Die Hufeisen Theorie - Markus Christoph Bucher - E-Book

Die Hufeisen Theorie E-Book

Markus Christoph Bucher

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Beschreibung

Der Geheimagent mit Schweizer Kreuz kämpft gegen das Bündnis der Extremisten! An einem Montagmorgen werden den Luzerner Behörden drei Todesfälle gemeldet. Nicht ungewöhnlich. Da tauchen Indizien auf, dass es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt. Auch die Todesursachen sind dubios. Währenddessen segelt Mike Bohrer, Geheimagent mit Schweizer Kreuz, übers Mittelmeer und bekommt es mit dem internationalen Waffenhandel zu tun. Dabei fällt ihm ein extrem gefährliches Nervengift in die Hände. In einem Fläschchen mit durchsichtiger Flüssigkeit steckt eine neuartige Massenvernichtungswaffe. Mike versucht an die Drahtzieher heranzukommen, doch diese sind ihm immer einen Schritt voraus. Erst als seine Ermittlungen mit jenen der Luzerner Polizei zusammenlaufen, kommt Licht in die Angelegenheit. Aber läuft die gefährliche Operation bereits? Ist sie überhaupt noch aufzuhalten? Oder ist es schon zu spät?

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Markus Christoph Bucher kam 1960 als jüngstes Kind einer grossen Bauernfamilie in Gunzwil, zwanzig Kilometer nördlich von Luzern, auf die Welt. Als er mit vierzehn Jahren eine Gitarre von seinem ältesten Bruder geschenkt bekam, fing er an, eigene Lieder zu komponieren und diese im Familien- und Freundeskreis vorzutragen. Mit achtzehn Jahren hatte er bereits seine eigene Band. In den folgenden Jahren trat er auch als Alleinunterhalter auf und spielte in verschiedenen Musicals mit. Andere Menschen zu unterhalten, ist seine Passion. Heute hat er eine zusätzliche Möglichkeit dafür gefunden: Die Abenteuer von Mike Bohrer. Darin verarbeitet der ausgebildete Wirtschaftsinformatiker die Reisen und Kontakte, die er in seinen über dreissig Jahren als erfolgreicher Inhaber einer internationalen Handelsfirma erlebt hat. Wie viel Autobiographisches in Mike Bohrer liegt, verrät der Autor nicht.

Bereits erschienen aus der Mike Bohrer Serie:

Das Pegasus Projekt ISBN: 978-3-7460-4870-3

Die 300 Assassini ISBN: 978-3-7481-0909-9

Der Rache Engel ISBN: 978-3-7519-9381-4

Ohne Eure Hilfe, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank an:

Yvonne Brun, Monika Wey-Fuchs, Jimmy Käch, Josef Wyss, Aline Bucher, Irène Kost

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Johnny Grüter

Olivia Sommer

Erwin Misteli

Montag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

DIENSTAG

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Mittwoch

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Donnerstag

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

FREITAG

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Samstag

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Sonntag

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Montag Morgen

Kapitel 123

Kapitel 124

Kapitel 125

Kapitel 126

Kapitel 127

Kapitel 128

Drei Wochen später: Dienstag

Kapitel 129

Epilog

Johnny Grüter

Er fuhr um sein Leben. Wie ein Verrückter trat er in die Pedale seines hochgezüchteten Rennrads. Er holte das Letzte aus seinem Körper heraus. Der Motor hinter ihm heulte auf. Sein Vorsprung betrug keine zwanzig Meter mehr.

Johnny musste die Passhöhe vor diesem dunklen Van erreichen. Noch wenige Pedalumdrehungen trennten ihn von der erlösenden Tafel des Glaubenbergpasses. Er ging aus dem Sattel und setzte zum Endspurt an. Dann der triumphierende Schrei, als er die imaginäre Ziellinie vor dem motorisierten Fahrzeug überquerte. Johnny fühlte sich, als hätte er eine Bergetappe der Tour de France gewonnen.

Er keuchte und machte tiefe Atemstösse. Kurz nach der Passhöhe trat er wieder voll in die Pedale und beschleunigte innert kürzester Zeit auf über siebzig Stundenkilometer. Wie ein Besessener stürzte er sich in die Abfahrt.

Der schwarze Van fiel zurück. Er würde ihn so schnell nicht überholen können.

Johnny liebte dieses Spiel. Beim ersten Sonnenstrahl war er heute Morgen in Malters aufgebrochen, über das Renggloch, dem Vierwaldstättersee entlang bis nach Sarnen geradelt und schliesslich die lange, steile, nicht enden wollende Passstrasse zum Glaubenberg hinauf. Sein durchtrainierter Körper wurde immer besser, weil er es verstand, diesen bis zum Anschlag und darüber hinaus zu quälen. Dass er sich dabei Todesängste imaginierte, gehörte bei diesem einseitigen Wettrennen dazu. Er wollte über seine persönlichen Grenzen hinauswachsen. Da war dieser schwarze Van als virtuelles Feindbild genau im richtigen Moment hinter ihm aufgetaucht.

Zwei Kehren hatte er inzwischen hinter sich gelassen. Er wusste, dass der Van ihn auf dem vor ihm liegenden, langen, flachen, schnurgeraden Abschnitt überholen würde. Das tat dieser auch. Johnny versuchte ihm im Windschatten zu folgen. Keine Chance. Aber bald würde der kurvige Strassenteil mit den zwölf Prozent Gefälle kommen. Da war er schneller als der Van und würde diesen wieder einholen.

Johnny hatte sich nicht die Zeit genommen den Helm wieder aufzusetzen. Der blieb auf dem Lenker fixiert. Mit vollem Tempo raste er in die steile, unübersichtliche Passage. Er konnte sehen, wie der Van hinter dem Felsvorsprung verschwand. No risk, no fun: Endorphine, Glückshormone und Adrenalin pur. Ein euphorisches Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus.

In überhöhtem Tempo fuhr er um die enge Kurve. Mit einer gewissen Verwunderung stellte er fest, dass der Van quer auf der Strasse stand und diese vollständig blockierte. Ihm blieb als einziger Ausweg den Lenker herumzureissen und Richtung Bachbett in die Tiefe zu stürzen.

Olivia Sommer

Sie bog mit ihrem Mini Cooper bei der Käserei Winon in die Hauptstrasse von Menziken nach Beromünster ein. Letzte Schulwoche vor den grossen Ferien. Sie war wie immer spät dran, obwohl ihre Lektion an der Kantonsschule Beromünster am Montagmorgen erst um neun Uhr begann.

Das hatte ihr noch gefehlt. Bei der kleinen Grube beim Winonrank stand die Polizei und winkte ausgerechnet sie für eine Polizeikontrolle heraus. War sie zu schnell gefahren? Sie stellte den Blinker und rollte auf den Naturparkplatz, der mit locker gepflanzten Sträuchern von der Hauptstrasse abgetrennt war. Ein junger Mann in der Uniform der Kantonspolizei Luzern kam auf sie zu. Sie kurbelte das Fenster herunter.

„Guten Morgen. Sind Sie Olivia Sommer?“

Erstaunt schaute sie den Polizisten an. Wieso kannte dieser ihren Namen? Sie nickte.

„Steigen Sie bitte aus.“

Olivia war verwirrt; zum einen ob der seltsamen Aufforderung, zum andern ob des fremdländischen Akzentes in der Stimme. Hatten die neuerdings Ausländer bei der Polizei? Sie hatte kürzlich darüber etwas gelesen. Oder stammte er ursprünglich aus der französischsprachigen Schweiz? Wahrscheinlicher.

Olivia öffnete die Fahrertür und stieg aufgrund ihres allzu hohen Körperfettanteils mühsam aus.

„Bitte folgen Sie mir!“, sagte der Polizist. Er zeigte auf eine steile Treppe, die auf die Anhöhe mit dem Wäldchen führte. „Leider haben wir schlechte Nachrichten. Eine Ihrer Schülerinnen hat sich heute Morgen hier erhängt. Sie müssen sie identifizieren.“

Olivia war schockiert. „Wer?“ Doch sie bekam keine Antwort. Sie folgte dem Polizisten die zwanzig Stufen nach oben. Ihre Gedanken wirbelten wie wild. Eine Schülerin? Selbstmord? Am Montagmorgen? Olivia schnaufte schwer, als sie oben ankam. Sie schaute den Polizisten an, der auf einen Baum in der Nähe zeigte. Olivia ging vorsichtig darauf zu. Da hing ein dickes Seil mit einer Schlinge, aber niemand daran. Sie drehte sich fragend zum Polizisten um.

