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Toni Ragaz liegt zwölf Meter unterhalb seines offenen Bürofensters tot auf dem Gelände der ETH. Für die ermittelnde Zürcher Polizei ist das Verdikt schnell klar: Selbstmord. Nicht so für den Schweizer Nachrichtendienst des Bundes. Dieser verfügt über Hinweise, dass der geniale Physikstudent an einer epochalen Erfindung gearbeitet hat und kurz vor dem Durchbruch stand. Mike Bohrer wird auf den Fall angesetzt und entdeckt schnell ein paar Ungereimtheiten in Tonis universitärem Umfeld. Als Mike seine Ermittlungen vertieft, fliegen ihm plötzlich die Kugeln um die Ohren. Ein wechselseitiges Katz und Maus Spiel quer durch Europa beginnt. Wer wird am Schluss das Geheimnis der fliegenden Pferde in den Händen halten?
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Markus Christoph Bucher kam 1960 als jüngstes Kind einer grossen Bauernfamilie in Gunzwil, zwanzig Kilometer nördlich von Luzern, auf die Welt. Als er mit vierzehn Jahren eine Gitarre von seinem ältesten Bruder geschenkt bekam, fing er an, eigene Lieder zu komponieren und diese im Familien- und Freundeskreis vorzutragen. Mit achtzehn Jahren hatte er bereits seine eigene Band. In den folgenden Jahren trat er auch als Alleinunterhalter auf und spielte in verschiedenen Musicals mit. Andere Menschen zu unterhalten, ist seine Passion. Heute hat er eine zusätzliche Möglichkeit dafür gefunden: Die Abenteuer von Mike Bohrer. Darin verarbeitet der ausgebildete Wirtschaftsinformatiker die Reisen und Kontakte, die er in seinen über dreissig Jahren als erfolgreicher Inhaber einer internationalen Handelsfirma erlebt hat. Wie viel Autobiographisches in Mike Bohrer liegt, verrät der Autor nicht.
Ohne Eure Hilfe, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank an:
Monika Wey-Fuchs, Cordula Caminada, Rosemarie und Kandid Bucher, Bruno Heini, Jimmy Käch, Irène Kost, Stephan Roos
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Malaga
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Zurück in Zürich
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Nürnberg
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Epilog
Er hiess Toni Ragaz und genauso sah er aus. Schlank, etwas über einen Meter achtzig gross, kantiges Gesicht, kräftiges, dunkles Haar. Genauso wie man sich einen jungen Mann aus dem Prättigau vorstellt. Der Traumschwiegersohn jeder Mutter. Leider hatte er einen grossen Nachteil: Er lag tot auf dem Campus der ETH in Zürich, zwölf Meter unterhalb eines offenen Fensters.
„Wieder mal ein Selbstmörder“, wurde die alarmierte Polizeistreife vom Nachtwächter des Sicherheitsdienstes begrüsst, als sie kurz vor halb sechs Uhr eintraf. „Kenne ihn. War einer von diesen durchgeknallten Studenten. Hatte diesen irren Blick. Ganze Nächte durchgearbeitet. Meinte wohl er könne fliegen.“ Er griff nach dem Schlüsselanhänger aus Hartgummi in Form eines Pferdes mit Flügeln, welcher neben dem Toten lag.
„Nichts anfassen!“ Die Polizistin hielt ihn am Arm zurück. Mit einem Leinentuch deckte sie die Leiche zu, während ihr Kollege den Unglücksort grossräumig mit rot-weissem Band absperrte.
Eine Viertelstunde später traf der Ermittler von Leib und Leben der Zürcher Stadtpolizei ein. Die Polizistin informierte ihn über die aktuelle Situation und stellte ihm den Wachmann vor, der die Leiche gefunden hatte.
„War gerade auf meinem letzten Kontrollgang und habe das offene Fenster entdeckt. Hab rausgeschaut und ihn hier unten liegen sehen. Spinner! Springt einfach raus.“
„Sie vermuten Selbstmord?“
„Logisch. Was denn sonst?“
„Ich habe schon ein paarmal Tote gesehen, welche aus einem Fenster gesprungen waren. Sie lagen alle auf dem Bauch, weil sie sich auf das Fenstersims oder Balkon stellten und bewusst den Schritt machten und sich nach vorne fallen liessen.“
„Ja und?“
Der Kriminalpolizist ging in die Hocke und zog das Tuch etwas zur Seite. Er sah in die starren Augen des Toten. „Warum liegt er auf dem Rücken?“
„Conny! Kannst du mal an der Rampe nachschauen? Da steht ein DHL Fahrer und will ein paar Pakete abgeben.“ Mike Bohrer betrat wie jeden Morgen kurz nach acht Uhr das Büro seiner kleinen Firma, die mit Geschenkartikeln und Glückwunschkarten handelte.
Seine langjährige Lagermitarbeiterin, Cornelia Bitterli, sportlich und mit kurzen Haaren, schnappte sich den gelben Postwagen und fuhr mit dem Warenlift zur Rampe hoch. Nach ein paar Minuten kam sie mit drei grossen Paketen zurück, welche von einem Grosskunden retourniert worden waren.
„Soll ich die bis am Freitag zwischenlagern oder gleich in den Container schmeissen?“
Mike spürte den sarkastischen Unterton in der Frage, denn viele unverkäufliche Ware stapelte sich in seinem Lager. Er wusste auch, dass sich Conny immer wieder fragte, wie das rentieren konnte. Aber er zahlte ihren Lohn immer pünktlich und solange dies so blieb, war ihre Welt in Ordnung.
„Stell es mal ins Reservelager! Ich sehe es mir bei Gelegenheit an."
Mike sass in seinem Bürostuhl und hatte den Computer gestartet. Vor ihm auf dem schwarzen Schreibtisch war ein Foto, das eine Frau mit drei Kindern zeigte. Ein Schnappschuss aus den diesjährigen Sommerferien in Südfrankreich beim Minigolf-Spielen. Leider war er nur eine Woche mit dabei gewesen, weil er in der zweiten Ferienwoche einen wichtigen geschäftlichen Termin wahrnehmen musste.
Geschäftlich war zwar richtig. Aber es war nicht die Art von Geschäft, wie es alle von ihm dachten. Und es war auch nicht ein Besuch an der Münchner Messe ‚Trendset‘, an der die neusten Entwicklungen in der Geschenkartikelbranche ausgestellt wurden. Er war zwar in München, genauer gesagt in Dachau, aber mit Glückwunschkarten hatte er sich definitiv nicht beschäftigt. Höchstens mit Trauerkarten kam ihm spontan in den Sinn, als er sich die tragischen Ereignisse nochmals durch den Kopf gehen liess.
Seine kleine Firma, die ‚Geschenke und Grusskarten Connection‘ - oder kurz GGC wie sie sich am Telefon jeweils meldeten - hatte tatsächlich eine funktionierende Struktur mit Aussendienst und Lager und seine fünf Mitarbeiter holten Aufträge herein und belieferten Kunden; aber im Grunde war das nur noch eine Nebentätigkeit.
Da seine Firma in Dietikon, einem Vorort von Zürich, über eine halbe Stunde Autofahrt von seinem Wohnort Muri im Freiamt weg war, ahnte niemand aus seinem Familien- und Freundeskreis etwas von seiner wirklichen Arbeit; auch nicht Moni. Sie kümmerte sich um die drei heranwachsenden Kinder und arbeitete als Teilzeitkraft in ihrem erlernten Beruf als Pflegefachfrau im nahegelegen Krankenhaus. Dazu kam, dass seine beruflichen internationalen Lieferantenbeziehungen immer ein gutes Alibi waren, wenn Aufgaben im Ausland erledigt werden mussten. Die Besuche bei den Geschäftspartnern waren, falls sie überhaupt stattfanden, immer kurz gehalten, was genügend Zeit liess, um die eigentlichen Aufgaben zu erledigen.
„Mike! Telefon für dich!“ Conny rief aus dem Lager. „Herr Meier von Amadeos Geschenkeparadies. Ich verbinde.“ Amadeos Geschenkeparadies in Bern war gemäss Umsatzstatistik einer der Top Five Kunden der GGC und dazu ein sehr angenehmer. Er hatte bisher nie Ware zurückgeschickt.
