Der Rache Engel - Markus Christoph Bucher - E-Book

Der Rache Engel E-Book

Markus Christoph Bucher

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Beschreibung

Heinrich Boswiler, Financier mit dubioser Vergangenheit, wird an der Basler Fasnacht ermordet. Die Basler Polizei nimmt die Ermittlungen auf und vermutet den Mörder im Kreis der Geschädigten eines lange zurückliegenden Finanzskandals. Auch der Nachrichtendienst des Bundes interessiert sich für den Mordfall, denn Boswilers Zuger Firma "Kryptofuturo" tätigt mit Kryptowährungen internationale Zahlungen am Rande der Legalität. Geheimagent Mike Bohrer wird auf den Fall angesetzt und arbeitet mit der Basler Polizei eng zusammen. Diese Zusammenarbeit zeigt schnell Resultate und wirft gleichzeitig neue Fragen auf. Bald zeichnet sich ein Schema ab: Unerbittliche Rache. Je tiefer Mike gräbt, desto mehr wird er in diesen tödlichen Strudel hineingezogen und steckt plötzlich zwischen zwei Fronten: Auf der einen Seite die CIA, auf der anderen die schlimmsten Verbrecher- und Terrororganisationen der Welt. Und über allem schwebt das Credo der Rache: Jemand muss sterben, egal wer!

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Markus Christoph Bucher kam 1960 als jüngstes Kind einer grossen Bauernfamilie in Gunzwil, zwanzig Kilometer nördlich von Luzern, auf die Welt. Als er mit vierzehn Jahren eine Gitarre von seinem ältesten Bruder geschenkt bekam, fing er an, eigene Lieder zu komponieren und diese im Familien- und Freundeskreis vorzutragen. Mit achtzehn Jahren hatte er bereits seine eigene Band. In den folgenden Jahren trat er auch als Alleinunterhalter auf und spielte in verschiedenen Musicals mit. Andere Menschen zu unterhalten, ist seine Passion. Heute hat er eine zusätzliche Möglichkeit dafür gefunden: Die Abenteuer von Mike Bohrer. Darin verarbeitet der ausgebildete Wirtschaftsinformatiker die Reisen und Kontakte, die er in seinen über dreissig Jahren als erfolgreicher Inhaber einer internationalen Handelsfirma erlebt hat. Wie viel Autobiographisches in Mike Bohrer liegt, verrät der Autor nicht.

Bereits erschienen aus der Mike Bohrer Serie:

Das Pegasus Projek

ISBN: 978-3-7460-4870-3

Die 300 Assassini

ISBN: 978-3-7481-0909-9

Ohne Eure Hilfe, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank an:

Roger Eggerschwiler, Roland Brun, Silas Kreienbühl, Yvonne Brun, Monika Wey-Fuchs, Cordula Caminada, Rosemarie und Kandid Bucher, Aline Bucher, Luca von Wyttenbach, Irène Kost

Spezieller Dank an das Team vom KKLB Beromünster

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Heinrich Boswiler

Die Stadtbeleuchtung ging aus.

Die unüberschaubare Masse an Menschen wurde von einem Moment auf den anderen in tiefschwarze Dunkelheit getaucht.

Ein Raunen ging durch die Menge.

Lärm setzte ein.

Laute Rufe waren zu hören. Alle mit denselben drei Worten: „Morgestraich: vorwärts, marsch!“

Wie Schüsse peitschten die Schläge der Tambouren auf ihre Trommeln durch die Gassen, und der eindringliche Ton der Piccoloflöten ging den Zuhörern durch Mark und Bein. Das Aufflackern der buntbemalten, riesigen Laternen tauchte die Basler Altstadt in eine gespenstische Atmosphäre.

Die „Luuserle“ setzten sich auf das Kommando des Tambourmajors im Gleichschritt in Bewegung und stimmten dabei den „Morgestraich Marsch“ an.

Das Motto der Clique war Draculas Vögel. Das Kostüm bestand aus üppig übereinanderliegenden schwarzen Stoffschichten. Den optischen Leckerbissen bot ein riesiger Rabenkopf mit roten, furchteinflössenden Augen und zwei überdimensionalen Eckzähnen. Die imposante Kopfbedeckung hatte aber einen kleinen Nachteil: Sie schränkte die Sicht stark ein.

Und so bemerkte die hinterste Reihe der Pfeifer nicht, dass ihr Kamerad auf der rechten Seite aussen nicht mitmarschierte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Epilog

Kapitel 1

Ein Schuss.

Mike hatte einen Schuss gehört. Er öffnete ganz langsam die Augen und zuckte zusammen, als die grelle Helligkeit seine Pupillen erreichte. Ein unerträglicher Schmerz schoss in seinen Kopf und breitete sich explosionsartig in seinem Körper aus. Er fühlte sich elend. Alles tat höllisch weh. Er musste sich zwingen, die Augen offen zu halten. Wie durch einen Schleier blickte er in Erbrochenes, das vor seiner Nase halb eingetrocknet am Boden klebte und säuerlich roch. Seine Sinne versuchten die spärlichen Informationen, die ihm seine Nerven lieferten, zu interpretieren. Er lag auf dem Bauch, in einem Bett, wie ihm das schmutzige Laken bestätigte. Sein Kopf ragte über die Matratze hinaus und hing schlaff hinunter. Die beiden Arme taumelten leblos seitlich daneben, als ob ihn jemand achtlos hingeworfen und sich dann davongestohlen hatte. Er versuchte in seinem ausgetrockneten Mund Speichel zu produzieren. Erfolglos. Mit der geschwollenen Zunge fuhr er über seine Lippen. Blut. Er schmeckte Blut, eingetrocknetes Blut. Mike wollte sich bewegen, doch seine Glieder verweigerten jede Reaktion auf die Impulse, welche das Hirn zu verschicken suchte. So beschränkte er sich darauf, wenigstens mit den Augen zu rollen, um einen Überblick zu bekommen, wo er sich befand. Sein Blick folgte der Blutspur, die sich vom Bett aus der Wand entlang bis zu einer offenen, erleuchteten Türe zog. Ganz leicht konnte er den Kopf zur Seite neigen. Hotelzimmer. Er war in einem Hotelzimmer und blickte auf die schneeweisse Badezimmertüre. Ganz klar waren die roten Handabdrücke zu erkennen, die sich wie eine blutige Spur im Schnee abzeichneten und gegen unten zu Schleifspuren wurden. Jemand hatte erfolglos versucht, sich an der Türe festzuhalten und war nachher auf den Boden gestürzt. Wer? Und dann erkannte er die Glassplitter, die überall am Boden lagen. Der Flaschenhals war intakt. Der Rest war in tausend kleinere und grössere Splitter zerfallen und verteilte sich über den Spannteppich, der den gesamten Boden des Hotelzimmers bedeckte.

Mike gelang es, ganz langsam seinen rechten Arm anzuheben, ohne seine Körperposition zu verschieben. Seine Finger krochen an der Wange hoch und ertasteten auf Höhe seiner Schläfe eine riesige Beule.

Er drehte seinen Kopf etwas ab. Durch das halboffene Fenster nahm Mike ein lautes Stimmengewirr wahr, verschiedene Männerstimmen und eine einzelne, keifende Frauenstimme. Irgendwo fiel mit einem lauten Knall eine Türe ins Schloss. Und dann die Erlösung. Von Ferne die Sirenen eines Polizeiwagens. Er lebte und die Polizei kam. Es würde alles gut.

Mike fiel in einen ruhelosen Schlaf zurück.

Kapitel 2

„Und sein Zustand?“, fragte Sabine Bildeisen mit besorgtem Gesichtsausdruck.

Engels betrat das Büro und klopfte sich ein paar Schneeflocken von seinem dunklen Mantel. Er rieb sich die Hände über dem Elektroofen, der in der Mitte des Büros stand und fuhr sich mehrmals über seinen kahlen Schädel. „Diese Kälte. Mein Gehirn ist fast eingefroren“, murmelte er vor sich hin.

„Mmmh. Und wo genau?“

Engels schälte sich behäbig aus dem neuen, dunklen Wintermantel, der ihn korpulenter aussehen liess, als er war. Zusammen mit seinem rot-blauen FC Basel-Fanschal hängte er ihn an die Garderobe. Er schaute zu seiner jungen Kollegin, die kerzengerade hinter ihrem Bürotisch stand und all seine Bewegungen genau beobachtete.