In diesem Moment wurde ihr die Schlinge über den Kopf gezogen und sie verlor den Boden unter den Füssen.

Erwin Misteli

Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, runzelte die Stirne und hörte dem jungen Mann der Jungen Sozialisten zu. Wie immer sprach dieser zu schnell und zu laut.

Von seinem Sitz in der hintersten Reihe ganz rechts aussen hatte er den Überblick über den ganzen Saal des Luzerner Kantonsrates. Diesen Sitz hatte er sich verdient. Seit achtzehn Jahren war er Mitglied dieses politischen Gremiums und hatte sich an diesen Platz vorgearbeitet. Dieser hatte nämlich unter anderem den Vorteil, dass man mit einem Schritt an der Türe zum Pausenraum war und so innert Sekunden vor der Kaffeemaschine stand.

Doch nach Kaffee stand ihm nicht der Sinn. Seit einer Stunde lief die Debatte. Sie hatte sich von Links gegen Rechts hochgeschaukelt. Soeben hatte die Vertreterin der Grünen das Wort erteilt bekommen. Was die behauptete, brachte Erwins traditionelles Blut zum Kochen. Das konnte er auf keinen Fall so stehen lassen. Vehement drückte er auf den Knopf, mit dem er sich für eine Wortmeldung anmelden konnte. Sein Blick fiel auf die Anzeigetafel. Er war der vierte auf der Rednerliste. Genug Zeit um sich die genaue Formulierung des Votums zurecht zu legen.

Ein junger Politiker ging an ihm vorbei, stolperte und schüttete den Becher mit Wasser, der vor Erwin auf dem Pult stand, über dessen Kleidung aus.

Erwin schaute wütend auf. Er kannte den perfekt in Anzug mit Krawatte gekleideten Mann nicht. War wahrscheinlich ein Neuer. Wütend schaute er den Frevler an und wollte eine Schimpftirade lostreten.

„Sorry, sorry. Ich hole Wasser“, kam ihm der junge Mann zuvor und verschwand mit dem Becher im Pausenraum. Erwin versuchte mit seinem Taschentuch die Wasserflecken zu trocknen. Der Mann tauchte mit einem halbvollen Becher wieder auf, stellte diesen hin und verschwand.

Erwin konnte seinen Ärger fast nicht zurückhalten. Trotzdem bemerkte er, dass nur noch ein Sprecher vor ihm war. Also leerte er den Becher in einem Zug, griff nach seinem Stift und einem Blatt Papier, lehnte sich zurück und notierte sich die Stichworte für sein Votum.

„Ich erteile das Wort an Erwin Misteli. Bitte sprechen Sie!“, ertönte die sonore Stimme des Kantonsratspräsidenten.

„Erwin Misteli. Sie haben das Wort. Bitte sprechen Sie!“

„Erwin Misteli?“

Montag

Kapitel 1

Mike Bohrer drehte am Steuer und stellte das schnittige Segelboot in den Wind. Es verlor sofort an Fahrt. Das vorher aufgeblähte Fock flatterte nur noch leicht. Mike löste den Seemannsknoten, wickelte das Seil um die Winde und drückte auf den grünen Knopf. Das Segel wurde automatisch eingerollt. Praktisch die modernen Boote, ohne Probleme von einer einzelnen Person zu bedienen. Er warf die Fender auf die Aussenseite und setzte sich wieder nach hinten ans Steuer.

Mike warf den Motor an und tuckerte in Richtung Hafeneinfahrt von Split. Zufrieden schaute er in das azurblaue Wasser des Mittelmeers. Zum Schutz gegen die Sonne hatte er sich ein dunkelblaues Cap und eine Pilotenbrille aufgesetzt. Er hatte abgenommen und war braungebrannt. Sein neues Leben. Er hatte sich bisher nicht vorstellen können, dass er als Schmuggler auf dem Meer herumsegeln würde. Aber es machte grossen Spass. Es fühlte sich an wie Ferien. Ferien, die inzwischen zwei Wochen dauerten. Doch das Ende zeichnete sich langsam ab.

Mike drosselte den Motor. Sein Segler glitt mit fünf Knoten vorbei an riesigen Kreuzfahrtschiffen, luxuriösen Yachten und Booten in allen Farben und Formen auf den Quai zu, wo er einen freien Platz zum Anlegen erspäht hatte. Langsam näherte er sich seitlich und gab leicht Rückwärtsgas. Elegant warf er dem alten Mann mit dem bis zum Bauchnabel offenen Hemd das Tau zu, damit dieser ihm helfen konnte, das Boot zu befestigen.

Der alte Mann kannte seine Aufgabe. Geübt schlaufte er das Seil ein und gab es Mike zurück. Sobald Mike das Boot hinten fixiert hatte, wurden dieselben Handgriffe vorne wiederholt. Mit einem kleinen Sprung ging Mike an Land. Er drückte dem mageren Mann eine Münze in die Hand. Dieser lächelte ihn an und zeigte einen zahnlosen Oberkiefer. Der Alte kramte hinter seinem Ohr eine Zigarette hervor, zündete sie an und machte einen tiefen Lungenzug, während er Mike beim Nachziehen der Seile zuschaute.

„Wo finde ich den Mahagony Pub?“, fragte Mike den Mann in englisch.

„Mahagony Pub?“ Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. „Nicht gut für Menschen wie du. Gefährliche Gegend. Was willst du da?“

„Business.“

Kapitel 2

„Kantonspolizei Luzern, Abteilung Leib und Leben, Ineichen.“

„Hallo Yvonne, hier Ines. Ich wollte dich wie versprochen über Silas informieren.“

„Oh Ines. Danke, dass du anrufst.“ Yvonne Ineichen war gespannt, was ihre Bekannte vom Kantonsspital über ihren Polizeikollegen sagen konnte.

Neuerdings wurde wegen Personalnot auch von ihnen verlangt, dass sie zwischendurch zur Entlastung ihrer Kollegen Patrouilleneinsätze übernahmen, vornehmlich am Wochenende. Ihr machte dies nichts aus, denn sie lebte alleine. Diese Samstagabend-Einsätze waren für sie eine willkommene Abwechslung.

Nicht für ihren fast zwanzig Jahre jüngeren Kollegen, der sich mit dem Sprung in die Abteilung Leib und Leben genau solche Wochenendpatrouillen hatte ersparen wollen. Entsprechend missmutig war er vorgestern Abend um acht Uhr zum Dienst angetreten.

„Also, die Frakturen sind schlimmer, als zuerst angenommen. Der Kiefer ist gebrochen und der linke Arm auch. Er wurde gestern operiert. Er muss mindestens bis Mittwoch hier bleiben. Dann kann er nach Hause. Aber er wird ein paar Wochen nicht sprechen können.“

Es fiel Yvonne nicht leicht, sich einzugestehen, und im Bericht hatte sie es nicht so klar geschrieben, aber Silas war selber schuld. Schon den ganzen Abend hatte er eine miese Laune gehabt. Morgens um zwei Uhr, als sie eine Gruppe vor dem KKL kontrollierten, eskalierte die Lage. Ein Wort ergab das andere, wobei sich Silas nicht mit Provokationen zurückhielt. Ein stadtbekannter Schläger, der in der Gruppe mit dabei war, rastete aus und kannte keine Gnade. Yvonne verhinderte das Schlimmste, indem sie schnell Unterstützung anforderte und die Gruppe in Schach hielt, als Silas stöhnend und blutüberströmt am Boden lag. Die Pistole hatte sie gezogen, musste sie aber zum Glück nicht einsetzen. Mit den heutigen Vorschriften hätte eine Schussabgabe jede Menge Papierkram und eine externe Untersuchung nach sich gezogen.

„Du wirst vorläufig auf deinen Kollegen verzichten müssen.“

Sieh an. Das war gar keine so schlechte Nachricht. Sie arbeitete sowieso lieber alleine. Der junge Schnösel hatte es in den vergangenen zwei Monaten nicht verstanden, ihre Sympathie zu gewinnen. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit, ihren Chef um einen anderen Partner zu bitten.

