Die 300 Assassini - Markus Christoph Bucher - E-Book

Die 300 Assassini E-Book

Markus Christoph Bucher

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Beschreibung

Luca Habermacher, Mitarbeiter des Schweizerischen Konsulats in Dresden, ist auf bestialische Weise ermordet worden. Der Schweizer Nachrichtendienst des Bundes ist beunruhigt, denn im Büro dieser Stadt, die früher zur DDR gehörte, gibt es seit einiger Zeit Unregelmäßigkeiten bei der Ausstellung von Pässen. Geheimagent Mike Bohrer wird beauftragt, den Mord zu untersuchen und abzuklären, wofür die vermissten Pässe missbraucht werden. Ein Hinweis bringt ihn auf die Spur der Assassini, einer mittelalterlichen islamischen Sekte. Doch was steckt hinter diesem Namen? Menschenhändler? Eine Schlepperorganisation für Flüchtlinge? Mike muss an diese geheimnisvolle Organisation herankommen. Er kann dabei auf die Hilfe von zwei Frauen zählen: Lucas Verlobte Annika, die auf Rache sinnt, sowie Lucas letzte Kontaktperson, die Jazzsängerin Madalena aus Prag, die für ihre Auftritte durch ganz Europa tingelt. Aber sind die beiden Frauen wirklich so unschuldig, wie sie sich geben? Oder verfolgen sie ihre eigenen Ziele?

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Markus Christoph Bucher kam 1960 als jüngstes Kind einer grossen Bauernfamilie in Gunzwil, zwanzig Kilometer nördlich von Luzern, auf die Welt. Als er mit vierzehn Jahren eine Gitarre von seinem ältesten Bruder geschenkt bekam, fing er an, eigene Lieder zu komponieren und diese im Familien- und Freundeskreis vorzutragen. Mit achtzehn Jahren hatte er bereits seine eigene Band. In den folgenden Jahren trat er auch als Alleinunterhalter auf und spielte in verschiedenen Musicals mit. Andere Menschen zu unterhalten, ist seine Passion. Heute hat er eine zusätzliche Möglichkeit dafür gefunden: Die Abenteuer von Mike Bohrer. Darin verarbeitet der ausgebildete Wirtschaftsinformatiker die Reisen und Kontakte, die er in seinen über dreissig Jahren als erfolgreicher Inhaber einer internationalen Handelsfirma erlebt hat. Wie viel Autobiographisches in Mike Bohrer liegt, verrät der Autor nicht.

Bereits erschienen aus der Mike Bohrer Serie:

- Das Pegasus Projekt ISBN: 978-3-7460-4870-3

Ohne Eure Hilfe, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Herzlichen Dank an:

Roland Brun, Yvonne Brun, Monika Wey-Fuchs, Cordula Caminada, Rosemarie und Kandid Bucher, Irène Kost, Aline Bucher

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Luca

Bern

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Dresden

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Prag

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Salzburg

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Verona

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Turin / Piemont

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Schweiz

Kapitel 88

Epilog

Luca

„Warum … red … mer … dann … Englisch … metenand?“

Die sieben Männer, die um den achteckigen Tisch sassen, brachen in schallendes Gelächter aus.

„Johnny, Johnny! Keiner bringt die Witze so auf den Punkt wie du. Grossartig!“, prustete Peter.

Philipp, der immer nachplapperte, was die andern sagten, ergänzte: „Ja, Johnny! Superklasse deine Witze“, obwohl er die Pointe nicht verstanden hatte.

Simon beeilte sich, auch einen Kommentar abzugeben und sagte glucksend: „Sensationell. Ich könnte niemals so viele Geschichten im Kopf behalten.“

Matthias grinste mit den andern mit. Er wusste ohnehin nicht, wieso er zu diesem Junggesellenabschied eingeladen war.

Thomas begann wieder zu nörgeln: „Langsam aber sicher habe ich richtig Hunger. Ich hoffe, Luuk hat dem Personal endlich Beine gemacht. Ist bestimmt schon fünf Minuten her, seit er weg ist.“

In diesem Moment öffnete sich langsam die zirka ein Meter grosse, runde Luke in der Mitte des Tisches. Das Gespräch verstummte augenblicklich. Alle schauten gebannt zur Tischmitte, fasziniert von der ungewöhnlichen Mechanik, die ihnen ihr Freund am frühen Abend erklärt hatte, und voller Vorfreude auf die Köstlichkeiten, die auf der Platte nach oben geschoben wurden.

„Na, da wollen wir mal sehen, welche Schweinereien uns Luuk zum Hauptgang vorsetzt.“ Johnnys Spruch sass perfekt. Die kleine Gesellschaft war in bester Stimmung, als sich langsam ein nacktes Hinterteil von unten her in ihr Gesichtsfeld schob.

„Geil, eine Stripperin!“, entfuhr es Simon.

Und Johnny ergänzte schnell: „Das ist aber ein Männerarsch. Da will uns der Gastgeber persönlich mit seinem haarigen …“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken, denn er blickte jetzt direkt in die glasigen Augen seines Jugendfreundes.

Mit einem Klicken schnappte die Tischplatte ein und war fixiert. In dem kleinen Raum wurde es still. Den Hintern hoch nach oben, den restlichen Körper darunter zusammengepfercht und den Kopf zur Seite gedreht, lag splitternackt, inmitten einer appetitlichen Dekoration von Salaten und Gemüsen, der zukünftige Bräutigam. Aus seinem Hals floss Blut, welches die ganze Tischplatte rot färbte.

Johnny war sprachlos und starrte die Leiche an, Philipp übergab sich auf den Tisch, Matthias klammerte sich an die Tischplatte, Thomas war einer Ohnmacht nah, und Simon schrie: „Macht doch was! Man muss doch was machen.“

Peter war aufgesprungen und sein Stuhl krachend nach hinten gekippt. Er übernahm das Kommando: „Wir müssen sofort die Polizei verständigen.“ Er zog sein Handy heraus, zitterte jedoch so sehr, dass er keine Nummer eintippen konnte. Sein älterer Bruder, Andreas, hatte wie immer einen kühlen Kopf bewahrt und wusste sogar die Notrufnummer, die er hier in Deutschland wählen musste. Mit ruhiger Stimme sprach er in sein Handy: „Hallo! Ich möchte einen Mord melden.“

BERN

Kapitel 1

„Und dann müssen Sie unter dem Brüggli durch und rechts abbiegen.“ Das Hochdeutsch mit dem durchdringenden Schweizer Akzent nervte. „Dem Brüggli. Der kleinen Brücke. Aber Sie müssen aufpassen, denn da hat es so Böllen, so Verkehrshindernisse. Und da können Sie dann parkieren und den Herrn Loosli suchen. Der muss da sein. Ich warte mal am Telefon, bis Sie ihn gefunden haben.“

Mike Bohrer war der Verzweiflung nahe. Frau Siggenthaler hatte ihm an diesem Freitagmorgen eine halbe Stunde ihrer, wie sie sagte, äusserst kostbaren Zeit eingeräumt, damit er die neuen Produkte seiner Geschenkartikelfirma vorstellen konnte. Kaum hatte das Treffen in dem Sitzungszimmer im zweiten Stock begonnen, hatte dieser LKW-Fahrer angerufen, weil er die Anlieferungsrampe nicht fand. Weiss der Teufel woher dieser die Handynummer der Chefeinkäuferin der MAKRO-Warenhauskette kannte. Es war ein Affront gegenüber ihrem Gesprächspartner, dass Frau Siggenthaler den Anruf während der Besprechung entgegennahm und es als ihre Aufgabe ansah, den Chauffeur durch die Vororte von Bern zu lotsen. Aber als ihr Lieferant hatte Mike hinzunehmen, was immer seine wichtige Kundin ihm zumutete. Er hätte selbst einen Anruf entgegennehmen sollen. Er hatte vor der Besprechung sein Handy auf Vibration gestellt und innerhalb der letzten zwei Minuten hatte es sich in seiner linken Westentasche dreimal gemeldet. Das musste Conny vom Büro sein. Und wenn sie dreimal hintereinander anrief, musste etwas Wichtiges passiert sein.

