Das Phantom der schwimmenden Schule - Elke Pfesdorf - E-Book

Das Phantom der schwimmenden Schule E-Book

Elke Pfesdorf

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Beschreibung

Der zwölfjährige Silas soll ab sofort ein christliches Internat besuchen. Das besondere daran: Das Internat besteht aus zwei alten, ausrangierten Passagierschiffen. Nach ersten Startschwierigkeiten findet Silas neue Freunde und wird sogar Reporter für das Schülerradio. Aber dann geschehen mehrere Diebstähle und anstatt das geheimnisvolle Phantom zu fassen, gerät Silas plötzlich selbst unter Verdacht. Zu allem Überfluss findet er auch noch heraus, dass die Zukunft des Schiffs-Internats auf wackeligen Beinen steht. Wird Silas alles, was er sich neu aufgebaut hat, wieder verlieren?

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Seitenzahl: 216

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22853-3 (E-Book)ISBN 978-3-417-28750-9 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen: Das Buch. Neues Testament – übersetzt von Roland Werner. © 2009 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung und Satz: Katrin Schäder, Velbert Coverillustration: Alfredo Belli, Roms

Inhalt

1.Vollmond und Konfetti

2.Alles sieht gleich aus

3.Fahrradtour mit nassem Ende

4.Die Gummistiefelkette

5.Von Senfkörnern und großen Bäumen

6.Piranha und Kombüsendienst

7.Begegnung mit einer Schreckschraube

8.Ein geheimnisvolles Geräusch

9.Masterplan und Seemannsgarn

10.Achtung, Feind hört mit!

11.Streit und Stress

12.Ein neuer Freund?

13.Tatütata auf Sendung

14.Verfolgungsjagd und Schokoladeneis

15.Eine Goldgrube in der Geisterstadt?

16.Silas im Radio

17.Silas wird gefilzt

18.Nächtliche Entdeckung

19.Was tun?

20.Alarmierende Neuigkeiten

21.

Danke und „Immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel“ an meine Männer und an das Team des SCM-Verlags. 

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Vollmond und Konfetti

Los! Sofort mitkommen!“, zischt eine Stimme gefährlich nah an Silas’ Ohr. Seine Bettdecke fliegt durch die Kabine, das Kopfkissen landet auf dem Schreibtisch unter den beiden Bullaugen.

Silas blinzelt, denn ein grelles rundes Licht blendet ihn. „He! Was soll das?!“, murmelt er schläfrig.

Vor seiner Koje stehen vier Jungen. Sie warten nicht länger, sondern zerren Silas von der Matratze. Ehe er richtig wach ist, haben sie ihn gepackt und ziehen ihm etwas über den Kopf.

Silas rudert mit den Armen und will einen Boxhieb landen. Doch bevor er einen Treffer verbuchen kann, zwängen die Jungen ihn in eine starre Weste. Der strenge Geruch von Plastik steigt Silas in die Nase.

„Eine Schwimmweste. Sie haben mich in eine Schwimmweste gepackt!“, vermutet er. Sehen kann er nichts. Ein Gurt zieht sich straff um seinen Bauch, ein Verschluss klickt.

„Lasst mich los! Hört sofort auf!“, brüllt Silas und tritt um sich. Sein Fuß berührt etwas Weiches, das ihn an der Sohle kitzelt. Dann stößt er mit dem großen Zeh gegen den Koffer, den er mitten in der Kabine auf dem Teppich stehen gelassen hat.

Mit einem lauten Knall fällt das große Ding um. All die Sachen, die Silas bisher nicht in den Schrank geräumt hat, purzeln über den Boden.

Den anderen ist das egal. Sie schieben ihr Opfer durch die Tür und anschließend den engen Gang entlang.

Silas stolpert. Er will nicht mitgehen, doch die vier Angreifer lassen ihm keine Wahl. Er kann nicht davonlaufen, weil sie seine Arme festhalten.

Schließlich streift ein kühler Windhauch seine Beine. Und als er blind einige steile Stufen erklimmen muss, weiß er, dass sie draußen unter dem dunklen Nachthimmel stehen.

„Was haben die mit mir vor?!“, zuckt ein Gedanke wie ein flüchtiger Blitz durch sein Hirn.