„Falls du ihn besuchen möchtest, er liegt im Zimmer 408.“

„Warum sollte ich ihn besuchen, wenn er nicht sprechen kann?“ Das war ihr rausgerutscht.

Auf der anderen Seite entstand eine beklemmende Stille.

„Das war ein Scherz. Entschuldige. Wir blödeln hier manchmal herum. Natürlich werde ich vorbeigehen und ihm Blumen bringen“, die er in den Abfalleimer schmeissen wird. „Vielen Dank für den Anruf und bis am Samstag im Fitnessstudio.“

Yvonnes Stimmung hatte sich gehoben. Wenn sie den Jungen nicht am Bein hatte, konnte sie endlich ungestört die Pendenzen abarbeiten. Er war ihr bisher mehr Last als Hilfe gewesen. Ausserdem zeichneten sich für sie keine neuen Fälle ab.

Wobei, so genau wusste man das in ihrer Abteilung nie, denn ein Mord kündigte sich im Normalfall nicht an.

Kapitel 3

Staatsanwalt lic. iur. Daniel Caduff schaute lustlos auf den Papierstapel, der vor ihm lag. Ein tiefer Seufzer entrang sich seinen Lippen und sein Blick schweifte zum Fenster hinaus. Wunderbarer Sonnenschein. Eine Provokation für seinen Gemütszustand. Seine Frau würde nächsten Sonntag mit ihren drei Kindern im Teenageralter in die Ferien fliegen. Eine Woche Kreta; ohne ihn. Er hatte es von seinem Schwager letzte Woche erfahren, als er diesem zufällig im Café Heini beim Löwenplatz begegnet war. Zu Hause war Daniel Caduff seit über drei Monaten nicht mehr gewesen. Sein aktuelles Daheim war das Hotel „De la Paix“ in der Nähe des Löwenplatzes in Luzern.

Sie hatten sich gestritten, wie öfter in letzter Zeit. Wie immer war der Streit wegen einer Nichtigkeit ausgebrochen und dann eskaliert, richtig eskaliert. Schlappschwanz hatte sie ihn genannt und ihn damit noch tiefer in das Loch seiner Midlifekrise gestossen. An diesem Abend hatten sie eine Trennung für ein paar Tage vereinbart. Inzwischen waren drei Monate daraus geworden, vor allem auch weil er sich nicht mehr gemeldet hatte und auch auf die Telefonanrufe seiner Frau nicht antwortete.

Dabei war sein Leben gradlinig verlaufen. Jurastudium mit Bestnoten abgeschlossen, fünf Jahre Anwaltskanzlei, Heirat mit der Sekretärin, zwei Kinder innerhalb von vier Jahren, mit zweiunddreissig Jahren einer der jüngsten Staatsanwälte des Kantons Luzern. Dann kam seine Karriere ins Stocken. Er wurde Zweiter als es um die Stelle des Oberstaatsanwaltes ging. Ein Jahr später wurde seine Bewerbung für das Bundesgericht mit einer höflichen Floskel abgelehnt. Er wollte zurück in die Privatwirtschaft wechseln. Dort wurde ihm seine über zehnjährige Staatstätigkeit zum Hindernis. Sich selbständig zu machen, das traute er sich nicht zu. So sass er mit fünfzig Jahren in der Arbeitsfalle: Sein Job hatte für ihn den Reiz verloren, aber aus Mangel an Alternativen würde er ihn trotzdem weitere fünfzehn Jahre ertragen müssen. Sackgasse.

Vor zwei Jahre hatte er nochmals einen Anlauf genommen, um seinem Leben ein wenig Pep zu verleihen. Politik. Er kandidierte für den Luzerner Kantonsrat. Doch er landete abgeschlagen auf dem zweitletzten Platz seiner Partei. Im Nachhinein wusste er, dass dies seine letzte Chance gewesen war, seine Ehe zu retten. Zum Herrn Kantonsrat Caduff hätte seine Frau bestimmt bedingungslos gehalten. Aber so zog sie sich mehr und mehr von ihm zurück; schubste ihn in das dunkle Loch, in das er immer tiefer versank.

Vorsichtig öffnete Caduff die unterste Schublade des rechten Korpus, damit man ausserhalb seines Büros das Scheppern der Flaschen nicht hören konnte. Langsam bewegte sich seine Hand auf die Gin-Flasche zu. Das Telefon schrillte und riss ihn aus seinen trüben Gedanken.

„Staatsanwaltschaft Kreis 1, Staatsanwalt Caduff am Apparat“, meldete er sich routiniert.

„Notrufzentrale Kapo Luzern, Hüsler. Guten Tag. Wir haben soeben die Meldung erhalten, dass im Kantonsratssaal ein Mann gestorben ist. Ich habe eine Streife hingeschickt. Kriminaltechnik und Amtsarzt sind von meiner Kollegin aufgeboten worden.“

Caduff zögerte. Ein Toter im Kantonsrat. Da musste jemand von der Staatsanwaltschaft hin, das konnte er nicht als Bagatelle abtun. Aber nicht er. Diesen Gefallen würde er der Politik nicht machen, nachdem er an diesen Wahlen vor zwei Jahren so abgestraft worden war. „Danke für die Information, Herr Hüsler. Momentan bin ich völlig überlastet. Rufen Sie einen Kollegen an.“

„Wie bitte?“, fragte Hüsler. Caduff merkte, dass der Polizist am Telefon stockte. „Entschuldigen Sie, Herr Staatsanwalt Caduff. Gemäss meinen Unterlagen, haben Sie diese Woche den Pikettdienst. Es ist nicht unsere Aufgabe die Fälle bei Ihnen intern zuzuteilen.“ Klar wusste Caduff dies, aber er hatte absolut keine Lust sein Büro zu verlassen und sich in den Kantonsratssaal zu begeben.

„Ich wiederhole: Ein Toter, vermutlich Herzschlag, im Kantonsratssaal Luzern.“

„Ja. Ist gut Herr Hüsler. Ich werde dies intern regeln.“ Caduff legte den Hörer auf und seufzte. Er hatte nicht einmal mehr die Energie zu fluchen, obwohl er genau das am nötigsten gehabt hätte. Herzschlag. Mühselige Routine. Warten bis der Fotograf vom kriminaltechnischen Dienst alles abgelichtet hatte, warten bis der Amtsarzt die Leiche untersucht hatte und meldete: Keine Dritteinwirkung erkennbar. Daraufhin die überflüssigen Gespräche mit Beteiligten, die waghalsige Vermutungen anstellten, obwohl sie nichts gesehen hatten, zum Schluss das unangenehme Telefon mit den nächsten Angehörigen und Beileid heucheln. Wenn wenigstens ein Mordverdacht gemeldet worden wäre, das hätte seine Stimmung gehoben. Aber Mord kam hier in Luzern selten vor. Und wenn, rief die Notfallzentrale nicht ihn an, sondern einen seiner Kollegen. Fredi Tschümperlin, zum Beispiel, diese Pfeife. Fachlich nicht zu gebrauchen, jedoch bei den medienwirksamen Fällen immer in der vordersten Reihe anzutreffen.

Caduff schüttelte den Kopf. Nein. Er konnte sich nicht aufraffen, den Toten anzuschauen. Und doch musste jemand von der Staatsanwaltschaft vorbeigehen. Da kam ihm der rettende Gedanke: JFK.

Kapitel 4

Julia Francesca König hielt inne. Nochmals den letzten Abschnitt lesen. Kleine Korrektur. Ihre Finger flogen über die Tastatur. Ein Kontrollblick darauf und drucken. Julia drehte sich ab und sah zu, wie die ersten Seiten in das Ausgabefach des überdimensionierten Laserdruckers fielen. Sie lehnte sich zurück und strich mit den Fingern durch ihre langen, geraden, schwarzen Haare. Die hatte sie von ihrer Mutter geerbt, zusammen mit den südländischen Gesichtszügen und dem zierlichen Körperbau, der mit zunehmendem Alter zu Fettleibigkeit tendierte. Bei ihr zeigten sich an Hüfte und Po bereits die ersten Vorboten. Die letzten zwei Jahre in Amerika mit zu viel Fast-Food hatten Spuren an ihrem jungen Körper hinterlassen.