„Wir sind in fünfzehn Minuten da. Sperrt grossräumig ab und haltet die Personen fest, die was gesehen haben.“ Nachdenklich legte Sabine auf.

Sabine wusste, dass ihr Chef immer Mühe hatte, am Morgen in die Gänge zu kommen. Erst recht hasste dieser den heutigen ersten Fasnachtstag, an dem sie beide zum Frühdienst eingeteilt waren und deshalb schon um vier Uhr im Büro sein mussten.

„Was ist los?“, fragte er mürrisch. Aus dem Gehörten hatte er wohl geschlossen, dass jetzt nichts aus dem gemütlichen Kaffee wurde, den er sich sonst immer als erste Amtshandlung im Büro genehmigte. „Du bist zu spät.“ Das „wieder mal“ konnte sich Sabine knapp verkneifen. Sie drehte sich dynamisch ab und ergriff ihre Jacke, die über der Rückenlehne ihres Bürostuhles hing.

Engels quittierte den Vorwurf mit einem Grunzen und einem Schulterzucken. Fragend blickte er in ihre Richtung. Trotz seinem behäbigen Auftreten und den manchmal etwas veralteten Sprüchen mochte sie ihren neuen Chef. Alle nannten ihn „Kommissar“, obwohl diese Bezeichnung ein Überbleibsel von früher war. Inzwischen wurden die Beamten, die Verbrechen an Leib und Leben aufklärten, als Ermittler bezeichnet, was sie viel weniger attraktiv fand.

Dass Sabine die Nachfolge einer Basler „Institution“ antreten würde, daran musste sie sich noch gewöhnen. Sie war vor zwei Monaten, anfangs Jahr, von der Kripo Zürich gekommen. Dort hatte ihr die Perspektive gefehlt. Hier in Basel sollte sie Michael Engels ersetzen, wenn er Mitte Jahr in seinen Ruhestand gehen würde.

„Brauchst dich gar nicht auszuziehen!“, befahl Sabine energisch. „Wir müssen unverzüglich los. Es liegt ein Toter in der Hutgasse.“ Mit einem schwarzen Gummiband, fasste sie ihre langen braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie machte das nicht gerne, weil sie das Gefühl hatte, ihr breiter Mund mit den vollen Lippen würde so ihr blasses Gesicht zu sehr dominieren. Jedoch konnte sie unmöglich mit wallenden Haaren an einem Tatort auftauchen, obwohl sie wusste, dass es ihr ausserordentlich gut stand und manches Männerherz höher schlagen liess.

„Herzstillstand“, vermutete Engels.

„So kann man es auch nennen. Herz stand still, nachdem es von mehreren Kugeln durchbohrt worden war.“

Engels verzog keine Miene. Es war klar, dass dies nicht der erste Tote war, mit dem er zu tun hatte. Vielleicht würde es sein letzter sein. Er sah müde aus und Sabine war sich nicht ganz sicher, ob dies auf die frühe Tageszeit oder das fortgeschrittene Alter zurückzuführen war. Träge öffnete er die Türe zu seinem Ausrüstungsschrank, ergriff den dunklen Hut und zog sich umständlich die orange, dick gefütterte Polizeijacke über. Sabine zog es vor, nicht von weitem schon als Polizistin erkannt zu werden. Manchmal kam man besser an Passanten heran, wenn sie einen für ihresgleichen hielten. Sie schlüpfte in ihre warme Daunenjacke, legte das fluoreszierende Polizeigilet über den Arm und wartete am Ausgang, bis ihr Kollege in der klobigen Ausstattung bei ihr angekommen war.

„Irgendein Pfeifer von einer Clique“, sagte Sabine. Das Unverständnis eines Nicht-Baslers für dieses ungewöhnliche Hobby war gut herauszuhören, was bei Engels ein leichtes Schmunzeln provozierte. Sabine wusste, dass Engels selbst nie in einer Clique gewesen war, dass er aber viele Leute aus den hiesigen Fasnachtsvereinen kannte.

Sie gingen durch den langen Korridor im dritten Stock. Engels fuhr gemütlich mit dem Lift, während Sabine behände die Treppe hinuntertrippelte. Beim Ausgang trafen sie sich wieder und traten in die Kälte hinaus. Es war an diesem Morgen unmöglich, mit einem Fahrzeug in die Altstadt hinein zu kommen. Sie hatten sogar Mühe, sich zu Fuss durch das Gedränge fortzubewegen. Die Fasnacht war in vollem Gange und der Tote in der Hutgasse hielt sowohl Akteure als auch Zuschauer nicht davon ab, ausgelassen zu feiern.

Kurz vor halb fünf trafen Sabine und Engels am Tatort ein und schlüpften unter dem rot-weissen Absperrband durch. In ihren weithin sichtbaren Westen mit der reflektierenden Aufschrift „Polizei“ standen die Polizisten von der Streife vor einem schwarzen Stoffknäuel und versuchten, sich einen Überblick zu verschaffen.

„Hallo Kommissar! Hallo Frau Bildeisen“, begrüsste sie ein älterer, stämmiger Polizist.

„Kurt, was wisst ihr bisher?“ Engels begrüsste seinen Kollegen mit einem Handschlag.

„Wir waren auf der anderen Seite des Marktplatzes, als um sechs Minuten nach vier ein Mann zu uns gelaufen kam. Er rief um Hilfe, da jemand am Verbluten sei. Wir sind sofort hierher gerannt. Leider waren wir zu spät. Eine ältere Frau …“, er schaute sich um und nickte zu einer hageren Dame hin, die ein paar Meter weiter auf dem Trottoir stand, „… versuchte erste Hilfe zu leisten. Jedoch war der Mann nicht mehr zu retten. Wir haben ihn untersucht und gesehen, dass er aus Mund und Nase blutet. Schliesslich haben wir auch an seinem Rücken Blut entdeckt. Vermutlich Pistolenkugeln oder allenfalls Messerstiche von hinten“, schloss der Polizist.

Sabine kauerte sich vorsichtig zu dem Leichnam nieder. Engels blieb stehen und starrte in das Gesicht des vor ihm liegenden Mannes.

„Ich habe den Mörder gesehen!“ Die ältere Frau, die ein paar Meter entfernt neben einem Polizisten stand und anscheinend erste Hilfe geleistet hatte, fuchtelte wild mit den dünnen Armen. „Warum glaubt mir denn niemand? Ich habe den Mörder gesehen.“

Kapitel 3

Adolf Wenger blinzelte und drehte sich zum Wecker um. Halb fünf? Warum war er erwacht? Seltsam. Früher war es ihm öfters passiert, dass er schon vor vier Uhr morgens aufgewacht war und die Gedanken um die geschäftlichen Probleme kreisten. Spätestens um fünf Uhr war er dann jeweils aufgestanden und frühmorgens bereits übermüdet ins Büro gefahren. Hier in diesem „Ferienlager“ schlief er wunderbar. Klar war der Komfort begrenzt. Das war aber für ihn nicht ungewohnt, war er doch in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Eigentlich brauchte er den ganzen Luxus gar nicht. Und auf den Druck und den Stress, die hohen Erwartungen, die auf ihm lasteten, verzichtete er gerne. Hier warteten nur seine geliebten Pferde auf ihn.

Er drehte sich in seinem schmalen Bett um. Es gab noch zwei Stunden Schlaf, bis ihn um halb sieben der Gefängniswärter wecken würde.

Kapitel 4

Engels hielt Sabine am Ärmel zurück. Wie er es von ihr nicht anders erwartet hatte, hatte sie sich erhoben und wollte sich auf die rufende Zeugin zu bewegen. „Die will sich nur wichtigmachen. Ich rede mit ihr. Schau dir inzwischen die Leiche an. Er hat bestimmt Ausweispapiere auf sich. Schau, ob du was findest. Ich denke, ich kenne den Mann.“ Ja, er kannte ihn. Nicht persönlich, aber er wusste, wer da vor ihm lag.

Sabine nickte und ging wieder in die Hocke. Während sie sich vorsichtig daran machte, die Taschen unter dem üppigen Fasnachtskleid zu finden, begab sich Engels zu der angeblichen Zeugin, die immer hysterischer zu rufen begann.