„Hallo Herr Meier“, meldete sich Mike, als er den Hörer abnahm. „Wie geht es Ihnen?“
Meier war wie immer in Eile und sprach mit seiner tiefen Stimme: „Gut. Wir stellen unsere Boutique um. Das würde ich gerne mit Ihnen besprechen. Wie schnell können Sie bei mir in Bern sein?“
„Wenn es sein muss, kann ich heute Nachmittag bei Ihnen vorbeischauen.“
„Vierzehn Uhr.“ Meier hatte grusslos aufgelegt.
Kathy Ulrich schaute traurig in das Licht der flackernden Kerze. Vor einer Stunde hatte sie die Nachricht von Tonis Selbstmord erhalten. Sofort hatte sie ihre beiden Mitbewohner über die schreckliche Neuigkeit informiert. Seitdem sassen diese apathisch am Küchentisch und starrten vor sich hin. Sie aber konnte nicht einfach untätig rumsitzen. Tonis Tod ging ihr sehr nahe. In der Ecke hatte sie mit Kieselsteinen ein Herz geformt und ein ausgeschnittenes Portraitfoto mittendrin platziert. In einer Schublade hatte sie eine Kerze gefunden. Diese hatte sie dazugestellt und angezündet.
Es klingelte. Das musste der Polizist sein, den das Sekretariat angekündigt hatte.
Kathy erhob sich und ging langsam zur Türe. Sie öffnete. Ein Mann Mitte Dreissig stand vor ihr und hielt einen Ausweis hoch.
„Kächer, Stadtpolizei Zürich. Ich untersuche den Tod von Toni Ragaz.“
„Hallo. Ich heisse Kathy. Kommen Sie doch bitte herein.“
Kathy ging voraus in die geräumige Küche, die zugleich als Aufenthaltsraum und Stube diente. Ihre beiden Kollegen hoben den Blick und murmelten eine Begrüssung. Kathy bot Kächer einen Platz an.
„Das ist Stephan“, stellte sie den kleineren der beiden Männer vor.
„Nennen Sie mich Steven, wie Hawkins. Ich habe Toni noch nicht so gut gekannt. Ich studiere erst seit diesem Sommer an der ETH; Informatik.“
„Carlos. Aber alle hier nennen mich Joe“, sagte der andere in Hochdeutsch mit einem leichten südländischen Akzent. „Ich hab es geahnt, dass es eines Tages so weit kommen wird. Man kann nicht Tag und Nacht arbeiten, ohne psychischen Schaden zu nehmen. Und in letzter Zeit war es immer schlimmer geworden. Er ist ja schon lange nicht mehr zu seinen Eltern gefahren und schon gar nicht mit uns auf ein Bier in die ‚Festhalle‘“, ereiferte sich Joe.
„Das war ja nie sein Ding gewesen. Für ihn hat es immer nur seine Arbeit gegeben. Aber ich hätte nie gedacht …“ Kathy brach mitten im Satz ab. „Selbstmord - Warum?“
Steven sass nur still da.
Der Kommissar ergriff das Wort. „Gibt es noch weitere Mitbewohner?“
„Nein nur wir drei“, antwortete Kathy.
„Und gab es ausser der Überarbeitung Anzeichen, die auf Suizid-Absichten hindeuteten?“
Kathy schüttelte den Kopf. „Klar, Toni war schon ein seltsamer, verschlossener Kauz und er hatte permanent Angst, dass man ihm seine tollen Ideen klauen würde. Aber wir haben das immer mit Humor genommen.“
„Er war zu gescheit“, platzte es aus Steven heraus. „Er hatte einen IQ von 196. Wir sind gleich alt. Ich bin gerade mal im ersten Semester und er hat letztes Jahr schon seinen Doktor gemacht. Wenn du mit zehn Jahren schon ins Gymnasium kommst und mit fünfzehn die Matura mit einem Notendurchschnitt von 6.0 abschliesst, dann bist du automatisch immer der Aussenseiter. Toni ist in der Schule bestimmt gemobbt worden, aber hier war er in einem Umfeld, das zu ihm passte und das ihn so nahm, wie er war. Ich verstehe das nicht.“
„Was denken Sie? Wäre es möglich, dass er gar nicht selbst gesprungen ist. Wäre es möglich, dass ihn jemand geschubst hat? Hatte er Feinde? Neider?“
Drei Augenpaare schauten Kächer entgeistert an.
„Sie meinen Mord?“, flüsterte Kathy und öffnete beim Aussprechen ihre grossen blauen Augen noch mehr.
„Vielleicht ist Ihnen in letzter Zeit etwas Spezielles aufgefallen. Hatte er Geldsorgen oder neue Freunde.“ Als keine Antwort kam ergänzte Kächer: „Wie steht es mit Frauengeschichten? Hatte er eine eifersüchtige Freundin?“
Ein kleines flüchtiges Lächeln umspielte für einen kurzen Moment die Lippen von Kathy. „Freundin? Da sind sie bei Toni an der falschen Adresse.“
Kächer hakte gleich nach. „Wieso? Schwul?“
Wieder das wissende Lächeln im Gesicht von Kathy. „Nein, nicht schwul. Ganz einfach völlig desinteressiert. Toni war ein Wunderkind. Er lebte in seiner eigenen Welt. Frauen hatten da keinen Platz. Für ihn gab es nur die Arbeit und die Erfolge, welche er im Institut erzielte.“ Ein Hauch Resignation schwang in dieser Aussage mit. „Asexuell würde es wohl am ehesten treffen.“
Kächer schaute Tonis Portrait nochmals an. Obwohl es aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und etwas grobkörnig war, war klar zu erkennen, dass Toni Ragaz zu seinen Lebzeiten mit guten Chancen an den Mister Schweiz Wahlen hätte teilnehmen können.
„Sind sie sicher? So wie ich das Foto interpretiere, waren die jungen Frauen bestimmt scharenweise hinter ihm her. Und er macht den Eindruck, als ob er das durchaus fördern wollte. Er sieht gepflegt aus, perfekt rasiert, die Haare sauber gekämmt und gebügeltes Hemd.“
„Er war ein Kontrollfreak“, nahm Kathy den Faden wieder auf. „Das Aussehen hatte nichts damit zu tun, dass er jemandem imponieren wollte. Es musste einfach alles bei ihm stimmen. Was hat er mich oft zusammengestaucht, weil ich meine Kaffeetasse nicht in die vorgesehene Halterung in der Abwaschmaschine gelegt hatte. Oder meine Schuhe nicht in Reih und Glied dastanden. Eine saubere Rasur, gebügelte Kleider, ein klarer Tagesablauf: Das war sein Leben und das gab ihm den Halt, den er sonst kaum hatte. Checken Sie mal sein Handy, wenn Sie mir nicht glauben. Auf Facebook hat er sich gar nicht angemeldet. ‚Was soll ich damit?‘, hat er mich gefragt, als ich ihn als Freund haben wollte.“ Schnell ergänzte sie leicht errötend: „Ich meine natürlich als Facebook-Freund. Und die Kontakte per E-Mail und WhatsApp fand er zwar durchaus interessant, sie finden als Kontakte aber nur die wichtigsten Physikprofessoren auf der Welt, uns drei und seine Mutter.“
„Wie steht es mit seiner Familie?“, nahm Kächer das Stichwort gleich auf.
„Da ist er nur noch sehr selten hingefahren, nur wenn es unbedingt sein musste. Meistens zu hohen Feiertagen, weil er damit seiner Mutter einen Gefallen machte und sich so seine Abwesenheit besser erkaufen konnte. Zu seinem Vater hat er gar keinen Bezug. Dieser hat seinen hochbegabten Sprössling nie geschätzt. Als Bergbauer hat er sich immer einen Sohn gewünscht, der auf dem Hof anpacken kann. Bestimmt nicht einen Klugscheisser, der intelligenter als der Dorflehrer ist und immer wieder zu Gerüchten Anlass gab. Dabei hatte er sich so gefreut nach drei Töchtern endlich einen Sohn zu haben, der den Hof übernehmen kann.“
Kächer schaute kurz in seinem Notizbuch nach. „An was für einem Projekt hat er gearbeitet?“
Kathy und Steven schauten beide sofort zu Joe.
„Du hast mit ihm am gleichen Institut gearbeitet. Uns hat er nie etwas von seiner Arbeit erzählt. Aber du hast bestimmt was mitbekommen?“, sagte Steven.