„Was? Ein Einbahnzeichen? Oje. Können Sie kehren? Was verstehen Sie nicht? Ach so. Ich meine umdrehen. Ja, richtig. Wenden.“

Das konnte länger dauern. Mike überlegte sich, ob er in die Tasche fassen und zurückzurufen sollte. Nein. Das passte nicht zu ihm. Zwar war er auf den MAKRO-Auftrag gar nicht angewiesen, denn seine kleine Handelsfirma die „Grusskarten und Geschenke Connection“, die GGC, funktionierte auch ohne Aufträge. Doch es ging um Glaubwürdigkeit, die es auf jeden Fall zu wahren galt. So verzichtete Mike darauf, aufzustehen und das Besprechungszimmer zu verlassen. „Ja. Das ist vielleicht das Gescheiteste. Machen Sie es so. Ich muss sowieso jetzt aufhängen, weil ich noch einen wichtigen Termin habe. Aber bitte, gerne geschehen. Kein Problem. Habe ich gerne gemacht. Machen Sie es gut. Ja, Ihnen auch. Dem Herrn Loosli einen schönen Gruss. Und eine gute Rückfahrt nach Deutschland.“

Leg endlich auf, dachte Mike. Am liebsten hätte er der untersetzten Dame im zu engen Deux-Pièces das Mobiltelefon aus der Hand gerissen und auf dem Boden zertreten.

„Wo sind wir stehen geblieben?“, fragte Frau Siggenthaler vom Fenster her. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl und legte ihr Handy griffbereit neben sich auf den Tisch. Lustlos schaute sie auf das Tablet, auf dem das tanzende Huhn, ein Renner aus dem GGC Sortiment, abgebildet war und schielte auf ihre Uhr. „Oh. Schon so spät. Ich muss in fünf Minuten an einer wichtigen Besprechung sein.“

Oder beim Friseur? Professionell lächelte Mike Frau Siggenthaler verständnisvoll an.

„Lieber Herr Bohrer. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Lassen Sie mir ein paar Muster da und mailen Sie mir die Preise. Ich schaue mir das in Ruhe an und melde mich bei Ihnen für die Bestellung.“

Mike wollte intervenieren, denn so würde er niemals einen Auftrag bekommen. Aber seine Prioritäten waren momentan anders gelagert. Er liess es bleiben. „Selbstverständlich, Frau Siggenthaler. Machen wir so.“

Mike verabschiedete sich und trat auf den Gang hinaus und verliess schnell das Gebäude. Er griff in seine Westentasche und drückte blind verschiedene Tasten. Einen verpassten Anruf zurückzurufen, dazu brauchte er nicht hinzuschauen. Ein paar Augenblicke später stand Mike vor dem Gerechtigkeitsbrunnen in der Berner Altstadt und hatte seine Mitarbeiterin am Telefon.

„Conny! Du hast mich gesucht. Was gibt es Dringendes?“

„Oh Mike. Gut, dass du zurückrufst. Herr Meier von Amadeos Geschenkeparadies hat angerufen und will dich sofort sehen. Die letzte Lieferung muss komplett falsch gelaufen sein. Er ist total ausgeflippt. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Wörtlich hat er gesagt: Wenn der Bohrer nicht innerhalb einer Stunde bei mir auf der Matte steht, könnt ihr die ganze Ware bei mir abholen.“ Da Conny die Pakete im Lager selbst verpackte, war ihr die Wichtigkeit dieses Kunden absolut klar. Falls dieser nichts mehr bestellte, könnte das fast existenzbedrohend für die Firma sein, zumal sich solche Vorfälle unter den Kunden schnell herumsprachen. Mike war stolz auf seine Mitarbeiterin, sie war engagiert und dachte mit.

„Kannst du das wieder zurechtbiegen?“

„Ja, Conny. Keine Angst. Ich bin in Bern und werde gleich vorbeischauen. Meier ist ziemlich aufbrausend, aber er beruhigt sich immer schnell wieder. Ich werde somit nicht bis zwölf Uhr zurück sein. Tschüss.“

Mike zog den Kragen der Jacke hoch und ging los. Es regnete leicht, obwohl gleichzeitig die Sonne schien; Aprilwetter eben.

Kapitel 2

Stimme 1: „Allahu Akbar.“

Stimme 2: „Allahu Akbar.“

Stimme 1: „Sind die dreihundert unterwegs?“

Stimme 2: „Ja, sie werden bald eintreffen.“

Stimme 1: „Und die dreissig?“

Stimme 2: „Ja, die dreissig sind bestimmt.“

Stimme 1: „Und sie haben alles?“

Stimme 2: „Es wird alles bereit sein.“

Pause

Stimme 1: „So soll es geschehen.“

Stimme 2: „Ein Problem. Der Preis hat sich verdoppelt. Sechs Millionen Dollar.“

Von Stimme 1 ein undefinierbares Geräusch, ein Glucksen, eine Art Lachen.

Stimme 1: „Kein Problem. Es wird nichts mehr wert sein.“

Der dunkelhäutige Dolmetscher schob seinem Vorgesetzten das Protokoll des auf der anderen Seite des Globus abgehörten Gespräches herüber.

Dieser starrte auf das Blatt. Ein weiteres Gespräch über die 300. Seit einem halben Jahr kam diese mysteriöse Zahl zur Sprache. Sie hatten bisher nicht herausgefunden, was es mit diesen 300 auf sich hatte. Er war sich sicher, da wurde etwas Grosses geplant. Was und wo? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es bald geschehen würde.

Kapitel 3

Statt zurück zum Parkhaus, wo Mike sein Auto abgestellt hatte, ging er die Gerechtigkeitsgasse hinauf in Richtung Zytglogge. Dort überquerte er die Strasse und bog unter die Arkaden der Marktgasse ein. Es wimmelte von Menschen: Touristen aus aller Welt, Schweizer auf Besichtigungstour in der Hauptstadt, Einheimische mit Einkaufstaschen, Kinder auf dem Schulweg, Strassenmusiker. Trotzdem war keine Hektik zu spüren. Gemäss bernischer Tradition fühlte es sich ruhig und gelassen an: „Es het gäng no glängt.“

„Hilfe! Ein Dieb! Hilfe!“ Die schrille Stimme war nicht zu überhören. Mike blickte in die Richtung des Lärms, sah aber nichts. Vor ihm öffnete sich eine Gasse und ein muskulöser, junger Mann, unter dem rechten Arm eine silberfarbene Paillettentasche, kam auf ihn zu gerannt. Ein paar Meter weiter hinten lag eine betagte Frau auf dem Boden und jammerte laut. Anstatt den Dieb zu stoppen, bildeten die Passanten ein Spalier.

Mike ging instinktiv zur Seite. Als der Fliehende an ihm vorbeispurtete, stellte er ihm ein Bein. Der Mann stolperte und stürzte. Keine Sekunde später lag Mike auf ihm, hatte seinen linken Arm um dessen Hals gelegt und fixierte den Griff, indem er mit der rechten Hand sein anderes Handgelenk umklammerte. Er hatte ihn im Schwitzkasten. Manchmal ist es von Vorteil, wenn man nicht der Leichteste ist, dachte sich Mike und achtete darauf, dass er sein ganzes Körpergewicht gleichmässig auf den Hals und die Schultern seines Gegners verteilte. „Dann musst du nur noch ausatmen“, erinnerte er sich an die Worte seines Militärkollegen. „Aus diesem Griff kann sich auch der Stärkste nicht befreien.“ Gegen den fast eins neunzig grossen Schlägertyp hätte Mike in einem offenen Kampf keine Chance gehabt. Dieser wand sich und versuchte mit dem linken Unterarm, auf dem ein roter Totenkopf tätowiert war, Mikes Kopf zu fassen. Erfolglos. Er fuchtelte wie wild, was nichts nützte. Er konnte sich nicht befreien. Mike hielt ihn in eiserner Umklammerung fest.

Inzwischen hatte sich eine neugierige Menge um das Menschenknäuel gebildet. Der Gefangene fluchte in einer fremden Sprache und Mike fragte ironisch in die Reihe der erstaunten Gesichter: „Hätte jemand die Güte, die Polizei zu rufen? Ich habe einen dringenden Termin.“

Eine herbeigerufene Polizeipatrouille übernahm den Dieb und führte ihn ab.

Mike klopfte notdürftig den Schmutz von seinen Kleidern und überquerte die Marktgasse. Auf der anderen Strassenseite sah er von weitem Amadeo Meier mit seinem massigen Körper, der mehr breit als hoch war, vor seiner bunten Geschenkboutique stehen. Er schien ungeduldig auf jemanden zu warten. Kaum in Hörweite begann er zu fluchen: „So was habe ich noch nie erlebt. Was für eine Schlamperei. Kommen Sie sofort rein, Bohrer.“

Mike kam nicht dazu, ihn zu begrüssen, schon gar nicht ihm die Hand zu geben. Meier zog ihn am Ärmel in den Laden hinein, der mit Geschenkartikeln aller Art so überfüllt war, dass man sich kaum bewegen konnte.

„Hallo Alex. Wow. Machst du heute blau?“, sagte Mike zu der ausgeflippten Angestellten, die immer für eine Überraschung gut war und ihren kahlrasierten Kopf komplett blau angemalt hatte.

„Hallo Mike.“ Auf die Standardergänzung „mein Lieblingslieferant“ verzichtete sie. Hinter Meiers Rücken zwinkerte sie Mike zu und rollte verschwörerisch mit den Augen.