„Ich bin Kommissar Engels. Und Sie sind?“

„Roswitha Ritter. Ich habe den Mörder gesehen. Er hat ihn erschossen. Er hatte eine Pistole in der linken Hand. Er hat sich von hinten angeschlichen und die Pistole dem Mann an den Rücken gehalten. Dann hat er abgedrückt. Ich habe es genau gesehen. Der arme Mann ist eingeknickt. Ich bin sofort zu ihm hin. Doch ich konnte nichts mehr für ihn tun. Ich konnte ihn nicht beatmen. Das Blut kam aus Nase und Mund. Ich konnte nicht helfen. Er war einfach tot. Ich habe - “

Engels unterbrach sie und zog sie von den Gaffern weg, die sich um sie gedrängt und sensationslüstern die Worte aufgesogen hatten.

„Bitte beruhigen Sie sich. Ich bin sicher, Sie haben Ihr Bestes gegeben. Dem Mann war nicht mehr zu helfen. Aber wir wollen herausfinden, wer diese schreckliche Tat begangen hat. Deshalb lassen Sie uns systematisch vorgehen. Was haben Sie gesehen, bevor der Mann zusammenbrach?“

„Da war eine Person, ein bisschen korpulent, nicht so gross, ungefähr wie Sie, die ist mir aufgefallen.“ Sie schaute Engels kurz an und lächelte, als ob sie sich für diesen Vergleich entschuldigen wollte. „Ich stand dort drüben auf dem Trottoir auf der Höhe der letzten Reihe der ‚Luuserle‘. Wissen Sie, mein Mann war ein begeisterter Piccolospieler. Ich hatte jedes Jahr hier auf ihn gewartet, weil seine Clique immer um fünf nach vier hier vorbeigekommen ist. Wir waren fast vierzig Jahre verheiratet. Er war so ein guter Mensch. Vor neun Jahren ist er gestorben. Er hat sich das Leben genommen. Er konnte nicht damit leben - “

Engels unterbrach sie. „Gute Frau, ich bedaure sehr, was mit Ihrem Mann geschehen ist. Trotzdem bitte ich Sie, kommen Sie darauf zurück, was heute Morgen passiert ist.“

Sie schaute ihn verlegen an. „Ach ja. Entschuldigen Sie. Also, ich stand dort drüben auf der Höhe der letzten Reihe. Ich sah, wie sie sich für den Abmarsch bereit machten, die Masken aufsetzten und ihre Instrumente ergriffen. Da fiel mir dieser Mann auf. Er stand auf der gegenüberliegenden Strassenseite in der dunklen Nische unter dem Coop Emblem. Er war in einen Mantel gekleidet, der bis zu den Knien reichte. Ein dunkler Mantel, ich glaube Leder. Er trug eine Mütze mit Ohrenklappen, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Aufgefallen ist er mir vor allem, weil er einen blauen Schal über den Mund gezogen hatte. Man konnte nur seine Augen sehen. Ich dachte mir noch‚ so kalt ist es doch nicht, dass man sich ganz vermummen muss. In diesem Moment ging das Licht aus. Ich sah im Schein der Laternen schemenhaft, wie der Mann sich vordrängte. Er ging hinter den letzten Piccolospieler rechts aussen. Der Mann hatte einen Gegenstand in der linken Hand. Diesen drückte er dem anderen gegen den Rücken. Als die Clique mit dem Trommelwirbel loslegte und loslief, zuckte er dreimal mit der Hand. Der Piccolospieler strauchelte. Da sah ich eine Pistole in der Hand des vermummten Mannes. Dieser ging zügig weiter. Er verschwand unten um die Ecke. Als ich merkte, dass der Fasnächtler nicht mehr aufstand, ging ich zu ihm. Ich versuchte ihn anzusprechen. Er gab keine Antwort. Ich riss ihm seine hässliche Larve vom Kopf und versuchte erste Hilfe zu leisten. Ich bin nämlich ausgebildete Samariterin, müssen Sie wissen. Da kam schon die nächste Clique auf mich zu. Die wären fast über uns beide gestolpert. Zum Glück konnten die ausweichen. Ich bemerkte Blut an meinen Händen. Ich bin ziemlich erschrocken. Zum Glück hat mir dann jemand geholfen. Aber wir konnten ihn ja nicht retten. Nur tatenlos zusehen, wie das Blut überall aus ihm herausfloss. Es hat eine Ewigkeit gedauert bis die Polizei endlich - “

„Michael. Das musst du dir ansehen.“ Sabine war neben der Zeugin aufgetaucht und hielt ihrem älteren Kollegen einen Ausweis unter die Nase.

„Heinrich Boswiler“, las Engels den Namen leise aus dem Ausweis vor. Seine Ahnung hatte sich bestätigt.

„Heinrich Boswiler? Der Heinrich Boswiler?“, entfuhr es der danebenstehenden Zeugin laut und sie schaute Engels überrascht in die Augen. Ein erstauntes Flüstern ging durch die umstehende Menge, als sie den Namen, den hier in Basel jeder kannte, aufschnappte. Das Gemurmel schwoll an. Es war förmlich zu spüren, wie sich das Gerücht ausbreitete, wer anscheinend an diesem Morgen das Opfer war.

Engels und Sabine schauten sich ernst an. Es war nicht gut, dass die Identität des Toten nach aussen drang. Die Gerüchteküche würde sehr schnell heiss brodeln.

„Hey, Kommissar! Was kann man über den Fall schon sagen?“ Ein blutjunger Reporter, Hipsterbart und Hornbrille, des lokalen Radiosenders stand hinter dem rotweissen Plastikband und streckte Engels auffordernd ein Mikrofon entgegen. Die waren verdammt schnell hier. „Wir sind live auf Sendung. Was weiss man schon? Ist der Tote schon identifiziert? Ist es ein Verbrechen? Was war die Tatwaffe?“

„Da stehen zwei von den Luuserle.“ Der Polizist deutete auf zwei schwarze Gestalten, die innerhalb der Absperrung standen und unter ihren Armen düstere Vogelkopflarven hielten. In ihren Augen stand blankes Entsetzen.

„Spurensicherung. Bitte Platz machen. Was ist passiert?“ Die Kollegen vom kriminaltechnischen Labor waren eingetroffen. Das Chaos schien vorprogrammiert. Engels übernahm umgehend das Zepter. In seiner ruhigen, kompetenten Art verteilte er die Aufgaben.

„Kusi, ich bin in zwei Minuten bei dir.“ Diese Information richtete sich an den aufdringlichen Radioreporter. „Bevor ihr mit der Tatortuntersuchung loslegt, unbedingt zuerst das Zelt aufstellen. Wenn ihr fertig seid, bringt ihr den Leichnam zur Obduktion ins Institut. Ich brauche bis heute Mittag eine erste Einschätzung.“ Diese Worte galten dem Team der Spurensicherung. „Sabine, bitte nimm die Aussage von Frau Ritter auf. Ihre Hinweise könnten uns weiterhelfen.“ Er wandte sich dem Streifenpolizisten zu: „Kurt, gemäss der Zeugin ist der Verdächtige da unten rechts abgebogen, Richtung Barfüsserplatz. Er hatte aus einer Pistole mehrere Schüsse abgefeuert und wollte zweifellos die Waffe möglichst schnell im Gewühl loswerden. Ich hätte sie in den Rhein geworfen, er hingegen ist vom Rhein weg gegangen. Ich vermute, dass er sie in der Gasse in einen Abfalleimer oder Schacht geworfen hat. Schick zwei Männer los, die das systematisch untersuchen.“

„Verstanden“, quittierte der Streifenpolizist und begab sich zu seinem Team.

Engels bewegte sich nun auf die beiden schwarzgekleideten Männer zu, die sich als Präsident und Tambourmajor der betroffenen Clique vorstellten. Aus den beiden war nicht viel herauszubekommen. Sie hatten nichts bemerkt und waren wie jedes Jahr ihre Standardroute abgelaufen. Beim ersten Halt nach fünfundvierzig Minuten hatten sie festgestellt, dass eines ihrer Mitglieder fehlte. Das kam immer wieder mal vor und beunruhigte sie nicht weiter. Als die Clique weiter wollte, drang das Gerücht an ihre Ohren, dass eines ihrer Mitglieder in der Hutgasse tot am Boden lag. Daraufhin waren sie beide hierher geeilt und ihre Fasnachtskollegen in ihr Cliquenlokal zurückgegangen. Engels liess sich die Adresse geben. Es würde sich in Kürze jemand von der Polizei dort melden.