Joe überlegte. „Genaueres weiss ich nicht. Bei uns hat ja jeder seine eigenen Projekte. Toni hat nie gross über seine Arbeit gesprochen. Um Rat fragen brauchte er uns nicht, denn er war uns allen ja intellektuell völlig überlegen. Und einweihen wollte er uns sowieso nicht; nicht dass ein anderer seine Idee gross rausbrachte. Ich weiss nur, dass er mit der Gravitation experimentiert hat und einmal hat er in seiner nüchternen Art erwähnt, dass er kurz vor dem Durchbruch stehe. Er hatte immer dieses Pegasus-Ding bei sich und im Institut zirkulierte das Gerücht, dass er fliegende Pferde züchtet, was natürlich ein Blödsinn ist.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Die grossen Entdeckungen in unserem Bereich sind ja fast alle schon gemacht, aber wenn man Pferde zum Fliegen bringt, könnte man wohl einen Preis gewinnen.“
Er stockte und suchte in seinem Hirn, ob er noch einen Hinweis finden könnte. Schliesslich sagte er: „Aber an was immer er da gearbeitet hat, ich denke, es hat nicht funktioniert. Und als er das merkte, hat sein überdimensioniertes Gehirn durchgedreht. Mit Fehlern konnte er nie umgehen und ein Versagen in seiner Kernkompetenz, der Physik, war definitiv zu viel, um es zu ertragen. Ich denke, dass es heute Morgen so weit war. Er hat festgestellt, dass seine langen Studien umsonst gewesen sind und …“ Es folgte eine unangenehme Pause.
„Kann ich noch einen Blick in sein Zimmer werfen?“, fragte Kächer.
Kathy stand sofort auf und bat Kächer, ihr in den ersten Stock der Studentenwohnung zu folgen. Bei der Treppe geradeaus war die Toilette und links und rechts je ein Zimmer. So sah auch der zweite Stock aus. Tonis Zimmer war auf der rechten Seite. Auf der anderen Seite schlief Steven.
„Hat heute schon jemand von Ihnen das Zimmer betreten?“
„Nein. Wir wussten ja nicht, was genau passiert. Ob die Polizei oder der Vermieter oder die Familie … Ausserdem hatte er es nie gern, wenn man in sein Zimmer ging.“
Kächer drückte die Klinke hinunter und trat ein. „Sind die Zimmer nicht verschlossen?“
„Nein. Wir haben nichts, was sich zu stehlen lohnt. Ausserdem verkehren hier nur Leute, die wir gut kennen und denen wir vertrauen.“
Der erste Eindruck unterstützte die vorherigen Aussagen von Kathy. Es war alles pingelig aufgeräumt und sauber. Das Bett war gemacht. Daneben auf dem Nachttisch stand nur eine moderne LED-Leselampe. Die Bücher im Gestell waren nach Grösse sortiert und auf dem Bürotisch waren die Stifte parallel zur seitlichen Tischkante aufgereiht. Daneben standen der Laptop und der obligatorische HP-Farblaserdrucker. Kächer klappte den Bildschirm hoch. Sofort erschien der Bildschirmschoner: Pegasus, das Pferd mit den Flügeln, auf den Hinterbeinen stehend, bereit für den Absprung um sich in die Lüfte zu erheben. Unten links blinkte ein Text: „Passwort: …“.
„Sie kennen das nicht zufällig?“, fragte Kächer und zeigte auf den blinkenden Punkt.
Kathy lachte resigniert auf. „Keine Chance. Toni hätte niemals jemandem ein Passwort verraten. Und denken Sie ja nicht, dass es ‚1234‘ oder ‚Passwort‘ ist. Toni schützte seine Arbeit. Und es würde mich nicht wundern, wenn da weitere Sicherheiten eingebaut wären. Toni war nämlich auch computertechnisch auf der Höhe und hat eigene Verschlüsselungsprogramme geschrieben.“
Kächer klappte den Computer wieder zu. „Sie haben nicht einen Abschiedsbrief oder etwas Ähnliches gefunden?“
„Nein. Ich glaube nicht, dass das zu ihm gepasst hätte. An wen hätte er ihn schreiben sollen?“, fragte sie mit erstickender Stimme. Es floss beinahe eine Träne aus ihren Augen.
Als sie die Küche wieder erreicht hatten, sass Steven noch immer gedankenverloren am Tisch. Joe war aufgestanden und tippte etwas auf seinem I-Phone. Er sah gut aus mit seinem Dreitagebart. Ausserdem betonten seine an den Knien aufgeschnittenen Designer Jeans und das Camp Davis T-Shirt seine sportliche Figur. Er war nicht so asexuell wie Toni Ragaz, wusste Kathy. Er hatte schon ein paar Frauen … geküsst.
„Vielen Dank für die Mithilfe. Falls ich noch etwas brauche, melde ich mich.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Kächer von den drei Mitbewohnern.
Kathy brachte ihn zur Tür und schloss diese erleichtert.
Kommissar Kächer fuhr mit seinem Wagen direkt zurück ins Sekretariat. Er wusste, dass es in der Stadt Zürich sinnvoller wäre mit dem Tram zu fahren. Mit dem Auto kam man unter Tags kaum vorwärts. Dies vor allem wegen der zahlreichen Baustellen, die den Verkehr praktisch zum Erliegen brachten. Es gab Stimmen, die behaupteten, dass dies von der Grün-Sozialdemokratischen Regierung so beabsichtigt war. Der Individualverkehr sollte nach und nach aus der Stadt verbannt werden. Ihm war es egal. Er genoss die Zeit, wenn er im Auto sass und den Gedanken nachhängen konnte.
Er ging nochmals alle Informationen von heute Morgen durch. Er konnte sich inzwischen ein sehr gutes Bild von dem jungen Genie machen.
Der Sicherheitsmann war zwar ein Schwätzer, aber gemäss den Abklärungen absolut integer. Er hatte Kächer glaubwürdig versichert, dass er keine fremden Personen an diesem Morgen im Gebäude gesehen hatte. Dies unterstützte auch die Untersuchung von Tonis Büro. Alles war tadellos aufgeräumt und keine Spuren von einer Auseinandersetzung. Es gab keinen Hinweis, dass Toni zum Todeszeitpunkt nicht alleine war.
Kurz nach sieben Uhr war Frau Professor Dr. Rose-Marie Bosshard eingetroffen. Sie leitete das Institut für Physikalische Grundlagenforschung, an welchem Toni als Assistent angestellt war. Erst vor kurzer Zeit hatte sie von der EPFL Lausanne nach Zürich gewechselt. Von Toni Ragaz hatte sie in den höchsten Tönen geschwärmt. „Er wäre durchaus fähig gewesen, einmal für den Nobelpreis nominiert zu werden. Er hat einen natürlichen Drang für die Wissenschaft und ein immenses Wissen. Zusätzlich die Fähigkeit anders und in neuen Dimensionen zu denken. Deshalb habe ich ihn nicht mit administrativen Aufgaben aufgehalten. Er hat seine eigenen Projekte verfolgt.“ An welchen Projekten er aber genau geforscht hat, konnte oder wollte die Frau Professor nicht erklären. Nur dass sie es sehr bedauere, dass dieses Wissen jetzt für immer verloren sei. Über sein Privatleben hatte sie nichts gewusst und war wie alle hier im Institut vom mutmasslichen Selbstmord betroffen, aber nicht total überrascht. Wer wisse schon, welche Wahnvorstellungen durch den Kopf eines solch aussergewöhnlichen Genies gingen.
Auch die kurzen Gespräche mit den anderen Fakultätsangestellten und der Sekretärin ergaben nichts Brauchbares. Toni Ragaz war ein Einzelgänger, der den Kontakt mit anderen Menschen scheute.
Und vorhin das Gespräch in Tonis WG. Die hübsche, blondhaarige Kathy, die alles managte. Der schmächtige, bleiche Informatiker und Tonis mediterraner Arbeitskollege. Alle waren sehr erschüttert über Tonis Tod, bestätigten aber mit ihren Aussagen die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes.
Es war kurz nach zehn Uhr, als er vor dem Polizeigebäude einbog. Er betrat sein Büro. Sein Kollege informierte ihn kurz über das Telefonat mit Tonis Eltern. Er hatte zuerst die Mutter am Apparat gehabt. Diese hatte kurz vorher von der Bündner Polizei Besuch erhalten und war am Telefon kaum ansprechbar. Die älteste Schwester von Toni hatte dann zurückgerufen. Sie schien nicht erstaunt zu sein. Toni galt auch innerhalb der Familie Ragaz als Sonderling.