Dicke Luft.

Meier schubste Mike unter lautem Fluchen durch den Hinterausgang und über die schmale Zwischengasse in sein Büro im gegenüberliegenden Gebäude. „Verdammt nochmal Bohrer, wenn Sie nochmals so schlampig arbeiten, können Sie unsere Zusammenarbeit vergessen.“

Die Kacke musste mächtig am Dampfen sein.

Nachdem die Türe mit dem Sicherheitsschloss von innen verriegelt war, drückte Meier verschiedene Tasten auf seinem Computer und verschwand durch den sich öffnenden Wandschlitz. Mike deponierte sein Handy in einem pinken Plastikbehälter und folgte ihm. Im Hintergrund hörte man immer noch Amadeo Meier fluchen und schimpfen, während sich die Geheimtüre im Büro hinter den beiden Männern langsam schloss. Während das vor einem Jahr aufgezeichnete Gespräch als Ablenkung für allfällige Abhöraktionen lief, begaben sich Mike und sein Vorgesetzter über einen schmalen Gang und eine lange Treppe in das echte Büro von Amadeo Meier. Es lag tief im Untergrund und war absolut abhörsicher.

„Was ist los, Amadeo? Da muss etwas Schlimmes passiert sein, wenn du mich so schnell sehen musst.“

Mike duzte den Leiter Europa des Schweizerischen Nachrichtendienstes des Bundes, NDB, erst seit ein paar Monaten. Bis davor hatte Meier zu ihm eine gewisse Distanz gewahrt, denn Mike hatte für den Schweizer Geheimdienst nur Botendienste geleistet. Im letzten Herbst war eine Routineuntersuchung ausgeartet und Mike hatte unter Einsatz seines Lebens den Fall gelöst. Seither war ihre Beziehung intensiver geworden. Er durfte Meier mit Vornamen ansprechen und bekam mehr Verantwortung. Ein paar knifflige Aufgaben hatte er inzwischen gelöst, aber die grossen „James Bond rettet die Welt“ -Missionen kamen in diesem Metier nicht so oft vor, wie es die Filmindustrie einen glauben lassen wollte. Schon gar nicht für einen Schweizer Agenten.

Abgesehen davon war Mike sich nicht sicher, ob er wirklich so eine Mission hätte haben wollen.

Kapitel 4

Heute Morgen um fünf Uhr war Konsul Roman Grün von der Polizei aus dem Bett geholt worden. Diese erklärte ihm, dass sein Mitarbeiter, Luca Habermacher, auf bestialische Weise ermordet worden war. Grün führte das Schweizer Konsulat in Dresden seit über zehn Jahren. Als Konsul war er für die administrativen Belange zuständig. Er hatte seinen Aufgabenbereich perfekt organisiert und das Vertrauen in seine Mitarbeiter wurde ihm durch deren grosses Engagement zurückbezahlt.

Aber eine solche Krise hatte er in seiner bisherigen Karriere noch nie erlebt. Vor drei Monaten hatte ihm die Personalabteilung in Bern einen zusätzlichen Mitarbeiter zugeteilt, den er gar nicht angefordert hatte. Dieser hatte der deutschen Sekretärin den Kopf dermassen verdreht, dass diese ihre Arbeit vernachlässigte. Und jetzt war dieser Habermacher tot, ermordet. Weitergehende Informationen hatte er keine bekommen. Allerdings wurde ihm versprochen, dass er über den Fortschritt der Untersuchungen auf dem Laufenden gehalten würde. Es lag an ihm, Lucas Verlobte zu informieren und zu trösten. Ausserdem musste er die Arbeit auf dem Konsulat umorganisieren und sich um Lucas Schweizer Freunde kümmern, die vorläufig in Untersuchungshaft waren. Er hatte den Generalkonsul um Hilfe gebeten. Doch sein studierter Vorgesetzter hatte ihn wie immer hochnäsig abgewiesen mit dem Hinweis, dass seine Aufgabe der Kontakt mit der Presse sei und Konsul Grün sich um den administrativen Kram kümmern solle. Dieser Lümmel. Er war ihm vor die Nase gesetzt worden, obwohl dieser vom Alter her sein Sohn hätte sein können. Und das alles nur, wegen des Studiums an einer Universität. Dabei war Generalkonsul Kunz völlig unfähig, einem Konsulat vorzustehen.

Konsul Grün hatte deshalb direkt die Botschaft in Berlin kontaktiert und um Unterstützung gebeten. Dort hatte aber niemand Zeit für ihn, denn im Moment waren die heiklen Koalitionsgespräche zur Bildung der neuen Regierung im Gange. Dies verlangte die volle Konzentration der Schweizer Hauptvertretung. Wie üblich wurde er an die Personalabteilung in Bern verwiesen. Diese anzurufen, darauf verzichtete er freiwillig. Sie würden ihm zwar Betroffenheit vorheucheln und so schnell wie möglich Verstärkung versprechen, bis aber wirklich eine Reaktion kam, würden Wochen, wenn nicht Monate vergehen.

Alleine sass er in seinem Büro und versuchte sich einen Überblick über die bevorstehenden Arbeiten zu verschaffen, als das Telefon schon wieder klingelte. Niemand war da, der es entgegennehmen konnte. Sein Stellvertreter und einzig übriggebliebener Mitarbeiter, Vizekonsul Norberth Roth, war momentan auf dem Polizeirevier, um die Personalien der festgehaltenen Schweizer zu verifizieren. Also musste er selbst ans Telefon, um wohl bei einer Bagatelle weiterzuhelfen. Wahrscheinlich war bei einem in Dresden lebenden Schweizer Bürger die AHV-Rente nicht rechtzeitig auf seinem Bankkonto eingetroffen.

„Schweizer Konsulat Dresden. Konsul Roman Grün am Telefon. Wie kann ich Ihnen helfen?“, sagte er dienstbeflissen, wie er es an einem Seminar vor vielen Jahren einmal gelernt hatte.

„Ich wolle spräche Lugasch Aber Machär!“

„Ähhh, ja. Wer spricht da, bitte?“

„Ich wolle spräche Lugasch Aber Machär!“

Osteuropäischer Akzent registrierte Konsul Grün automatisch. „Um was geht es denn? Eventuell kann ich Ihnen helfen?“

„Nein. Wolle spräche Lugasch!“

„Ich bin der Vorgesetzte von Herrn Habermacher. Sie können sich …“ Eingehängt. Was war das denn?

Kapitel 5

Es war eine gespenstische Szenerie. Lange Zeit hatte man nicht viel erkennen können. Nur ein kleines Gebäude mit erleuchteten Fenstern, das auf einem erhöhten Aussichtspunkt lag. Hinter den Fenstern waren ein paar Menschen, Männer, zu erkennen, die feierten und Spass hatten. Man sah, dass sie tranken und assen. Nach einer gewissen Zeit war ein Mann aus der Türe getreten, die gewundene Aussentreppe hinuntergehastet und im unteren Stockwerk wieder in das Haus verschwunden. Daraufhin erneut das ruhige Bild für etwa fünf Minuten. Und völlig unerwartet brach die Hölle aus. Die obere Türe wurde aufgerissen und Männer stürzten auf den Vorplatz. Sie hatten angstverzerrte Gesichter, soweit man dies aus der Distanz feststellen konnte. Sie rannten wirr durcheinander, schrien und einer übergab sich. Nach ein paar Minuten erschienen zwei Uniformierte einer Überwachungsgesellschaft und etwas später trafen Polizisten ein. Nach einer halben Stunde war die Polizei mit vier Fahrzeugen vor Ort und leuchtete die ganze Umgebung mit hellen Schweinwerfern aus.