Jetzt galt es noch, den Reporter zufriedenzustellen. Dieser redete ununterbrochen ins Mikrofon, obwohl er eigentlich gar nichts wusste. Die Konstellation war zu verlockend und Vermutungen anzustellen gehörte zu seinem Job. Am Morgestraich war das Team sowieso unterwegs, um ein paar Stimmen von der Strasse einzufangen. Jetzt wurde die Liveübertragung zusätzlich durch einen Toten angereichert. Wie hiess es im Reporterjargon: Wie geil ist das denn!

Engels mochte die Reporter zwar nicht besonders, war sich aber bewusst, dass sie eine wichtige Aufgabe für die Öffentlichkeit erledigten. Ausserdem war die Zusammenarbeit mit den Medien wichtig. Zum einen um das positive Image der Polizei hinauszutragen, zum andern konnte es wie in diesem Fall ein nützliches Mittel sein, die Bevölkerung zur Mitarbeit aufzurufen. Er schritt auf den Reporter zu und wählte mit seinem Handy die Notrufnummer der Basler Polizei.

„Hallo Melanie. Hör mal. Wir haben hier eine Leiche und sind auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen. Ich werde in ein paar Minuten mit dem Radio sprechen und möchte einen Zeugenaufruf machen. Kannst du mir dafür eine Telefonnummer einrichten?“ Engels wartete einen Moment. Dann tippte er eine Nummer in das Informationsfeld auf seinem Handy ein. „Unsere Standardnummer mit der Neun Neun am Schluss, richtig?“ Melanie bestätigte ihm, dass er sich die Nummer richtig notiert hatte. „Super. Herzlichen Dank. Ihr macht einen tollen Job.“ Auch die kleinen Komplimente, die er im Revier gezielt verteilte, trugen zu seiner allgemeinen Beliebtheit bei.

„Da kommt Kommissar Engels auf mich zu. Er macht einen ernsten Eindruck. Es scheint wirklich etwas Grauenhaftes passiert zu sein. Radio Basilikum wird Sie als erste und aus erster Hand informieren.“ Der schmächtige Reporter schlüpfte auf das Zeichen von Engels unter dem Absperrband durch und stand mit seinem Tontechniker inmitten der surrealen Szene. Die Altstadt stand im Dunkeln und von den Wänden hallte ein an- und abschwellendes Durcheinander von Trommeln und Pfeifen. Mitten in der abgesperrten Hutgasse stand grell beleuchtet ein weisses Zelt. An den Hauswänden zeichneten sich gespenstische Schatten ab.

„Kommissar Engels, würden Sie unseren Zuhörern bitte erklären, was genau passiert ist?“

„Heute Morgen um vier Uhr null sechs wurde der Polizei gemeldet, dass ein Mann in der Hutgasse leblos am Boden liegt. Die herbeigeeilte Patrouille konnte nur noch den Tod feststellen.“

„Unfall oder ein medizinisches Problem?“

„Dies konnten wir bisher nicht definitiv feststellen. Höchstwahrscheinlich handelt es sich nicht um eine natürliche Todesursache.“

„Selbstmord?“

„Aufgrund der ersten Untersuchungen kann ein Selbstmord ausgeschlossen werden. Es scheint eine äussere Einwirkung gegeben zu haben. Wir müssen von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Deshalb möchten wir einen Zeugenaufruf tätigen: Heute Morgen um vier Uhr kam es hier am Morgestraich in der Hutgasse zu einer Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang. Wer irgendwelche Beobachtungen gemacht hat oder sonst Angaben zur Tat machen kann, der wird gebeten, folgende Nummer anzurufen.“

Engels las die Nummer von seinem Handy ab und hielt es dem Reporter hin, damit dieser die Nummer nochmals wiederholen konnte.

„Letzte Frage, Kommissar Engels. Kennt man die Identität des Opfers schon?“

Ohne zu zögern kam die Antwort: „Nein, das Opfer ist bisher nicht identifiziert.“

„Ich habe gehört, dass …“.

Engels griff blitzschnell mit der linken Hand nach dem Mikrofon und hielt den rechten Zeigefinger drohend in die Höhe. Seine Augen schossen dem schmächtigen Reporter Giftpfeile entgegen, sodass dieser seinen Satz abbrach und kleinlaut endete mit: „ … Ähm, … gehört, dass die Polizei bereits alles Nötige in die Wege geleitet hat, um dem Täter möglichst schnell auf die Spur zu kommen. Ich halte Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, weiter auf dem Laufenden. Für Radio Basilikum, Kusi Meiner, zurück ins Studio.“

„Spinnst du? Wolltest du wirklich einen Namen nennen, bevor wir die engsten Angehörigen informieren konnten?“ Engels war sichtlich erzürnt. „Das wäre dein letztes Interview gewesen.“

„Ähm, natürlich nicht.“, versuchte sich der unerfahrene Reporter herauszureden. „Und danke für das Exklusivinterview. Ist wirklich toll, wie wir zusammenarbeiten. Und wenn Sie was Weiteres haben, geben Sie mir Bescheid. Meine Visitenkarte haben Sie ja. Zögern Sie nicht …“.

Engels liess den Möchtegern stehen und begab sich in das weisse Sichtschutzzelt hinein. „Schon etwas Interessantes gefunden?“

„Drei Schüsse. Aus nächster Nähe abgegeben. Sehen Sie hier die Versengspuren am Kleid hinten. Eventuell war der Lauf zusätzlich in einen Lappen oder Ähnliches eingewickelt, damit der Knall nicht zu laut war. Jedoch bezweifle ich, dass bei dem Lärm heute Morgen jemand einen Schuss gehört hätte. Zwei Hülsen haben wir schon gefunden, die dritte suchen wir noch. Aufgrund der Munition scheint es eine alte Schweizer Armeepistole der Marke SIG zu sein. Ansonsten wird es mit der Spurensicherung schwierig. Hier sind seit dem Verbrechen so viele Leute durchgegangen, dass es unmöglich sein wird, Kleiderfetzen, DNA oder andere Spuren zu finden.“

„Wir haben sie.“ Streifenpolizist Kurt drängte sich in das kleine Zelt hinein. Er hielt in einem durchsichtigen Plastikbeutel triumphierend eine Pistole in die Höhe. „Du hast wieder mal richtig getippt. Gleich im zweiten Abfalleimer unten an der Strasse haben wir die hier gefunden.“

„Eine SIG Automatik. Altes Armeemodell. Offiziere der Schweizer Armee wurden damit ausgerüstet. Da gibt es zwar X-Tausende davon, jedoch sind die alle registriert.“ Der Mann von der Spurensicherung griff nach der durchsichtigen Tüte mit der Waffe, holte diese mit der behandschuhten Hand heraus und hantierte professionell daran herum. „Sogar die Waffennummer ist erkennbar. Da können wir im Nu den Besitzer eruieren.“ Mit einer eingeübten Handbewegung hatte er das Beweisstück zurück in den Plastikbeutel versorgt und diesen wiederum in einen Hartplastikbehälter, der an eine Kühlbox erinnerte.

Sabine schaute in das Zelt hinein.

„Wir kommen sensationell voran, Sabine“, sagte Engels und legte viel Begeisterung in seine Stimme. „Bis heute Abend wissen wir, wer der Täter ist. Das garantiere ich dir. Kaum zu glauben, wie schnell wir in diesem Fall vorwärts kommen. Wir kennen das Opfer und können so in seinem Umfeld ermitteln. Wir haben eine registrierte Tatwaffe. Und wir haben mindestens eine Zeugin, die den Täter gesehen hat und ihn beschreiben kann.“

„Ja, klingt erfolgsversprechend.“ Ihre Stimme klang unsicher. „Ausser, dass sich die Zeugin an nichts mehr erinnert.“

Kapitel 5

Mike Bohrer erwachte aus seinem dunklen tiefen Traum, in dem er ein weiteres Mal durch die Hölle gegangen war. Er öffnete ganz vorsichtig die Augen. Es schmerzte immer noch alles, aber es war nicht mehr so schlimm wie vorhin. Der Anblick war derselbe: Die Pizza, der Hamburger und der Döner lagen halbverdaut unterhalb seines Kopfes. Eine Weile verharrte er in dieser Position. Dann nahm er seine ganze Kraft zusammen und drehte sich behutsam auf den Rücken. Sofort liess der Druck auf seine Brust nach. Er konnte tief einatmen. Dies weckte in ihm langsam die Lebensgeister. Sein Körper wurde aber bald von einem zuckenden Husten durchgeschüttelt, da seine Luftwege mit irgendwelchen Essensresten verstopft waren.

