seinen dauernden Protesten, wenn seine medizinischen Freunde einer nach dem anderen verschwanden. Seine Umsiedlung nach Washington erlebte er nicht mehr. Nach einem Jahr war er bereits tot.
Nach seinem Tod wurde das Ministerium Valeria angetragen. Wahrscheinlich meinte sie, es könne gefährlich sein, abzulehnen. Minna war damals ein kleines Mädchen. Petrescu blieb als chef de cabinet. Corde stellte ihn sich als KGB-Mann der niederen Ränge vor. Mihai schien die offizielle Verbindung in familiäre Intimität verwandelt zu haben. Er sagte Corde, als sie einen Schnaps zusammen tranken: »Elle a été une mère, une consolatrice pour moi.« Aber auch für andere, dutzendweise. Valeria war eine Matriarchin. Corde war sich dessen wohl bewusst.
Aber von Zeit zu Zeit blieb Petrescu jahrelang aus. Man hatte ihn vor Valerias Schlaganfall viele Monate lang nicht mehr gesehen. Und selbst jetzt verschwand er unvermutet und tauchte ebenso unvermutet wieder auf. Petrescu war untersetzt, hatte kleine Augen, seine Fedora wurde durch keinen Haaransatz behindert, sodass der Flaum des Hutrandes sich mit dem Haarwuchs der Ohren im alles enthüllenden Tageslicht vermengte. Bei jedem Gespräch über Valeria hatten seine Sätze eine Art, immer höher zu kriechen; der Ton stieg so hoch, wie es seine Stimme nur hergab; danach erfolgte dann ein steiler Absturz, ein emotioneller Bruch. Über Valeria sprach er mit dramatischer Hitze. Corde, der dabei in seinen Zügen forschte, schätzte, dass etwa dreiviertel seiner Gesichtsfalten die Falten einer sehr harten Sinnesart seien; eines Mannes, von dem man sich leicht vorstellen konnte, dass er während eines Verhörs krachend auf den Tisch schlug und vielleicht auch imstande war, einen Revolver abzudrücken. Nicht nur in den Romanen von Raymond Chandler begegnete man solch harten Burschen. Alle möglichen Menschen sind hart. Den Damen gegenüber war Petrescu jedoch untadelig; sein Benehmen zeigte die Galanterie oder gar das Zartgefühl eines Heiligen, er sprang auf, rückte Stühle, beugte sich aus dem Fahrersitz, um die Türen seines sowjetischen Wagens zu öffnen. Heute half er im oberen Stockwerk mit Ratschlägen aus, telefonierte, stand zur Verfügung, murmelte und war so seidig sanft zu Minna und Tanti Gigi wie die langen fleischigen Läppchen seiner Ohren. Seine Unterlippe war geschwollen vom heißen Wunsch, zu Diensten zu sein. Bevor er verschwand – denn er verschwand bald wieder –, spielte er eine tragende Rolle in der gefühlvollen Komposition, deren Thema Valerias letzte Tage waren. Das Ende der Großen Valeria. Denn sie war groß – dies war der Schluss, zu dem Corde zu guter Letzt gelangte.
Valeria und Tanti Gigi teilten sich die Wohnung. Corde und Minna hatten dort ihre Bleibe. Nichten, Vettern und Kusinen, die zu Besuch kamen, mussten ins Hotel. Aber nach den besonderen Regeln der Verwandtschaft wurde den Cordes gestattet, bei Gigi einzuziehen. Tanti Gigi, die schon etwas gebrechlich war, besorgte den Haushalt mit hysterischer Genauigkeit. Sie schien alles im Schlafrock und in Pantoffeln und vom Bett aus zu bewältigen. Als Corde mit den Problemen der Stadt besser vertraut war – die Schlangen, die sich bei Tagesanbruch formten, die alternden Frauen mit ihren Markttaschen aus Wachstuch, die den ganzen Tag anstanden –, war er imstande, Gigis Virtuosität zu würdigen. Die Wohnung war nur ansatzweise geheizt und ebenso trübe beleuchtet. Heizkörper erkalteten nach dem Frühstück. Die Wasserhähne trockneten morgens um acht Uhr aus und liefen erst wieder am Abend. Die Badewanne hatte keinen Stöpsel. Man spülte die Toilette mit Wassereimern. Corde war nicht der Mann, der Komfort verlangte. Er beobachtete all dieses lediglich – ein gieriger Beobachter. Das Wohnzimmer, vorzeiten das Wartezimmer des Gehirnchirurgen, war mit alternden, behäbigen, überpolsterten Sesseln aus kahlem, abgeschabtem Leder möbliert. Es gab dort durchbrochene Messinglampen, die Minaretten ähnelten. All dies war Qualitätsarbeit aus bürgerlichen Tagen. Die Biedermeierschränke wurden wahrscheinlich in den Zwanzigerjahren von jungen Revolutionären verachtet, aber im Alter hingen sie an diesen Dingen als Andenken eines früheren Glücks. Sehr merkwürdig, dachte Corde, wie viel Gefühl an diese Sofas gehängt wurde, an alten orangenen Brokat und mit Perlmutt eingelegte Rahmen, an die Nippessachen und dünnen Teppiche, goldgerahmten Bilder, dickleibigen Bände von Larousse, veralteten medizinischen Bücher auf Deutsch und Englisch. Nach ihrer Absetzung und dem Verlust ihrer Pension, in der Zeit der Ungnade, verkaufte Valeria die besten Stücke von ihrem Silber und Porzellan. Die letzten Überbleibsel von ihrem Baccarat waren kürzlich beim Erdbeben zu Bruch gegangen. Als sie auf dem Boden lagen, hatte Tanti Gigi gehört, wie das Kristall klirrend in winzige Stücke zerfiel und auf dem Fußboden tanzte, sagte sie. Die Stücke, die übrig geblieben waren, hatten keinen besonderen Wert, aber sie waren offensichtlich geweiht – es waren die alten Familienstücke: Dr. Rareschs Arbeitstisch, Minnas Bett, die Bilder in ihrem Zimmer, sogar ihre Schulhefte.
Viel besser diese alte Wohnung – sie war eine Balkan-Ausgabe des Haussmann-Stils – als das Intercontinental Hotel und das Plaza Athénée mit ihrem totalitären Komfort de luxe und den Machenschaften der Geheimpolizei – securitate: Geräte hinter den Vorhängen, Tonbänder, die sich in isolierter Düsternis drehten. Auch in den Wohnungen gab es Wanzen, wahrscheinlich die neusten amerikanischen Modelle. Man brauchte nur zu bestellen, und die produzierenden Vereinigten Staaten verkauften. Oder sonst verkauften die Franzosen, Japaner und Italiener. Wenn man also vertraulich sprechen wollte, ging man außer Haus, aber sogar auf den Straßen konnte Minna einen anstoßen und die Aufmerksamkeit auf gewisse Männer lenken, die rumlungerten, langsam gingen oder miteinander plauderten. »Stimmt, ich kann sie sogar selber ausmachen«, sagte Corde. Die dicke Portiersfrau, Doanna, unterhielt sich dauernd mit diesen Lungerern. Sie berichtete ihnen. Aber sie war auch eine Freundin der Familie. So lief das eben. Valeria und Tanti Gigi hatten ihm mehr als einmal die Verhältnisse klargemacht.