Berichte schreiben war bereits zur Routine geworden. Ihr Chief, wie sie Staatsanwalt Daniel Caduff nannte, hatte diese Tätigkeit vollständig ihr übergeben, seit sie ihm vor zwei Monaten als Assistentin zugeteilt worden war.

Sie mochte ihren Chief nicht besonders. Wie konnte man seine Aufgaben so lustlos angehen? Eigentlich müsste man jemanden, der faktisch Arbeitsverweigerung praktizierte, in die Wüste schicken. Aber das war bei Staatsangestellten, insbesondere in der Justiz, nicht so einfach. Doch sie profitierte von der Situation. Caduff liess sie fast alle Aufgaben eines Staatsanwaltes machen. Aber lernen, nein, lernen konnte sie von dieser Schlafmütze nichts. Sie gab ihm noch zwei Wochen. Dann würde sie sich beim Oberstaatsanwalt beschweren. Schliesslich hatte sie keine Zeit zu verlieren, wenn sie bereits vor ihrem dreissigsten Geburtstag selbst Staatsanwältin sein wollte.

Auf ihrem Bildschirm poppte ein Fenster auf.

„Bitte kommen Sie zu mir ins Büro. ASAP!“ Absender war der Chief. Was der wohl wollte?

Ohne weiter auf den Papierausdruck zu warten, stand sie auf. Sie ergriff ihr Handy und ging zum Büro auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Ohne anzuklopfen trat sie ein.

„What’s up?“ Sie setzte sich auf den Stuhl, schlug die Beine übereinander und drückte auf ihrem Handy die Aufnahmetaste.

„Muss das sein mit dem Diktiergerät?“

„Yep. Sonst sagen Sie nachher wieder, ich hätte Sie falsch verstanden. Anyway.“ Sie schaute ihn fragend an.

Caduff machte einen tiefen Atemzug. „Einer unserer Kantonsräte ist während der Session gestorben, Herzinfarkt. Jemand von der Staatsanwaltschaft muss da vorbeigehen. Die Damen und Herren Politiker sind sonst beleidigt.“ Er hielt einen Moment inne. „Sie gehen.“

Julia war überrumpelt. „Ich? Alleine?“

„Ja.“

Grinste der Chief? Sie hatte bisher nie einen positiven Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, deshalb konnte Julia sich nicht vorstellen, dass er sie veralbern wollte. Aber das konnte nicht sein. Es war nicht üblich, oder musste man sagen völlig unmöglich, dass ein Assistent alleine zu einem Todesfall in der Öffentlichkeit ging. Vielleicht ging niemand hin, aber ganz bestimmt nicht ein Assistent alleine, ohne Staatsanwalt. Aber ihr blitzschneller Verstand erkannte die Gelegenheit. Der Grund war ihr völlig egal. Wenn sie die Möglichkeit hatte, als Stellvertreterin des Staatsanwaltes vor dem versammelten Kantonsrat aufzutreten, konnte das ihrer Karriere nur förderlich sein.

Julia stand auf. „Deal. Bin schon unterwegs.“

Kapitel 5

Mike öffnete mit einem Schraubenzieher die hintere Wand des Tiefkühlfaches des Kühlschrankes. Mit einem Klack sprang diese auf und dicke Bündel mit Fünfzig-Dollar-Noten flutschten ihm entgegen. Geschickt fing er sie auf und steckte sie in den schwarzen Rucksack, bis dieser bauchig war. Er schmiss ihn auf die Couch und begab sich in die Toilette, um die Hände zu waschen. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel. Obwohl es ein paar Monate her war, erschrak er immer noch, wenn er sein neues Gesicht sah. Die Chirurgen hatten ganze Arbeit geleistet. Er erkannte sich selbst kaum. Die Haarverpflanzung liess sein vorher schütteres Haar voll und üppig spriessen. Es war dunkel gefärbt. Man konnte ihn für einen Südländer halten. Seine Stirne war breiter und seine Backen- sowie Kieferknochen markanter. Es war dieselbe Technik, welche die Gothic-Szene anwandte, bei der sich Menschen kleine Hörner auf die Stirn pflanzen liessen. Sein bisher ovales Gesicht wurde jetzt definitiv als eckig wahrgenommen und würde jede Gesichtserkennungskamera täuschen. Ob sich jemand täuschen liess, der ihn früher gut gekannt hatte, bezweifelte er allerdings. Seine Gesichtszüge hatten sich zwar verändert, aber sein Blick und seine Stimme waren die alten geblieben. Und auch wenn er beim intensiven dreimonatigen Training ein paar Kilo abgenommen und tatsächlich so etwas wie einen Waschbrettbauch bekommen hatte, war er an Gang und Gesten bestimmt zu erkennen. Ein letzter Blick in den Spiegel, seine SIG in den hinteren Hosenbund gesteckt, das lockere blaue Hemd mit dem Symbol des Yachtclubs von Tel Aviv darüber drapiert, den Rucksack lässig über die rechte Schulter geschwungen und es konnte losgehen. Mike ging nach oben und verschloss die Kajüte. Die drei versteckten Minikameras, welche Innen- und Aussenraum seines zehn Meter langen Segelbootes überwachten, wurden automatisch aktiviert. Er machte einen grossen Schritt und schon war er an Land.

Er ging den Quai entlang, vorbei an zwei jungen Frauen - die eine an die Mauer einer modernen Toilettenanlage gelehnt, die andere vor ihr stehend -, die sich innig küssten. Mike schaute weg, denn das Bild irritierte ihn. Sein Verstand konnte nachvollziehen, dass es gleichgeschlechtliche Liebe gab. Seine tief verwurzelte katholische Erziehung liess ihn jedoch bei einem solchen Anblick zusammenzucken. Er schüttelte leicht den Kopf. Konzentrier dich! Der bevorstehende Job ist zu wichtig.

Mike durchquerte einen kleinen Park mit einer Kinderschaukel und stand auf einem grossen Platz. Er sah sich um, damit er sich orientieren konnte. An diesem heissen Morgen waren keine Touristen unterwegs, der ganze Platz fast menschenleer. Sehr gut. Er überquerte ihn und kam bei den ersten Häuserzeilen an. Hier begann die Strandpromenade, die offizielle Fussgängerzone. Er ging zwischen den beiden Pollern durch und schlenderte die Strasse entlang. Auf der Hafenseite war ein Grünstreifen gepflanzt, als Abgrenzung zum Rad- und Gehweg und einer halbmeterhohen Mauer. Hinter dieser ging es zwei Meter in die Tiefe, direkt ins blaue Meer. Am Abend sassen hier viele Nachtschwärmer und liessen die Beine baumeln, den Blick auf den Horizont gerichtet. Auf der andern Seite standen Tür an Tür die obligaten Souvenirläden und die Touristenrestaurants. Morgens um zehn Uhr waren alle geschlossen. Ab dem späteren Nachmittag würde es hier von Urlaubern wimmeln.

Mike bummelte durch die Promenade. Er blieb immer wieder vor einem Geschäft stehen und schaute sich die Auslagen an. Beim Schaufenster eines Immobilienvermittlers hielt er inne. Interessant, was hier für Villen zum Verkauf angeboten wurden. Als er weitergehen wollte, versperrten ihm drei athletische Frauen in Jeans und Lederjacken den Weg. Alle drei hatten kurze braune Haare und runde Gesichter mit breiten, markanten Nasen. Es hätten Schwestern sein können.

Die Frau in der Mitte kreuzte die Arme und sagte in Englisch: „Hast du das Geld dabei?“

Für einen Augenblick war Mike überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass er es mit Frauen zu tun bekam. Er war davon ausgegangen, dass ihm ein paar schwere Jungs den Weg versperren würden. Drei junge Frauen waren eine interessante, neue Ausgangslage.

„Ja klar“, antwortete Mike und tippte mit der linken Hand auf seine rechte Schulter.

„Zeig mal her!“

Die hielten wohl nichts von Smalltalk.

„Zeig mir zuerst die Ware!“, sagte Mike forsch.

Die Frau in der Mitte, welche die Anführerin zu sein schien, lächelte Mike spöttisch an. „Denkst du wirklich, wir schleppen das gefährliche Zeug hier mit uns herum? Ausserdem müssen wir dich zuerst überprüfen.“

„Keine Bewegung!“

Der laute Ruf in seinem Nacken liess Mike zusammenzucken. Er drehte sich langsam um. Ein Mann, um die vierzig Jahre, schwarze Haare, markante Gesichtszüge, schlank, trotzdem kräftig gebaut, stand etwa zehn Meter vor ihm bei der Quaimauer und zielte mit einer Pistole direkt auf ihn.