„Schwimmweste: Wasser!“, kracht der Donner einen Vorschlag hinterher.

Silas ist jetzt komplett wach. Und er hat Angst. Angst vor den anderen Schülern, die er noch nicht kennt. Und er fürchtet sich vor dem, was gleich passieren wird.

„Was mache ich bloß? Wie komme ich aus dieser Nummer heraus?“, stöhnt er. Anscheinend hat er das laut gesagt, denn er bekommt Antwort.

„Gar nicht!“, kichert ein Mädchen.

Wo kommt die denn plötzlich her? Sind etwa noch mehr Mitschüler auf das Deck des Schiffes geklettert?

Silas spürt die glatten Holzplanken unter seinen Füßen. Sie scheinen am Heck zu stehen. Also am halbrunden Hinterteil des Schiffes, wo die Ankerwinde ist und einige Bänke stehen. Silas schwitzt unter der seltsamen Kopfbedeckung und in der Plastikjacke. Sein Rücken ist feucht, aber seine Knie schlottern. Er spürt, wie Gänsehaut die kleinen Härchen an seinen Armen aufrichtet.

„Einsteigen!“ kommandiert jemand. „Fuß hoch!“ Stattdessen lässt sich Silas pfeilschnell auf den Boden fallen und wälzt sich nach rechts. Als Finger nach ihm greifen, zieht er die Beine an und schnellt wie eine Sprungfeder vorwärts.

„Ich muss ein freies Sichtfeld bekommen!“, denkt er und versucht, sich die Mütze vom Kopf zu ziehen. Endlich kann er wenigstens mit einem Auge erkennen, was hier los ist. Und hält abrupt in der Bewegung inne.

Um ihn herum stehen dicht an dicht jede Menge Schüler. Und alle schauen auf ihn herunter.

Silas wird heiß, sein Kopf wird knallrot. Mühsam krabbelt er auf die Füße und richtet sich auf. Er streicht sich das Haar aus der Stirn und beginnt, die schwarze Strickmütze nervös mit den Fingern zu kneten.

„Landratte Silas, du bist neu auf dem Motorschiff, der MS Lotse. Wir testen heute, in dieser Nacht unter dem Vollmond, deinen Mut!“, sagt eine Schülerin.

Silas weiß nicht, wie sie heißt. Es ist ihm auch egal. Er will zurück in sein Bett oder, noch besser, wieder zu seinen Eltern nach Kolumbien. Sie arbeiten dort als Missionare, und bis vor Kurzem hat Silas ebenfalls in diesem südamerikanischen Land gelebt.

Doch seine Mutter und sein Vater haben beschlossen, dass Silas nun auf eine Schule in Deutschland gehen soll. Und jetzt ist er seit zwei Tagen der neue Schüler im Schiffsinternat und wohnt auf der „Lotse“. Obwohl er das kein bisschen will.

Nebenan dümpelt das Motorschiff „Senfkorn“ im Wasser. Der weiße, vorne spitz zulaufende Umriss des Schiffes ragt in den dunklen Himmel. Kein Fenster, nicht ein Bullauge des Nachbarschiffes ist erleuchtet. Dort schlafen alle Schüler und Lehrer des Internats friedlich in ihren Kojen.

„Kielholen! Lasst uns endlich anfangen! Ins Wasser mit der Landratte!“, zischt jemand in der Menge. Silas sieht, dass ein langes, zusammengerolltes Tau auf dem Boden liegt.

„Das ist nicht euer Ernst!“, flüstert er. Sie wollen ihm doch nicht das Seil um den Bauch binden und ihn unter dem Schiff hindurchtauchen lassen? Das war früher eine Strafe für Seeleute, die schlimme Fehler gemacht haben. Dabei kann man ertrinken!

Silas merkt, wie er zu zittern anfängt. Damit es keiner sieht, marschiert er mit eckigen Bewegungen ein Stück zurück. „Ich gehe jetzt!“, erklärt er heiser.

Doch die anderen lassen ihn nicht entkommen, sondern drängen ihn zur Reling, wie das Geländer heißt. Jemand befestigt das lange Tau an der Schwimmweste.

Silas wird übel. Ein saurer, ätzender Geschmack brodelt in seinem Rachen.