Corde kannte die alten Damen recht gut. Valeria hatte die Staaten besucht, und er und Minna hatten sich mit den beiden oft im Ausland getroffen. Wenn die alten Schwestern bei der Verteilung von Visa an der Reihe waren, flogen sie nach Paris, Frankfurt, London. Natürlich musste man sie einladen – keine Dollars, keine Pässe –, und sie kamen ohne einen Pfennig aus der Heimat, nicht einmal Geld für eine Taxifahrt. Noch im vergangenen Frühjahr hatte sich Valeria mit Corde und Minna in England getroffen.
Valeria beobachtete die Menschen genau, aber vielleicht war sie sich nicht bewusst geworden, welche prominente Stelle sie in Cordes Gefühlen einnahm. Wie konnte sie auch? Dieser Dekan mit der tiefen Stimme und dem krummen Rücken saß da mit ausgestreckten Beinen, den Nacken an die Rückenlehne des Sessels geschmiegt, wie ein Reporter, der einer Story auf der Spur ist und geduldig die Zeit in einem Warteraum totschlägt. Seine unbefangene Art, die Leute anzusehen, die etwas vortretenden braunen Augen, der verträumte Blick waren vermutlich der Anlass für seinen Ruf gewesen, ein Schürzenjäger zu sein. Minna und Valeria waren vor ihm gewarnt worden. Erotische Haltlosigkeit, Frauenkonsum wurden ihm vorgeworfen. Wenn man ihn an der Elle vollkommener Respektabilität maß, war Corde kein sehr vertrauenserweckender Ehekandidat. »Es stimmt, er war schon mal verheiratet, aber ich auch«, sagte Minna zu ihrer Mutter. Valerias Einfluss war groß, aber in diesem einen Fall traf Minna selbst die Entscheidung. Es war eine vernünftige Entscheidung. Es gab keine Wankelmütigkeit. Corde bewährte sich als absolut zuverlässig. Nach mehreren Jahren der Beobachtung schenkte Valeria ihm ihr Vertrauen. Sie sagte zu ihrer Tochter: »Mit Albert hast du völlig recht gehabt.« Sie war ja schließlich nicht eine jener provinziellen Damen vom Balkan. Sie hatte Freud gelesen, Ferenczi, kannte sich aus in der Psychiatrie – Corde vergab ihr die Psychiatrie; vielleicht war sie in den Balkanstaaten anders. Gewiss war er nicht verschroben genug, um als medizinischer Fall schriftlich festgehalten zu werden.
Da waren sie nun also in Minnas altem Zimmer. Es war immer noch das Zimmer eines Schulmädchens. Valeria hatte es so gelassen. Es gab Schulbücher, Diplome, Gruppenaufnahmen. Dies war offensichtlich Valerias Lieblingsraum, wo sie las, nähte, Briefe schrieb. Corde musterte neugierig die Bücher, die dicht gedrängt in den Regalen standen. Viele davon waren englisch oder französisch. Er fand eine alte Ausgabe von Oscar Wilde, die in rotem Pappeinband, der zu einem verwaschenen Rosa verschossen war, in einem britischen Lesering erschienen war, und schlug darin einige der Gedichte auf, die er in den Pubertätsjahren auswendig gelernt hatte; melodramatische Stücke wie The Harlot's House, die Puppenkurtisane und der Gliedermann, die Skandale der griechischen Liebe, die Qualen der jungen Männer, die in der Schule so gut gestanden hatten, aber später in London neben ihren ermordeten Geliebten mit Blut und Wein an den Händen erwachten. Wozu hatten sie sie getötet? Das eben tut einem die Liebe an. Eine unbefriedigende Angelegenheit. Corde wollte insbesondere die Verse über die rote Hölle finden, in die des Menschen unsichtige Seele sich verirren kann. Er fand sie, sie belustigten ihn – die unter den Füßen schwankende Erde und die verdrossenen Sonnenblumen –, aber das hielt nicht vor. Er legte das doch nicht so amüsante Buch wieder beiseite. Er fand die Straße interessanter.
Erdbebenschäden wurden immer noch ausgebessert. Eine Maschine, ein Kran auf Rädern, arbeitete sich die Straße entlang. Eine zweiköpfige Mannschaft stand in der großen Wanne, um Risse im Stuck zu reparieren, und machte sich um die offenen Balkons zu schaffen. Frauen mit Kopftüchern droschen am Morgen auf ihre Teppiche ein. Von allen Seiten hörte man den Widerhall von Teppichklopfern. Immer feste druff! Der Staub flog im Sonnenlicht davon. Ein Hund bellte, winselte, als ob eine der Klopferinnen ihm eins versetzt hätte, und bellte dann wieder. Das Bellen des Hundes, ein Protest gegen die Grenzen hündischer Erfahrung (um Gottes willen, öffnet das Universum ein bisschen weiter!) – so empfand es Corde, eingeschlossen wie er war. Er wäre gern durch die Stadt geschlendert, aber Minna hatte Angst, dass die securitate ihn aufgreifen würde. Falls man ihn dann bezichtigte, illegal mit Dollars zu handeln? Sie hatte darüber Geschichten gehört. Freunde hatten sie gewarnt. Nun schön, sie hatte genügend um die Ohren, und er blieb, wo er war.
Sie war im Wohnzimmer beschäftigt. Freunde, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, kamen sie besuchen – Viorica, Doina, Cornelia. Corde wurde gebeten, sich im Wohnzimmer zu präsentieren: der amerikanische Ehemann. Das Telefon ging die ganze Zeit. So bald wie möglich zog er sich wieder in das Zimmer zurück, seine Zuflucht. Drei Tage lang dachte er schon, wie gut es ihm tun würde, auszugehen und die Spannungen loszuwerden, die er aus Chicago mitgebracht hatte (Krämpfe in den Beinen), dann hörte er auf, daran zu denken.
Zurück zu den Regalen. Er schob die Betten beiseite, um zu sehen, was für Titel sie bargen. Pädagogik gehörte zu Valerias Interessen. Er fand eine unveröffentlichte Fibel mit Bildern von Kühen, Ferkeln, Ponys. Aus Neugier über Minnas Mädchenjahre durchblätterte er Alben, betrachtete Fotografien. In den Schubladen stieß er auf Münzen früherer Regierungen, geprägte Knöpfe, Dokumente aus der Zeit der Monarchie, stehen gebliebene Uhren, byzantinische Kreuze an dünnen Silberketten, Zeitungsausschnitte, Briefe von Dr. Cushing an Raresch, einen seiner besten Schüler. Er fand dort auch Berichte über Corde – Inauguration als Dekan, Empfang eines Ehrentitels von Grinned. Minna hatte ihrer Mutter eine Kopie der ersten Fortsetzung seines langen Artikels über Chicago geschickt – jener, der so viel Staub aufgewirbelt hatte. Der Staub hatte sich noch nicht gesetzt. Das war etwas, was er mitgebracht hatte. Valeria hatte offensichtlich diesen Text genau gelesen und am Rand Zeichen gemacht, wo er den wahnwitzigen Status der Insassen des Bezirksgefängnisses beschrieben hatte – die brutale Hierarchie unter den Gefangenen, die Schiebungen, die Prügeleien, die homosexuellen Vergewaltigungen und Messerstechereien in den schlimmsten Abteilungen: in »Dodge City«, »H-I«; wo die Gefangenen die Hosenbeine in die Socken steckten, damit ihnen in der Nacht nicht die Ratten die Beine rauflaufen konnten. Dort war tatsächlich eine rote Hölle, İn die die Seele geraten konnte.