Kächer setzte sich auf seinen Bürostuhl und schaute den vor ihm liegenden Papierstapel mit pendenten Fällen an. Die politische Sparwut machte auch vor der Polizei nicht halt. Sie waren völlig unterdotiert. Sollte er noch mehr Zeit in den Fall Toni Ragaz investieren oder abschliessen?
Alles sprach für Selbstmord. Wenn die Forensik, deren Bericht er bis am Mittag erwartete, nicht neue Fakten auf den Tisch brachte, konnte Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden. In diesem Fall würde er den Fall definitiv zu den Akten legen.
Doch eine Frage liess ihn nicht los: Warum lag Toni Ragaz auf dem Rücken?
Konnte es ein Unfall sein? War er unvorsichtigerweise bei offenem Fenster rückwärts gestolpert? Oder dachte dieses Superhirn auch bei der ultimativen Entscheidung anders?
Kächer hatte kürzlich gelesen, dass für einen Selbstmörder die „Gefahr“ zu überleben kleiner war, wenn er rückwärts sprang.
Mike Bohrer fuhr in seinem BMW 505 Kombi auf der A1 von Zürich nach Bern. Wie jeden Tag, war zur Mittagszeit das Verkehrsaufkommen enorm. Mike fuhr praktisch permanent im zweispurigem Kolonnenverkehr Richtung Bern. Sogar zwischen Rothrist und Egerkingen, wo die Autobahn vor ein paar Jahren auf sechs Spuren ausgebaut worden war, hatte Mike nicht freie Fahrt.
Im Autoradio spielten sie gerade das Mittagsquiz und die Verkehrsdurchsage liess nichts Gutes erhoffen. Stau an einer Baustelle vor Bern mit einspuriger Verkehrsführung. Mike hatte es, soweit er sich erinnern konnte, nie geschafft, die Strecke von Zürich nach Bern zurückzulegen ohne mindestens eine Baustelle zu passieren. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Autobahnen in der Schweiz nicht für die Autofahrer da waren, sondern für die Tiefbaufirmen, welche mit einer gleichmässigen Bautätigkeit ihr Personal auslasteten. Nun, er konnte es nicht ändern. Die Baustelle bedeutete auch heute wieder mindestens dreissig Minuten Verzögerung. Zum Glück hatte er aus Erfahrung genügend Reserve eingeplant.
In Bern angekommen, machte er sich gar nicht die Mühe, einen Parkplatz zu finden. Das Parkhaus am Bahnhof war zwar schweinisch teuer, aber einfach zu erreichen. Und den Verkehr in der Innenstadt selbst wollte er sich am Nachmittag nicht zumuten.
Nachdem er sich einer der letzten freien Parkplätze ergattert hatte, fuhr er mit dem Lift in die Bahnhofspassage hinunter. Er kämpfte sich durch die vielen Leute, die sich unter Tags im Bahnhof versammelten. Zahllose Studenten waren unterwegs und massenhaft Berufstätige, welche die täglichen Verkehrsstaus satt hatten und jetzt mit dem öffentlichen Verkehr pendelten, was diesen neuerdings ebenfalls fast zum Erliegen brachte.
Es blieb noch Zeit für einen kurzen Mittagsimbiss an einem der Takeaway Stände. Mike entschied sich für Sushi. Pizza, Hamburger und Ähnliches bekam er mit drei Teenagern im Haushalt sonst schon zur Genüge.
Raus aus dem Bahnhof und hinein in die Spitalgasse, über den Platz vor dem Bundeshaus Richtung Marktgasse. Nach fast zweihundert Metern unter den Arkaden erreichte er auf der rechten Seite das bunte Schild, das darauf hinwies, dass man bei „Amadeos“ die besten Geschenkideen hatte und die neusten Gags soeben eingetroffen seien.
Mike musterte sich kurz in der reflektierenden Schaufensterscheibe und strich sich mit den Händen durch die kurzgeschnittenen Haare, welche den Ansatz zu einer Glatze kaschieren sollten. Dann zog er die Hosen etwas hinauf und klopfte dreimal auf den Bauch. Er war zwar sportlich gut in Form, aber er hatte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Das verlieh ihm ein eher stämmiges Aussehen. Wenn er sich aber nur Frontal und nicht im Profil anschaute, sah er ganz passabel aus. „Des passt scho!“, imitierte er seinen bayrischen Lieferanten und betrat das Ladenlokal.
Anstatt einer Türglocke hörte man beim Reinkommen das Gelächter von Geistern. Dieses kam von kleinen Gespensterpuppen, die mit Bewegungssensoren ausgerüstet waren. Der ganze Laden war in Orange und Schwarz gekleidet und die Dekoration bestand vor allem aus Kürbissen in den verschiedensten Formen und Materialien. Es war eindeutig zu erkennen, dass Halloween vor der Tür stand.
In einer Ecke kniete ein weiblicher Teenager in zu grossen Hosen und schaute sich Kaffeetassen mit zweideutigen Sprüchen an. Im Kassenbereich lungerte ein kräftiger Junge herum, auf dessen Unterarm ein farbiges Tattoo prangte. Scheinbar suchte er ein Geschenk für einen Geburtstag. Daneben bei einem Kartenständer stand eine Frau mit neongelber, stacheliger Frisur und einer orangen Strähne drin.
„Hallo Alex. Tolle Frisur. Ist die neu?“, sagte Mike, als er die jugendliche, magersüchtige Frau erblickte, die gerade Karten einsortierte.
„Hey Mike! Mein Lieblingslieferant!“, rief Alex erfreut. „Ja. Ich hatte genug von Blau und habe auf Gelb gewechselt. Die orange Strähne kommt nach dem ersten November wieder raus. Aber was willst du denn hier? Dein Aussendienst war erst letzte Woche hier und die Ware habe ich gar noch nicht ausgepackt. Oder bringst du schon die Weihnachtsware?“, fragte sie erschrocken.
„Nein, nein. Weihnachtsware bei euch erst im November. Das hast du mir …“
Ein lautes Scheppern von zerbrochenem Porzellan unterbrach Mike. Ein lauter Fluch kam aus der Ecke, wo das Mädchen auf eine zerbrochene Tasse blickte. Alle Augen waren in diesem Moment auf sie gerichtet. Alex machte ein paar Schritte auf sie zu, doch ein Schrei vom Verkaufstisch her liess sie innehalten und umdrehen.
Da stand Mike neben der Kasse und hatte den Jungen irgendwie an der Hand gefasst. Dieser war vor Mike auf den Knien und schrie wie von der Tarantel gestochen. In der freien Hand hielt er eine neongelbe Tasche!
„Arschloch! Lass mich sofort los!“
„Hör mal Kleiner. Hat man dir nicht beigebracht, dass man nicht fremde Handtaschen stehlen darf? Ich möchte, dass du dich bei der Dame entschuldigst und dass du mir versprichst, dass du das nie wieder tun wirst.“
„Leck mich!“
„Wenn ich hier ein bisschen mehr drücke …“, Mike drehte seine Hand ein wenig ab und der Junge heulte auf, „… breche ich dir das Handgelenk.“
Ein weiterer Schrei. „Das ist ungesetzlich. Lass mich sofort los oder ich klag dich wegen Körperverletzung an.“
Mike musste schmunzeln. „Es gibt Hooligans, die haben ihre Opfer zu Krüppeln geschlagen und wurden von den Richtern zu lächerlichen Geldstrafen verurteilt. Denkst du wirklich, du könntest mich mit deiner Drohung einschüchtern?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte Mike ein bisschen nach. „Noch circa zwei Millimeter und es wird knacken. Das tut nicht nur tierisch weh, sondern es dauert etwa einen Monat, bis das wieder heil ist. Und du wirst es dein Leben lang spüren. Viel Spass dann beim Klauen.“
Der Junge war den Tränen nah und gab seinen Widerstand auf. Er stammelte weinerlich „Sorry. Tut mir leid. Mache ich nie wieder. Lassen Sie mich bitte los.“
Mike wusste, dass es nicht ehrlich gemeint war. Mit der Warnung, „Denk dran! Wenn ich dich das nächste Mal erwische, frage ich nicht mehr, sondern drücke durch“, liess er ihn frei.