Meier schaltete auf Standbild, nachdem er die letzten paar Minuten in vielfachem Schnelllauf abgespielt und nur bei ein paar speziellen Ereignissen verlangsamt hatte. „Aufnahmen von der Überwachungskamera.“ Er wandte sich direkt Mike zu: „Kennst du die Festung Königstein in der Nähe von Dresden?“

Mike zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. „Ich habe viele Städte auf meinen Geschäftsreisen in Deutschland besucht. In der ehemaligen DDR kenne ich aber nur Berlin.“

„Die Festung Königstein ist eine mittelalterliche Burganlage an der deutsch-tschechischen Grenze, hoch über der Elbe gelegen. Das weitläufige Innenareal liegt ideal auf einem Hochplateau und ist von Mauern umgeben, sodass der gesamte Schutzwall zwanzig bis zum Teil dreissig Meter hoch ist. Die Festung gilt als uneinnehmbar und ist nie erobert worden. Es gibt keine Möglichkeit, mit einem Fahrzeug hinaufzugelangen, ausser in einem geräumigen Lastenlift, mit dem sogar kleine Nutzfahrzeuge transportiert werden können. Deshalb hat es eine gewisse Zeit gedauert, bis die Polizei vor Ort war.“

Meier drückte weitere Knöpfe auf dem Bedienungspult und ein idyllisches Schlösschen erschien auf dem überdimensionalen Bildschirm, der fast die ganze Rückwand ausfüllte. „Das hier ist der sogenannte Festsaal. Es ist ein kleines Gebäude, das abseits an der Burgmauer steht, wo die Aussicht besonders berauschend ist. Es kann für Partys gemietet werden. Die Besonderheit dabei ist das ‚Tischlein deck dich‘. Eine raffinierte Konstruktion aus dem vorletzten Jahrhundert. Eine runde Tischplatte in der Mitte des Tisches lässt sich absenken. Diese kann im unteren Stockwerk vom Catering-Personal neu gedeckt werden. Auf Knopfdruck wird ein Mechanismus in Gang gesetzt, der die Tischplatte wieder nach oben hebt. Das Gedeck und die Speisen tauchen oben bei den Gästen auf, ohne dass jemand vom Personal störend eingreifen muss. Ein äusserst beliebter Raum, um spezielle Feste zu feiern.“

„Okay. Aber du hast mich wohl kaum so dringend sehen wollen, um mir einen Vorschlag zu unterbreiten, wo ich meine nächste Party feiern soll, oder?“

Meier ignorierte die ironische Bemerkung. „Ein Mitarbeiter von unserem Konsulat in Dresden ist letzte Nacht in diesem Festsaal auf bestialische Art und Weise ermordet worden, als er zusammen mit seinen Kollegen seinen Polterabend feierte.“

„Und? Was haben wir damit zu tun. Polterabend ist wohl kaum ein offizieller Staatsanlass. Tönt nach Beziehungsdelikt. Dafür ist die deutsche Polizei zuständig. Die sollen den Mord aufklären.“

„Mike!“ Meier schaute ihm direkt in die Augen. „Das war ein Mann von uns, Luca Habermacher.“ Er nickte in Richtung Rückwand, wo jetzt das Portrait eines jungen, gutaussehenden Mannes mit einer schwarzen Gelfrisur projiziert wurde. „Du hast ihn gekannt, oder?“

Mike nickte stumm und schluckte leer. Nachdenklich betrachtete er das überdimensionale Foto.

Meier hakte nach: „Das Aussenministerium ist Ende Jahr auf uns zugekommen. Aufgrund ihrer Computerauswertungen haben sie festgestellt, dass über mehrere Monate vom Konsulat Dresden aussergewöhnlich viele Passanträge gestellt wurden. Beim näheren Betrachten ist aufgefallen, dass fast alle mit französischen Namen versehen waren. Nicht unbedingt die Auslandschweizer, die sich in Dresden niederlassen. Wir vermuten deshalb eine Schlepperorganisation dahinter, die Flüchtlinge aus dem französischsprachigen Afrika, zum Beispiel Marokko oder Tunesien, mit diesen gefälschten Pässen ausrüsten. Die können damit unbehelligt in die EU einreisen.“

Mike blickte skeptisch. „Lohnt sich das überhaupt?“

„Ein echter Schweizer Pass ist auf dem Schwarzmarkt mehr als zehntausend Franken wert. Und es gibt in Nordafrika viele Menschen, die dem unsinnigen Wirrwarr entfliehen wollen. Viele kratzen das Geld zusammen, damit wenigstens ihre Söhne ein Leben mit einer Perspektive haben.“ Meier legte eine kurze Pause ein und doppelte nach: „Wenn du in einem zerbombten Loch in Syrien oder sonst wo im Nahen Osten hocken würdest, dann würdest du auch versuchen, deinen Sohn loszuschicken, um ihm in Europa die Chance auf ein normales Leben zu ermöglichen.“

„Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen“, bestätigte Mike.

„Wir haben im Januar Luca nach Dresden geschickt und er muss auf Hinweise gestossen sein. Wir haben von ihm verschlüsselte Nachrichten bekommen, die darauf hindeuten, dass mindestens ein Mitarbeiter des Konsulates darin verwickelt sein muss. Das wäre nicht das erste Mal. Du weisst, dass vor allem die männlichen Mitarbeiter potentiell gefährdet sind. Geld, Sex, Alkohol; jeder hat eine Schwachstelle.“

Meier blickte Mike forschend in die Augen. Ob dieser ebenfalls einen dunklen Fleck in seinem Leben hatte, von dem der Nachrichtendienst des Bundes nichts wusste? Mike hielt Meiers durchdringenden Blick ohne eine Miene zu verziehen stand, aber das wollte nichts heissen. Bestimmt hatte auch Mike seine Geheimnisse. Doch darum ging es im Moment nicht.

„Der Polterabend auf der Festung Königstein diente dazu, unseren toten Briefkasten mit den aktuellsten Informationen zu füllen. Die Vorbereitungsarbeiten ermöglichten es Luca, ohne Verdacht zu erwecken, mehrmals da oben aufzutauchen. Unser Bote hat uns heute Morgen mitgeteilt, dass das Versteck im Spülkasten der öffentlichen Toilette dieses Mal leer war. Der Mörder muss Luca durchschaut haben und die Papiere mitgenommen oder vernichtet haben.“

Wie die meisten Nachrichtendienste war man in der Schweiz für vertrauliche Informationen auf das gute alte Papier zurückgekommen. Die hochgejubelte Elektronik hatte versagt. Jede elektronische Übermittlung konnte von Hackern abgefangen werden und jedes neue Verschlüsselungsprogramm wurde innerhalb von kurzer Zeit geknackt. Und für den Transport dieser Papiere über die Grenze brauchte man unverdächtige Personen. Für solche Botengänge hatte Meier vor ein paar Jahren Mike rekrutiert.

Meier war durch einen Bekannten auf Mike aufmerksam geworden und hatte begonnen, ihn näher zu untersuchen. Offizier der Schweizer Armee, folglich durchaus patriotisch, Uniabschluss, somit intelligent, mit zwanzig Jahren Vize-Schweizermeister im Zehnkampf, also sportlich. Dazu kam das unauffällige Aussehen: Durchschnittliche Grösse, ovales Gesicht, keine besonderen Merkmale. Den Ansatz zur Glatze kaschierte Mike mit einem Kurzhaarschnitt. Ansonsten sah er trotz seiner sechsundvierzig Jahre jugendlich aus. Und obwohl er inzwischen ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hatte, war Mike immer einer der besten, wenn sie den jährlichen Fitnesscheck machten. Ausserdem war das Körperliche weniger wichtig als die geistigen Fähigkeiten. Und auch da glänzte Mike.

Und vor allem war Mike geschäftlich oft in Deutschland unterwegs. Perfekte Tarnung. Während diesen Geschäftsreisen bei den deutschen Lieferanten konnte Mike immer kurze Umwege machen, unauffällig Geheimverstecke leeren oder füllen und die Dokumente transportieren. Meier hatte bald gemerkt, dass Mike zu mehr fähig war, als nur den Briefträger zu spielen. Und so bildete er ihn zum Agenten aus. Und den Auftrag, welchen er Mike letztes Jahr übergeben hatte, hatte dieser sehr erfolgreich erledigt.

„Hier hast du die Hintergrundinformationen.“ Meier schob ihm einen schmalen Ordner zu. „Da findest du alles über unser Konsulat in Dresden, die Dresdner Polizei, welche den Fall untersucht, die Fotos von der Junggesellenparty und weitere wichtige Informationen.“

Mike ergriff den Ordner und legte ihn, ohne ihn zu öffnen, vor sich hin.

„Bist du sicher, dass ich der Richtige für diesen Job bin?“

Meier wusste nicht, ob Mike diese Frage aus Respekt gegenüber der Aufgabe oder aus Angst vor den Gefahren gestellt hatte.

„Du hast bestimmt andere Leute, die dieser Herausforderung eher gewachsen sind.“

Diese Frage stellte sich für Meier gar nicht. Mike war im Moment seine einzige Option. Alle Agenten, die für diesen gefährlichen Job in Frage kamen, waren in wichtigen Missionen unterwegs. Seit der Wahl von Trump spielte die Welt verrückt. Unberechenbare Aussenpolitik: Drohungen gegen die Pulverfässer Iran und Nordkorea, Handelskrieg mit Europa, Einreisesperren gegen Syrien, Irak und weitere Länder. Die Islamisten rächten sich mit einer Reihe von Attentaten quer durch die Welt. Für den kleinen Schweizer Geheimdienst mit begrenzten Ressourcen war es eine Herkulesaufgabe, die Schweiz vor Schaden zu bewahren. Was letztes Jahr in Nürnberg geschehen war, konnte Meier zwar nicht völlig nachvollziehen. Aber er war ein resultatorientierter Mensch, und Mike hatte den schwierigen Fall damals im Alleingang gelöst.