Offenbar reizte es Valeria als Psychologin, die Persönlichkeit ihres Schwiegersohns zu ergründen, so wie sie sich in der Wahl seiner Themen enthüllte. Seine Schilderungen von Schlägereien und unzüchtigen Handlungen, von einem Mord mit dem scharf geschliffenen Metall eines Bettbeins waren rot unterstrichen. In seinen Mantel verkrochen, sann er diesen Stellen nach, registrierte, wie oft er das Fernsehgerät in jedem Tagesraum, die Seifen und die sportlichen Ereignisse erwähnt hatte, »die Alternativen der Gesellschaft dauernd im Blick« und »wie seltsam die Gedanken des Verbrechers mit Bildern jener anderen Anarchie – der legitimen – befrachtet sind«. Valeria hatte diese Sätze eingekringelt. Die zweite Fortsetzung hatte sie nicht erhalten. Diese, die sich hauptsächlich mit dem Skandal um Rufus Ridpath und den Fall Spofford Mitchell befasste, strotzte von wenig schmeichelhaften Bemerkungen über das Rathaus, die Presse, den Sheriff, den Gouverneur. Empört, schneidend, rücksichtslos hatte sich Corde die Zügel schießen lassen. Er hatte in der Universität Unbehagen ausgelöst. Einer ihrer Dekane, der sich mit allen anlegte? Ein schlimmer Vorfall, ein Ärgernis. Die Leitung legte sich Zurückhaltung auf, aber sie war nervös. Sie war besonders über Teil zwei erbost. Wie hätte sich Valeria zu Teil zwei gestellt?
Valeria hatte Corde niemals fühlen lassen, dass sie sich der Heirat widersetzte; dazu war sie zu gut erzogen; sie war zu taktvoll, um ihn gegen sich aufzubringen. Sie beobachtete ihn, jawohl, aber ohne erkennbares Vorurteil. Sie hatte in der Tat eine faire Gesinnung. Obwohl es ihm nicht sehr angenehm gewesen war, unter Beobachtung zu stehen, gab er zu, dass es nicht unbillig war. »Brauche ich, verdammt noch mal, eigentlich einen Bewährungshelfer?« Natürlich war ihm unbehaglich zumute, und wenn ihm so zumute war, dann wurde er noch wortkarger und sprach nur mit kurzem Brummen. Am meisten störte ihn jedoch bei dieser Beobachterei, dass er dadurch sich selber sah – einen Mann mit Tellergesicht und lang geschnittenem Mund. Man konnte es ihm kaum verübeln, dass ihn diese genaue Beobachtung kribbelig machte. Als er einmal einem Kellner seine Bestellung aufgab und um eine omelette fines herbes bat, wurde er nachdrücklich von Valeria verbessert. »Das s muss anklingen – fienserbe.« Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen; ein Abgrund von Kleinlichkeit tat sich auf. Es war ein Abgrund.
Dennoch fühlte er sich zu der alten Dame kräftig hingezogen. Im vergangenen Frühling hatten die drei zusammen bei Durrants in der George Street gewohnt; und er verbrachte die ganze Zeit in ihrer Gesellschaft, ohne den Wunsch, allein auszugehen. Er ließ sich ins Schlepp nehmen zu Liberty’s, Jaeger’s, Harrods. Das genoss er. Im vergangenen April war das große London weit offen gewesen, und die Ferien gaben ihm eine Art von menschlichem »Einvernehmen« (er konnte kein anderes Wort dafür finden), das er so dringend brauchte und offenbar dauernd suchte. Er folgte den beiden Damen gern durch Harrods (für ihn »Harrods der Juden«, jetzt aber voller Araber). Die Pakete stapelten sich in Valerias Zimmer. Er sagte zu Minna: »Sollten wir ihr nicht was kaufen, was sie nicht wegschenken kann, nur für sie persönlich?«
»Sie scheint’s nicht nötig …«, begann Minna. »Es genügt ihr, mit – mit uns zusammen zu sein. Und besonders hier in London. Sie liebt London über alles.«
Niemand verstand es besser als die Engländer, in kärglicher Umgebung Behaglichkeit zu schaffen. Man polierte alte Tische auf, rahmte Schäbigkeit mit goldenen Rändern; ohne sich zu entschuldigen, verlieh man abgeschabten Ecken Würde, trimmte die kahle Seite vom Samt auf Hochglanz – es war dieser Hauch von Dickens, der Corde gefiel. Er war sich nicht ganz sicher, wie Valeria dieses nicht eben luxuriöse Hotel betrachtete. Konnte ihr amerikanischer Schwiegersohn sich nichts Besseres leisten? Wenn man aus Bukarest kam, hätte man wahrscheinlich das Ritz vorgezogen. Aber er war lediglich ein Dekan, nicht der Gouverneur von Texas. Nein, der Gouverneur wäre für Minna nicht gut genug gewesen, auch kein Aufsichtsratsmitglied der Chase Manhattan Bank. Dennoch wäre das Gefühl eines menschlichen »Einvernehmens« ohne die Billigung der alten Dame nicht möglich gewesen. Sie billigte ihn, und zwar schon recht bald. Er war in Ordnung. Sie waren beide in Ordnung. Wenn seine Art verhalten war (ein Mann auf Bewährung bei gutem Betragen), war die ihre unauffällig entgegenkommend. Morgens ging sie früh auf die Straße, um für Corde die Times zu kaufen (um halb neun würde ihm der Portier wahrscheinlich sagen müssen: »Tut mir leid, Sir, ausverkauft«). Sie sorgte dafür, dass ein Exemplar der Zeitung auf dem Stuhl des Schwiegersohns lag. Dann saß sie in ihrem hübschen Hosenanzug wartend im Frühstückszimmer, das grünseidene Halstuch um den Nacken – ein reizvolles Blaugrün. Solange Minna noch nicht bei ihr war, wollte sich Valeria nicht einmal eine Tasse Tee von den spanischen Kellnern eingießen lassen. Wenn sich das Frühstück dem Ende näherte, rückte Corde seinen Stuhl leicht zur Seite. Der Dekan legte den Kopf ein wenig linkisch zurück – sein Hals war dünn – und konzentrierte den Blick auf die Times (eine ausländische Zeitung, die in seiner Sprache gedruckt war). Beim Lesen überging er kein politisches Thema – ein erfahrener Journalist, der seine eigenen schnellen Beobachtungen anstellte. »Ich kenne diese Burschen«, besagte seine Haltung. Während die Damen ihre Pläne für den Tag besprachen, warf der Dekan auch einen Blick auf die Devisenkurse, Nachrufe für Zivilbeamte und pensionierte Soldaten, den Hofkalender, Notizen aus Wimbledon – Dinge von minimalem Interesse. Er durchlebte wechselnde Wogen von Trübsal und warmer Zuneigung zu Valeria wegen ihrer bewundernswerten Beherrschung so vielfältiger Faktoren – Zweifel (an ihm), Liebe zu ihrer Tochter, Verlegenheit, weil sie selbst nicht über einen Pfennig verfügte. Gewiss, die Tochter hatte eigenes Geld. Aber der Schwiegersohn war sehr darauf bedacht, ihr Mäntel, Kleider, Hüte, Geldbörsen, Karten, Ausflüge, Mahlzeiten, Musik und Flugtickets zu spendieren. Dann fiel ihm ihr forschender Blick auf. Sie war schweigend voller Fragen. Was für eine Sorte Mensch ist Albert – wie ist er beschaffen? Wenn er und Minna nach dem Frühstück zu ihrem engen, kleinen, reinlichen Zimmer bei Durants zurückkehrten, sagte er: »Hier sind hundert Pfund. Kaufe dem alten Mädchen ein Paar Glacéhandschuhe. Nimm sie mit in die Bond Street.« Minna musste über ihn lachen.
