Das Problem des Bösen - James Runcie - E-Book

Das Problem des Bösen E-Book

James Runcie

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Beschreibung

Band 3 der beliebten Krimireihe mit Pfarrer Sidney Chambers Sidney Chambers, Pfarrer mit einem Faible für Kriminalfälle, hat nach langem hin und her seine geliebte Hildegard geheiratet und genießt das Eheleben. Man könnte meinen, es begännen ruhige Zeiten in Grantchester. Doch dann bringt ein Serienkiller Geistliche um, ein Gemälde verschwindet aus dem Museum, ein Schauspieler ertrinkt während Dreharbeiten, und ein Baby wird aus einem Krankenhaus entführt. Es hilft alles nichts: Sidney muss wieder ermitteln und macht sich mit seinem Freund, Inspector Keating, an die Lösung der Fälle. Weitere Bände der Reihe: Band 1 - Der Schatten des Todes Band 2 - Die Schrecken der Nacht Band 4 - Die Vergebung der Sünden

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James Runcie

Das Problem des Bösen

Sidney Chambers ermittelt

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann und Valerie Schneider

Atlantik

Für Marilyn

Es heißt, wir seien eine große literarische Nation, aber im Grunde machen wir uns nichts aus Literatur … wir lieben einen guten Mord.

Walter Sickert

Das Problem des Bösen

Canon Sidney Chambers machte sich Gedanken über das Wesen der Vergebung. Er war auf dem Weg zur Einweihung der Kathedrale von Coventry, in der er kurz nach dem Krieg tätig gewesen war. Jetzt, siebzehn Jahre später, war auf den Trümmern des Bombenkrieges ein neues Bauwerk entstanden, ein Symbol, das den Schrecknissen der Geschichte trotzte. Wie weit, überlegte er, konnten die Menschen sich von all dem Bösen einer so furchtbaren Zeit erholen – und gab es Verbrechen, die nicht zu verzeihen waren? Wie konnte ein Gott der Liebe so viel Leid zulassen, und was konnte man tun, dass sich ein solches Elend nicht wiederholte?

Es war ein sonniger Nachmittag Ende Mai. Sidney war dem Wunsch nachgekommen, weder im Talar noch zusammen mit den anderen Geistlichen in der Kirche zu erscheinen, sondern neben seiner deutschen Frau im Kirchenschiff Platz zu nehmen. Als Ehepaar waren sie ein lebender Beweis für die Nachkriegsversöhnung und dafür, dass die Menschheit sich selbst heilen und aus der Zerstörung eine neue Generation erwachsen konnte.

Ohne Hoffnung, so viel war Sidney klar, konnte der Mensch nicht leben, aber für einen langwährenden Frieden fehlte ihm die Zuversicht. Die derzeitigen Spannungen mit der Sowjetunion sprachen für sich, und er war mit dem Wesen des Menschen und mit der internationalen Diplomatie immerhin so weit vertraut, dass ihm ein »nie wieder« als zu optimistisch erschien. Das Böse konnte sich an den friedlichsten Orten aussäen, jahrelang ungebremst wuchern und seinen schädlichen Einfluss verbreiten, bis es nicht mehr aufzuhalten war. Selbst hier, in diesem vollständig wiederaufgebauten Stadtzentrum, dessen Mittelpunkt ein positives Zeichen des Glaubens war, erlaubte er sich leise Zweifel an der dauerhaften Macht des Guten.

Sidney freute sich, dass der Klerus aus seiner Diözese so zahlreich vertreten war. Da war zunächst sein früherer Tutor Simon Opie, jetzt Leiter der theologischen Hochschule Westcott House, klein und glatzköpfig, mit dem verknitterten Gesicht eines Neugeborenen, der seinen Wellensittichen ebenso viel Zeit widmete wie der Religion. In dem feierlichen Zug folgte ihm Philip Agnew, ein früherer Missionar, der so asketisch lebte, dass er nie Geld bei sich hatte und kaum etwas aß. Danach kam Isaiah Shaw von St. Benet’s, ein bedeutender Bibelgelehrter, der zu Depressionen neigte und sich Trost aus der Flasche genehmigte; in der der Kirchenbank gegenüber saß Patrick Harland, ein Lektor, der einen Hang zur Pedanterie hatte, Wildlederschuhe bevorzugte und für Sidneys Geschmack etwas zu evangelikale Ansichten vertrat. Diese kleine Gruppe aus Cambridgeshire, überlegte Sidney, stellte sozusagen einen Mikrokosmos der Church of England als Ganzes dar. Ihre Vertreter bemühten sich jeder auf seine Art, den Glauben unter die Menschen zu bringen: die einen ernsthaft, ja verbissen, andere liebenswert amateurhaft, alle aber unermüdlich gegen die Widrigkeiten kämpfend, die sich ihnen bei dem Versuch entgegenstellten, einer zunehmend säkularen Welt die göttliche Botschaft zu vermitteln.