„Nein!“, brüllt alles in ihm. Aber kein Laut kommt über seine Lippen. Auch seine Arme haben jede Gegenwehr eingestellt. Alles an ihm fühlt sich an, als wäre es aus Pudding.

An der Reling ist eine Strickleiter befestigt, und nach einer barschen Aufforderung beginnt Silas, das schaukelnde Exemplar hinabzusteigen. Jeder Tritt wird zur Qual. Unten hat gerade ein Rettungsboot festgemacht. Am Bug brennt eine Laterne.

Silas würgt.

„Wirst du seekrank?“, fragt ein großer Junge, der ihn in Empfang nimmt. „Keine Angst! Du schaffst das!“, flüstert er ihm heimlich zu. Silas erkennt seinen Kabinennachbarn Hubert. Bisher hat der sich freundlich um ihn gekümmert und ihm viele Dinge auf den Schiffen gezeigt.

„Offenbar machen die alle gemeinsame Sache, diese Blödmänner! Ich kann keinem hier vertrauen“, denkt Silas sauer. Er muss sich auf die Ruderbank setzen.

„Siehst du die Boje dort hinten?“, fragt Hubert mit strenger Stimme und genauso unerbittlichem Blick.

Silas nickt und seine Hände umschließen die Ruder. Zögernd taucht er die Blätter in das glänzende Wasser, worauf sich das Beiboot langsam vorwärtsbewegt. Silas beugt sich vor, legt etwas mehr Kraft in seine Bewegung. Aber er hat wenig Übung in diesem Sport. Flapp! Jetzt kreisen die Ruderblätter in der Luft.

„Wir krebsen!“, schreit eine Mitfahrerin. Krebsen nennt man es, wenn die Ruder in der Luft hängen oder im Wasser stecken bleiben. Silas hat in den beiden Tagen an Bord schon ein paar Begriffe aus der Seemannssprache aufgeschnappt. Die Schüler benutzen sie hier nämlich zum Spaß.

„Ahoi!“, brummt Silas leise vor sich hin.

Vom Heck tuten einige Tröten. Es dröhnt in Silas’ Ohren.

„Schneller!“, verlangt Hubert.

Silas gibt sich Mühe, doch es ist nicht so einfach, das widerspenstige, schwere Holzboot in die korrekte Richtung zu bewegen. Silas schnauft.

„An der Boje hängt ein Beutel. Den sollst du samt Inhalt möglichst trocken an Bord der MS Lotse bringen!“, erklärt Hubert die Prüfungsaufgabe.

„Ay, ay, Sir!“, keucht Silas. Noch zehn Meter trennen ihn vom Ziel. Silas rudert und trifft die Boje ganz genau. Schnell hechtet er zur Seite, um den Stoffbeutel, auf dem das Zeichen der MS Lotse prangt, von der schwimmenden Markierung zu ziehen.

„Vorsicht – wenn du zu viele Wellen machst, werden die Sachen nass“, mahnt Hubert.

Silas hat Glück, er bekommt die dunkelblaue Tasche zu fassen und schwenkt sie wie eine Trophäe über seinem Kopf.

Die Schüler auf der MS Lotse jubeln und klatschen. Wieder erklingen die Tröten. Ein tiefer Ton, der sich nach einem Schiffshorn anhört, schließt sich an. Der Suchscheinwerfer der MS Lotse erfasst das Beiboot und taucht es in gleißendes Licht.

Silas steht breitbeinig im Rettungsboot und grinst siegessicher. Das war einfach.

Bevor er sich allerdings richtig freuen kann, beginnt der Kahn, hin- und herzuschwanken. Daran sind Hubert, seine Kumpel und das Mädchen schuld. Sie bringen das Boot so sehr zum Schaukeln, dass Silas schließlich das Gleichgewicht verliert. Unter dem Johlen der Zuschauer segelt er durch die Luft und landet mit einem satten Platschen im Wasser.

Silas bleibt die Luft weg, denn das Wasser in der Bucht ist ziemlich kalt. Glücklicherweise kann er nicht untergehen, weil ihn die Schwimmweste trägt. Er will losschwimmen, doch dann merkt er, dass die Bucht rund um die beiden Schulschiffe nicht tief ist. Mit Ausnahme der schmalen Fahrrinne, die mit Bojen markiert ist, reicht ihm das Wasser gerade bis zu den Oberschenkeln. Mühsam steht er auf. Der Stoffbeutel in seinen Händen trieft vor Nässe. Genau wie der komplette Silas.