Dann machte er ganz unabhängig eine Entdeckung; und zwar eine, die Minna unmöglich machen konnte.
Minna, das muss man verstehen, war von ihren astrophysikalischen und mathematischen Problemen in Anspruch genommen. Minna brachte, mit Cordes Metapher, eine Nadel vom einen Ende des Universums mit einem Faden vom anderen Ende zusammen. War das einmal gelungen, konnte Corde nicht sagen, was damit genäht werden sollte – dies war seine ganz eigene Art, sich auf das mysterium tremendum zu konzentrieren. Ohne drumherum zu reden: Der Kosmos überstieg sein Vorstellungsvermögen. Seine eigene besondere Begabung lag darin, für den durchschnittlichen Leser Stücke wie die in Harper’s zusammenzustellen. Ihr Thema (in Minnas Schulmädchenzimmer, wo er die Seiten durchblätterte) waren die Qualen und die wilde Wut schwarzer Gefangener unter der Zuständigkeit des verletzten Sheriffs von Cook County, der sich bei einem patriotischen Straßenkrawall mit aufmüpfigen Extremisten in Chicagos Loop das Genick gebrochen hatte, als er einen Gegner im Hechtsprung anging, ihn dabei aber verfehlte; und … nein, da gebot sich der Dekan Einhalt und ließ die Luft raus. Er wollte es bei seiner Fähigkeit bewenden lassen, für den durchschnittlichen Leser eine Szene zu beschreiben oder sich mit den Studenten zu befassen – was ihm ebenfalls recht gut gelang. Oder bei seiner noch wichtigeren Begabung, die Zuneigung einer Frau wie der seinen (unbegreiflich) auf sich zu lenken, die ihn ausersehen hatte, ihr planetarisches Leben zu teilen. (Wobei sie ihm seine Mängel, seine Sünden verzieh. Aber das sollte sie nie bedauern.) Der Bezirkssheriff, der vom Rollstuhl aus den Wahlkampf bestritt, wurde erst mal beiseitegeschoben.
Corde hatte in London entdeckt, dass Valeria nicht mehr die Kraft hatte, zu reisen; hin- und herzufliegen. Sie war zu alt. Die Diagnose war jäh, aber umfassend. »Sie packt’s nicht mehr.« Sie war krank, sie dokterte selbst an sich herum (er hatte Pillenfläschchen gesehen, wenn sie ihre Handtasche öffnete). Fast achtzigjährig flog sie nach England. Solange Minna ihre rumänische Staatsbürgerschaft nicht formell aufgab, konnte sie ihre Mutter nicht besuchen. Das wäre vielleicht nicht sicher. Schwer zu sagen, warum Minna diesen formellen Verzicht scheute. Sie fand Vorwände. »Ich kann diese Leute nicht ausstehen. Ich kann einfach nicht mit ihnen korrespondieren. Ja, ich will es durchziehen. Ich habe bereits die Formulare ausgefüllt.« Gewiss, sie konzentrierte sich vornehmlich auf ihre Wissenschaft, konnte sich nicht mit amtlichen Dokumenten abgeben, aber das war angesichts der Tiefe ihres Gefühls für Valeria eine vordergründige Erklärung. Aber sie machte sich lieber vor, dass ihre Mutter kräftig und gesund war. Dass ihre Mutter zu krank sein sollte, um ins Ausland zu reisen, war unstatthaft. Was Valeria betraf, so wäre sie eher auf dem Flughafen tot umgefallen, als ihrer Tochter zu sagen: »Meine Liebe, ich bin zu schwach fürs Handgepäck, ich komme nicht mehr mit Taxis zurecht, und ich kann beim Zoll nicht mehr Schlange stehen. Ich bin zu alt für die Jets.« Nein, sie kam nach London, den Kopf voller Listen – und sagte jeden Tag zu Minna: »Ich muss für Floara Kleiderstoff mitbringen. Ich habe versprochen, Ionel einen Leitfaden für die Bedienung von Computern mitzubringen.« Und ebenso war’s mit Stiefeln für Doina und Tee von Fortnum für Gigi. Für sich selbst kaufte sie farbige Ansichtskarten der Westminster Abbey.
Corde wurde nach oben gerufen, um ihre kastenförmigen Koffer aus ungegerbtem Leder zuzuschnallen. Sie ins Schloss zu drücken, nahm einige Kraft in Anspruch. Wie wollte es die alte Frau schaffen, die zwei vollgestopften Koffer zu befördern? – es waren schon beinahe Schrankkoffer.
»Sie wird ganz schön raffiniert vorgehen müssen, um diese verdammten Dinger durch den Zoll zu kriegen.«
»Dem ist sie gewachsen«, sagte Minna. Sie zuckte die Achseln.
Sie musste für eine wissenschaftliche Versammlung in Kopenhagen einen Vortrag halten, und zwei Tage lang war Valeria Corde anvertraut. Er bewirtete sie im Etoile in der Charlotte Street. Sie verliebte sich in den Etoile. Er nahm sie zu einer Rowlandson-Ausstellung im Burlington House mit. Das bedeutete, dass man im Freien Schlange stand, um sich anschließend durch überfüllte Säle vorwärtszuschieben. Die alte Dame lächelte gelassen über die beleibten rosigen, mit Rüschen besetzten Modedamen, über die Gecken, aber Corde merkte bald, dass diese Expedition ihre Kräfte überstieg. Seltsam, das mit anzusehen, beunruhigend. Er war um ihretwillen beunruhigt. Sie konnte das Gleichgewicht nicht halten, sie schwankte, kriegte Schlagseite, schien außerstande, die Bewegungen ihrer Füße zu koordinieren. Er sagte: »Ich habe genug Rowlandson gesehen, macht’s dir was aus?« Als er sie die Treppe hinabgeleitete, überraschte ihn die Schwerelosigkeit und Größe ihres Ellbogens. Warum war das Gelenk so groß? Es fühlte sich an wie ein trockner Schwamm. Sie streifte seine Hand ab. Sie traten hinaus in einen Fahrzeug- und Menschenstau am Piccadilly. Sie sagte: »Du hast doch noch einiges zu erledigen, Albert. Ich gehe zurück ins Hotel.« Er bezweifelte sogar, dass sie ein Taxi anhalten konnte. Er brachte eins zum Halten und stieg mit ihr ein, wobei er sagte: »Ich habe meinen Terminkalender im Hotel vergessen; ich weiß nicht mehr, wo ich jetzt hinmuss.« Sie machte ihm auf dem schwarzen Ledersitz mit den Knöpfen Platz und saß schweigend, ja unnahbar in ihrer Ecke.