Innerhalb von ein paar Sekunden waren der Junge und seine Komplizin aus dem Laden verschwunden.
Alex stand mit offenem Mund da. „Was zum Teufel ist gerade passiert?“
„Typisch für Diebesbanden: Ablenkung. In einer Ecke geschieht etwas. Die ganze Aufmerksamkeit geht in diese Richtung. Der andere hat Zeit, unbemerkt eine Tasche oder was anderes zu klauen. Ich habe so was erwartet, als ich hereingekommen bin. Die beiden sahen mir zu unkonzentriert aus. Haben mehr die Umgebung abgecheckt, anstatt sich für die Artikel zu interessieren. Als es geklirrt hat, habe ich nicht wie erwartet in die Ecke geschaut, sondern den andern in meinem Rücken beobachtet, wie er deine Tasche klauen wollte.“
„Und wieso ist er vor dir auf die Knie gegangen?“
„Das habe ich von einem Kumpel gelernt: Jiu Jitsu, eine Selbstverteidigungstechnik der Samurai. Es gibt da ein paar einfache Griffe, die er mir gezeigt hat. Da bringst du den stärksten Typen in deine Gewalt. Die Schmerzen sind unerträglich, obwohl es ganz locker aussieht. Soll ich es dir auch mal demonstrieren.“
Alex hatte noch das schmerzverzerrte Gesicht des Jungen vor sich und antwortete schnell: „Nein, nein, nicht nötig. Ich glaube dir das alles. Aber vielen Dank, dass du mir geholfen hast und meine neue Tasche gerettet hast. Du bist gerade im richtigen Moment aufgetaucht … Aber du bist ja wohl nicht deswegen hier, oder?“ Alex versorgte ihre Tasche wieder hinter dem Verkaufstisch in der unteren Ablage.
„Dein Chef will mich sprechen. Will wohl wieder mal den Laden umkrempeln. Ist er da?“
„Ja klar. Den Weg kennst du ja.“ Alex machte mit dem Arm eine einladende Geste und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Mike ging hinter dem Verkaufstresen durch. Er zwängte sich durch einen schmalen Gang, welcher mit grossen Kartons und furchterregenden Plüschtieren vollgestopft war, und verliess das Gebäude durch einen Hinterausgang. Ein kurzer prüfender Blick in beide Richtungen. Er überquerte die schmale Gasse und ging auf den gegenüberliegenden Eingang zu.
Wie die meisten alten Häuser in diesem schmalen Fussgängerdurchgang waren die ebenerdigen Fenster mit dicken Gitterstäben gegen Einbrecher gesichert und eine Kamera bewachte aus drei Metern Höhe den Eingang. Mehrere Klingelschilder wiesen auf die verschiedenen Bewohner hin.
Mike betätigte den untersten Knopf und schaute in die Kamera. Ein Summton erklang und die verriegelte Türe liess sich locker aufstossen. Mike trat ein und klopfte gleich links neben dem Treppenaufstieg bei der ersten Türe. Daran befestigt war ein Aufkleber, auf dem in farbiger Schrift stand ‚Amadeos Geschenkeparadies, Termine nur auf Voranmeldung‘. Diese Bürotür war mit einem Sicherheitsschloss gesichert. Soweit Mike wusste, war er der einzige Lieferant, der hier empfangen wurde. Seine Branchenkollegen wurden alle schon von Alex abgefangen und erledigten ihre Geschäfte mit ihr.
Nachdem sich das Guckloch kurz verdunkelt und wieder erhellt hatte, hörte er das Rasseln eines Schlüssels und Herr Meier stand in seinem Anzug mit Krawatte vor ihm. Mit einer Grösse von einem Meter sechzig, seinem immensen Brustkorb und dem unverkennbaren Bierbauch sah er mehr breit als hoch aus und machte fast einen quadratischen Eindruck. Auch sein Kopf wirkte quadratisch und sass auf einem kräftigen Stiernacken. Ein breiter Mund in seinem rötlichen Gesicht mit einer flachen Nase machte ihn zwar interessant, aber nicht besonders hübsch.
„Kommen Sie herein, Herr Bohrer“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und zog ihn am Arm zu sich ins Büro. „Wie geht es Ihnen?“ Und bevor Mike eine Antwort geben konnte, hatte sein Gastgeber die Türe bereits wieder hinter ihm geschlossen und abgesperrt.
Das Büro sah aus wie dem IKEA Katalog entnommen. Man hatte sich nicht Mühe gegeben, es persönlich auszustaffieren. Immerhin war der Aktenschrank mit verschiedenfarbigen Ordnern angefüllt, welche, wenn man der Beschriftung glauben konnte, Unterlagen bis ins letzte Jahrhundert enthielten. Ausserdem lagen auf den Regalen branchengerecht verschiedene Geschenkartikel verstreut.
Meier sagte zwar: „Bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Kaffee?“, erwartete aber keine Antwort. Wortlos nahm Mike sein Handy aus der Tasche und legte es in eine kleine schwarze Plastikschale neben den Computer. Inzwischen hatte Meier auf diesem eine Taste gedrückt und das Gespräch zwischen Amadeo Meier und Mike Bohrer über die Möglichkeit der neuen Gestaltung des Ladens mit dem Sortiment der GGC lief weiter.
Meier hatte auf seinem Handy einen Code eingetippt und der Aktenschrank verschob sich daraufhin lautlos um einen halben Meter nach rechts, sodass man sich durch einen schmalen Durchgang zwängen konnte. Hinter den beiden Männern glitt der Schrank wie von Geisterhand wieder an die alte Position.
„Verflucht!“, bemerkte Meier. „Wieso können die diesen verdammten Eingang nicht ein bisschen breiter machen?“ Sie waren in einem schmalen Gang, der nur mit einer nackten Glühbirne beleuchtet war und kamen nach wenigen Metern, die wohl parallel zum Korridor verliefen, an eine Treppe, die in die Tiefe führte. Nach ein paar weiteren Schritten erreichten sie eine neue Türe, die nicht verriegelt war.
Sie gingen durch und standen im eigentlichen Büro von Amadeo Meier, dem Leiter Europa der verdeckten Ermittler des schweizerischen Nachrichtendienstes des Bundes.
„Hello, it‘s me.“
„Hello, it‘s me too.“
„Sie haben bestimmt schon von dem bedauerlichen Todesfall gehört. Leider konnte ich aber nichts Nützliches auf dem Computer finden. Er muss es zu Hause aufbewahrt haben.“
„Hören Sie zu. Ich habe mir das überlegt. Es war nie die Rede davon, dass da jemand sterben soll. Damit will ich nichts zu tun haben. Für mich ist die Sache erledigt. Kontaktieren Sie mich nicht mehr!“
„Moment mal. Sie haben von mir eine beträchtliche Summe Geld erhalten und dafür darf ich ein bisschen mehr erwarten als die paar unwichtigen Informationen, die Sie mir bisher weitergeleitet haben.“
„Das Geld zahle ich Ihnen zurück, aber ich will damit nichts mehr zu tun haben.“
„Erstens interessiert mich das Geld nicht und zweitens können Sie es mir gar nicht mehr zurückzahlen, weil Sie es gar nicht mehr haben.“ Es folgte eine Pause.
„Was wollen Sie noch von mir? Was kann ich denn noch machen, wenn er tot ist?“
„Ich brauchen seinen persönlichen Laptop, damit ich schauen kann, ob die Informationen da gespeichert sind.“
„Aber ich kann doch nicht einfach den Computer klauen. Das würde man ja sofort feststellen, wenn die Verwandten sein Zimmer räumen kommen. Oder noch schlimmer, wenn die Polizei eine Untersuchung macht.“
„Jemandem von Ihrer Intelligenz traue ich ein gewisses Mass an Phantasie zu. Das wird wohl nicht so schwierig sein. Und nachher sind Sie mich schon wieder los und können das viele Geld geniessen. Ich melde mich morgen um die gleiche Zeit, um die Übergabe zu vereinbaren.“ Und nach einer kurzen Pause: „Übrigens gefällt mir ihr neues Handy nicht. Finden sie nicht auch, goldgelb ist etwas zu auffällig?“
„Ist dieser Blödsinn mit dem Handy wirklich jedes Mal nötig?“
Meier ärgerte sich über die Frage. Mike ging mit diesen elektronischen Kommunikationsmitteln trotz Sensibilisierung immer noch zu unkritisch um.