Vom Fenster her drang Verkehrslärm an sein Ohr. Die quietschenden Bremsen eines Trams waren zu hören. Mike blinzelte. Er blickte direkt in das gleissende Deckenlicht, welches ungehindert auf die Netzhaut seiner Augen prallte. Er schloss diese wieder. Konzentriere dich. Versuch dich zu erinnern. Wer bist du? Wo bist du? Warum bist du hier? Ein weiterer Hustenanfall. Mike spürte die Kälte, die in dem Zimmer herrschte. Kein Wunder. Ende Februar, eine kühle Nacht und er hatte das Fenster nicht geschlossen.

Ende Februar. Die Nacht, in der Karin und sein ungeborener Sohn ums Leben gekommen waren. Auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren.

Die Erinnerung kam hoch, in Schüben. Mike konnte spüren, wie sie von seinem ganzen Körper Besitz ergriff und ihn durchschüttelte. Dann kam die Ruhe. Und mit der Ruhe die Tränen. Seitlich flossen sie über seine Wangen und waren stille Begleiter seines konvulsiven Schluchzens. Mit der Hand strich er sich über die rechte Gesichtshälfte, um die Tränen wegzuwischen. Das waren nicht nur Tränen. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um nicht wieder durch das Licht geblendet zu werden. Eine blutrote Hand.

Hoffentlich sein eigenes Blut. Hoffentlich hatte er nicht einen andern Menschen verletzt. Mit aller Kraft setzte er sich auf die Bettkante. Das war gut. Sein Wille kam zurück und der Alkoholnebel lichtete sich langsam. Er schaute an sich hinunter. Er war angezogen. Seine Kleider waren zwar verschmutzt, aber intakt. Es sah nicht aus, als ob er sich gestern in eine Schlägerei hatte verwickeln lassen. Ganz sicher konnte er trotzdem nicht sein.

Es roch intensiv nach Alkohol. Der Verkehrslärm draussen schwoll an, das Stimmengewirr fing an, stärker zu surren.

Mike stand auf und schwankte zum Fenster. Knirschen unter seinen Schuhen. Glassplitter? Ein blauer Flaschenhals mit dem Wodka-Gorbatschow-Schriftzug glotzte ihn an. Hoffentlich war ihm die Wodkaflasche aus der Hand gefallen, bevor er sie ganz ausgetrunken hatte. Mike stützte sich auf die Fensterbank und sog die frische Stadtluft ein. Sein Blick fiel direkt auf den Vorplatz des Bahnhofes Frankfurt. Ein erneuter Hustenanfall. Hatte er sich eine Erkältung geholt? Schliess das Fenster. Sein Gehirn tauchte aus der Versenkung auf und übernahm langsam wieder die Kontrolle. Mike torkelte ins Badezimmer und schaute verstört auf die Blutspuren an der Türe. Er musste gestrauchelt sein, dabei war ihm die Flasche aus der Hand gefallen. Er hatte sich an den Händen geschnitten und den Kopf gestossen. Als er aufstehen wollte, hatte er sich mit den blutigen Händen an der Türe hochgezogen. So musste es gewesen sein. Zum Glück hatte er es bis ins Bett geschafft. Nicht auszudenken, wenn er inmitten der Scherben eingeschlafen wäre und sich in seinem Albtraum rumgewälzt hätte.

Kaltes Wasser. Mike drehte die Dusche voll auf und stellte sich mitsamt den Kleidern unter den eisigen Wasserstrahl. Es war ein Schock. Aber es würde helfen. Das Wasser prasselte auf seine kurzen, braunen, schütteren Haare und prallte dort direkt auf die Kopfhaut, wo sich die ersten Anzeichen einer Glatzenbildung zeigten. Mike zog sein Hemd aus und setzte seinen muskulösen, leicht übergewichtigen Oberkörper direkt dem kühlen Nass aus. Er legte den Kopf in den Nacken und füllte den Mund mit Wasser. Er liess das Wasser in der Mundhöhle zirkulieren, presste es in seine Backen, drückte es zwischen den Zähnen hindurch und spuckte es schliesslich aus. Mit der nächsten Mundfüllung gurgelte er. Explosionsartig schoss das Wasser aus seinem Mund, als er einen weiteren Hustenanfall bekam. Dann trank er in gierigen Zügen das eiskalte Wasser, um seinen vom Alkohol dehydrierten Körper mit der notwendigen neutralen Flüssigkeit zu versorgen. Als er zu schlottern begann, drehte er den Wasserhahn zu und schnappte sich ein schneeweisses Handtuch, das wie durch ein Wunder völlig unversehrt an der Haltestange hing. Damit trocknete er sich notdürftig Kopf und Haare ab. Er schlurfte zurück und stellte sich auf die Seite des Bettes, die keine Splitter aufwies. Er zog seine Kleider aus. Sie platschten auf den Boden und bildeten einen sich ausdehnenden dunklen Fleck auf dem abgewetzten Spannteppich. Er legte sich in das Bett und mummelte sich in die Decke ein. Die Müdigkeit kam zurück. Eine Stunde Schlaf würde er sich noch gönnen. Vielleicht sogar zwei.

Hoffentlich würde ihn nicht nochmals sein Albtraum verfolgen. Doch er wusste: Er hoffte vergebens.

Kapitel 6

Sabine schaute Engels an, der auf der anderen Seite des kleinen Bistrotisches sass und an seinem Handy herumhantierte. Seine Vollglatze gab ihm ein strenges Aussehen, das sich bei manchem Verhör als Vorteil herausgestellt hatte. War er nicht angespannt, zeigten sich milde Züge auf seinem Gesicht mit einer Spur von Traurigkeit. Die runzlige Stirne und die knollige Nase liessen ihn älter erscheinen, als er war. Trotz seines hohen Bodymassindexes war er erstaunlich fit.

Sie bewunderte ihn. Obwohl sie ihn erst seit ein paar Wochen kannte, war sie von ihm begeistert. Sie war sich sicher, dass sie viel von ihm lernen konnte. Er war ihr grosses Vorbild, sogar eine Art Vaterfigur. Erstaunlich, was für ein Beziehungsnetz er hier in Basel aufgebaut hatte. Er kannte jeden und alles in Basel. Er war für alle eine integre Respektsperson. Er war „der Kommissar“; bei seinen Kollegen beliebt, bei seinen Vorgesetzten hoch angesehen, und auch die andere Seite, die dunkle Seite der Macht, respektierte die Arbeit von Engels. Vielleicht weil er hie und da bei unbedeutenden Delikten ein Auge zudrückte?

„Buongiorno. Comissario Engels, Polizia Basilea. Posso parlare con il commissario in servizio? Ho un’emergenza.“

Sogar italienisch sprach er. Gab es denn nichts, was dieser Typ nicht konnte?

„Si, bene. Sto aspetando.“

Engels zwinkerte ihr lächelnd zu, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. Ob sie es auch einmal so weit schaffte? Würde man ihr in ein paar Jahren einen Spitznamen verpassen? Würde man sie „die Kommissarin“ nennen? Das würde sie sehr stolz machen. Tief in ihrem Innern zweifelte sie jedoch daran, ob sie dem Job gewachsen war. Gerade vorhin, als alles auf einmal hereinbrach, staunte sie ein weiteres Mal, wie geschickt Engels alles organisierte und das Chaos auf elegante Art löste. Würde sie jemals diese Ruhe bewahren? Würde sie dieselbe Autorität ausstrahlen können? Diese souveräne Überlegenheit? Von den Selbstzweifeln, die manchmal an ihr nagten, ahnte ihr berufliches Umfeld nichts. Sie übertünchte alles mit gespielter Selbstsicherheit, die ihr oft als zürcherische Arroganz ausgelegt wurde.