„Pech gehabt. Das sind deine Schulbücher. Das wird unseren Lehrern gar nicht gefallen“, ruft ein Mädchen boshaft herüber.

Eilig zerrt Silas an der Schnur und blickt hinein. Tatsächlich, Bücher! Wahrscheinlich nicht mehr zu gebrauchen.

Silas seufzt. Schon an seinem ersten Unterrichtstag Ärger zu bekommen, wird kein großartiger Spaß sein. Er watet zurück zur „Lotse“, wo das Beiboot inzwischen wieder angelegt hat.

Bevor Hubert die Strickleiter hochklettert, reicht er Silas die Hand. „Nichts für ungut. Diese Schiffstaufe muss jeder bestehen, der neu zu uns kommt.“

Silas greift zu und zieht. Damit hat Hubert nicht gerechnet. Er verliert den Halt und wird von Silas, der nicht loslässt, ins Wasser gezerrt.

Am Heck wird es wieder laut. Gelächter brandet auf. „Na, Hubi, wolltest du auch baden? Ist schon wieder ein Jahr um? Das wird doch eine coole Story für Radio Ruhest☺rung! Erster Radiochef vom Dienst geht unter!“

Hubert spuckt in hohem Bogen einen Schwall Wasser aus. Er verfehlt Silas’ Ohrläppchen nur knapp.

Der schwingt sich auf die Strickleiter. Seine nassen Klamotten sind schwer, die Arme vom Rudern müde. „Aber alles ist besser als Kielholen“, denkt er. Mühsam hangelt er sich nach oben.

Bevor Silas über die Reling klettern kann, bekommt er eine weitere Dusche: Bunte Papierschnipsel, Konfetti und Luftschlangen regnen auf ihn herunter und bleiben an ihm kleben. In den triefenden Haaren, auf seiner Haut, im Nacken; sogar in seine Boxershorts sind die Papierstücke geraten.

„Willkommen auf der MS Lotse, Matrose Silas!“, ruft Hubert, der mindestens ebenso viel Konfetti abbekommen hat und aussieht wie ein bunt verzierter Geburtstagskuchen.

„SILAS! SILAS!“, brüllen seine neuen Mitschüler und wollen ihn alle gleichzeitig umarmen. Jemand nimmt ihm die Schwimmweste ab. Die Sicherungsleine ringelt sich über die Planken wie eine gefährliche Schlange.

„Eine tolle Show!“, lobt ihn jemand.

„Ein bunter Silas. So wie das Land, aus dem er kommt“, erklärt Hubert, der mit einem fast lässigen Sprung über die Reling setzt und einen Meter weiter schlittert.

Silas schluckt. Er hat an seinem ersten Wochenende auf den Schiffen nicht viel geredet. Aber es stimmt: Auf die prasselnden Fragen, wo er herkäme und was er gerne mache, hat er nur geantwortet, dass Kolumbien ein buntes Land sei. Hätte er mehr gesagt, wäre sein Heimweh nämlich noch schlimmer geworden. Seine Eltern sind gestern dorthin zurückgereist – ohne ihn.

„Gut, dass mein Gesicht nass ist. Dann fallen Tränen nicht auf“, denkt er beklommen. Er drückt den Stoffbeutel an sich, als könne der ihn beschützen. Da flammt ein Blitzlicht auf: Eine Schülerin schießt Fotos von Silas und Hubert.

Der große Junge legt seinen Arm um Silas. „Spaghetti!“, grinst er in die Kamera und klopft einen wilden Rhythmus auf Silas’ Schultern. „Du gehörst jetzt zu uns, zur MS Lotse, und bist ein Lotse. Und jetzt hauen wir uns in die Kojen. Morgen ist schließlich Montag, und der beginnt mit so etwas Lästigem wie Unterricht!“

Gemeinsam schlendern die beiden Jungen zu ihren Kabinen. Sie hinterlassen eine Spur aus Wassertropfen und bunten Papierfetzen.