Cordes Vater war ein altmodischer Amerikaner gewesen, behäbig, gesetzt, ein Typ aus Pullmans Zeiten, wie sein Sohn es nannte. (Der alte Knabe war auch eine Art Playboy gewesen, ein Hansdampf in allen Gassen, aber das stand wieder auf einem anderen Blatt.) Corde konnte seine Manier nachahmen. Dieser etwas überholte Stil war jetzt von Nutzen. Er ließ Valeria nicht merken, dass er sie durchschaut hatte. Als er sie an diesem Abend zu einem türkischen Essen in der Wardour Street ausführte, schien sie kräftiger; sie sagte, wie angenehm London doch sei; sie sprach über kommunistische Politik, tischte Erinnerungen an Ana Pauker auf, deren Regierung sie angehört hatte. Er erzählte ihr ein wenig über das Leben in Chicago. Bei rotem Fleisch und einer Flasche Wein belebte sie sich ein wenig. Sie sagte, am Nachmittag sei sie müde gewesen. Zwischen drei und fünf Uhr leide ihr Körper unter Blutzuckermangel.
»Ja, ich habe auch meinen Tiefpunkt am Nachmittag. Oft.«
Aber er sagte leise zu Minna, nachdem sie Valeria am Flughafen verabschiedet hatten: »Hat die alte Dame gesagt, wie sehr ihr die Reise gefallen hat? Ich glaube nicht, dass sie eine solche Tour noch einmal schafft.«
»Das ist doch nicht dein Ernst. Rauskommen ist ihre einzige Freude. Diese Ferientage an einem kultivierten Ort. Und uns zu sehen. Dafür lebt sie.«
Er ließ das Thema fallen. Er hatte das seine gesagt. Jetzt musste Minna auf ihre Weise etwas tun.
Es war ein Instinkt bei Corde – vielleicht war es auch eine Schwäche – stets die Aufmerksamkeit auf gewisse Eigentümlichkeiten zu fixieren, in jeder Situation die Einzelheiten wahrzunehmen. Wenn er Valeria zum Mittagessen in den Etoile ausführte, trug er ein deutliches Bild des Weinkellners mit sich fort. Dass ein Mann mit Glatze am Hinterkopf dreifache Falten hatte, konnte nicht unbeachtet bleiben, ebenso wenig wie die Form seiner Daumen, die gesunde Farbe seines Gesichtes, die Breite seiner Nase, die Kraft seines stämmigen italienischen Körpers im Kellnerfrack. Cordes Augen registrierten auch die Schüsseln auf dem Horsd’œuvre-Wagen, die in Scheiben geschnittenen Champignons à la Grecque, die braune Soße, das Muster des Tafelsilbers. Bei ihm liefen selten ausschließlich geistige Vorgänge ab. Vom Temperament her war er ein Mann der Bilder. So viel zu beobachten war nicht praktisch, zuweilen sogar schädlich, oft ausgesprochen schmerzhaft, aber die Tatsachen konnten nicht übergangen werden.
Als er zum Beispiel aus Chicago abreiste, musste daran gedacht werden, dass er seinen staubigen schwarzen Kleidersack mit Reißverschluss packte. Als er ihn trug, scheuerte dieser mit einem quietschenden Geräusch an seinem Bein entlang (der synthetische Stoff, der Laut gab). In dem Sack: seine unscheinbaren Kleidungstücke – Hemden voller Flecken und in der Wäscherei beim Bügeln versengt, Hosen, die in die Reinigung gehört hätten (mit geschlossenen Augen konnte er die Flecken genau lokalisieren). Ein weiterer Punkt: Im Fieber der Abreise sah er die treibenden Eisschollen auf dem Lake Michigan, grauweiß und gelbbraun, die obere Schneeschicht vom Sand gefärbt, der bei dem herrschenden Wind von der Küste hinübergeweht war. Nächster Punkt: das rote sich aufheizende Unterhemd, das er wieder aus seinem Gepäck entfernt hatte, weil er sich vorstellte, dass Bukarest in seiner Art mediterran sei, eine lichte Stadt, keine massige; Rokoko. Rokoko! Es war jedoch Masse um Masse sozialistischer Wohnblocks und regierungsamtlicher Gebäude. Jetzt trauerte er dem warmen Unterhemd nach. Punkt: Die Tube mit Salbe, die er gegen den Ausschlag an seinen Knöcheln brauchte, war leer gedrückt, bis zur Öffnung hochgerollt – er hätte vor der Abreise eine andere bestellen sollen. Punkt: seine Töpfe mit Usambaraveilchen. Was nützte es schon, die Röhren mit ultraviolettem Licht weiterbrennen zu lassen? Eine Krise – wie konnte man die Pflanzen retten? Er hatte gehört, wenn man das eine Ende eines Fadens in einen Wassereimer hängte, dann lieferte das andere Ende genügend Feuchtigkeit, aber er hatte nicht mehr die Zeit, dies zu arrangieren. Punkt: die Büchse mit Earl Grey Tee auf der Anrichte in der Küche und die Bananen. Die hatte er mit nach Europa genommen. Wichtige Dokumente blieben auf seinem Schreibtisch liegen. Er hatte sein Adressbuch nicht finden können, hatte es wahrscheinlich vor sich selber versteckt. Er würde ohnedies keinen Brief schreiben. Sein Instinkt riet ihm, alles schießen zu lassen und unbelastet abzufliegen. Nur dass er die Veilchen zurückließ, bedauerte er. Punkt: Minna stopfte ihren Koffer voll mit astronomischen Arbeiten und gab ihnen Vorrang vor den Kleidern. Auf der Reise konnte sie sich von diesen Büchern und Nachdrucken nicht trennen. Sie ließen sich nicht als Gepäck aufgeben, sondern mussten mit in die Kabine getragen werden. Minnas Augen schienen vom Stress verstellt; sie sahen aus wie Früchte in einem exzentrischen Stillleben. Gleich nach dem Eintreffen von Gigis Telegramm hörte sie auf zu essen. Innerhalb von Stunden wurde sie hager und fahl, ihr Gesicht bekam so etwas wie eine negative Farbe. Ihre Unterlippe war eingezogen und das Kinn von Druckstellen markiert. Corde beobachtete seine Frau eingehend. Punkt: Das Taxi zum Flughafen fuhr zwischen Dämmen von Schnee. Der erste Schneesturm des Winters hatte Chicago heimgesucht. Das Taxi war überheizt und stank nach Exkrementen. Von Hunden? Von Menschen? Es war knuffig heiß, aber auch frostig; eine Mischung von Arktik und Sahara. Zudem war der Chauffeur mit Eau de Cologne getränkt. Der gerippte Gummiboden war völlig mit Dreck und Sand bedeckt. Corde sagte: »Die Leute haben sogar aufgehört, sich hinten abzuwischen.« Er sagte dies vorsichtshalber auf Französisch, aber irgendwas stimmte dabei nicht – ein unanständiger Scherz (und Ekel) in einer fremden Sprache. Er kam sowieso nicht an, da Minna ihn kaum hörte.