Sabine nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Dieser seltsame Zwischenfall mit der Zeugin, die sich plötzlich nicht mehr erinnern wollte. Engels hatte nochmals auf sie eingeredet, doch sie blieb bei ihrer Haltung. Deshalb hatte er sie auf halb zwei Uhr heute Mittag auf den Posten in der Binningerstrasse bestellt, mitten in der Stadt in der Nähe des Bahnhofes, wo ihre Büros lagen. Sabine wollte bis dann zusätzliche Erkundigungen über Frau Ritter einziehen.

„Ciao Franco. Come stai?“ Kurze Pause. „Bene, grazie.“

Er wechselte auf Hochdeutsch. „Franco, wir haben hier ein dringendes Problem. Du kennst bestimmt Heinrich Boswiler.“ Kurze Pause. „Ja genau. Gemäss meinen Informationen wohnt der bei euch im Tessin, in einer Villa am Monte Brè. Der liegt bei uns tot auf der Strasse. Erschossen. Drei Schüsse von hinten ins Herz.“

Sabine hörte von der anderen Seite her eine lebhafte Stimme, verstand aber nicht, was gesagt wurde.

„Ja genau. Wäre toll, wenn du das möglichst schnell erledigen könntest. Zum einen sind somit die Angehörigen informiert, zum andern können wir sie zugleich als Tatverdächtige ausschliessen. Der Mord fand genau um vier Uhr statt, vor knapp neunzig Minuten. In dieser Zeit kann man mit keinem Verkehrsmittel die Strecke vom Basler Morgestraich nach Lugano zurücklegen.“

Dann nochmals die Stimme auf der anderen Seite des Smartphones.

„Grazie mille, Franco. Ciao.“

Engels legte sein Handy vor sich auf den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

Vorhin am Tatort war es Sabine definitiv zu kalt geworden. Engels hatte realisiert, dass sie leicht zitterte und forderte sie auf, ihm zu folgen. Wohin, hatte sie sich gefragt. Zu dieser frühen Morgenstunde waren alle Restaurants geschlossen, da trotz Morgestraich die normalen Öffnungszeiten galten. Im Hotel Basilea, das am oberen Ende der Hutgasse gelegen war, hatten die ersten Touristen ausgecheckt und ein Taxi bestiegen, um rechtzeitig für den Rückflug am Flughafen zu sein. Engels hatte den Concierge mit Namen angesprochen und dieser hatte sie nicht nur in die Wärme gelassen, sondern ihnen sogar eine heisse Tasse Kaffee organisiert. So konnten sie erst mal in Ruhe alles auswerten und das weitere Vorgehen besprechen.

„So, das ist erledigt. Wie geht es weiter?“ Fragend schaute Engels Sabine an, die von der Frage völlig überrumpelt wurde. „Du bist meine designierte Nachfolgerin. In vier Monaten bin ich nicht mehr da. Dann bist du federführend in diesem Job. Somit kannst du üben. Ich halte mich ab nun zurück.“

Sabine war irritierte. Wenn sie zusammen unterwegs waren, hatte immer Engels den Lead übernommen. Meistens hatte er sie nicht mal nach ihrer Meinung gefragt. Sofort erfasste sie die Situation. Das war ihre Chance, aus seinem Schatten herauszutreten und die Initiative zu ergreifen.

„Der Schlüssel liegt eindeutig beim Ermordeten. Ich habe ihn vorhin gegoogelt. Er war reich und stand immer wieder in der Öffentlichkeit. Er hatte irgendwas mit der Finanzbranche zu tun, oder? Ich denke nicht, dass er ein Zufallsopfer ist. Es war nicht eine Tat im Affekt. Heinrich Boswiler wurde geplant ermordet. Da er verkleidet und somit nicht zu erkennen war, musste der Mörder genau wissen, in welcher Gruppe und an welcher Position Boswiler stehen würde. Ausserdem muss der Mörder die Abläufe des Morgestraichs detailliert kennen. Er hat den Zeitpunkt gewählt, an dem das Durcheinander am grössten ist. Auch die Schüsse hat niemand gehört. Die sind im Lärm der ersten Trommelschläge untergegangen. Das alles deutet auf einen Insider hin, der Boswiler und seine Gewohnheiten gekannt hat. Vielleicht ein Familienmitglied oder ein Bekannter. In dieselbe Richtung zeigt das fast panische Wegwerfen der Waffe in einen Abfalleimer, wo sie gefunden wurde. Das deutet klar auf einen Amateur. Und eine registrierte Waffe? Fehlte nur noch, dass wir darauf Fingerabdrücke finden. Daraus schliesse ich, dass wir in erster Linie mal das persönliche Umfeld analysieren und die Alibis abgleichen müssen. Daraufhin werden hoffentlich nur wenige Verdächtige übrigbleiben.“ Sabine schaute fragend ihren Kollegen an, als ob sie gerade eine Prüfungsfrage beantwortet hätte und auf die Benotung durch den Professor wartete.

„Aufgrund der Faktenlage beurteile ich den Fall genau gleich wie du“, bestätigte Engels den Gedankengang von Sabine.

Eine leichte Genugtuung erfüllte sie. Diese zeigte sie jedoch nicht nach aussen, sondern versteckte sie hinter ihrer undurchdringlichen Fassade der taffen Ermittlerin.

Entgegen seiner vorigen Aussage nicht dreinzureden, ergriff Engels erneut das Wort: „Ich schlage vor, dass du die Clique besuchst und dort möglichst viele Informationen aus seinen Kollegen herausholst. Ich schau mal, was ich aus dem familiären Umfeld herausbringe. Einverstanden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten drückte er ihr einen Zettel in die Finger, auf dem eine Adresse stand. „Petersgasse. Das ist hier um die Ecke. Ein paar Schritte weiter und du wärst bei mir zu Hause.“

Was konnte sie anders als den Auftrag anzunehmen. Sie nickte stumm, war aber enttäuscht, dass sie die Knochenarbeit leisten musste, während Engels es sich im Büro gemütlich machte: Ein bisschen Internetrecherchen über einen Promi. Was soll‘s. Sie war es sich gewohnt, dass sie als Frau immer mehr leisten musste als ihre männlichen Kollegen. Das war in der Polizeischule schon so gewesen. Aber fairerweise musste sie zugeben, dass Engels sich gewisse Privilegien verdient hatte. Schliesslich war er seit über vierzig Jahren für die Polizei tätig, stand kurz vor der Pensionierung und hatte eine fantastische Aufklärungsrate.

„Ich erledige das und werde nachher hier nochmals nach dem Rechten sehen.“ Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Hutgasse, wo nach wie vor das irritierend gleissende Licht brannte. „Ich denke, dass ich so gegen neun Uhr zurück im Büro sein werde“, sagte Sabine und stand auf.

Engels nickte, machte indes keine Anstalten, sich ebenfalls vom Stuhl zu erheben. Sabine blieb nichts anderes übrig, als ein Abschiedswort zu murmeln und sich auf den Weg zu machen, während er in der wohlig warmen Cafeteria sitzen blieb und ihr nachschaute.

Kapitel 7

Sie war eine attraktive Frau, sportlich. Sabine hatte einen eleganten, leicht federnden Gang. Von hinten gesehen sah sie absolut perfekt aus. Von vorne. Na ja. Es konnte nicht jede wie eine Miss Schweiz aussehen. Der Mund war etwas zu breit, die Nase etwas zu schief, die Augen etwas zu schmal. Dennoch hatte sie durchaus ihren Reiz, vor allem wenn sie lächelte, was sie leider zu selten tat. Engels brach seine ausschweifenden Gedankengänge ab. Das Aussehen zählte in ihrem Beruf nicht. Entscheidend war, dass Sabine intelligent war. Und sie war ambitioniert. Sonst hätte sie es nicht zur Chefermittlerin Leib und Leben bei der Basler Polizei geschafft, obwohl sie keine dreissig Jahre zählte. Ja, sie war extrem ehrgeizig und wollte keine Schwäche zeigen. Doch ihm konnte man nichts vormachen. Er konnte hinter die Fassaden anderer Menschen blicken. Er wusste, dass hinter dem selbstbewussten, leicht hochmütigen Auftreten, wie bei den meisten Menschen, ein weicher Kern und eine Menge Unsicherheit steckte.