„Ich gehe zuerst ins Bad!“, bestimmt Hubert. „Du musst ohnehin erst deinen Koffer sortieren!“

Silas protestiert nicht. Das kleine Badezimmer liegt zwischen den Kabinen, und sie müssen es sich teilen. Silas schält sich aus dem nassen Schlafanzug und findet in dem Chaos auf dem Fußboden tatsächlich ein Handtuch. Darin wickelt er die traurig aussehenden Schulbücher ein. Ob die noch zu retten sind?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2. Alles sieht gleich aus

Der nächste Morgen beginnt stürmisch. Hubert steht im Badezimmer und hämmert an die Tür. „Aufstehen, Matrose Silas! Antreten zum Frühstückfassen!“

Silas richtet sich mit einem Ruck auf. Fast hätte er dabei mit seinem Kopf eine Delle in die Kabinendecke gerammt. Die ist niedrig, und der Schlafplatz klebt dicht darunter. Überall haften die bunten Papierschnitzel, die Silas in der vergangenen Nacht abbekommen hat: Kopfkissen und Bettlaken sind bunt verziert.

Jetzt kommt Hubert in die Kabine. Er kickt ein paar Pullover, den nassen Schlafanzug, einen Fußball, Stifte, Turnschuhe und sonstigen Kleinkram aus dem umgestürzten Koffer unter den Schreibtisch.

„Sonst rastet Rut aus! Sie kontrolliert die Buden!“, erklärt der Kabinennachbar, der zwei Jahre älter als Silas ist.

Silas hat Rut, die sich um die Schüler kümmert, bereits kennengelernt. Sie ist nett, aber sie lässt sich garantiert nicht auf der Nase herumtanzen.

„So, jetzt Musik. Radio Ruhest☺rung ist aktiv!“ Hubert fingert an einigen Schaltern an der Wand herum, von denen Silas keine Ahnung hat, wozu sie da sind und wie sie funktionieren. Er gähnt, bis der Kiefer knackt, und lässt die Beine herunterbaumeln. Mit den Händen streift er bunte Konfettis von seiner Haut. Dann dröhnt ein cooler Song durch den Raum.

„Wir haben in den Kabinen eingebaute Lautsprecher und Radios. Früher hat der Kapitän sie auch für Durchsagen genutzt.“ Hubert zeigt Silas im Schnelldurchgang, wie er den richtigen Sender einstellt und die Lautstärke regelt.

„Immer volle Dröhnung!“, verlangt er jetzt und dreht auf.

Eine Sprecherin verkündet: „Leute, wenn ihr jetzt noch die Klüsen dicht habt, sieht es schlecht aus mit Frühstück. Dann gibt es nur Schiffszwieback und kaltes Wasser. Hopp, Augen auf, wach werden, aus der Koje springen! Hier spricht Anna von eurem Radio Ruhest☺rung. Den nächsten Titel hat sich Laura von der ‚Senfkorn‘ gewünscht, ein super Gute-Laune-Ding!“

Silas staunt.

„Das ist unser Schülerradio. Unsere Station ist oben auf der ehemaligen Brücke, also der Kommandozentrale des Kapitäns. Wir nutzen den alten Funkerkrempel und haben ein paar neue Sachen angeschafft. Wir senden jeden Tag und immer live!“, erklärt Hubi begeistert.

Plötzlich fliegen eine Jeans und etwas Dunkelblaues auf Silas zu. „Deine Lotsenkluft! Los, zieh dich an. Ich habe Hunger. Oder findest du die Messe inzwischen schon alleine?“ Mit diesem seemännischen Wort meint Hubi den Speiseraum.

Silas lacht. „Na, klar, immer dem Magenknurren hinterher. Wenn das Besteck tierisch laut klappert, bin ich richtig!“

Hubert nickt. Dennoch wartet er, bis Silas sich eine Ladung Waschwasser ins Gesicht geschüttet und seine blonden Haare mit den Fingern entwirrt hat. Eine Luftschlange verheddert sich an seinem Ohr.

Das dunkelblaue T-Shirt mit dem Aufdruck MS Lotse auf dem Ärmel riecht nagelneu, und die Knickfalten sind messerscharf. Kluft sagen die Seemänner zu ihrer Kleidung.

„Ob ich mich jemals an diese ganzen Ausdrücke gewöhnen werde?“, fragt sich Silas flüchtig. Manche Sachen auf der neuen Schule findet er sehr komisch. Aber es ist ohnehin seltsam, auf zwei umgebauten Schiffen statt in normalen Häusern zu wohnen.