„Mike, muss ich Ihnen das wirklich nochmals erklären. Wir haben selbst mitgeholfen, diesen Scheiss zu entwickeln. Jedes Handy hat heute Mikrophon und Kamera. Ausserdem logischerweise einen Empfänger und … einen Sender. Und das kann man freiwillig gebrauchen oder es kann von aussen angezapft werden. Das ist wie bei Computern, die am Internet sind. Solange die Strom haben, kann man Mikrophon und Kamera problemlos aktivieren und so jede Unterhaltung mithören und -sehen. Oder ein anderes Beispiel: Denken Sie, es macht mir Spass, hier in einem fensterlosen Büro zu sitzen? Aber wir haben schon Gespräche bei verschlossenen Fenstern in einer Distanz von einem Kilometer mitgehört nur durch die Vibration der Scheiben. Also, es dient Ihrer Tarnung.
Meier legte das Foto eines jungen Mannes auf die Theke. „Aber deshalb habe ich Sie nicht hergeholt. Kennen Sie diesen Mann?“
Mike nahm das Foto in die Hand und schaute es intensiv an.
„Sieht gut aus, der Junge. Kann mich aber nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben. Wer ist das? Wie ein muslimischer Extremist sieht er nicht gerade aus, wobei man das ja nie genau weiss. Bei den Attentätern von 9/11 hätte man es ja auch nicht für möglich gehalten.“
„Das ist Doktor Toni Ragaz, Assistent im Institut für Physikalische Grundlagenforschung an der ETH in Zürich. Einer der gescheitesten Köpfe, die im Moment in der Schweiz zu finden sind. Leute aus seinem Umfeld halten ihn für ein Genie, wie es Albert Einstein gewesen ist.“
Mike legte die Stirne in Falten. „Und wieso ist der auf unserem Radar? Was hat der denn verbrochen?“
„Nichts verbrochen. Er ist seit heute Morgen fünf Uhr tot. Selbstmord.“
„Bei mir hat es immer noch nicht Klick gemacht. Seit wann gehen wir Selbstmorden nach?“
„Unser Job ist es, die Interessen der Schweiz zu wahren um unsere heutige Position in der Welt zu behalten. Dazu gehört zum einen die Verteidigung gegen unsere Feinde, die mit Gewalt unserem Land schaden wollen. Es gibt aber ganz andere Bedrohungen in der heutigen Zeit. Es herrscht ein Wirtschaftskrieg. Wer da unsere Freunde und Feinde sind, ist nicht immer klar. Diese Typen laufen nicht mit langen Bärten herum und hacken Dieben die Hand ab. Wer hätte erwartet, dass die Amis in ihrem Verfolgungswahn so weit gehen würden und die Handys von Angela Merkel und anderen westeuropäischen Staatschefs abhören würden. Eduard Snowden ist zwar ein verdammter Nestbeschmutzer, aber er hat unserer Abteilung etwas mehr die Augen geöffnet. Das bedeutet auch, dass wir für uns selbst schauen müssen. Und was ist in diesem Wirtschaftskrieg unsere grösste Waffe?“ Meier pausierte kurz. Da dies aber nur eine rhetorische Frage war, erwartete er keine Antwort von Mike.
„Wissenschaft! Nicht umsonst gilt die ETH als eine der wichtigsten Universitäten der Welt. Das zieht aussergewöhnliche, ausländische Kapazitäten an, die bei uns ihre Forschungen machen, was das System weiter befruchtet. In diesem Wettkampf aber muss man ständig vorne dabei sein. Und ein Nobelpreisträger fördert natürlich das Renommee eines solchen Bildungsinstitutes. Leider ist es schon eine Weile her, dass die ETH mit einem solchen Preis ausgezeichnet wurde und sie muss aufpassen, dass sie den Anschluss an die Weltelite nicht verpasst. Nach wie vor rangiert sie in den Universitätsrankings unter den besten zehn, aber die Tendenz ist absteigend.“
Meier griff in seine Büroschublade und nahm ein prall gefülltes Mäppchen hervor.
„Wir haben seit knapp fünfzehn Jahren ein Projekt am Laufen, in dem wir die intelligentesten Schweizer beobachten und unbemerkt unterstützen“, fuhr Meier fort. „Das sind immer junge Leute, die durch besondere intellektuelle Leistungen unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir schauen, dass sich für sie Möglichkeiten ergeben, in optimaler Umgebung an ihren Ideen tüfteln zu können.“
„Schön zu wissen, dass meine Steuern zu ein paar Wissenschaftlern wandern, die vielleicht mal was Tolles erfinden werden“, monierte Mike.
„Nein, das sehen Sie ganz falsch. Wir wählen sehr selektiv aus und mit fünfundzwanzig Jahren werden sie fallen gelassen, wenn sie nicht einen revolutionären Ansatz gefunden haben.“
„Fünfundzwanzig?“, fragte Mike erstaunt.
„Die Erfahrung hat gezeigt, dass wirklich geniale Typen sich in jungen Jahren mit Ideen durchsetzen. Für fast alle revolutionären Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten wurden die Grundlagen von Studenten in Ausbildung gemacht. Die bekanntesten sind Bill Gates mit Microsoft und Mark Zuckerberg mit Facebook. Ausserdem ist es ein Fakt, dass die meisten Nobelpreisträger in den naturwissenschaftlichen Kategorien ihren Preis erhalten haben für Errungenschaften, deren Idee und Grundlagen sie sich bereits in ihren Jugendjahren erarbeitet haben.“
Meier kam endlich auf den Punkt. „Im Moment sind aktuell drei Jugendliche in diesem Programm vorhanden. Toni Ragaz war für uns ganz klar der Wichtigste. An was er genau im Moment gearbeitet hat, wissen wir leider nicht. Er war zwar im Institut für physikalische Grundlagenforschung angestellt, aber wir vermuten, dass es auch was mit Genforschung zu tun hat. Aber auf jeden Fall sind wir überzeugt davon, dass er kurz vor einer wichtigen Entdeckung stand. Für uns war deshalb die Meldung von heute Morgen alarmierend.“
„Möglich ist es ja schon.“ Mike nutzte die kurze Pause, um wieder ins Gespräch einzugreifen. „Diese übergescheiten Kerle haben meistens Mühe, im richtigen Leben Fuss zu fassen und ein normales soziales Umfeld aufzubauen.“
„Da haben Sie im Grunde Recht. Wir denken aber, dass Toni Ragaz trotzdem kein ersichtliches Motiv hatte sich selbst etwas anzutun. Und da kommen Sie ins Spiel.“
Er schaute Mike Bohrer direkt in die Augen.
„Für die Polizei in Zürich ist der Fall abgeschlossen: Selbstmord. Ihr Auftrag aber lautet: Finden Sie heraus, woran Toni Ragaz genau gearbeitet hat und ob er wirklich Selbstmord begangen hat. Hilfe bekommen Sie keine. Alles top secret.“
„Genau. Wir wollen ja nicht unnötig Staub aufwirbeln oder einen ausländischen Geheimdienst darauf aufmerksam machen, dass da was Aussergewöhnliches an der ETH entwickelt wurde“, antwortete Mike mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme.
Meier schaute ihn mit runzliger Stirn vorwurfsvoll an und hielt kurz inne. „Ich lasse Sie jetzt alleine, damit Sie die Unterlagen studieren können. Das sind Infos aus Toni Ragaz‘ bisherigem Leben. Daneben finden Sie die Adressen seiner Familienmitglieder und seinen aktuellen Wohnort in Zürich. Zusätzlich Infos aus seinem ETH Umfeld: Mitbewohner, Mitstudierende, Vorgesetzte und weitere interessante Personen. Alles dokumentiert mit Fotos, Handynummern und so weiter. Und der soeben eingetroffene Abschlussbericht der Zürcher Untersuchungsbehörden von heute Mittag. Prägen Sie sich alles gut ein. Wundern Sie sich nicht über die wenigen Bezugspersonen. Der Junge hat ziemlich zurückgezogen gelebt. Wie immer: Keine Akten verlassen diesen Raum.“
Meier konsultierte seine Uhr. „Unser Gespräch über Geschenkartikel dauert noch genau dreiundfünfzig Minuten. In einer Dreiviertelstunde bin ich wieder da. Dann bleibt Zeit um allfällige Fragen zu beantworten. Alles klar?“ fragte er und wusste, dass es eine überflüssige Frage war. Mike war intellektuell einer seiner besten Mitarbeiter. Schnell in der Auffassungsgabe, zielstrebig und effizient. Er würde ihm die Antworten auf die offenen Fragen liefern. Auch auf die, welche gar noch nicht gestellt waren.