Er schaute Sabine nach, wie sie das Hotel verliess, mit schnellen Schritten die kurze Treppe auf dem Vorplatz hinunterschwebte, sich nach links wandte und um die Ecke des Hotels verschwand. Verschwand, wie damals Elisabeth. Unwillkürlich tauchten die Bilder seiner Frau vor seinem geistigen Auge auf. Lisi hatte er sie genannt. Er vermisste sie und liebte sie heute immer noch. Auch dass sie ihn verlassen hatte, änderte nichts daran. Er konnte es inzwischen nachvollziehen. Er liebte sie und er liebte seinen Beruf. Bei seiner Frau war es anders. Sie liebte ihn, aber nicht seinen Beruf. Je älter sie wurden, desto schwerer fiel es ihr zu akzeptieren, dass er einen gefährlichen Beruf hatte. Täglich bestand die Möglichkeit, dass der geliebte Mann nicht mehr heimkam. Als die Kinder nicht mehr zu Hause wohnten, wurde es schlimmer. Keine Ablenkung mehr, nur die ständige Angst, das Telefon könnte klingeln und jemand ihr die Nachricht überbringen, dass etwas Schlimmes passiert sei. Sie hatte sich über die Jahre hinweg immer mehr hineingesteigert. Deshalb hatte er ihr versprochen, sich mit sechzig Jahren frühzeitig pensionieren zu lassen. Damit war Lisi einverstanden. Die paar Jahre würde sie durchhalten. Sie sparten Geld, damit er sich eine Frühpensionierung leisten konnte. Und dann kam diese vermaledeite Finanzkrise. Weil sie schlecht beraten worden waren, hatte sich das viele Geld über Nacht in nichts aufgelöst. Drei Jahre später hatte ihn Lisi verlassen. Aus Liebe, wie sie ihm beteuert hatte und ihm in Aussicht gestellt, dass sie nach seiner Pensionierung zu ihm zurückkehren werde. Seit diesem Tag hasste er seinen Job und zählte die Tage bis zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag.

Er verscheuchte die trüben Gedanken. Über Lisi wollte er jetzt nicht nachdenken. Er musste sich auf seinen vermutlich letzten Fall konzentrieren. Er hatte eine letzte, grosse Herausforderung vor sich. Wenn er diese bewältigt hatte, konnte er über seine Zukunft grübeln. Er nahm sein Handy und stellte „Nummer unterdrücken“ ein. Er wählte eine Zahlenfolge, die er auswendig kannte. Er musste sich, wie nicht anders zu erwarten war, lange gedulden, bis nach dem vielleicht zehnten Klingelton endlich jemand auf der anderen Seite antwortete.

„Hallo?“, murmelte eine verschlafene Stimme.

„Spreche ich mit Holenstein?“

„Nein.“

„Oh. Entschuldigung. Falsch verbunden.“

Kapitel 8

Franco Cesare schaute auf das Navigationssystem seines Handys. „A destra“, wies er vom Rücksitz aus den uniformierten Beamten an, der auf dem Fahrersitz sass.

„Attenzione! Una catena“, warnte der Kollege auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer hielt auf der Strasse an und drückte den Warnblinker, obwohl in diesem exklusiven Villenviertel um diese frühe Stunde niemand unterwegs war. Der Beifahrer stieg aus. Sofort wurde der ganze Vorplatz in gleissendes Licht getaucht. Die Bewegungsmelder hatten ihre Aufgabe umgehend erfüllt. Der Polizist löste die Gliederkette aus der Halterung. Sie sah zwar aus, als wäre sie aus massivem Stahl, in Wirklichkeit war sie aus einem billigen Plastikmaterial produziert. Wie vieles hier: Mehr Schein als Sein.

Das Polizeiauto bog auf den Parkplatz ein und blieb quer vor dem überbreiten Garagentor stehen. Die drei Mitarbeiter der Tessiner Polizei stiegen aus und schauten sich um. Ein Roller stand abseits halb verdeckt im Gebüsch auf seinem Ständer. Auf dem Gepäckträger war eine kubische Box festgemacht, die in der anbrechenden Morgendämmerung in Gelb und Rot matt leuchtete. „Pizza-Express“ und eine Telefonnummer standen quer über die Box geschrieben.

Cesare trat an das zweirädrige Fahrzeug heran und legte vorsichtig seine Hand an den Motor. Kalt. Das Fahrzeug stand schon länger hier und war in der letzten Stunde nicht bewegt worden. Er ging weiter zur Türe. Er konnte kein Schild entdecken, auf dem er den Namen hätte kontrollieren können. Auch kein massives Metallschild mit der Hausnummer prangte an der Hausfront. Dafür bemerkte er drei Kameras, welche gut sichtbar auf die Haustüre und den Vorplatz gerichtet waren. Zusätzlich war ein grosses oranges Signallicht an der Aussenwand angebracht, darunter ein trichterartiger Lautsprecher. Sicherheitsvorkehrungen wie sie hier in diesem Viertel üblich waren. Ausserdem patrouillierten permanent Leute von einem Sicherheitsdienst die ganze Nacht durch das Quartier. Cesare kontrollierte nochmals, ob der Hausplatz dem roten Punkt auf der Karte seines Handydisplays entsprach. Er trat vor die Sicherheitstüre und drückte auf den Klingelknopf.

Keine Reaktion. Das Haus blieb im Dunkeln. Vermutlich schliefen die Bewohner. Er drückte ein zweites Mal, diesmal etwas länger.

Wiederum keine Reaktion. Cesare trat einen Schritt zurück, blickte in eine der Kameras und hielt seinen Ausweis hoch.

Innen ging ein Licht an. „Einen Moment, bitte“, war eine heisere Stimme zu hören.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Türe geöffnet wurde und eine junge, blonde Frau in der Türe stand. Sie war nur mit einem Babydoll bekleidet und hatte ein grobmaschiges weisses Wolljäckchen über die Schultern gelegt. Seltsamerweise trug sie High Heels mit zehn Zentimeter hohen Absätzen. Den drei Polizisten fiel der Kiefer runter. Sie wussten nicht, ob sie auf den roten aufgespritzten Kussmund, den aufgeblähten Busen oder die langen Beine starren sollten.

Cesare fasste sich: „Buongiorno Signora. Polizia di Lugano. Commi…“

„Tut mir leid, ich spreche kein Italienisch“, unterbrach ihn die blonde Frau. „Nur Deutsch. Dass ihr von der Polizei seid, das habe ich allerdings verstanden und das sehe ich auch.“ Lasziv machte sie einen Schritt vorwärts und griff dem Polizisten neben Cesare mit der rechten Hand an den Kragen: „Uniformen. Hach, ich liebe Männer in Uniformen. Wollt ihr drei nicht hereinkommen?“

Cesare konnte sich nur langsam mit der seltsamen Situation abfinden. Er hatte erwartet, eine aufgeschreckte Ehefrau aus dem Bett zu klingeln, stattdessen … egal. Bleib professionell.

„Ich bitte Sie, zu unseren Beamten Abstand zu wahren“, forderte Cesare in holprigem aber grammatikalisch einwandfreiem Hochdeutsch die Dame auf.

„Selbstverständlich, Herr Polizist. Was für ein netter Akzent. Kommt ihr, um mich zu verhaften?“, fragte sie mit einem zweideutigen Lächeln.

Was sollte der Blödsinn. Nicht darauf eingehen. „Mein Name ist Franco Cesare von der Kantonspolizei Tessin. Sind Sie Frau Boswiler?“ „Ja, Herr Polizist. Aber nenn mich nicht Frau Boswiler, das tönt so … altmodisch. Nenn mich einfach Jenny.“

„Ist Ihr Mann zu sprechen?“

Jenny lachte laut auf. „Nein. Der ist in Basel bei seinen Kumpels am Morgenstreich. Warum fragst du denn so was Dummes? Aber, kommt doch rein. Drinnen auf unseren schönen Sofas lässt es sich angenehmer reden als hier draussen in der Kälte. Seht mal, ich friere schon.“ Sie zwinkerte den Beamten zu und deutete auf ihre Brustwarzen, die sich unter der dünnen Bekleidung markant abzeichneten. „Es ist noch Champagner von gestern Abend übrig.“

Cesare intervenierte energisch. „Wo waren Sie heute Nacht?“

„Na, hier zuhause. Wieso?“

„Waren Sie alleine oder kann das jemand bezeugen.“

Hätten die Botox-Spritzen nicht ihr gesamtes Gesicht in einem unnatürlichen Schönheitsideal fixiert, wäre wohl ein Lächeln über ihre Gesichtszüge gehuscht. „Ach, wissen Sie, ich hatte gestern Abend Lust … Lust auf eine Pizza. Und der Pizzaexpress in Lugano bietet einen fantastischen Lieferservice. Paolo hat mir die ganze Nacht Gesellschaft geleistet.“

Wie auf Stichwort erschien ein schmächtiger, dunkelhaariger Junge im Entree hinter Jenny. Er trug eine abgewetzte Jeans, ausgelatschte Nike Turnschuhe und war gerade daran, das rot-gelbe Firmen-T-Shirt über seine unbehaarte, schmale Brust zu streifen.