Die MS Lotse war zeitweilig ein Missionsschiff, bevor sie zu alt wurde und der Motor streikte. Früher ist die „Lotse“ herumgefahren, die Besatzung hat überall und unterwegs von Jesus erzählt und Gottesdienste gefeiert. Jetzt liegt das Schiff fest verankert in der Bucht. Es fährt keinen Meter mehr, läuft nicht mehr aus. Nur bei stürmischem Wetter schaukelt es ein wenig hin und her. Aber von Jesus wird in der Schule immer noch erzählt.

Silas schiebt im Vorbeigehen den Koffer vor den Schreibtisch und tarnt damit sein Chaos. Durch die beiden Bullaugen scheint die Sonne.

„3, 2, 1, Leinen los!“, poltert Hubert. Er stapft mit langen Schritten durch die Gänge und über den breiten Steg, der die Schiffe miteinander verbindet. Oder ist es eine Brücke oder ein Übergang?

Silas rennt hinterher und hat keine Ahnung, wie es im Seemannsjargon heißt. Er will sich nicht blamieren, deshalb redet er möglichst wenig. Und weil er längst noch nicht alle Kabinen, Räume und Decks gesehen und kennengelernt hat, fühlt er sich ziemlich unwohl.

„Hallo Silas!“, wird er ständig von den anderen Lotsen begrüßt, die ihn fröhlich angrinsen. Und auf der MS Senfkorn sitzen schon jede Menge Jungen und Mädchen in grünen T-Shirts an den Tischen.

„Gib dich bloß nicht mit denen ab! Wir waren mit der ‚Lotse‘ zuerst in der Bucht!“, warnt Hubi. Gleich darauf grinst er: „Das ist nur Spaß. Wir gehören alle zusammen, aber die Senfkörner tragen eben grüne Kluft. So wissen wir Lotsen besser, wen wir veralbern können!“

Herr Feuerbach, der Schulleiter, blickt prüfend durch die Messe. Hastig zerrt Hubi Silas an einen Platz am Fenster. Radio Ruhest☺rung unterbricht die Übertragung für das Tischgebet, das Herr Feuerbach spricht. „Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir. Wir danken dir dafür! Amen.“

Silas muss wieder schlucken. Das hat sein Vater vor dem Essen ebenfalls gebetet. Wie gerne würde Silas jetzt mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder Lukas zusammen sein. Stattdessen sitzt er in dieser komischen Schiffschule, steckt fest zwischen Menschen, die er nicht kennt und gar nicht kennenlernen möchte.

„Guten Morgen, Silas!“, hört er wieder. Dieses Mal von Rut, die an ihm vorbeigeht und sich zu den jüngeren Kindern setzt. Sie achtet dort auf die Tischmanieren.

Silas ist froh, dass er ganz in Ruhe das Müsli löffeln kann. „Es hat ein paar Vorteile, wenn man 12 Jahre alt ist“, überlegt er, während er durch die riesigen Glasscheiben nach draußen schaut. Oben an Bord sind sie fast so groß wie Schaufenster, weiter unten gibt es nur die kleinen runden Bullaugen.

Auf der einen Seite sieht Silas das seichte Gewässer der Bucht. Eine Halbinsel trennt sie vom Fluss ab, über den Lastkähne schippern. Ab und an ist ein weißes Passagierschiff, ähnlich der MS Senfkorn, in dem Strom unterwegs. Backbord, links am Ufer, liegt ein großer Park mit hohen Bäumen. Dort ist auch der Sportplatz.

„Ich will nicht hierbleiben!“, denkt Silas zum tausendsten Mal.

Da reißt ihn eine Ansage aus dem Lautsprecher aus seinen trüben Überlegungen. Radio Ruhest☺rung ist wieder am Start. „Hi, die letzten zehn Minuten unserer Übertragung laufen. Ansage 1: Es ist Montag, igitt. Mein Tag beginnt mit Chemie, entsetzlich. Ansage 2: Wir haben einen neuen Schüler. Aus sicherer Quelle hat Radio Ruhest☺rung erfahren, dass Silas heute Nacht seine Matrosenprüfung mit besonderer Auszeichnung bestanden hat! Yeah!“

Ein tosender Applaus dringt aus dem Lautsprecher. Einige Schüler schlagen mit ihren Löffeln an die Tassen, um mitzujubeln, denn mit vollem Mund können sie nichts rufen oder zustimmend pfeifen.