„Schon wieder du. Lass mich endlich in Ruhe. Meine Geschäfte gehen dich nichts an“, entfuhr es Mike, als er den Mann erkannte.

„Hände hoch! Auch ihr da hinten.“

Von weitem hörte Mike Sirenengeheul. Die örtliche Polizei kam angebraust und machte vor den Pollern eine Vollbremsung. Ein surreales Bild, wie die Polizeiautos mit heulenden Sirenen stillstanden und warteten bis die Verkehrshindernisse langsam im Boden versanken.

„Zieh langsam den Rucksack aus, leg ihn auf den Boden und geh drei Schritte zurück.“ Der Mann mit der Pistole zielte genau auf Mikes Kopf.

Es war Zeit zum Handeln. Langsam fasste Mike mit der linken Hand den Tragriemen, hob ihn von der Schulter und zog den Rucksack in Zeitlupe über den rechten Arm. Da in diesem Augenblick sein rechter Arm für den Gegner nicht sichtbar war, konnte Mike nach hinten zu seiner Waffe greifen. Als er den Rucksack wegzog, hatte er freies Schussfeld.

Drei Mal drückte Mike ohne Vorwarnung ab. Blut spritzte, als die Kugeln auf die Brust des Mannes aufschlugen. Sein Gegenüber schaute Mike ungläubig an, torkelte von der Wucht der Schüsse nach hinten, stolperte über die Mauer und fiel rücklings ins Wasser.

Mike hatte gar nicht gewartet, sondern seinen Rucksack zurück auf den Rücken geschwungen, sich umgedreht und war ein paar Schritte auf die Chefin zugerannt. Er griff sie beim Arm.

„Schnell! Wir müssen weg hier.“

Sie starrte ihn ungläubig an. „Hier rein.“

Sie rannte auf die undurchdringbare Häuserzeile zu. Wohin wollten die? In ein Restaurant? Oder in ein Privathaus? Erst als er die eine Frau verschwinden sah, entdeckte er einen schmalen Durchgang in dem zwei Enduro-Motorräder hintereinander geparkt waren. Die ersten beiden Frauen sprangen auf das vordere und die Chefin auf das hintere.

„Steig auf!“, rief sie Mike zu, während sie den Kickstarter betätigte und das vordere Motorrad davonbrauste.

Ja, das war wohl das Sinnvollste, das Mike in dieser Situation machen konnte. Hinter ihm am Quai hörte er die heulenden Sirenen und das Quietschen der Reifen der Polizeiautos, die ein paar Meter hinter ihm zum Stehen kamen.

Mit einem Bocksprung landete er auf dem Soziussitz. Seine Fahrerin legte einen Kavalierstart hin, sodass Mike fast nach hinten weggekippt wäre. In seiner Überraschung hielt er sich reflexartig an der Fahrerin fest. Diese schaute trotz dem bereits horrenden Tempo und der schmalen Strasse wütend zu ihm zurück.

„Nimm deine dreckigen Finger da weg.“

Kapitel 6

Die zwei Gruppen standen sich auf dem verlassenen Hinterhof in gebührendem Abstand gegenüber. Hass sprühte aus ihren Blicken.

Die Szene hätte aus einem drittklassigen Westernfilm stammen können: Der Sheriff und seine Gehilfen auf der einen Seite, die gesetzlosen Rächer auf der andern Seite. Wobei auch hier nicht zu erkennen war, wer die Guten und wer die Bösen waren.

Entgegengesetzter hätten die beiden Gruppen nicht sein können.

Hier die Männer in ihren schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen, auf der andern Seite zerlumpte Gestalten. In den Augen war Entschlossenheit und ein fanatisches Flackern zu erkennen.

Waffen waren bei beiden Gruppen keine sichtbar. Nur die Ausbuchtungen unter den Anzügen auf der einen und die weitgeschnittenen Kleider auf der anderen Seite liessen den Schluss zu, dass es nur einen Funken brauchte und eine tödliche Schiesserei würde innert kürzester Zeit hier alles Leben auslöschen.

„Somit sind wir uns einig?“, fragte der Anführer der Krawattengang.

Sein Gegenpart auf der Lumpenseite zeigte seine Zähne und verzog seinen Mund zu einem gemeinen Grinsen. „Ja, das sind wir, mein Freund. Heute in einer Woche wird die Welt eine andere sein.“

Kapitel 7

Die rasante Fahrt durch die Altstadt von Split hatte nicht lange gedauert. Kaum zwei Ecken weiter waren sie in eine leere Garage verschwunden und hatten dort die Motorräder abgestellt. Die Lederjacken wurden ausgezogen. Darunter erschienen modische Tops. Die Turnschuhe wurden durch Flip-Flops ersetzt. Die Jeans flogen weg. Darunter trugen die drei Shorts. Die überflüssigen Kleidungsstücke wurden in einer Truhe deponiert. Daraus nahmen sie langhaarige Perücken, weite Sommerhüte und modische Sonnenbrillen. Innerhalb von Sekunden hatten sich die drei taffen Frauen in harmlose Touristinnen verwandelt, die sich ein paar schöne Tage am Meer gönnten.

Mike war verblüfft. Die Verwandlung war so schnell und so präzise vor sich gegangen, dass ein Aussenstehender diese drei Frauen nicht mehr mit den zwielichtigen Ladys von vorhin in Verbindung bringen konnte.

Einzig die Pistole, mit der die jüngste der drei auf ihn zukam, zeigte Mike, dass er es hier nicht mit ein paar sonnenhungrigen Teenagern zu tun hatte. Die Chefin stellte sich vor Mike hin und zwischen den Frauen entstand ein Wortgefecht, von dem Mike nichts verstand.

„Meine Schwester will dich abknallen und mit dem Geld verschwinden“, übersetzte die Chefin für Mike auf Englisch. „Das wäre für uns die einfachste Variante. Aber ich denke, das wäre zu kurzfristig gedacht. Schliesslich wollen wir mit dir in Zukunft Geschäfte machen und vielleicht kannst du uns sonst noch nützlich sein. Deshalb lassen wir dich am Leben. Dein Handy und deine Waffe!“

Mike händigte ihr beides aus. Sie gab es an die Jüngere weiter.

„Zieh dich aus!“

Mike meinte, er habe falsch verstanden und glotzte die drei jungen Frauen an.

„Du hast richtig gehört, zieh dich aus!“

Obwohl Mike der Vorstellung, sich vor drei jungen Frauen zu entblössen durchaus Angenehmes abgewinnen konnte, begann er sich widerwillig auszuziehen. Er streifte sein T-Shirt über den Kopf, würgte die Turnschuhe ab und liess die Segeltuchhosen auf den Boden fallen. So stand er in der Unterhose da und war ein bisschen stolz, dass er im Vergleich zu früher zehn Kilogramm weniger Fett, dafür fünf Kilogramm mehr Muskeln präsentieren konnte. Richtig wohl fühlte er sich trotzdem nicht. Sein katholisch anerzogenes Schamgefühl und die kühle Ambiance erzeugten bei ihm ein Unwohlsein.

„Unterhose auch. Aber bild‘ dir bloss nichts ein.“ Sie warf ihm ein Hawaiihemd und weitgeschnittene Badeshorts zu. „Zieh dir das an und beeil dich. Da vorne sind Slippers in deiner Grösse.“

Mike gab sich Mühe, unter der genauen Beobachtung der jüngsten Schwester das Ausziehen der Unterhose und das Anziehen der Shorts in einem Fluss zu machen. Noch bevor er sein Hemd zugeknöpft hatte, rief ihm die Chefin zu: „Komm mit!“

Sie traten zu viert auf die Strasse hinaus. Die Chefin stieg in einen alten Toyoto Corolla ein, der am Strassenrand geparkt war. Sie wies Mike an, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Die anderen beiden Frauen schlenderten händchenhaltend in Richtung der Einkaufs-strasse. Jetzt wusste Mike, wo er die beiden gesehen hatte. Es waren die beiden Frauen, die sich unten am Quai geküsst hatten.