Cesare wandte sich an den jungen Mann: „Wie ist Ihr Name und können Sie bezeugen, dass Frau Boswiler die ganze Nacht dieses Haus nicht verlassen hat?“

Jenny intervenierte. „Nicht doch. Er versteht kein Deutsch. Mit ihm müssen Sie italienisch sprechen.“

Cesare war verwirrt: „Sie sagten soeben, dass Sie kein Italienisch sprechen. Wie haben Sie sich denn die ganze Nacht verständigt.“

Jenny packte den jungen Mann um den Hals und drückte ihn an ihren Busen: „Ach, wir haben doch nicht miteinander geredet.“

Kapitel 9

Die grosse Frau mit den fettigen Haaren schlurfte im Morgenmantel die Treppe hoch und schnaubte wie vor hundert Jahren die Dampflok auf der Gotthardstrecke. Das war nicht verwunderlich, denn sie wog fast so viel wie eine solche. Rücksichtslos schlug sie mit der flachen Hand an die Türe ihres Untermieters.

„Heh! Steinberger!“, schrie sie.

Keine Antwort. Sie nahm beide Fäuste zu Hilfe und trommelte an die Türe, sodass diese gefährlich in den Angeln wackelte.

„Steinberger! Dein Freund hat angerufen.“

„Was ist?“, kam es krächzend aus der Kammer zurück.

„Dein Freund Holenstein hat angerufen.“ Somit war ihr Job erledigt. Sie begab sich wieder einen Stock tiefer, zurück ins Bett zu ihrem Freund, der ihr von der Figur her in nichts nachstand.

Steinberger schmiss die Decke von sich hinunter auf den Boden. Dies war die einzige Möglichkeit, dass er sich dazu bewegen konnte, überhaupt vor Mittag aufzustehen. Und das machte er nur, weil er das Geld brauchte. Dank der AHV-Minimalrente und den Ergänzungsleistungen des Sozialamtes konnte er wenigstens in diesem stinkigen Loch unter dem Dach hausen. Die finanzielle Hilfe von seinem Freund gab ihm die Möglichkeit, seine Zusatzausgaben zu finanzieren. Holenstein als Codewort zu benutzen, das war seine Idee gewesen. Darauf war er stolz. Hol den Steinberger. Er war schon immer ein kreativer Mensch gewesen.

Er blinzelte zu seinem uralten Wecker. Kurz vor sechs Uhr. Da musste was Wichtiges passiert sein, dass er um diese Uhrzeit angerufen wurde. Trotz seines verpfuschten Lebens hatte er immer gewusst, wann es darauf ankam. Er begann zu frieren. Das weckte in ihm die Lebensgeister. Er stand auf und humpelte die paar Schritte zum Waschbecken. Am Morgen hatte er immer Mühe mit dem Anlaufen, besonders im Winter. Er schaute in den Spiegel. Er sah seine blutunterlaufenen Augen, seine halbverfaulten Zähne und seinen ausgemergelten Körper. Waschen und Zähneputzen war überflüssig. Kämmen war wichtig. Schon früher war er auf sein dichtes Haar stolz gewesen. Er hatte es, seit er selber entscheiden konnte, immer schulterlang getragen. Mit der Bürste fuhr er durch seine Mähne und fixierte diese mit einem dicken Gummiband zu einem Rossschwanz. Schade, dass seine Haare nicht mehr so schön schwarz waren wie früher, aber er fand das Silbergrau inzwischen ganz passabel. Dann fiel sein Blick voller Abscheu auf die Einstichstellen in seinen Unterarmen. Wie immer dachte er daran, wie reich er heute wäre, wenn er sein Geld nicht in flüssiger Form in seinen Körper gespritzt hätte. Der Gedanke war schnell verflogen und die Gier nach dem nächsten Schuss nahm überhand.

Bald würde er ihn sich setzen können. Nachdem er das kurze Treffen hinter sich gebracht hatte.

Kapitel 10

Sabine stand vor der klobigen Türe mit dem übergrossen, glänzenden Messingschild, auf dem in Grossbuchstaben „LUUSERLE“ eingraviert war. Darunter auf einem aufgeklebten Pappschild: „Eintritt für Unbefugte verboten!“ Engels hatte recht gehabt, es war wirklich gleich um die Ecke.

Sabine fasste für sich nochmals zusammen, was sie alles fragen wollte. Viel war es nicht. In erster Linie galt es gut zuzuhören, was Boswiler für ein Mensch war und was seine Kollegen von ihm hielten. Sie musste vorerst ein Gesamtbild bekommen.

Keine Klingel, nur eine altmodische Holzstange mit Metallschlaufe zum Ziehen war seitlich angebracht. Sie hob den Arm und griff nach dem Ring. In diesem Moment wurde die Türe geöffnet. Erst jetzt bemerkte sie die diskrete Kamera, die in der Türverschalung eingelassen und auf den äusseren Türbereich gerichtet war.

„Kommen Sie herein. Sie sind die Polizistin, welche den tragischen Tod von Heini untersucht, nicht wahr?“ In der Türe stand ein Mann, knapp vierzig, der aussah, wie aus einem Managermagazin herausgeschnitten. Volles schwarzes Haar, geliert, eng anliegend nach hinten gekämmt, ein kantiges markantes Gesicht mit vollen Lippen, den breiten Mund zu einem gequälten Lächeln verzogen, das von einer permanent extremen Stressbelastung zeugte, aber dennoch die Botschaft „Alles im Griff“ aussandte und eine Reihe makellos weisser Zähne freilegte. Angezogen war er in Zivil mit schwarzen Jeans und einem hellblauen Hemd, dessen dunkelblaue Ärmel umgekrempelt waren.

„Ja genau, das bin ich. Guten Morgen. Mein Name ist Sabine Bildeisen, von der Basler Kantonspolizei, Abteilung Leib und Leben. Ich möchte Ihnen und Ihren Kollegen gerne ein paar Fragen stellen.“

„Hallo Frau Bildeisen. Jean-Marc Luginbühl. Ich bin der Präsident der Luuserle. Selbstverständlich stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung, obwohl wir alle unter Schock stehen. Unser verehrter Heini ermordet. Unfassbar. Wer tut so etwas? Heini war so ein herzensguter Mensch. Treten Sie bitte ein.“ Luginbühl ging einen Schritt zurück und deutete mit einer galanten Armbewegung eine steinerne Treppe hinunter, die zu einem Kellerraum führte. Gedämpfte Männerstimmen drangen nach oben.

„Sehen Sie hier an der Wand“, setzte Luginbühl seinen Monolog fort, „die Ehrenurkunden von 2007, Heinrich Boswiler mit seiner damaligen Anlageberatungsfirma Boswiler-Invest AG. Er wurde für seine Verdienste zugunsten unseres Vereines ausgezeichnet. Er hat Ausserordentliches für unsere Clique geleistet. Natürlich haben wir weitere Ehrenmitglieder“, mit seinem breiten Lächeln zeigte er auf weitere Tafeln, „darunter meine bescheidene Firma die PHAtrans.“ Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Hier die Treuhand Huser GmbH und die GP Immobilien AG. So engagiert wie Heini war jedoch keines unserer anderen Mitglieder. Tragisch, dass er nicht mehr unter uns weilt.“

Sabine war sich nicht ganz sicher, ob sich das tragisch darauf bezog, dass ein Freund gestorben war, oder dass ein wichtiger Sponsor der Clique nicht mehr seinen Obolus entrichten konnte.