Der Wiederaufbau der Kathedrale, hatte Sidney seiner Frau Hildegard erklärt, war so konzipiert, dass das Bauwerk sich dem Besucher wie eine Blume öffnete, die Schönheit und Sanftmut offenbarte. An der Gestaltung waren – nach dem Prinzip »Schwerter zu Pflugscharen« – auch Männer beteiligt, die im Krieg mit der Entwicklung von Tarnmaßnahmen betraut gewesen waren. Sidney und Hildegard waren durch die alten, wie ein Spitzenvorhang durchlöcherten Wände auf ein verkohltes Kreuz zugegangen, hatten dann durch den Queen’s Arch die verglaste Westfront mit ihren Heiligen und Engeln betreten und erblickten schließlich den berühmten Wandbehang von Graham Sutherland, eine Darstellung des auferstandenen Christus über dem Hochaltar, die Sieghaftigkeit, heiteren Gleichmut und Mitgefühl ausstrahlte.

»Er hat ein ausgesprochen englisches Gesicht«, flüsterte Hildegard und legte ihren Kopf kurz an Sidneys Schulter, sodass er unwillkürlich lächeln musste. Die Gemeinde erhob sich zu dem Choral »Gott, aller Schöpfung heil’ger Herr«, und der Dekan begrüßte die Anwesenden. Der Erzbischof von Canterbury verwies in seiner Predigt auf die Worte des Propheten, dass dieses Gotteshaus, einst so herrlich, noch herrlicher wiedererstehen würde. Der Chor sang das Magnificat, und der Bürgermeister von Coventry erlitt anschließend einen Zusammenbruch, so überwältigt war er von diesem emotionalen Tag. Für Sidney war die Zeremonie sowohl eine Bestätigung des Glaubens als auch ein Bekenntnis nationaler Identität. Als sie aus der Kirche traten, ließ er seine Frau an diesen Gedanken teilhaben, und Hildegard erinnerte ihn daran, dass am selben Tag auch in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin ein Festgottesdienst stattfand. In Ländern, die noch vor kurzem erbitterte Feinde gewesen waren, wurden demselben Gott zur gleichen Zeit Gebete dargebracht – in der Hoffnung auf einen bleibenden Frieden.

In der Dekanei gab es hinterher den üblichen Empfang. Den traditionellen Geflügelsalat spülte man mit einem Riesling herunter, was manchen Gästen dann doch etwas zu viel der englisch-deutschen Freundschaft war; Sidney konnte mit alten Freunden plaudern, sich mit seiner jungen Frau brüsten (sie waren noch nicht mal ein Jahr verheiratet) und Spekulationen entgegentreten, er werde den kirchlichen Dienst womöglich zugunsten einer Laufbahn in der Verbrechensaufklärung verlassen. Er beeilte sich seinen Mitbrüdern zu versichern, dass er im Gegenteil ein einfaches Leben in einer kleinen Gemeinde und bald vielleicht einer eigenen Familie anstrebte. Dabei sah er Hildegard an.

Seine Frau lächelte still. Sie hatte ihren Mann schon ein paarmal darauf hingewiesen, dass man mit Mitte bis Ende dreißig höchstens noch ein Kind erwarten durfte – und ihre Erwartungen, dass Sidney in Zukunft auf die Zusammenarbeit mit Inspector Keating verzichten würde, waren ebenfalls überschaubar. Die Backgammon-Sitzungen der Freunde im Eagle duldete sie, bei größeren Ermittlungen aber wollte sie auf jeden Fall vorher gefragt werden. Dass sie hin und wieder in Sidneys Leben hinter Gott würde zurückstehen müssen, war ihr klar, aber sie war nicht bereit, Kleinkriminellen und Schwerverbrechern den Vortritt zu lassen.