„Alles klar“, bestätigte Mike, krempelte die Ärmel hoch und begann den Stapel Papier auf dem Schreibtisch durchzublättern.
Meier liess Mike alleine. Er musste noch ein paar Vorgänge einleiten. Vor allem musste er noch mit dem Leichenschauhaus in Zürich über die Abholung des Leichnams und mit der Familie Ragaz über die Überbringung desselben sprechen.
Mike trank gerade seine dritte Tasse Kaffee aus, als Meier wieder sein Büro betrat.
„Sind offene Punkte aufgetaucht?“ Meier schaute den konzentriert dreinblickenden Mike an.
„Nein soweit alles klar.“
„Dass ich es nicht vergesse: Treffpunkt bei Cindy morgen neun Uhr. Sie wissen, was wir brauchen.“ Mit diesen Worten übergab er Mike eine kleine Hartplastikhülle, die einen Handy-Chip enthielt.
Die beiden Männer verliessen das abhörsichere Büro und gingen durch den schmalen Korridor zurück. Als sich das Spezialregal wieder zur Seite schob, hörten sie sich selber sprechen. Sie warteten kurz auf das Ende des Scheingesprächs und übernahmen wieder.
„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Herr Bohrer. Melden Sie sich, sobald Sie mir einen konkreten Vorschlag machen können.“
„Ja gerne und herzlichen Dank für den Auftrag. Sie bekommen morgen Post von mir mit den ersten Mustern.“
Mike verliess das Büro und kam wieder im Verkaufslokal an.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Alex. „Muss ich nächsten Sonntag durcharbeiten, weil Meier wieder den ganzen Laden umkrempeln will?“
„Nein, keine Angst.“ Mike lachte. „Es geht nur um das neue Sortiment, das wir im Programm haben und das kannst du locker noch irgendwo präsentieren.“ Dabei blinzelte er ihr mit einem Auge zu und schaute sich verschmitzt im Laden um, in dem jedes Regal mit Ware überfüllt war.
„Ja klar. Platz ist ja genug da“, sagte sie, als ob sie verärgert wäre. „Und sonst lasse ich ein paar Tassen fallen. Mal sehen, ob du mich auch mit deinem Judogriff in die Knie zwingen könntest.“
„Jiu Jitsu“, korrigierte Mike. „Aber du brauchst keine Angst zu haben. Die sind nur für böse Buben reserviert und nicht für brave Mädchen. Bis nächste Woche. So wie es aussieht, werde ich die Weihnachtsware gleich selbst vorbeibringen. Soviel wie du bestellt hast, kann ich dem Paketdienst nicht zumuten. Die würden zusammenbrechen.“
„Verschwinde sofort!“, rief Alex lachend, „Oder ich pack dir ein paar Pakete mit deiner Ware und gebe sie dir zurück.“
Gut gelaunt verliess Mike ‚Amadeos Geschenkeparadies‘. In Gedanken versunken ging er unter den Arkaden die Marktgasse wieder hinauf und versuchte nochmals die Informationen zu ordnen, die er gerade erhalten hatte. Er sah geistig nochmals die Fotos durch, damit er die Personen zuordnen konnte, wenn sie ihm begegneten.
Es war ein ungewohnter Auftrag für Mike. Und er war ein bisschen stolz. Anscheinend begann Meier Vertrauen in seine Fähigkeiten zu bekommen. Er musste schmunzeln, wenn er daran dachte, wie das alles angefangen hatte.
Seine Firma mit dem Geschenkartikelhandel war damals gut angelaufen, bekam aber nach fünf Jahren einen argen Dämpfer. Ein paar zentrale Kunden sprangen bei ihm völlig grundlos ab und der Umsatz fiel innerhalb eines Jahres auf die Hälfte. Genau in dieser Zeit stand an einem Montagmorgen ein Herr Meier bei ihm im Büro, der ihm einen Vorschlag machte, wie die GGC in Zukunft sehr erfolgreich werden könnte. Mike sollte auf seinen Geschäftsreisen im Ausland für den Nachrichtendienst des Bundes ein paar Orte aufsuchen und jeweils ein paar Dokumente mit nach Hause nehmen.
Mike war überrascht und dachte zuerst an einen Scherz mit versteckter Kamera. Dass im Computerzeitalter Informationsaustausch per Kurier immer noch die zentrale Hauptaufgabe von Agenten war, konnte er sich nicht vorstellen.
Doch Meier erklärte ihm die Zusammenhänge plausibel. Zuerst war die digitale Revolution von den Geheimdiensten als Segen angeschaut worden. Die Übertragung von Dokumenten und Fotos innerhalb weniger Augenblicke aus dem Ausland schien das Geschäftsmodell des Nachrichtendienstes zu revolutionieren und die Botengänge überflüssig zu machen. Doch die elektronischen Wege lagen weit weg von jedem Minimal-Sicherheitsstandard. Aufgefallen war dies zuerst, als eines Tages geheime interne Notizen der Schweizer Botschaft in Prag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen waren. Da hatten auch Verschlüsselungsprogramme nichts genutzt. Im Zeitalter der Hacker war schnell klar, dass die elektronischen Wege so offen waren, dass man es gleich selbst im Fernsehen zur Hauptsendezeit hätte ausstrahlen können. Meier entschied sich ziemlich schnell sensible Daten wieder auf dem alten Weg zu transportieren und Boten einzusetzen.
Als ehemaliger Milizoffizier der Schweizer Armee hatte Mike grundsätzlich eine patriotische Lebenseinstellung und wenn man dafür sogar bezahlt wurde, sprach ja nichts gegen diese kleinen Dienstleistungen. So begann vor vier Jahren seine Karriere für den Nachrichtendienst des Bundes. Wobei ihn heute ab und zu Zweifel plagten, ob seine Firma damals wirklich zufällig in die miserablen Zahlen abgerutscht war oder ob da jemand seine Finger im Spiel gehabt hatte. Mike glaubte nämlich nicht an Zufälle.
Inzwischen hatte Mike den „Loebegge“ erreicht und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Mitten auf dem Platz vor der Tramhaltestelle sassen zwei junge Studenten auf einem Sofa und genossen die wärmenden letzten Sonnenstrahlen. Sie hatten wohl genug davon, in ihrer muffigen Studentenbude rumzusitzen. So hatten sie sich die Coach geschnappt und kurzerhand unter freiem Himmel aufgestellt. Er schmunzelte innerlich. Genau das hatte er vermisst, als er an der Hochschule St. Gallen studiert hatte. Da hatte man nie solche Aktionen gestartet. Man war zu verbissen unterwegs, um sich mal einen Spass zu leisten. Er hatte zwar sein Lizentiat gemacht, aber das Wirtschaftsstudium blieb ihm nicht positiv in Erinnerung. Deshalb hatte er nach der Diplomfeier nie mehr einen Fuss in seine alte Ausbildungsstätte gesetzt.
Inzwischen war Mike beim Bahnhof angelangt und ärgerte sich wie jedes Mal über die horrende Parkhausgebühr. Er setzte sich hinters Steuer, machte das Autoradio an und hörte die Sprecherin gerade sagen „… ab Verzweigung Weyermannshaus bis Egerkingen stockender Kolonnenverkehr.“ Das hiess für ihn auf den rund hundert Kilometer Heimfahrt würde er zwei Drittel der Strecke im Stau verbringen. Da hatte er Zeit, sich gedanklich mit dem Fall zu beschäftigen und die Vorgehensweise festzulegen.
Aber auch wichtig war für ihn: Würde es reichen, dass er die Kirchenchorprobe nicht verpasste?
Toni Ragaz hatte genau im Zimmer über ihr gewohnt. Schon lange wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und in ihrem Kopf wirbelten die verschiedensten Gedanken herum. Ein Blick auf den altertümlichen Wecker auf dem Nachttischchen bestätigte ihre Vermutung, dass bereits drei Uhr durch war.