Weitere Punkte wurden auf dem Weg zum Flughafen abgehakt. Das Alarmsystem? Die Schlüssel? Die Fenster? Anweisungen für den Hausverwalter, die Post aus dem Kasten zu nehmen und die Zeitungen von der Haustür? War er zur Bank gegangen, um sich seine Dollars abzuholen? Hatte er mit de Prima, dem Anwalt, gesprochen? Hatte er Valerias Telefonnummer bei Miss Porson im Büro hinterlassen? Vielleicht würde die Universität sie erreichen müssen? Minna dachte nicht an die besonderen Probleme des Dekans, sondern an die Frist, die ihr am Teleskop von Mount Palomar eingeräumt worden war. Sie war dort eigentlich für die Weihnachtswoche vorgesehen, aber das musste nun selbstverständlich abgesagt werden. »Ja, die wissen, wo wir zu finden sind«, sagte er. Mit seinen dichten Augenbrauen, dem geraden breiten Mund, seiner leisen Stimme machte er gewöhnlich den Eindruck der Gelassenheit, und hin und wieder sagten ihm Studenten, sie fänden es großartig, wie »entspannt« er sei. Ein hübsches Kompliment, aber unverdient. Er war in einem scharfen Rückzugsgefecht gegen die Mächte der Empörung begriffen. Als sie vom Flughafen O’Hare abhoben, hatte er das Gefühl, als ob alle Ungereimtheiten von Chicago in seine Nerven eingeimpft worden wären. Als er jedoch die Toilette der Lufthansa 747 aufsuchte und dabei das Licht anging, kam er sich einigermaßen normal vor mit einem Mund wie ein einfacher Aussagesatz, obwohl es so viele komplexe und komplizierte Dinge zu sagen gab.
Dann jedoch, nach einer Schleife durch Tausende von Luftmeilen fand er sich festgelegt. Aber so fremd das Milieu auch war, bot es ihm Intimität, die unvermittelte Intimität von Minnas altem Zimmer. Einen beträchtlichen Teil des Tages suhlte er sich zwischen rumänischen Kissen auf einem Diwan, trank Bauernschnaps und aß Weintrauben, bräunlich grün mit großen Kernen, die Tanti Gigis breit gestreute Agenten vom Land gebracht hatten. Weil Gigis Herz unregelmäßig schlug, verbrachte sie einen großen Teil der Zeit im Bett, aber den ganzen Tag kamen und gingen Frauen, berichteten ihr und erhielten Anweisungen. Sie machte sich um Corde Gedanken. Er konnte nur echten Bohnenkaffee trinken, und da kein Whiskey für ihn da war, brauchte er zumindest Pálinka. Er war gewohnt, Fleisch zu essen (Fleisch war praktisch nicht zu kriegen) und dazu eine Flasche Wein (man konnte einen minderwertigen Wein auf dem Schwarzmarkt kaufen). Er hatte seinen Komfort geopfert, um Minna herzubringen, und Gigi war daher entschlossen, ihm das Beste zukommen zu lassen. (»Was für ein reiches, wunderbares Land wir doch haben«, sagte sie. »Wenn du nur das eigentliche Rumänien erleben könntest.«)
Trotz der Türklingeln, Telefonanrufe und Konferenzen, trotz des sich anbahnenden Streites mit dem Oberst, trotz des Gewichts einer riesigen totalitären Lebensmasse außerhalb des Hauses (die Stadt war grauenhaft!) war er ruhig. Keine dringenden Anrufe, Entscheidungen, keine abscheulichen Briefe, keine peinlichen Konferenzen, Streitigkeiten oder Eifersüchteleien – Leute, die ihm auf diese oder jene Weise zu Leibe rückten. Nach dem Lunch zog er sich aus, nahm die schwere bunte Bettdecke herunter (beinahe ein Teppich) und schlief ein. Zuweilen tat er das auch nach dem Frühstück. Er fühlte sich nicht ganz sicher auf den Beinen, nicht einmal bei strahlendem gesundem Wetter; sein Bewusstsein war schwankend, als hätte er einen Wagen über endlose Ebenen und ganze Kontinente gefahren. Er war augenkrank, kopfkrank, sitzkrank, bewegungskrank, darmkrank, radverdrossen. Also ruhte er nach dem Frühstück. Die Nächte waren nicht einfach. Minna konnte nicht schlafen. Sie schien dazuliegen und in Gedanken all die schlimmsten Szenen des Tages nachzuvollziehen. Dazu kamen Gedanken, für die sie nicht genügend Zeit gehabt hatte. Das Zimmer war kalt, die Nächte unnatürlich schwarz – oder war dies Cordes eigene Intensität, die nach außen drang, schwärzer war als die Nacht? Er streckte die Finger vor und zog die Decken über seine knochigen Schultern; als er jedoch hörte, dass Minna sich rührte, wusste er, dass er aufstehen und sie trösten musste. Wenn er sich zu ihr legte, half es gewöhnlich. Diesmal jedoch nicht.
Sie drehte sich nicht um, als er in ihr kleines Bett stieg und die Arme von hinten um sie schlang. Sie sprachen flüsternd miteinander.
Minna sagte: »Was denkt sie wohl? Tage verrinnen, und ich bin nicht da.«
»Was, sie? Sie kann nicht die Augen öffnen, und in diesem Zimmer kann man ohnedies die Tage nicht von den Nächten unterscheiden – außerdem versteht sie, warum du nicht da bist.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ist das dein Ernst? Bei ihrer Erfahrung? Innerhalb der Regierung und im Privatleben? Seit 1945 leben sie unter den Russen. Das ist eine lange, lange Zeit. Sie muss jede Falte davon kennen. Du kannst sicher sein, dass sie das genau bedacht hat, sogar noch bevor wir angekommen sind.«
»Ja, möglich ist es.«
Er senkte die Stimme noch mehr. »Schon nach ein paar Tagen hast du das Gefühl, dass sie dir auf dem Gesicht sitzen. Und wie die Dinge laufen, erleben wir vielleicht schon unsere eigene Zukunft.«
»Das solltest du nicht sagen …«
»Nicht ich sage das. Ich glaube es nicht, aber genau das hört und sieht man. Du solltest mal lesen, was sie von der russischen Neuen Rechten erzählen. Zum Beispiel, dass es die schwachen Demokratien sind, die Diktaturen erzeugen. Oder dass unsere Dekadenz in voller Fahrt dem Zusammenbruch entgegenrast. Natürlich übertreiben sie. Aber man kann nicht umhin, darüber nachzudenken.«
Minna ließ ihn reden, aber er gebot sich selber Einhalt. Dies war nicht der rechte Augenblick, um solche Ansichten zu entwickeln. Schlimme Visionen. Das Narren-Inferno! Er las zu viele Artikel und Bücher. Wäre diese Nacht nicht so schwarz und kalt gewesen, dann wäre von alledem nichts gesagt worden. Die Nacht trieb zur Übertreibung. Zwischen ihnen, auf dem Kissen, lag die Flut ihres Haares.