Seine Fahrerin liess es diesmal gemütlich angehen. Sie kreuzte scheinbar planlos quer durch die Altstadt, als befände sie sich auf einer Sightseeing Tour.

„Wie soll ich dich nennen?“

„Nenn mich Mike. Und wie ist dein Name?“

„Mich kennen sie hier unter dem Namen Sef, weil ich hier der Boss bin. Also Mike. Wen hast du erschossen?“

„Smalltalk ist wohl nicht deine Stärke, was?“ Mike schaute Sef an, deren künstliches Haar im Wind des offenen Fensters flatterte. Sie war wohl knapp fünfundzwanzig Jahre alt.

„Flirten kannst du mit den Touristinnen in den Bars. Wir machen Business. Und wenn ein neuer Player wie du auftaucht, muss er zuerst unser Vertrauen gewinnen. Wen hast du vorhin erschossen?“

„Uri. Agent beim Mossad.“

Sef schaute skeptisch zu ihm rüber. „Du hast einen Mossad-Agenten erschossen? Wieso war der hinter dir her?“

Mike lächelte vielsagend. „Du weisst, für wen ich das Zeug brauche, das du mir verkaufen willst. Und da ist es wohl nicht schwierig zu erraten, dass der Mossad an meiner Tätigkeit keine Freude hat. Mit Uri habe ich früher sogar mal zusammengearbeitet.“

„Was meinst du mit zusammengearbeitet?“ Sie wirkte erstaunt.

„Ich war mal beim Geheimdienst. Wir hatten vor Jahren eine verdeckte Operation zusammen mit dem Mossad durchgeführt. Da habe ich Uri kennengelernt. Aber unsere Wege haben sich vor langer Zeit getrennt. Wie du weisst, arbeite ich jetzt freiberuflich und zwar für den, der am meisten zahlt. Das ist momentan eine Organisation, auf welche der israelische Geheimdienst nicht so gut zu sprechen ist.

Aber erzähl mir ein bisschen was von dir.“

„Das tut nichts zur Sache. Aber gut, dass du mich nicht angeschwindelt hast. Vielleicht hast du gedacht, dass das für mich neu ist. Weit daneben. Uri haben wir beobachtet, seit er vor zwei Tagen hier am Flughafen gelandet ist. Er ist uns gefährlich nahe gekommen.“ Sie blickte schräg zu Mike hinüber. „Aber du bist für uns neu. Ausser der Information unserer Geschäftspartner, dass du der neue Bote bist, konnten wir über dich nichts rausfinden. Bei welchem Geheimdienst hast du denn gearbeitet. Aufgrund deines Akzentes tippe ich auf ein deutschsprachiges Land. Deutschland, Österreich, Schweiz?“

„Das tut nichts zur Sache,“ antwortete Mike mit einem Lächeln auf den Lippen. „Lass uns zu eurem Lager gehen und den Deal abschliessen.“

„Wieso sollten wir dir denn vertrauen? Wer sagt uns, dass du nicht selbst ein israelischer Agent bist?“

Mike schaute erstaunt zu Sef hinüber und hob beide Augenbrauen.

„Wirklich? Ich habe euch soeben euer grösstes Problem vom Hals geschafft und du zweifelst an mir? Vielleicht sollte ich mich nach einem neuen Geschäftspartner für meinen Auftraggeber umschauen.

Ein paar Granaten kann ich hier in Kroatien an jeder Hausecke kaufen. Halt an und lass mich aussteigen.“

Sef trat stark in die Bremsen und fuhr rechts ran. Einen Augenblick dachte Mike, der Deal wäre geplatzt. Da bemerkte er, dass sie in der Nähe des Ausgangsorts waren. Sefs beide Komplizinnen spazierten auf das Auto zu. Mit lauten Worten und übertriebenem Gehabe, stiegen sie auf die Rückbank, als ob eine liebe Kollegin sie von ihrem Shopping - Trip abholte.

Sef fuhr los, diesmal zielstrebig aus dem Stadtzentrum hinaus. Nach ein paar Minuten hatten sie den Stadtrand erreicht.

„Die beiden haben ein tolles Souvenir für dich gekauft“, sagte Sef.

Dabei drehte sie das Radio auf volle Lautstärke, sodass der Bass des kroatischen Rap-Songs das kleine Auto fast zum Hüpfen brachte.

Gleichzeitig wurde Mike von hinten eine schwarze Stofftüte über den Kopf gestülpt.

Kapitel 8

Julia Francesca König drückte die schwere, alte Türe zum Ritterschen Palast, dem altehrwürdigen Luzerner Regierungsgebäude, auf. Hinter dem Eingang stand ein junger Polizist in Uniform, der sie aufhielt.

„Staatsanwaltschaft Kreis 1, Luzern, Julia Francesca König.“ Sie zeigte dem Beamten flüchtig ihren Ausweis, wobei sie sich nicht gross Mühe machte, dass er Details erkannte. „Geben Sie mir einen Überblick über die Situation.“

Der Polizist wirkte überrumpelt. Er erwartete wohl nicht eine Staatsanwältin, die jünger war als er selbst.

„Come on. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nicht den ganzen Tag Zeit hier zu stehen und zu warten.“

Der Polizist wurde rot im Gesicht und stammelte: „Also, wir haben den Auftrag, den Kantonsrat zu bewachen, deshalb sind zwei Kollegen von der Streife oben bei dem Toten. Der Amtsarzt und ein Fotograf vom kriminaltechnischen Dienst sind bereits da. Der Kantonsratspräsident hat den Saal räumen lassen und die Kantonsräte hier unten versammelt. Da kommt er.“ Der Polizist nickte einem Mann zu, der in der Türe zum grossen Innenhof erschien.

„Okay.“ Julia verabschiedete sich vom Polizisten und trat auf den Mann zu, der verwundert in ihre Richtung schaute. Er war in Anzug mit Weste und Krawatte gekleidet und sah aus wie ein Bankmanager in den besten Jahren: drahtig, markante Gesichtszüge, dichtes Haar, entscheidungsfreudig. Der Duft von traditionellem Rasierwasser schlug ihr entgegen.

„Staatsanwaltschaft Kreis 1, Luzern, Julia Francesca König.“ Sie verzichtete darauf, den Ausweis zu zeigen. „Und Sie sind …?“

„Guten Tag Frau König. Ich habe in meiner Funktion als Präsident des Kantonsrates den Saal räumen lassen und die Politiker hier im Lichtsaal versammelt.“

„Perfect. Somit haben wir alle Verdächtigen hier unten. Sagen Sie mir bitte fürs Protokoll Ihren Namen.“

„Schwarzentruber Paul“, antwortete der Kantonsratspräsident und wirkte irritiert. „Wann kommt Ihr Chef, damit ich meine Kantonsratskolleginnen und -kollegen informieren kann, wann wir uns nach dem Mittagessen treffen, um die Session fortzusetzen?“

„Also, Herr Schwarzentruber. Ich bin der Chef. Ich gehe nach oben und verschaffe mir einen Überblick. Sie halten solange hier unten die Stellung und schauen, dass sich niemand davonschleicht, bis ich wieder runterkomme. Anyway. Schauen Sie, dass nachher ein Podest zur Verfügung steht.“

„Ein Podest?“, fragte der Kantonsratspräsident, der von Julias forscher Art überrumpelt war.

„Yep, ein Podest. Damit ich nachher eine Ansprache an die Verdächtigen halten kann.“

Ohne ein weiteres Wort liess sie den verdutzten Würdenträger stehen und eilte die mittelalterliche Steintreppe nach oben. Dort trat sie durch die schwere Holztüre und ging der Empore entlang, von welcher der Lichtsaal einsehbar war. Das Gemurmel der Politiker verstummte. Der Kantonsratspräsident informierte, dass alle vorläufig hier bleiben müssten, bis die ersten Untersuchungen abgeschlossen waren. Sofort schwoll der Lärmpegel an. Die kantonale Politikelite tat ihren Unmut über die Anweisung lautstark kund.

Julia schmunzelte zufrieden. So fühlte sich also Macht an. Das gefiel ihr. Davon konnte es ruhig ein bisschen mehr sein. Sie ging auf die Doppeltüre zum Kantonsratssaal zu. Bei der Türe stand ein Polizist, der zur Seite trat und sie ungefragt passieren liess. Anscheinend hatte der Kollege unten sie bereits angekündigt.