„Ja, Mike. Ich traue es dir absolut zu.“

Mike schaute seinen Vorgesetzten an und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Und du musst wissen: Ich musste mich im Januar bei dem Auftrag zwischen Luca und dir entscheiden.“ Meier drückte eine weitere Taste auf dem Computer und das Bild an der Wand wechselte von dem lächelnden, lebensfrohen Mann auf eine Nahaufnahme der blutgetränkten Leiche.

„Derjenige, der da liegt, könntest du sein!“

Kapitel 6

Mike sass alleine in Meiers Büro. Zaghaft öffnete er das vor ihm liegende Dossier. Gleich auf der ersten Seite eine Collage: Das Opfer aus verschiedenen Perspektiven. Mike stutzte. Er nahm das Blatt in die Hand und ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Der Mörder musste ein kaltblütiger Profi sein. Er hatte sich nicht damit begnügt, Luca mit einem gezielten Schnitt durch die Kehle zu töten, sondern sich Zeit genommen, ihn zu entkleiden und wie ein gebratenes Schwein zu arrangieren. Ob er dies aus reiner Böswilligkeit getan hatte oder um durch die Schockwirkung seine Flucht zu decken, war zweitrangig. Es zeugte von einer Brutalität sondergleichen. Mike schüttelte den Kopf. Das hatte ihm niemand gesagt, als Meier vor fünf Jahren in einer Geschäftskrise an seinen Patriotismus appelliert und ihm angeboten hatte, für den Schweizerischen Nachrichtendienst des Bundes Botengänge in Deutschland zu erledigen. Das hier war eine andere Nummer. War er fähig, die Hintergründe dieses scheusslichen Verbrechens aufzuklären? Klar, der Job letztes Jahr war gefährlich gewesen und er hatte um sein Leben kämpfen müssen. Aber er hatte auch Glück gehabt, dass er damals lebend aus dieser Hölle entwischt war. Das konnte er kaum ein zweites Mal beanspruchen. Und diesmal stand er einer skrupellosen Organisation gegenüber, für die ein Menschenleben keinen Wert hatte. Seine Ausbildung war zwar gut, aber er hatte bisher nie auf einen Menschen geschossen. Würde er so eine Herausforderung meistern können? Wie konnte er vorgehen, um den Auftrag abzulehnen?

Es schüttelte ihn leicht, als sein Blick abermals auf das projizierte Bild an der Wand fiel. Wenn ich das wäre, möchte ich dann nicht auch, dass mein Tod aufgeklärt würde? Mike starrte in die toten Augen des jungen Mannes. Luca Habermacher. „Der Mann aus Sursee“ hatten sie ihn in Anlehnung an Sascha Ruefers Bezeichnung für den Fussballer Haris Seferovic scherzhaft genannt. Er konnte sich gut an Luca erinnern, obwohl er ihm nur ein Mal begegnet war; vor einem Jahr beim Ausbildungskurs in den Walliser Alpen. Obwohl Luca erst knapp dreissig Jahre alt war, hatten sie ein paar Gemeinsamkeiten. Wie Mike hatte Luca, oder Luuk wie ihn seine Freunde nannten, an der Hochschule St. Gallen studiert, und ausserdem war Luca in Sursee im Luzerner Mittelland aufgewachsen. Mikes Mutter stammte ebenfalls aus dieser Gegend, aus Gunzwil, einer wenig bekannten Nachbargemeinde. Sie hatten zusammen am zweiten Ausbildungsabend an der Bar gesessen und über Dozenten der HSG gelästert, über Rudern auf dem Sempachersee gefachsimpelt, über die Risiken ihres Nebenjobs gemutmasst. Zum Schluss hatten sie mit einem Jameson Whiskey auf ihre Freundschaft angestossen und sich gegenseitige Unterstützung geschworen. Am nächsten Morgen brach sich Luca den Fuss beim Fallschirmabsprung in der unwegsamen Gebirgslandschaft.

Lustlos blätterte Mike in den Unterlagen. Es schadete nicht, wenn er mal reinschaute. Es dauerte sowieso dreissig Minuten, bis Meier zurückkam. Bestimmt würde er ihn während dieser Zeit durch die grosse Spiegelscheibe beobachten. Mechanisch begann Mike alles durchzuarbeiten. Widerwillig prägte er sich die Gesichter ein, merkte sich wichtige Adressen und Telefonnummern. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren und die aufkommenden trüben Gedanken zu unterdrücken.

Die Zeit war schnell vergangen. Meier betrat sein Büro. Es roch nach Schweiss und Anspannung.

„Mike. Dein Auftrag ist es, die Arbeit von Luca zu vollenden: Enttarne den Verräter, finde Lucas Mörder und finde heraus, wofür unsere Pässe missbraucht werden. Es ist eine gefährliche Mission. Ich bin einhundert Prozent überzeugt, dass du ihr gewachsen bist, sonst würde ich dich nicht damit beauftragen. Wenn du zweifelst, sag es mir. In diesem Fall werde ich eine andere Lösung finden müssen.“

Mike schloss die Augen. Er sah in Lucas lächelndes Gesicht, wie sie damals in der Bar in Leukerbad angestossen und ihre Loyalität besiegelt hatten. Er wollte diesen gefährlichen Auftrag nicht annehmen, aber er konnte ihn nicht ablehnen.

„Ich werde Luuks Mörder finden!“

Kapitel 7

„My Baby just cares … for me“, und der markante Pianolauf mit dem Schlussakkord.

Madalena Vesela schob den Klavierhocker nach hinten und stand auf. Genug geübt für den Moment. Sie hatte seit dem frühen Morgen gesungen und sich selbst auf dem alten Klavier begleitet. Einmal hatte sie eine Pause gemacht und sich einen Tee mit Honig gegönnt: Das beste Mittel gegen Heiserkeit.

Während sie sich in der Küche ein einfaches Mittagessen zubereitete, liess sie sich ihr bisheriges Leben und die erstaunliche Wende letzte Woche durch den Kopf gehen. Sie war Ende zwanzig und der Durchbruch liess noch immer auf sich warten. Sie hatte ganz auf die Musik gesetzt. Ihre Eltern hatten sie immer unterstützt, hatten ihr musikalisches Talent von Kindesbeinen an gefördert und ihr eine erstklassige Ausbildung am Konservatorium finanziert. Wie gerne würde sie ihnen die bedingungslose Unterstützung mit einer internationalen Musikkarriere zurückbezahlen.

Sogar ihren intensiven Kinderwunsch hatte sie deswegen bisher unterdrückt. Karel wollte sie damals heiraten und eine Familie gründen. Sie hatte ihn gemocht, den jungen, unerfahrenen, schüchternen Tubaspieler, und ihm dennoch den Laufpass gegeben. Ihre Karriere war alles für Madalena und als professionelle Sängerin hatte sie keine Zeit, sich um Kinder zu kümmern.

Doch es ging nicht vorwärts. Prag war zwar eine internationale Touristenstadt, aber für Jazzsängerinnen gab es kaum Auftrittsmöglichkeiten. Von Zeit zu Zeit konnte sie in einem der unzähligen Restaurants in einer Nebengasse einen Abend bestreiten. Bezahlung Fehlanzeige. Sie konnte froh sein, dass sie überhaupt eine Auftrittsmöglichkeit hatte und das eingesammelte Trinkgeld behalten durfte.

Sie versuchte es sogar einmal in einem Cabaret, wie sich die Stripclubs in den Vorstädten neuerdings nannten, da man ihr eine Festanstellung und ein Grundgehalt anbot. Ein kurzes Gastspiel. Bereits der erste Auftritt war eine Katastrophe. Das Publikum, das ausschliesslich aus geilen Männern bestand, hatte kein Interesse an ihrer malerischen Stimme, sondern wollte nur wissen, was die grosse Blonde unter ihrem kurzen Schwarzen trug. Das zweite Lied brach sie ab, weil die Rufe „Ausziehn! Ausziehn!“ lauter waren als das Playback. Beim dritten Song ging sie unter Tränen von der Bühne hinunter und, ohne sich bezahlen zu lassen, schnurstracks nach Hause. Sie heulte die ganze Nacht.

Sie hatte zweifellos grosses Talent. Wenn sie hörte, was für charakterlose Stimmen in den Hitparaden säuselten oder jaulten, stieg ihr Frustpegel ins Unermessliche. Es war die Huhn-Ei-Frage: Ohne öffentliche Auftritte konnte sie niemanden von ihren Fähigkeiten überzeugen, und solange sie nicht bekannt war, bekam sie keine Engagements. Ein Teufelskreis.