»Sie wollen eine Tracheotomie machen«, sagte sie.
»Müssen sie das?«
»Dr. Moldovanu hat am Telefon gesagt, es sei notwendig. Er hat mir auch gesagt, dass er wegen der Besuche einen Bericht an den Oberst geschickt habe. Er hat darin die Ansicht geäußert, sie täten meiner Mutter gut.«
»Sie haben alle Angst vor diesem Schuft. Er ängstigt sie zu Tode.«
»Ileana hat mir erzählt, als Dr. Moldovanus Mutter einen Infarkt hatte, durfte er sie nicht in das Parteihospital legen. Der Antrag wurde abgelehnt.«
»Nennen sie das hier einen Infarkt? Man könnte möglicherweise über den Kopf dieses Mannes hinweg etwas machen, wenn dies Chicago wäre oder Honduras oder etwas dergleichen.«
»Wie kann er mir verwehren …!«
Corde hatte sich angewöhnt, seiner weltfremden Frau die Dinge auseinanderzusetzen. Das machte ihm Vergnügen und war manchmal für ihn selbst lehrreich. »Das gibt dem Mann Gelegenheit, die Zuverlässigkeit seiner Kontrollen zu prüfen. Dies ist eine haargenaue Abstimmung«, sagte Corde. »Gestern habe ich an einen Mann in der amerikanischen Botschaft einen Bericht geschickt.«
»Wirklich?«
»Ich habe Gigi gebeten, ihn für mich überbringen zu lassen. Die Botschaft ist nur einige Blocks entfernt, hat sie gesagt. Weißt du, kurz bevor wir aus Chicago abgereist sind, habe ich meinen alten Freund Walter in Washington angerufen, ihm erklärt, wo wir hinwollten, und ihm von dieser Sache erzählt. Er hat mir darauf einige Namen hier genannt – Kontaktpersonen. Ich erwarte keine großen Resultate, aber ich habe diesem Burschen in der Nachrichtenabteilung mitgeteilt, dass ich ihn besuchen wollte.«
»Könnte er uns was nützen?«
»Es lohnt den Versuch. Ich könnte vielleicht vorschlagen, dass er das State Department in dieser Sache um Hilfe angeht.«
»Nein, wirklich! Glaubst du, die würden …?«
»Eine Wahl steht vor der Tür, und das wäre immerhin eine humane christliche Handlung des Weißen Hauses. Macht sich gut in der Presse.«
»Tun die so was?«
»Diese Leute sind süß und größtenteils Luft wie Nabisco-Waffeln. Auf alle Fälle habe ich Walter gebeten, sich an die zuständige Stelle im State Department zu wenden. Ich habe mir die ganze Zeit wegen deiner doppelten Staatsbürgerschaft Gedanken gemacht.«
»Das hätte ich schon längst regeln sollen.« Sie wechselte das Thema. In ihrer Wissenschaft war sie wissenschaftlich; in anderen Dingen waren ihre Methoden eher magisch, fand Corde. Wenn sie ihre doppelte Staatsbürgerschaft aufgab, würde sie damit die Sterblichkeit ihrer Mutter eingestehen, und allein das hätte schon die alte Frau schwächen können. Diese Art von primitiver Begründung.
»Tanti Gigi sagt, ich solle mich mit Dr. Gherea in Verbindung setzen«, sagte sie.
»Gherea?«
»Du weißt doch, wer das ist. Oder weißt du’s etwa nicht mehr?«
»Ja, ich weiß. Ich weiß es. Der Schüler deines Vaters, den er in Gehirnchirurgie ausgebildet hat.«
»Ja, genau der. Er ist hier der große Neurochirurg, praktisch der einzige. Mein Vater hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Nach dem Tode meines Vaters wurde er ein großes Tier.«
»Ist er gut?«
»Man sagt, er sei ein Genie.«
»Wir werden uns die Sache überlegen müssen.«
Ihr Schulmädchenbett war für sie beide zu schmal, und er kehrte zu seinem Diwan zurück. In der Nacht stand er mehrere Male auf, um ihr über den Kopf zu streichen oder sie auf die Schulter zu küssen. Diese Mittelchen hatten Corde stets das Gefühl nützlicher Kraft gegeben, aber jetzt waren sie wirkungslos. Die nächtlichen Ängste waren zu groß. Er spürte sie selbst. Er lauschte auf Minnas Atem. Sie schien den Atem anzuhalten. Er wartete, spitzte die Ohren, bis sie wieder ausatmete. Schließlich sagte er: »Sollen wir nicht die Flasche rausholen und uns ein oder zwei Schluck eingießen? Es hat keinen Zweck, hier zu liegen wie die Stoffpuppen.« Er drehte das Licht an. Sie saßen Seite an Seite in ihren Mänteln und tranken Pflaumenschnaps. Das Zeug war ein bisschen ölig und ranzig, aber ging ihnen doch leicht und warm runter. Dann stießen die gärenden Dämpfe wieder hoch.
»Es wird nicht leicht sein, an Gherea ranzukommen.«
»Warum nicht?«, fragte Corde. »Kennst du ihn nicht?«
»Vor dreißig Jahren war er wie einer von der Familie. Aber inzwischen ist er ein Wüterich geworden.«
»Inwiefern ein Wüterich?«
»Er schlägt Leute zu Boden – Assistenten, Anästhesisten, Krankenschwestern. Er prügelt sogar seine Kollegen, gibt für niemand einen Pfifferling. Sie müssen sich’s von ihm gefallen lassen. Er schlägt und tritt sie, wenn sie ihm das falsche Instrument reichen. Und ohne Geld operiert er nicht. Wenn du mir keine fünfhunderttausend Lei in bar gibst, entferne ich dir nicht deinen Gehirntumor.«
»Ein Barbar. Du brauchst mir nichts von Barbaren zu erzählen. Und der einzige schneidige Bursche in der Stadt.«
»Das stimmt, Albert. Sogar mit dem Sohn des Diktators – als der einen Schädelbruch hatte und man ihn zu Gherea brachte, soll Gherea ihn zu einem anderen Patienten ins Bett gesteckt haben.«
»Liegen hier zwei in einem Bett?«
»Ja, in ziemlich vielen Krankenhäusern. Das war Ghereas Methode, ihm klarzumachen, dass er mehr für die Krankenhäuser ausgeben müsse.«
»Dann muss sich also sogar der Diktator mit ihm arrangieren. Und was tut Gherea mit dem Zaster, den er von den Leuten erpresst? Führt er ein ausschweifendes Leben?«
»Vermutlich. Aber ich wüsste nicht wie – er geht niemals außer Landes. Wie kann man hier ausschweifend leben? Er kennt keine andere Sprache. Vielleicht Russisch. Ich glaube, er stammt aus Bessarabien. Er fährt nie ins Ausland.«
»… Bilder, Musik?«
»Man sagt, er hat für solches Zeug nichts übrig.«
»Also nur er selbst und seine Messer und Sägen? Er und der Tod? Nur interessiert an den Grundtatsachen? Wie steht’s mit Sex?«
»Das ist es gerade. Er hat eine Freundin, die ich zufällig kenne. Ich habe die Frau vor acht oder zehn Jahren in Zürich kennengelernt. Sie ist sehr anständig, geschieden. Sie leben zusammen.«
»Und die soll ihn überreden, dass er Valeria untersucht?«
»Wie schätzt du Gherea ein?«
»Deine Familie war von Rang und Stand, und er war ein Tölpel. Sie haben ihn aufgenommen, weil er für Chirurgie begabt war. Er hat sie verabscheut. Hat gedacht, es sei idiotisch, dass sie mit allen ihren Privilegien Kommunisten sein wollten. Eine Bauernmentalität. Er hat sich darauf konzentriert, die Cushing-Technik von deinem Vater zu lernen, und dann zum Teufel mit ihm.«
»Das stimmt so ziemlich«, sagte Minna. Cordes schnelle Auffassungsgabe verfehlte nie, ihr Spaß zu machen. Sie verließ sich darauf, dass er die Dinge beim richtigen Namen nannte.