Direkt hinter der Türe bot sich ein ungewöhnlicher Anblick. Am Boden lag eine Leiche, nackt. Darüber beugte sich eine Gestalt mit grauen Haaren und weissem Arztkittel. Daneben stand ein Mann in Uniform.

„So, was haben wir denn hier?“, fragte Julia. Der Spruch stammte von ihrem Chief. Bei den paar Gelegenheiten, bei denen sie ihn bisher begleitet hatte, hatte er jeweils mit dieser Floskel begonnen. Trotz ihrer Abneigung gegen ihn fiel ihr in dieser Situation nichts Besseres ein.

Der Arzt antwortete, in seine Arbeit vertieft, ohne aufzublicken: „Natürlicher Tod. Vermutlich akuter Herzstillstand. Aufgrund der Konstitution naheliegend: Körpergrösse von einem Meter fünfundsechzig und einem geschätzten Gewicht von einhundertzwanzig Kilo. Sieht nicht so aus, als ob er gesund gelebt hätte. Ausser einem Wasserfleck auf seinem Hemd kann nichts Aussergewöhnliches entdeckt werden. Vermutlich wurde ihm schlecht, und er wollte sich einen Schluck Wasser gönnen, das er dann bei der Herzattacke verschüttete.“ Er tastete den ganzen Körper ab. „Ich suche noch nach unerklärbaren Blutergüssen.“ Er resümierte: „Keine Fremdeinwirkung sichtbar.“ Zum Schluss steckte er dem Leichnam ein Thermometer in den After. „Jetzt eruieren wir noch den genauen Todeszeitpunkt.“

Der Amtsarzt stand mühevoll auf, schob eine wirre graue Strähne aus den Augen. „Ich bin mir sicher: Herzinfarkt. Wir können abschliessen, Herr Staatsanwalt.“ Er drehte sich zu Julia um. Zuerst schaute er sie an und dann den Polizisten. „Wer ist das? Und wo ist der Staatsanwalt? Sind Sie von der Presse?“

„Staatsanwaltschaft Kreis 1, Julia Francesca König. Sind Sie sicher?

Das ist ein Politiker, ein hohes Tier. Der stirbt während einer Session.

Das ist verdächtig. Das muss ein Mord gewesen sein. Sie haben sicher einen Fehler gemacht. Schauen Sie nochmals nach. Sie finden bestimmt etwas. Vielleicht ist er vergiftet worden. Anyway. Ich werde auf jeden Fall eine Autopsie verlangen.“

Erstaunlich, wie ähnlich die Menschen schauen, wenn sie verblüfft sind, sich einer unerwarteten Situation ausgesetzt sehen. Der Polizist, der Kantonsratspräsident, der Amtsarzt. Julia genoss die Wirkung, die sie auf diese erfahrenen Männer hatte. Frauenpower. Ja, sie würde den Laden hier ein bisschen aufmischen, moderner machen. Sie würde bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Mein Fräulein. Ich erfülle diese Aufgabe seit bald vierzig Jahren. Und Sie kommen hierher, sind noch nicht einmal richtig trocken hinter den Ohren und erdreisten sich, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu verrichten habe. Was haben Sie denn für eine Kinderstube genossen? Vermutlich keine.“ Er drehte sich ab und verstaute seine Instrumente in der abgewetzten Tasche, die auf dem Pult stand, an dem während der Session ein Regierungsrat sass. „Das ist ein natürlicher Tod. Keine Autopsie. Der Leichnam kann freigegeben werden. Punkt.“ Er schloss die Tasche, packte sie energisch mit der rechten Hand, drehte sich zu Julia um und hob den Zeigefinger. „Und Ihr unflätiges Benehmen wird ein Nachspiel haben. Eine solche Beleidigung lasse ich nicht auf mir sitzen.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stapfte der Arzt an Julia vorbei und verschwand.

„Old bugger“, murmelte Julia halblaut vor sich hin. Sie nahm den Polizisten ins Visier. „Und Sie. Haben Sie alles abgesucht, alle verdächtigen Gegenstände sichergestellt und mit den Zeugen gesprochen?“

Der erfahrene Polizist wich zuerst zurück, fasste sich dann schnell wieder und erwiderte selbstsicher: „Wir haben nichts angerührt bis der Fotograf von der Kriminaltechnik alles abgelichtet hatte. Danach haben wir den Leichnam für die Untersuchung hierher gebracht.

Sonst nichts. Und da der Amtsarzt einen Herzinfarkt diagnostiziert hat, werde ich nichts Weiteres unternehmen. Ich werde das Beerdigungsinstitut anrufen und die Abholung des Toten veranlassen.

Dann werde ich unverzüglich seine Frau benachrichtigen. Nicht, dass sie vom Tod ihres Mannes aus den Medien erfährt. Wie mich meine Kollegen informiert haben, haben bei der Entdeckung des Toten die Reporter, die bei jeder Sitzung des Kantonsrates zahlreich auf der Tribüne dabei sind, die Gelegenheit genutzt, um Bilder zu schiessen.

Die werden wohl schon auf den sozialen Medien herumgeboten, denn ein toter Politiker ist für die ein gefundenes Fressen; erst recht während der Session.“

„Yep. Sehen Sie, wie verdächtig das alles ist? Anyway. Rufen Sie Ihre Kollegen, damit sie den Tatort nochmals gründlich untersuchen können. Sie können sich keinen Fehler erlauben. Und geben Sie mir die Telefonnummer seiner Frau. Ich werde sie selbst anrufen. Dazu braucht es ein wenig Sensibilität.“

Der Polizist gab ihr kopfschüttelnd einen Zettel, auf dem der Name Stefanie Misteli und ein paar Zahlen hingekritzelt waren. Er wandte sich ab und sprach in sein Funkgerät.

Julia wählte auf ihrem Handy die Nummer.

„Misteli.“

„Guten Tag Frau Misteli. Hier spricht Julia Francesca König von der Staatsanwaltschaft Kreis 1, Luzern. Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ihr Mann ist tot. Anyway. Ich werde seinen Mörder finden.“

Kapitel 9

Mike hatte jede Orientierung verloren. Die laute Musik und die totale Schwärze waren verwirrend. Zusätzlich hatten die beiden Frauen auf der Rückbank eine laute Party veranstaltet. Sie hatten zu den Songs laut mitgejohlt und ihn permanent an Kopf und Oberkörper herumgeschubst, als ob sie mit ihm tanzen würden. Sich in dieser Situation zu merken wie der Strassenverlauf war, ob sie über eine Brücke fuhren, eine holprige Strasse oder Ähnliches, konnte er vergessen. Die einzige Information, die er hatte, war die ungefähre Zeit, die seit dem Stadtrand vergangen war. Er hatte die Sekunden gezählt. 1337, das entsprach ziemlich genau zweiundzwanzig Minuten. Wobei er nicht wusste, ob sie unnötige Umwege gemacht hatten. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Das Auto wurde langsamer und hielt an. Die Musik verstummte. Die Party war zu Ende.

Mike würde die Kapuze nicht selbst ausziehen, obwohl er die Hände frei hatte. Er hörte, wie hinten jemand ausstieg und einen kurzen Moment später das Auto vorsichtig weiter fuhr. Das war nachvollziehbar. Sie fuhren mit ihm in eine Garage, damit er die Gegend nicht sah und den Standort nicht eruieren konnte.

Das Auto hielt ein weiteres Mal. Mit einem Ruck wurde ihm die Kapuze vom Kopf gerissen. Mike blinzelte und schaute sich um. Sie waren in einer Halle von etwa fünfzig Meter Länge, in die kein Licht von aussen drang. Sie war ein einziger riesiger Raum ohne Unterteilung. Unzählige militärische Fahrzeuge standen herum. Im hinteren Teil erkannte er ein Hochregallager, das ihn an seine frühere Handelsfirma im Geschenkebereich erinnerte. Die Wände und die Decke waren aus grauem Beton. Sie befanden sich in einem unterirdischen Bunker. Aber was er sah, als sich seine Augen an die grelle Beleuchtung gewöhnt hatten, liess ihn staunen. Keine zehn Meter seitlich von ihm standen in Reih und Glied fünf Panzer: fünf ausgewachsene Panzer.