So hielt sie sich mit Gesangsunterricht an untalentierten jungen Frauen, die entweder die Töne nicht trafen oder kein Rhythmusgefühl hatten – oder beides –, über Wasser. Was bei weitem nicht reichte, sodass sie zusätzlich als Aushilfe an einer Rezeption in einem der neuen, modernen Hotels arbeitete.

Auf dem Heimweg von der Arbeit kam ihr eines Abends die Idee, als Strassenmusikerin aufzutreten. Als in der Stadt die Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt wurde und die Weihnachtstouristen in grosser Zahl die Stadt überfluteten, hatte sie sich das erste Mal mit ihrer Gitarre auf die Karlsbrücke gestellt und für die Passanten gesungen. Nach zwei Stunden war sie zwar völlig durchgefroren, doch der finanzielle Erfolg war beachtlich. Und dann war dieser Fremde aufgetaucht. Er hatte ihr über eine Stunde lang zugehört und sie anschliessend zu einem Nachtessen eingeladen.

Madalena willigte nach kurzem Zögern ein. Ihr Verehrer, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können, stellte sich als Pavel Svoboda vor. Er sprach tschechisch mit einem Akzent und behauptete, dass er ursprünglich aus Polen komme, was sie ihm nicht ganz abkaufte. Aber alle Zweifel waren verflogen, als der elegante Gentleman erklärte, dass er Musik-Agent sei und ihre Stimme ihn absolut begeistert habe. Er bot ihr an, eine Europatournee zu organisieren mit Auftritten in den grossen Clubs verschiedener europäischer Städte. Ihre Begeisterung war riesig. Sie nahm ihn auf einen Drink zu sich mit nach Hause, und in einer Mischung aus Alkohol und Vorfreude ging sie mit ihm ins Bett. Dabei zeigte sich, dass Pavel ein einfallsreicher Liebhaber war.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag sie alleine im Bett. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Wie ein Teenager war sie auf einen Hochstapler hereingefallen, der ihre Naivität ausgenutzt hatte. Sie hatte lange gebraucht, bis sie sich von diesem Schock erholt hatte.

Doch letzte Woche stand unerwartet dieser Pavel mit einem Blumenstrauss vor der Türe und legte ihr einen konkreten Tourneeplan vor. Städte wie Salzburg, Turin, Paris, London standen auf der Liste. An jedem Abend in einer anderen Stadt. Dazwischen mit Auto, Zug und Flugzeug weiter. Zwar waren nicht alle Destinationen grosse Musikstädte, aber für eine erste Tournee war das sehr abenteuerlich. Sie freute sich und war überzeugt, dass dies ihr Durchbruch bedeuten würde.

Bei diesem Gedanken musste sie lächeln. Die Vorfreude wärmte ihr Herz. Morgen früh würde Pavel sie abholen und mit ihr zur ersten Station fahren. Morgen würde sie ihre Europatournee starten.

Morgen würde sich ihr bisher langweiliges Leben völlig ändern.

Kapitel 8

Mike verliess Meiers Büro, wie er es betreten hatte, durch den langen unterirdischen Gang. Das aufgezeichnete Gespräch war soeben mit einer grossen Versöhnungsszene zwischen dem Ladenbesitzer Amadeo Meier und seinem Lieferanten zu Ende gegangen und die beiden übernahmen wieder live.

„Ich gehe davon aus, dass ab sofort alles klappt“, sagte Meier.

„Ja. Ich werde alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit erledigen. Bitte melden Sie sich, wenn wieder etwas nicht so ist, wie Sie es sich vorstellen.“ Mit einem Augenzwinkern verabschiedete sich Mike.

„Hat sich der Alte beruhigt?“, wollte Alex, die magere Verkäuferin, von Mike wissen, als dieser in Gedanken versunken zurück im Ladenlokal ankam.

„Was? Ach so. Ja, alles im grünen Bereich. Und bei dir? Alles im blauen Bereich?“ Mike deutete neugierig auf die ungewöhnliche Kopfbemalung.

Alex lachte laut. „Schön, dass es dir aufgefallen ist. Mein Freund merkt nicht, wenn ich mit einer neuen Haarfarbe auftauche. Mal schauen, ob er wenigstens das bemerkt.“

„Bestimmt wird er sich freuen, wenn du heute als Schlumpfinchen nach Hause kommst. Vergiss bloss nicht die blonde Langhaarperücke und das kurze weisse Röckchen anzuziehen.“ Mike nickte in Richtung der blauen Comicfiguren, die in verschiedenen Posen auf einem Regal gleich neben dem Eingang aufgestellt waren.

„Spinnst du? Ich bin doch nicht Schlumpfinchen.“ Sie griff nach hinten und zeigte Mike den langen schwarzen Zopf, der an ihrem Hinterkopf hing. „Ich bin eine Avatar Kriegerin und kämpfe gegen die imperialistischen Unterdrücker.“

„Das niedliche Schlumpfinchen würde besser zu dir passen.“ Mike zwinkerte ihr schelmisch zu.

„Verschwinde sofort, sonst beschwere ich mich bei Amadeo über dich, und du kannst erneut hier antreten.“ Alex spielte die Empörte und stimmte in Mikes Lachen ein.

„Tschüss. Mach‘s gut. Bis nächste Woche.“

Mike verliess das Verkaufsgeschäft. Er liebte es mit seinen Kundinnen zu schäkern und vor allem die fröhliche Alex mochte er sehr gut. Er blieb vor der Ladentüre stehen und konsultierte seine Uhr. Kurz vor elf. Wenn er den Flug nach Dresden um vierzehn Uhr in Kloten erwischen wollte, musste er sich sputen. Er ging los. Falsche Richtung, denn er hatte nicht wie sonst beim Bahnhof geparkt. Abrupt drehte er sich um.

„Sorry!“, entschuldigte sich Mike sofort bei dem Mann, mit dem er unabsichtlich zusammengestossen war.

„Fuck you!“, schnauzte ihn der Mann an, schubste ihn zur Seite und ging mit gesenktem Kopf eilends davon.

Mike schaute ihm nach. Wo hatte er den schon gesehen? Linker Unterarm: Rotes Totenkopf-Tattoo. Tatsächlich waren nicht einmal zwei Stunden vergangen, seit dieser Typ einen offensichtlichen Entreiss-Diebstahl begangen hatte, und er konnte bereits wieder unbehelligt durch die Altstadt von Bern flanieren. Der Schutz von Kriminellen wurde in der Schweiz auf hohem Niveau gehalten.

Mike eilte zu seinem Auto und war im Nu auf der A1 Richtung Zürich unterwegs. Er wählte seine Geschäftsnummer. Conny meldete sich beim zweiten Klingelton.

„Wie ist es gelaufen. Alles gut?“, fragte sie.

„Ja, ja. Kein Problem. Hör zu. Ich komme heute nicht mehr ins Büro. Meier hat eine falsche Deklaration unserer neuen Near-Food-Produkte entdeckt. Die entspricht nicht dem Schweizer Gesetz. Dem muss ich schleunigst nachgehen. Ich fliege deshalb zu dem neuen Lieferanten nach Dresden, um das vor Ort anzuschauen. Du hältst die Stellung. Du weisst, wie du mich in Notfällen erreichst. Kann länger dauern. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

„Ja, alles klar, Chef.“ Mike war einmal mehr dafür dankbar, dass er so gute Mitarbeiterinnen hatte. Seine kleine Firma funktionierte für eine gewisse Zeit auch ohne ihn und er konnte kurzfristig weg. Zu Hause mit Moni war es schwieriger. Ihre Eltern hatten sich für Samstagmittag angemeldet und Moni war bestimmt nicht erfreut, wenn er ihr mitteilte, dass er übers Wochenende im Ausland war.

Bei Lenzburg verliess Mike die Autobahn und fuhr in Richtung seiner Wohngemeinde Muri im Freiamt. Mike drehte das Autoradio auf, denn es lief gerade sein aktueller Lieblingssong: „Drive the Ball“ des Luzerners Jean Travel. Der Golfersong stieg in den Charts immer weiter nach oben.

Ein paar Minuten nach zwölf Uhr war er bei seinem Einfamilienhaus beim Dorfeingang angelangt. Er parkte so, dass er schnell wieder wegfahren konnte. Mike öffnete mit dem Schlüssel die Haustüre.