Geheimisse durfte es zwischen ihnen nicht geben. Sidney mochte von der Kanzel nach Herzenslust Versöhnung predigen, aber zu Hause konnte er sie nicht erwarten, sollte er je vom geraden Weg der Ehe abweichen.

»Und du könntest nicht einfach mal ein Auge zudrücken?«, fragte er halb im Scherz.

»Wenn du ein gutes Gewissen hast, mein Schatz, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du weißt doch, dass du dir meiner Liebe immer sicher sein kannst.«

»Manchmal vermag ich mein Glück kaum zu fassen, dass ich dich gefunden habe.«

»Mir geht es nicht anders, Sidney …«

Hildegards verstorbener Mann, Stephen Staunton, war von seiner ersten Geliebten ermordet worden, nachdem er sich mit einer zweiten eingelassen hatte. Hildegard hätte nie gedacht, dass sie noch einmal heiraten würde, und war entschlossen, das Glück dieser neuen Beziehung mit beiden Händen festzuhalten, auch wenn es genug freundliche Mitmenschen gab, die ihr klarzumachen versuchten, dass im Eheleben nicht immer alles eitel Sonnenschein war.

Da war zum Beispiel Mrs. Maguire, Sidneys frühere Haushälterin, die Hildegard in einem Schnellkurs über die Unzulänglichkeiten ihres Ehemannes aufgeklärt hatte. Er neige zum Träumen, verstehe nichts vom Kochen, sei zerstreut und unordentlich und verwöhne seinen Hund. Er langweilt sich schnell, erklärte sie Hildegard weiter, und legt wenig Wert aufs Essen. Gewiss, Fleischpastete mochte er, möglichst mit Gewürzgurke, eine Bratwurst mit Kartoffelbrei, Fisch am Freitag und Lamm am Sonntag, was ganz praktisch war, weil die Reste am nächsten Tag für einen Shepherd’s Pie reichten – ach ja, sie musste Hildegard noch zeigen, wie der Fleischwolf funktionierte. Zum Essen brauchte Mr. Chambers Ruhe, sonst war er bald wieder hungrig, kaufte sich bei Fitzbillies ein Rosinenbrötchen und war dann so satt, dass er das vorbereitete Abendessen entweder ganz vergaß oder anbrennen ließ. Er trank seinen Tee am liebsten mit Milch und verabscheute Kohl in jeder Form; Möhren und Erbsen konnte man ihm ab und zu anbieten, mit Obst hatte er’s nicht so, weil seine Bekannte Amanda Kendall Bananen nicht ausstehen konnte, aber die würde sich hier so bald nicht mehr sehen lassen. Sein Hilfspfarrer Leonard Graham war laut Mrs. Maguire nicht besser, immer blass, ein richtiger Stubenhocker, außerdem rauchte er Pfeife, was schlecht für sein Asthma war, und sprach ständig über russische Bücher, aus denen kein vernünftiger Mensch schlau wurde. Auf beide Männer, betonte sie, müsse man ein scharfes Auge haben.

Hildegard hatte sich für die Auskünfte bedankt und insgeheim beschlossen, dass hier manches anders werden musste, ohne groß über ihre Pläne zu sprechen. Sie würde ihren Mann unterstützen, so weit es ging, jedoch weiter Klavierstunden geben und sich ansonsten ein wenig geheimnisvoll gerieren, um sein Interesse wachzuhalten.

Simon Opie nahm die Eheleute in seinem Wagen mit. Wie von einem zerstreuten Geistlichen nicht anders zu erwarten, schlich er mit dreißig Meilen die Stunde durch Warwickshire und nach Northamptonshire, vorbei an Kettering und weiter nach Huntingdon, wo er mit einem Mal ein beängstigendes Tempo vorlegte. Hildegard hatte es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht, um ein Nickerchen zu halten, während die Männer über die Gottesdienstordnung und ihre Erwartungen für das bevorstehende Vatikanische Konzil fachsimpelten.