„Komm mit ins Büro“, rief Sef ihm zu. Sie ging eine metallene Treppe hoch in ein Kabäuschen, das in einer Ecke an die Wand gemauert war. Ein typisches Reduit, bei dem der obere Teil der Wände verglast war, damit der Aufseher, während er seine administrativen Tätigkeiten erledigte, den Überblick über seine Arbeiter hatte.

Mike folgte Sef. Die anderen beiden gingen hinter ihm her. Sie hatten ihre Waffen auf ihn gerichtet. Ganz schienen sie ihm nicht zu vertrauen.

„Nettes Arsenal habt ihr hier.“ Mike nickte anerkennend in Richtung der Halle, in der er hinter den Panzern mehrere Jeeps mit aufgesteckten Maschinengewehren entdeckte. „Ich kann mir vorstellen, noch mehr mit euch ins Geschäft zu kommen.“ Mike deutete zu den Fahrzeugen hin.

„Das ist alles nur Show. Mein Vater war im Krieg in den neunziger Jahren Major und für verschiedene Waffenarsenale zuständig. Im Chaos nach dem Krieg sind viele Unterlagen über diese Waffenverstecke verloren gegangen. Mein Vater hat dieses Grundstück mit Lagerhalle zu einem Spottpreis erstanden. Und seither dient es unserer Familie als Geschäftshauptsitz. Aber die Panzer sind zu gross zum Verkaufen. Wie soll man so ein Ding ausser Landes bringen? Ist für uns mehr Nostalgie.“

Sie setzte sich, entledigte sich der Perücke, stülpte diese über einen künstlichen Kopf, nahm sich aus dem Kühlschrank ein Bier, öffnete es mit den Zähnen, setzte sich auf den Sessel hinter dem Bürotisch und legte die Beine darauf. Sie fühlte sich offensichtlich wohl hier.

„Dann warten wir jetzt auf deinen Vater?“

Sef nahm einen grossen Schluck und lachte. „Da können wir lange warten. Der war zu vertrauensselig und liegt jetzt einen Meter fünfzig unter dem Boden. Nein. Ich führe diesen Laden seit drei Jahren mit meinen zwei Schwestern. Ich bin hier der Chef, der Sef. Du verhandelst mit mir. Du siehst ja, dass wir sehr vorsichtig sind. Dieses Versteck hier kennt keiner.“

„Machen wir dort weiter, wo wir vorhin aufgehört haben.“ Mike nahm den Rucksack vom Rücken, legte ihn auf den Tisch, nestelte am Reissverschluss herum und liess die Bündel mit den Fünfzig-Dollar-Scheinen herauskullern. Er konnte sehen, wie die Augen der drei Frauen ob des verlockenden Anblicks zu glänzen anfingen. „Jetzt ihr.“

Sef griff lässig in die oberste Schublade ihres Pultes und holte eine kleine Ampulle raus, welche die Grösse eines Mini-Schnapsfläschchens hatte.

„Fünf Milliliter Sarin Nervengift, verpackt in Druckglasbehälter und mit Schraubverschluss versehen. Ideal für den Aufbau an Minenwerfer-Munition. Anstelle der Zünder wird diese Ampulle vorne auf die Granate aufgeschraubt. Beim Einschlag wird man die Explosion vermissen und voller Erleichterung vermuten, dass man es mit einem Blindgänger zu tun hat. In Wirklichkeit beginnt sich eine tödliche Gaswolke auszubreiten, die innert Sekunden alle Menschen in der Umgebung einen qualvollen Tod sterben lässt.“

Mike setzte sich langsam auf einen Stuhl. Er schaute Sef in die Augen.

Reine Professionalität, totale Abgebrühtheit. Was musste in einem Menschen vorgehen, was musste ein Mensch erlebt haben, dass er so indifferent gegenüber unsäglichem Leid sein konnte? Ein Schauer lief Mike den Rücken hinunter.

„Das wird deinen Freunden in Palästina gefallen. Wenn sie ihre Mörsergranatenwerfer mit unseren kleinen Dingern ausrüsten“, sagte Sef. „Die Israelis werden an der Decke kleben. Kein Wunder, dass dein Freund Uri nicht möchte, dass du die ins Land schmuggelst.“

Wie aufs Stichwort trat eine der Schwestern an den Tisch, legte einen handlichen Koffer, wie man ihn von Handelsvertretern her kennt, auf den Tisch und öffnete ihn.

„Kroatischer Birnenlikör in Sechserpackungen. Handlich abgefüllt und unv…“ In der Ecke blinkte eine rote Lampe. Die drei Frauen änderten ihre lockere Haltung innerhalb von Sekundenbruchteilen. Sef sprang auf und tippte auf ihrer Computertastatur herum. Mike erkannte Bilder von Überwachungskameras. Ein hektisches Gespräch entstand. Mike konnte nichts verstehen. Die drei Frauen beruhigten sich erst, als die eine unten rechts auf den Bildschirm zeigte. Sef erteilte einen knappen Befehl. Daraufhin verschwanden die beiden Schwestern und Mike blieb mit Sef alleine. Sie hatte sich beruhigt, schnappte ihr Bier und fläzte sich wieder in den uralten, zerschlissenen Bürosessel.

„Was ist denn los?“, fragte Mike.

„Für einen Moment habe ich gedacht, du hättest uns reingelegt und jemanden hierher gelotst. Unsere Bewegungsmelder haben angeschlagen. Aber anscheinend war es falscher Alarm. Scheint ein Köter zu sein, der da im Eingangsbereich herumstrolcht. Meine Schwestern klären das. Wehe, du hast damit zu tun. Wenn eines dieser Fläschchen zu Bruch geht, kommt keiner hier raus … ausser vielleicht ich …“, ergänzte Sef vielsagend. Ihr Blick wanderte zu den drei Gasmasken, die neben ihrem Pult griffbereit an einem angeschraubten Holzbrett hingen.

„Aber zurück zum Geschäft. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja.

Handlich abgefüllt und unverdächtig. Hier überall im Handel erhältlich. Du kannst überall behaupten, du hättest dich mit dieser touristischen Köstlichkeit eingedeckt. Das Hineinschmuggeln nach Palästina musst du allerdings selbst organisieren. Die Etiketten sind nur aufgeklebt und ziemlich einfach zu entfernen. Vielleicht gibt es im Gazastreifen auch eine Alkoholspezialität. Ausserdem hast du Zeit, dir das in Ruhe zu überlegen. Wird eine Weile dauern, bis du dir ein neues Boot organisiert hast.“

„Darüber mach dir mal keinen Kopf. Was mich mehr beschäftigt: Kann ich das Zeug gefahrlos transportieren?“

„Solange das Sarin in den Glaszylindern drin steckt, ist das kein Problem. Die sind bruchsicher, wenn sie nicht mit einem Druck von mindestens zehn Kilogramm von oben direkt ausgelöst werden.

Ähnlich wie eine Granate. Allerdings: Sollte dich ein Zöllner zwingen, das Ding zu öffnen und zu trinken, ist es mit allen vorbei.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck Bier. Nicht mal über ihren eigenen Witz konnte sie lachen.

„Somit ist dieser Deal abgeschlossen. Aber meine Freunde haben mir gesagt, dass du für mich noch was anderes hast, was Neueres, Effektiveres. Was ist das?“

„Sprichst du von Sarin Plus? Heimtückisch. Habe erst gestern ein Muster erhalten.“ Sie kramte in ihrer Schublade. Sie hielt eine schmale, durchsichtige Ampulle von knapp fünf Zentimeter Länge in der flachen Hand. „Das ist die neuste Weiterentwicklung auf der Basis von Sarin, gemischt mit VX Nervengift, das vor allem über die Haut aufgenommen wird. Das ist das schlimmste Nervengift, das ich kenne. Es ist ein Verzögerungseffekt eingebaut. Das Sarin Plus verflüchtigt sich nicht sofort, sondern verzögert. Es ist teuflisch. Die Granate trifft auf, keine Explosion, alle freuen sich über den Blindgänger. Man beginnt mit dem Aufräumen, Helfer kommen, das Gift klebt an Menschen und Material, wird überall verteilt und plötzlich fängt es an zu wirken. Ganz neu auf dem Markt. Ich habe es exklusiv von meinem Lieferant für den Nahen Osten. Du wärst mein erster Kunde.“

„Kann ich es mal anschauen?“