„Hallo!“ Das war ihr Begrüssungsritual. Im Normalfall erschallte ein vierfaches Hallo als Antwort. Allem Anschein nach war momentan niemand zu Hause. Seltsam. Mike ging auf sein Zimmer und packte die wichtigsten persönlichen Sachen in einen handlichen Koffer. Er schaute in Monis Zimmer. Niemand da. Und bei den Jungs? Leer. Aber auf dem Schreibpult in der Ecke stach ihm das Infoblatt der Lehrerin ins Auge. Richtig: Die Zwillinge waren heute auf der Schulreise und Moni war deshalb mit Anja zum Schnellimbiss im Dorfzentrum zum Mittagessen gefahren. Sehr gut. Das ersparte ihm die langen Erklärungen und die Diskussion über den elterlichen Besuch. Mike ging in die Küche und schrieb mit abwaschbarem Filzstift auf die weisse Kühlschranktüre: „Muss leider dringend nach Dresden. Bin am Sonntagabend zurück. Melde mich. Habe euch alle lieb.“

Fünf Minuten später fuhr Mike Richtung Zürich weiter. Eine gute halbe Stunde danach traf er im Flughafen Kloten ein. Direktflug. Ungefähr eine Stunde würde er in der Luft sein. Er musste sich sputen, wenn er alles erledigt haben wollte, bis um Punkt fünf Uhr die Sitzung stattfand.

Eigentlich unbegreiflich, dachte Mike, dass ich es so eilig habe, Probleme zu bekommen.

DRESDEN

Kapitel 9

Die Masche mit dem Pappbecher war nur Kulisse. Mike hatte es sofort durchschaut. Der Bettler sass auf dem Platz vor der neu renovierten Frauenkirche, vor sich ein Pappschild mit der Aufschrift „Hunger“ und ein schmutziger Mc-Donalds-Trinkbecher daneben.

Alles lief nach Plan. Nach der pünktlichen Ankunft, hatte Mike sich auf der Flughafentoilette in Beat Muri verwandelt, in seine Tarnidentität. Sein etwas schütteres hellbraunes Haar wurde mit einem dunklen, gescheitelten Toupet abgedeckt. Er klebte sich einen Schnauzbart an, platzierte die Nickelbrille mit den runden Fenstergläsern auf seiner Nase, klebte zwei Silikonkeile hinter die Ohren, und aus seinem ovalen Gesicht war ein eckiges geworden. Er hatte ein weites Hemd angezogen und verlegte beim Gehen den Schwerpunkt seines Körpers nach hinten. So wandelte sich der stämmige, dynamische Mike Bohrer in den trägen Beat Muri.

Mike hatte einen neuen Aktenkoffer in der linken Hand und schlurfte ungelenk auf den Bettler zu. „Bitte eine bescheidene Spende. Ich hab seit gestern Morgen nichts mehr gegessen“, sagte der Bettler leise.

Mike blieb stehen, stellte den Geschäftskoffer auf den Boden, kramte umständlich sein Portemonnaie aus der rechten hinteren Gesässtasche hervor und stocherte im Münzfach herum. Der Bettler stöhnte heftiger. Dies veranlasste Mike bei den Noten nachzuschauen. Erneut war ein Stöhnen zu hören. Diesmal tönte es freudiger. Der Bettler hatte wohl das dicke Bündel mit neuen Fünfzig-Euro-Scheinen bemerkt. Die Druckfrische war fast zu riechen. Obwohl der Bettler schliesslich nur einen Fünfer in seinen Pappbecher bekam, bedankte er sich überschwänglich. Mike schob umständlich seine Brieftasche an den angestammten Platz zurück, packte sein Köfferchen und schlurfte laut schnaufend mit kurzen Schritten davon. Der Köder war ausgelegt.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Mike die Szene. Der Bettler stand mit einer Schnelligkeit auf, die man dem apathischen Obdachlosen gar nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig erhoben sich im gegenüberliegenden „Starbucks“ zwei junge, modern gekleidete Männer, Typ Zuhälter. Die Kommunikation lief wortlos. Der Bettler klopfte sich mit der Hand an die Stirne. Das bedeutete Geld. Er strich mit der rechten Hand über die hintere Hosentasche. Somit wussten die beiden Komplizen, wo sich das Geld befand.

Mike bog in eine schmale Gasse ein. Der ideale Ort für einen Überfall. Er blieb stehen und glotzte auf seinen auseinandergefalteten Stadtplan. Die beiden Schläger kamen in schnellem Schritt auf ihn zu. Leichtes Spiel für die beiden. Ein Schlag auf den Kopf. Der eine griff in die Hosentasche, der andere schnappte sich den Aktenkoffer. Innert kürzester Zeit war der Spuck vorbei und Mike lag auf dem Boden.

„Hilfe! Haltet die Diebe!“, schrie er ihnen nach. Wie erwartet, reagierte niemand. Die zwei Gangster rannten mit ihrer Beute davon, die aus einem leeren Portemonnaie und einem mit Gratiszeitungen gefüllten Koffer bestand. Wie sie wohl aus der Wäsche gucken würden?

Es dauerte eine Weile, bis ein Passant auf die Idee kam, sich um den Mann zu kümmern, der da in der Gasse lag, sich den Kopf hielt und um Hilfe schrie. Eine energische Studentin, ihr auffällig geschminktes Gesicht mit einem Kopftuch eng umschlossen, half Mike schliesslich auf die Beine und holte eine Polizeipatrouille herbei. Diese nahm sich des Überfallenen an und brachte ihn auf die Polizeidienststelle Dresden Mitte, die im gleichen Gebäude beheimatet war wie die Polizeidirektion, Mikes eigentliches Ziel.

„Was ist Ihnen denn passiert?“, fragte ihn eine freundliche Polizistin.

Die macht aufgrund ihrer Körperfülle vermutlich keine Ausseneinsätze mehr, dachte Mike und überlegte sich gleichzeitig, ob er das überhaupt denken durfte oder ob das bereits diskriminierend, wenn nicht sogar sexistisch, war. Das Polizeigebäude hatte eine grossräumige Eingangshalle. Hinter den Empfangstresen standen Schreibtische, an denen die Staatsangestellten ihrer Arbeit nachgingen. An einen solchen Tisch führte ihn Hildegard Trauer, wie Mike auf dem aufgestellten Namenstäfelchen lesen konnte.

„Setzen Sie sich hin und atmen Sie erst einmal durch“, sagte sie.

„Darf ich mein Bein hochlagern? Es schmerzt vom Hinfallen.“ Mike musste sich ein bisschen abdrehen, damit er den Eingang des Hauptgebäudes im Auge behalten konnte.

„Ja, klar. Geht es Ihnen sonst gut?“ Die Polizistin holte aus ihrem Schreibtisch ein Formular.

Mike nickte und liess die nachfolgende Prozedur mit der Aufnahme der Personalien und der Schilderung des Überfalles über sich ergehen.

„So. Lesen Sie das bitte in Ruhe durch und unterschreiben Sie rechts unten. Das Doppel ist für Sie bestimmt.“

Mike begann langsam das Formular durchzulesen und stellte ein paar Kontrollfragen. Plötzlich bekam er einen Hustenanfall und begann zu würgen. Die Polizistin schaute ihn verwirrt an.

„Toilette?“, fragte Mike.

Die Polizistin zeigte in eine Richtung und Mike eilte los, quer durch die Halle. Er röchelte, als ob er sich übergeben müsste. Patsch! Er stiess mit einer Gruppe zusammen, die soeben hereingekommen war und seinen Weg kreuzte. Mike wäre fast hingefallen und konnte sich glücklicherweise an einem kleinen, fülligen Mann festhalten. Dessen kahlgeschorener Schädel verstärkte die einschüchternde Wirkung des eiskalten Blickes, den er Mike entgegenschleuderte. „Passen Sie doch auf! Sie haben mich fast über den Haufen gerannt.“

Mike entschuldigte sich und torkelte weiter. Er verschwand in dem nach chemischer Frische duftenden Raum und schloss die Türe. Niemand sonst da, vergewisserte sich Mike und ging locker zu den Spülbecken. Er vertrieb sich die Zeit mit Händewaschen und einem gezielten Verspritzen seines Hemdes und seiner Hose. Eine Minute sollte reichen. Er verliess den Raum, durchquerte die Halle in aller Ruhe und begab sich vor den Schreibtisch der Polizistin.

„Fühlen Sie sich besser?“, fragte sie mitleidig.

„Ja. Ich fühle mich wie neu geboren.“ Schwungvoll unterschrieb Mike das vor ihm liegende Formular, riss sich die hinterste Kopie gleich selbst ab und sagte zu der verblüfften Polizistin: „Einen Gefallen müssen Sie mir noch machen. Ich habe kein Geld, keinen Ausweis und kein Handy. Ich brauche einen Notpass. Das Konsulat schliesst um siebzehn Uhr. Können Sie da bitte anrufen und sie informieren, dass ich noch vorbeikommen werde, denn ich werde es nicht bis siebzehn Uhr dahin schaffen. Sie tun mir einen grossen Gefallen.“

Die Polizistin nickte und schaute erstaunt, wie Mike sich zügig verabschiedete und behände das Gebäude verliess. Sie schüttelte leicht den Kopf. Seltsam, vorher konnte er sich kaum bewegen und musste sich übergeben. Ein paar Minuten später rennt er wie ein junges Reh umher. Verkaufte jemand auf ihren Toiletten Drogen?