»Gewiss, ich sehe ihn vor mir. Er ist der harte Machttyp, der mit Werkzeug und Finger in die Köpfe der Menschen eindringt. Die Arbeit am Hirn muss die reinste Hölle sein. Retten oder töten. Hasst Gefühlsduselei, dramatisiert sich als Monstrum, vielleicht gibt’s da noch eine Bauernmutter, die sich draußen im Land immer noch um ihn grämt. Er besucht sie nie. Da gibt es nur diese ergebene Frau, die Zutritt zu seinen weicheren Gefühlen hat.«
»Ich will mit ihr reden. Tanti Gigi hat die Nummer für mich rausgesucht.«
»Kann nichts schaden.«
»Meinst du, ich sollte es tun?«
»Ja, sicher. Lass Gherea einen Blick auf die Röntgenbilder werfen.«
Die Röntgenaufnahmen würden einen Schatten über dem Hirn zeigen, so wie ihn Corde schon einmal in einem Film gesehen hatte. Ein gewitzter Mikrofotograf hatte es fertiggekriegt, eine winzige Linse in die Halsschlagader einzuführen und sie bis in den Schädel hochzuschieben, wodurch er eine Hirnblutung auf seine Kamera bannte. Man sah, wie das Blut herauszusickern begann. Erst flimmerte es in einem dicken schwarzen wolligen Gespinst. Dann füllte es sich plötzlich auf, verdickte sich, eine schwarze Flut, das Bild des eigentlichen Todes. Die Erinnerung an diese im Fernsehen übertragene Dokumentation war etwas, was Corde sich lieber versagte.
Er dachte: Gewiss, lass Minna diesen famosen Chirurgen das Gerinnsel ansehen, lass ihn seine Geste machen. Es wird nichts helfen. Aber lass sie wenigstens darum ringen. Valeria hat für sie gerungen. Wenn man Minna auf die Erde zurückholte, konnte sie eine Tigerin sein. Er hatte es erlebt. Kämpfen war natürlich durchaus unrealistisch. Unter den Umständen würde es nichts fruchten. Der Oberst hatte sie alle am Kanthaken, wie John L. Sullivan. Aber vom Gefühl her war es notwendig, darum zu kämpfen.
Corde hatte Anekdoten über Valerias würdevolle Weigerung gehört, wieder in die Partei einzutreten, nachdem man ihr »vergeben« hatte. Sie sagte dem Zentralkomitee, dass sie ihren verstorbenen Mann geliebt habe und sie ihn auch noch geliebt hätte, wenn er ihr untreu geworden wäre, sie ihn aber niemals wieder bei sich aufgenommen hätte. In Sachen Selbstachtung war sie das Vorbild für ihre Tochter, ihre Schwester und alle Damen ihres Kreises. Hätte sie ernste Schwierigkeiten gemacht, dann wäre es für das Regime ein Leichtes gewesen, sie aus dem Wege zu räumen. Aber dies hätte so manchen alten Akademiker und Arzt und Pädagogen ihrer eigenen aussterbenden Generation empört. Warum diese alten Käuze in Aufruhr bringen? Außerdem war sie eine vernünftige alte Person gewesen, voller Umsicht, und wusste genau, wie weit sie gehen konnte; daher ließen sie sie im besten ihrer Krankenhäuser sterben. Aber sie hatten keine Lust, der Tochter gefällig zu sein. Da kam die Tochter aus den Vereinigten Staaten geflogen, umflattert von ihren Wimpeln wissenschaftlicher Prominenz, erschien mit diesem Dekan von ihr und verlangte eine Sonderbehandlung. Sie hatte vergessen, wie die Dinge hier lagen. Vielleicht hatte sie es nie gewusst. Sie wollten der Tochter ein paar Knüffe versetzen. So war die Lage in den Augen ihres grübelnden Mannes. Die naive Gigi hielt sich für die Nachfolgerin und trat vor, um an Stelle ihrer gefallenen Schwester weiterzumachen. Auch sie stellte sich schützend vor Minna, wie es Valeria getan hatte. Alle diese Kämpfer. Corde ließ die Situation Revue passieren, als ob er darüber hinwegraste, aber seine Schlüsse waren trotzdem scharf. Die Damen kamen zu nichts. Sie konnten zu nichts kommen. Aber sie wollten es jedenfalls versuchen. Auch er wollte versuchen.
»Lass uns austrinken und dann schlafen«, sagte er.
»Du hast noch nichts aus Chicago gehört?«, fragte sie. »Nichts von Miss Porson?«
»Noch nicht.«
»Auch nicht von Vlada oder von Sam Beech?«
Minna hatte Interesse an dem Beech-Projekt. Beech war ein Kollege an der Universität, ein gefeierter, angesehener, reiner Wissenschaftler, sehr prominent im Pantheon, der den Dekan um Hilfe gebeten hatte, einige seiner Ideen der breiten Öffentlichkeit nahezubringen. Vlada war eine serbische Freundin von Minna. Sie waren gemeinsam Fachstudenten in Harvard gewesen. Beide waren lebenslängliche Studenten. Minnas altes Lyzeum war ganz in der Nähe. Man konnte seine Umrisse selbst jetzt weiter oben in der Straße sehen, wenn man es aushielt, die Tür zum stuckbesetzten Balkon zu öffnen (es konnte draußen nicht viel kälter sein als im Zimmer). Dieses Lyzeum hatte sich offenbar auf die »strengen« Disziplinen spezialisiert. Hinter dem eisernen Vorhang waren Geschichte und Literatur windige Fächer, aber Mathematik und die physikalischen Wissenschaften waren unbestechlich.