Silas rutscht auf seinem Stuhl etwas tiefer. Diese ganze Aufregung um seine Person ist ihm unangenehm. Hier soll keiner nett zu ihm sein. Er will fort von den komischen Schiffen und der Besatzung.

„Ansage 3: Unseren Chefreporter Hubi habe ich heute noch nicht gesehen. Er hat bestimmt nach seinem eiskalten Vergnügen den Turboschnodder-Schnupfen!“ Ein Schnauben lässt den Lautsprecher vibrieren.

Im Speiseraum kichern alle. Vor Vergnügen ausgespuckte Haferflocken zischen über die Tische.

„Ist nicht wahr!“, brüllt Hubert beleidigt. „Mir geht’s prächtig. Ich habe schließlich unserem Matrosen Silas beim Navigieren geholfen!“

Hubert erntet einen kritischen Blick von Herrn Feuerbach, dem Schulleiter.

„Woher weiß sie das nur schon wieder, diese Ziege?! Anna wohnt auf der ‚Senfkorn‘ und hat garantiert tief und fest geschlafen. Aber irgendwie bekommt sie alles mit, was auf den Schiffen passiert!“, flüstert Hubi in Silas Ohr.

„Ich denke, wir gehören alle zusammen?“, fragt Silas mit unschuldigem Gesicht. „Und da benutzt du einen Tiernamen für deine Reporter-Kollegin?“

Hubi stutzt. „Du bist gar nicht so harmlos und brav, wie ich dachte, du frecher Schuft!“

Silas spürt einen freundschaftlichen Tritt an seinem Schienbein, während Hubert ihn anerkennend angrinst. „Nach dem Abendessen zeige ich dir das Herz von Radio Ruhest☺rung auf der Brücke. Heute moderiere ich die Übertragung!“

Obwohl Silas heimlich Fluchtgedanken ausbrütet, ist er doch sehr neugierig auf die Radiostation oben im Schiff. Vorher muss er allerdings ein paar Tests machen: Die Lehrer wollen herausbekommen, was er in Mathe und in anderen Schulfächern weiß. Endlos viele Papierbogen muss er füllen. Dabei hat er schon vorher ewig mit Herrn Feuerbach geredet, der ihm ebenfalls Löcher in den Bauch gefragt hat.

Silas sitzt allein in einer kleinen Kabine auf der MS Senfkorn. Von den Wänden ist nichts mehr zu sehen, weil Regale, randvoll mit Büchern, vom Boden bis zur Decke reichen. Sogar über der Tür drängeln sich Lexika und Atlanten auf mehreren Brettern.

Diese Enge findet Silas ätzend. Wenn er die Arme ausstreckt, berührt er rechts und links die Möbel. Die Uhr auf dem Tisch vor ihm zeigt an, dass er noch genau 10 Minuten und 33 Sekunden Zeit für einen Aufsatz hat.

Aber Silas hat überhaupt keine Lust mehr, schon wieder zu schreiben. Er massiert seine Finger und schließt die Augen. Das Ergebnis ist ihm total egal. Außerdem ist er müde. Heute Nacht hat er nicht wirklich viel geschlafen.

„Ich penne gleich im Sitzen ein“, denkt er und gähnt schon wieder. „Ich muss raus und etwas tun!“ Entschlossen steht er auf, schleicht zur Tür und verlässt die Kabine.

Jetzt sitzen alle in den Klassenzimmern. Bestimmt kann er unauffällig Erkundigungen einziehen oder, wenn die Gelegenheit günstig ist, sofort verschwinden. Seine Geldbörse hat er sicherheitshalber immer dabei. Sie steckt in der Tasche seiner Jeans. Proviant wäre zwar auch nicht schlecht, oder eine Jacke. Aber das ist nebensächlich. Silas würde seine Chance eiskalt nutzen, wenn sie ihm geboten würde.