Zuerst dachte sie, sie hätte sich getäuscht. Dann erkannte sie, dass es das typische Knacken war, wenn jemand die Treppe in den oberen Stock hochstieg. Um diese Zeit? Sie horchte weiter und zuckte leicht zusammen, als sie Schritte direkt über sich vernahm.
Jemand war ins Zimmer über ihr eingetreten. Ähnlich hatte es jeweils getönt, wenn Toni von einer seiner Nachtschichten heimgekommen war. Oft hatte er bis um diese Zeit am Morgen gearbeitet. Obwohl er immer leise machte, hatte sie ihn immer gehört. Am Anfang auch in der Hoffnung, dass er sich einmal in der Türe irren würde und plötzlich in ihrem Zimmer stand.
Einen Moment lang war alles still. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Doch da: leise Schritte kaum zwei Meter über ihrem Kopf. „Ruhig bleiben!“, sagte sie zu sich und schüttelte die letzte Müdigkeit kurzerhand ab. „Jemand ist in Tonis Zimmer.“ Sie nahm ihr Handy und schlich sich zur Tür. Sie öffnete diese und schielte auf den Gang. Kein Licht. Wieder Schritte oben. Sie tippte auf ihrem Handy die Nummer 117 ein, Polizeinotruf. Sie setzte den Daumen auf das Wählsymbol, berührte die Displayoberfläche aber noch nicht. Sollte das wirklich ein Eindringling sein, würde sie schreien und die Nummer wählen. Steven und Joe waren im Haus und würden sie hören. Auch wenn die beiden Jungs einen tiefen Schlaf hatten.
Sie schlich auf den dunklen Gang hinaus, schaltete das Licht ein und rief mit lauter Stimme, die selbstsicher klingen sollte: „Hallo, ist da wer?“ Gleichzeitig machte sie einen Schritt nach vorne, damit sie die ganze Treppe von unten her sehen konnte.
„Joe?“, sagte sie völlig verblüfft.
Oben an der Treppe stand ihr WG-Kollege und schaute sie überrascht an.
„Du hast mich zu Tode erschreckt. Was machst du in Tonis Zimmer?
Und das um diese Zeit?“
Joe stammelte etwas Unverständliches und suchte nach Worten.
„Ähm. Ich hatte Toni letzte Woche was ausgeliehen. Das wollte ich zurückholen, bevor da jemand kommt und das Zimmer räumt. Sonst guck ich in die Röhre und bekomme das nie mehr zurück.“
„Aber warum in alles in der Welt mitten in der Nacht?“
Joe murmelte: „Ja, ist mir eben jetzt in den Sinn gekommen und wollte es gleich erledigen.“
In diesem Moment ging die andere Zimmertür im oberen Stock auf und Steven trat schlaftrunken auf den Gang.
„Was geht ab? Wieso dieser Lärm mitten in der Nacht?“
„Ich habe Schritte in Tonis Zimmer gehört und hab mich erschrocken.
Aber anscheinend war es nur Joe, der sich dort was zurückgeholt hat.“
„Häh? Du gehst mitten in der Nacht in Tonis Zimmer? Hast du gar keinen Respekt vor seinem Tod?“, fragte Steven. „Und warum hast du Tonis Laptop?“
Tatsächlich. Joe hatte unter seinem rechten Arm einen Computer.
Das hatte Kathy bisher gar nicht wahrgenommen.
„Das ist nicht Tonis Computer. Das ist meiner“, baffte Joe Steven an.
„Sieht aber genauso aus wie derjenige von Toni. Gleiches Modell, gleiche Farbe, gleiche Ausstattung. Willst du Arsch tatsächlich deinem toten Kumpel den Computer klauen?“, sagte Steven empört.
„Das ist mein Computer. Lass mich in Ruhe, du Blödmann!“
Kathy war inzwischen die Treppe hochgegangen und stand jetzt ebenfalls oben. Sie drängte sich an Joe vorbei.
„Mal sehen.“ Mit diesen Worten stiess sie die Türe zu Tonis Zimmer auf und schaltete das Licht ein. Das Zimmer sah aus wie immer.
Nichts durcheinander und der Laptop stand an seinem gewohnten Platz.
„Okay.“ Steven machte einen verwirrten Eindruck. „Scheint alles in Ordnung zu sein. Aber ich checke es trotzdem nicht.“
„Brauchst du auch nicht. Ich habe nichts Verbotenes getan. Ich habe nur aus Tonis Zimmer das geholt, was mir gehört und damit basta.“
Joe liess die beiden stehen und ging die Treppe runter in sein Zimmer. Demonstrativ knallte er die Türe zu.
Steven und Kathy schauten sich fragend an. „Was war das denn?“
„Scheint, dass das Ganze ihn ziemlich mitgenommen hat“, sagte Steven. „Ich kapier nur die ganze Logik dahinter nicht. Aber ist mir egal. Ich habe um acht eine wichtige Vorlesung und muss fit sein.“ Er drehte sich um und verschwand wieder in seinem Zimmer.
Kathy blieb alleine zurück. Sie musste zuerst verarbeiten, was da eben abgelaufen war. Dann drückte sie auf dem Handy den roten Knopf und die 117 verschwand wieder von ihrem Display. Sie ging zurück in ihr Zimmer und schlief innert kürzester Zeit ein.
Mike sass kurz vor neun Uhr an der Bar im ‚Cindys Dinner‘ in Herrliberg, schlürfte an seinem Kaffee und las in der Gratiszeitung ‚20 Minuten‘ die News, die anscheinend jeder in der Schweiz kennen musste. Eine kurze Notiz über einen Selbstmord an der ETH stand auf der letzten Seite. Dabei wurde informiert, dass es sich um einen begabten jungen Wissenschaftler handelte, der im Bereich Genforschung gearbeitet hatte. Es solle sich um Forschung an sogenannten „Chimären“ gehandelt haben, Mischwesen aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt. In diesem Zusammenhang war ein Foto von der Sphinx abgebildet, die einen Menschenkopf mit einem Löwenkörper darstellte. Erstaunlich wie Journalisten immer wieder aus irgendeinem Hinweis eine Story aufbauschen konnten.
Mike sah durch die grosse Fensterfront wie draussen ein Leichenwagen auf den Parkplatz der Autobahnraststätte fuhr. Zwei Männer, beide diskret in schwarze Anzüge gekleidet und mit ausdruckslosem Gesicht stiegen aus und betraten den Selbstbedienungsbereich des Gastrobetriebes. Aus den Augenwickeln beobachtete Mike die beiden. Der eine begab sich zur Toilette, der andere trat vor die Selbstbedienungskaffeemaschine und drückte zwei Mal auf die Cappuccino Taste. Während die dunkle Brühe in die Pappbecher floss, schaute er sich bei den Zeitschriften um, wobei sein Blick immer wieder in die oberste Reihe ging; dorthin wo die halbnackten Damen auf den Titelseiten abgebildet waren.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Mike ging ebenfalls die kurze Treppe runter und begegnete auf dem Gang dem Fahrer des Leichenwagens. Grusslos ging Mike an ihm vorbei. Er betrat die Toilette und vergewisserte sich, dass er alleine war. Er begab sich in die erste Kabine und schaute hinter die Türe. Wie erwartet hing am Kleiderhaken eine kleine schwarze Ledermappe. Darin waren die Effekten von Toni Ragaz.
Mike ergriff die Mappe und nahm die einzelnen Gegenstände aus der Tasche. Diese breitete er auf dem geschlossenen Deckel der Toilettenschlüssel aus. Das hatte man also dabei, wenn man freiwillig in den Tod ging.
Ein halbvolles Päckchen Papiertaschentücher und eine kleine Dose mit Pfefferminzbonbons. Uninteressant. Dann kam der Schlüsselbund zum Vorschein. Der Schlüsselanhänger bestand aus einem stilisierten Pferd mit Flügeln aus Hartplastik. Er entsprach dem Pegasus, den er gestern im Büro seines Chefs in Bern gesehen hatte. Er nahm sein Handy und schoss davon ein Foto.
Was ihn aber mehr interessierte waren die vier Schlüssel. Wohnung in Zürich, Wohnung bei den Eltern zuhause, ETH Büro. Wozu der vierte Schlüssel war konnte er sich nicht erklären. Das war im Moment egal. Er nahm sich jeden Schlüssel einzeln vor und machte einen beidseitigen Abdruck mit dem speziell dafür entwickelten Weichplastikset.