Kapitel 10

„Nein, Sie sprechen nicht mit dem Grünschnabel, sondern mit dem ausgereiften Roten“, scherzte Norberth Roth ins Telefon und zwinkerte seinem Chef zu. Konsul Grün machte ein ernstes Gesicht. Sein Mitarbeiter machte oft diesen Scherz. Trotzdem gab Konsul Grün diese sich immer wiederholende Phrase auf die Nerven. Ignorieren. Es war Feierabend und Zeit, die Türen abzuschliessen.

„Ja genau. Das war ich. Wir haben uns heute Nachmittag auf dem Revier flüchtig gesehen. Was kann ich für Sie tun? Sitzen nochmals ein paar Schweizer in Ihrer Untersuchungszelle?“ Roth kicherte. Dann wurde es für einen Moment still im Konsulat und Roth hörte nachdenklich zu.

„Name? Bit Muri? Oder meinen Sie Beat Muri? Zürich? Moment, ich schau auf dem Computer nach.“ Roth fegte mit seinen Fingern über die Computertastatur und innerhalb kürzester Zeit erschienen zwei verschiedene Passbilder von Beat Muri, Zürich, auf seinem Bildschirm. „Von denen habe ich sogar zwei im Kanton Zürich“, sagte er belustigt.

Inzwischen war Konsul Grün bei der Aussentüre angelangt und schloss diese ab. Er löschte im fensterlosen Vorraum das Licht.

„Sie sagen überfallen worden und alles gestohlen ausser die Kleider am Leib. Der braucht doch keinen Notpass.“ Jetzt wirkte Roth plötzlich genervt. „Für den Grenzübertritt in die Schweiz reicht der Polizeirapport, falls er überhaupt kontrolliert wird. Richten Sie ihm aus, dass wir geschlossen haben und am Montag um neun Uhr wieder öffnen.“

Konsul Grün schaute seinen jungen Untergebenen aufmerksam an. Erstaunlich, wie schnell die Stimmung bei seinem Vize umschlug. Er machte sich im Geist eine Notiz, dass er dies mit ihm am nächsten Qualifikationsgespräch besprechen wollte.

„Nicht mehr da?“ Roth versuchte, einen Fluch zu unterdrücken. „Wann wird er voraussichtlich hier sein? Fünfzehn Minuten? Ich kann nicht garantieren, dass um diese Zeit noch jemand anwesend ist.“ Pause. „Ja, ich weiss, das ist nicht Ihr Problem. Wiederhören.“

„Was ist los?“, fragte Konsul Grün.

„Ein Schweizer Geschäftsmann ist überfallen worden und will jetzt bei uns vorbeikommen.“ Roth schaute auf den Bildschirm. „Beat Muri, Zürich. Er will einen Notpass. Der kann mir gestohlen bleiben. Fünf Uhr ist bereits vorbei. Der soll sich an die Öffnungszeiten halten. Notpass. Der braucht keinen Notpass, um zurück in die Schweiz zu kommen. Der kann mir den Buckel runterrutschen.“ Er leitete die Ausschaltprozedur auf seinem PC ein.

Konsul Grün machte das Licht wieder an und schüttelte den Kopf. „Wir sind für die Bürger unseres Landes, die sich hier aufhalten, verantwortlich und müssen sie unterstützen.“

„Roman, du hast einen Termin zum Golf spielen mit dem russischen Konsul. Dieser Typ kommt schon irgendwie zurück in die Schweiz.“

„Ich bleibe und warte auf ihn. Geh du heim zu deiner Frau und deiner kleinen Tochter. Die warten auf dich. In letzter Zeit bist du sowieso ein wenig … überarbeitet.“ Eigentlich wollte Konsul Grün sagen „gestresst“, wenn nicht sogar „gereizt“, besann sich aber rechtzeitig auf die Diplomatensprache.

„Nein, ich bleibe. Du gehst.“ Roth startete seinen Computer wieder. „Meiner Frau macht es nichts aus, wenn ich ein paar Minuten später komme. Dein Termin ist wichtiger.“

Konsul Grün wollte widersprechen, liess es aber bleiben. Der Termin war wirklich eminent wichtig. Aus einem anderen Grund als alle glaubten.

Kapitel 11

Mike blieb vor dem Polizeigebäude stehen. Die Konferenz musste jeden Augenblick beginnen. Er setzte sich die Kopfhörer auf und nestelte an seinem iPod.

„… Herr Müller da ist, dann kann ich davon ausgehen, dass wir komplett sind.“ Die Aussage wurde mit einer gewissen Heiterkeit quittiert.

Die Verbindung war gut. Erstaunlich, was die heutige Technik alles möglich machte. Bei der Rempelei vorhin, hatte Mike in eine Jackentasche von Hauptkommissar Dietrich ein Funkmikrofon in Form eines Hemdknopfes gesteckt. Es sendete eine Stunde, dann war die Minibatterie am Ende. Das sollte reichen. Die Sitzung beim Polizeidirektor, bei der dieser sich über den Stand der wichtigsten Fälle informieren liess, fand immer um siebzehn Uhr in dessen Büro statt und dauerte maximal eine halbe Stunde.

„Wen hast du da mitgebracht, Heiko?“ Dieselbe dominante Stimme wie vorher. Das musste demnach der Polizeidirektor sein.

„Frau Doktor Schwaab, Forensikerin, und meinen Assistenten, Böckelmeister.“ Also war das die Stimme von Hauptkommissar Heiko Dietrich.

Die Empfangsqualität war hervorragend. Mike hörte mit, als wäre er an der Sitzung persönlich mit dabei. Er setzte sich auf einen Gebäudevorsprung.

„Die Presse hat sich draufgestürzt wie die Hyänen. Was haben wir? Ich muss denen ein paar Knochen hinwerfen können. Nur die wichtigsten Fakten bitte, ich habe wenig Zeit.“

Ein Moment Stille. Ein Räuspern und eine neue Stimme, vermutlich der Assistent.

„Ich gebe Ihnen einen generellen Blick auf das Verbrechen.“ Der Assistent klärte seine Stimme erneut. „Um zwanzig Uhr achtundzwanzig gestern Donnerstagabend wurde von unserer Notrufzentrale ein Anruf entgegengenommen. Die Mitteilung lautete bereits auf Mord. Ort: Festung Königstein in Königstein.“

Der liest das ab. Mike runzelte die Stirn.

„Elf Minuten später war die örtliche Polizei vor Ort, knapp dreissig Minuten später die Dresdner Polizei mit Hauptkommissar Heiko Diet…“

„Junge. Ich kenne den Hauptkommissar der Dresdner Polizei. Er ist ein Freund von mir und sitzt mir gegenüber. Brings auf den Punkt. Ich brauche nicht das Gelaber. Ich brauche Facts.“

„Ähem … Ja, Herr Direktor. Gut … Also: Anwesend während des Mordzeitpunktes waren sieben Personen im Festsaal, Freunde des Opfers … die Namen möchten Sie wohl nicht hören …“

Mike konnte durch den Kopfhörer den Blick spüren, der dem unerfahrenen Assistenten zugeworfen wurde.

„Und äh… und im Vorbereitungsraum unten zwei Personen von einem Catering-Service. Es handelt sich um, ähm … Moment …“.

Ein klirrendes Geräusch ertönte, als ob ein Glas auf den Boden gefallen war.

„Danke, Max. Ich übernehme ab hier. Die Jungs feiern da Junggesellenabschied und sind ziemlich alkoholisiert. Das „Tischlein deck dich“ im Königstein kennst du ja, wir haben da deinen Sechzigsten gefeiert. Die ersten beiden Gänge waren durch und der Hauptgang liess auf sich warten. Folglich hat sich der Bräutigam in spe aufgemacht, um dem Personal unten Dampf zu machen. Oben wurde weiter gefeiert und siehe da, nach fünf Minuten geht das Türchen auf und die Tischplatte kommt nach oben. Leider nicht mit den Esswaren. Die Bilder hast du gesehen.“

Abermals konnte Mike sich das Gesicht des Polizeidirektors vorstellen.

„Die Aussagen von allen sieben decken sich zu fast einhundert Prozent. Da wir nicht in einem Agatha-Christie-Roman sind und somit nicht annehmen müssen, dass alle sieben in den Mord verwickelt sind, können wir die von der Liste der Verdächtigen streichen.“ Papierrascheln.

„Die beiden Catering-Angestellten beschreiben den Ablauf ebenfalls übereinstimmend: Sie waren fertig mit der Dekoration des Hauptganges und wollten soeben das gebratene Spanferkel