„Ich muss zur Treppe. Der Ausgang liegt ein Stockwerk tiefer.“ So viel hat Silas bereits herausgefunden. Auf leisen Sohlen huscht er durch die Gänge. Als er an der Küche beziehungsweise der Kombüse vorbeikommt, riecht es nach leckerem Essen.

„Nudeln mit Soße?“, vermutet Silas. Sein Magen knurrt vernehmlich. Trotzdem eilt er weiter. Dort vorne teilt sich der Gang, backbord geht es zu den Stufen.

Silas biegt um die Ecke und springt sofort wieder zurück. Mit dem Rücken presst er sich gegen die Wand und hofft, mit ihr zu verschmelzen.

„Der Feuerbach hat mich garantiert bemerkt. Gleich kommt er angetrabt. Was sage ich ihm bloß?“ Silas fällt keine Ausrede ein, deshalb zählt er seine Atemzüge.

Bei zwanzig setzt er sich wieder in Bewegung und späht vorsichtig in den anderen Flur. Er hofft, dass von dem Schulleiter inzwischen nichts mehr zu sehen ist. Doch falsch gedacht.

Herr Feuerbach hat nun ein paar lose Zettel in der Hand und kommt genau auf Silas zu.

Der zögert nicht länger, sondern sprintet davon. Wahllos flitzt er eine steile Treppe nach oben und eine andere hinunter. Dort einen Gang entlang, dann den nächsten.

Schließlich schaut Silas sich um: Jetzt ist er allein, von dem Schulleiter kann er keine Spur mehr entdecken.

„Puh!“, rutscht es Silas heraus. Er ist erleichtert, aber leider hat er inzwischen völlig die Orientierung verloren: Er hat keine Ahnung, wohin genau es ihn verschlagen hat.

„Ich könnte ein Fenster suchen. Wenn ich hinausschauen kann, wäre mir wenigstens klar, in welche Richtung ich laufen muss, um den Ausgang zu finden“, überlegt er.

Entschlossen eilt er weiter, doch die Flure ähneln sich. Und die Beleuchtung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast kein Tageslicht in die Gänge des Schiffes fällt.

Ist er nicht eben schon einmal genau an diesem Glaskasten vorbeigekommen? Darin hängen Informationen, Prüfungstermine und die Stundenpläne.

„Mist!“, brummt er leise vor sich hin, während er im Vorbeigehen durch die offene Tür einer Kabine schaut. Hier stehen Etagenbetten, zwei Kojen sind übereinander angebracht.

Als Silas merkt, dass sich jemand in der Kabine befindet, stutzt er und bleibt stehen: Ein Mädchen sucht hektisch etwas am Schreibtisch. Klebestreifen, Tintenpatronen und ein Lineal fliegen hoch und landen klappernd auf der Platte.

„Aha!“ Mit einem Ruck dreht sie sich um und rennt fast in Silas hinein. „Habe meinen Kram für Physik vergessen!“, murmelt sie und nestelt an ihrem geflochtenen Zopf. „Emma“, kann Silas auf dem Etikett des Schulheftes entziffern.

„Du bist Silas, oder?“, fragt sie und blickt zu ihm hoch. „Hast du dich verlaufen?“

„Nein“, druckst Silas herum. Das kleine Gör würde ihn bestimmt auslachen.

Aber Emma verrät ihm unaufgefordert: „Ich bin erst seit einem Jahr hier. Am Anfang bin ich immer und überall zu spät gekommen, weil alles so gleich aussieht.“ Sie zieht ihr grünes T-Shirt gerade. Das Logo auf dem Ärmel zeigt einen großen Baum und winzige Samenkörner. „Senfkorn“, steht in einem Kreis um das Bild.

Emma folgt Silas Blick und fügt hinzu: „Ich mag gar keinen Senf. Lieber Ketchup! Ich muss zurück in den Physikraum.“

Mit dieser Ansage rauscht sie davon und lässt Silas unschlüssig vor der offenen Kabinentür zurück.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

3. Fahrradtour mit nassem Ende

Silas ist unglaublich erleichtert, als er endlich vor seiner eigenen Kabine auf der MS Lotse steht. Wie er hierhin gekommen ist, kann er kaum nachvollziehen, denn einige dunkle Gänge haben irgendwo einfach aufgehört. Aber es muss noch eine weitere Verbindung zwischen den beiden Schiffen geben, sonst wäre er jetzt nicht hier.