»Ich frage mich ja«, überlegte Simon Opie, »wieso der Papst sowohl den Fischerring tragen kann, der auf den Beruf des Heiligen Petrus hinweist, wie auch das Pallium des guten Hirten, gewoben aus weißer Lammwolle von Schafen, die von Trappistenmönchen aufgezogen werden. Wie kann der Heilige Vater Schäfer und Fischer zugleich sein?«

»Dich stört also, dass hier Metaphern vermischt werden?«

»Ganz genau. Fische kann man mit einem Krummstab ebenso wenig fangen wie Schafe mit einer Angelrute hüten.«

»Der Papst kann das vielleicht, allerdings wäre das wohl etwas zu viel der Unfehlbarkeit.«

»Zum Glück ist er kein Vogelzüchter«, sagte Simon Opie, der auf dem Gelände von Westcott House ein eigenes Vogelhaus hatte.

»Recht hast du, Simon«, meinte Sidney. »So etwas überlassen wir besser dem Heiligen Franziskus und seinem heutigen Nachfolger, also dir.«

»Mit dem bescheidenen Franziskus würde ich mich nie vergleichen.«

»Natürlich nicht. Aber wir fangen ja alle mal unten an.«

Nach zwei Stunden war der Stadtrand von Cambridge erreicht, und Sidney freute sich nach dem langen Tag auf den Trost eines kleinen Whiskys. Hildegard war aufgewacht. Sie hatte von Flugzeugen geträumt, die im Tiefflug über Berlin hinweggedonnert waren und keine Bomben, sondern Kinder an Fallschirmen abgeworfen hatten. Sidney, dem sie ihren Traum erzählte, überlegte, ob das womöglich ein Zeichen für ihren Kinderwunsch war, den sie nicht offen auszusprechen wagte.

Simon Opie hielt vor dem Pfarrhaus, zog die Handbremse an und ging nach hinten, um Hildegard beim Aussteigen zu helfen. Sidney holte das Gepäck aus dem Kofferraum, und nach einem herzlichen Abschied brauste Opie wieder los. Über dem lauten Motorengeräusch war Hildegards erschrockener Aufschrei kaum zu hören.

Auf der Schwelle des Pfarrhauses lagen zwei tote Tauben.

Sidney nahm seine Frau in die Arme und wandte sich zur Straße um, aber Opies Humber verschwand schon in der Ferne. Sie solle ins Haus gehen, sagte er zu Hildegard und suchte nach der naheliegendsten und am wenigsten beängstigenden Erklärung für die toten Vögel vor ihrer Haustür. Hatte Dickens, sein geliebter Labrador, sie angeschleppt, oder waren sie ein Geschenk von Jerome Benson, dem örtlichen Tierpräparator? Konnte man Tauben eigentlich essen, wie Wachteln oder Enten? Bisher hatte er die Taube nur als Friedenssymbol gesehen. Die Tiere wiesen keine Einschüsse auf, das Genick war nicht gebrochen. Woran sie gestorben waren, blieb ebenso unklar wie ihre Anwesenheit auf seiner Türschwelle. Klar war nur, dass sie nicht zufällig dort lagen – er hatte sie dort finden sollen. Eine Nachricht lag nicht dabei.

Sidney holte einen Spaten aus dem Schuppen und begrub die Vögel im Garten. Dabei betete er nicht nur für ihre Seelen, sondern im Gedenken an den nachmittäglichen Gottesdienst um Frieden in seinem Leben und in der Welt.

Hildegard versuchte, sich von dem Anblick der leblosen Tauben abzulenken, indem sie ein paar Brote machte und eine Kanne Tee brühte. Später kam ein gutgelaunter Leonard Graham vorbei und erkundigte sich bei ihnen, wie der Tag verlaufen sei. Ob Sidney »die frohe Kunde« schon verbreitet habe, wollte er von Hildegard wissen.

»Welche Kunde?«, fragte Hildegard zerstreut.

»Ich bekomme eine volle Pfarrstelle.«

»Wo?«

»In Holloway, einer Gemeinde in Nordlondon. Da dürfte es ein wenig anders zugehen als hier. Hat Sidney dir denn noch nichts erzählt?«

»Ich wollte den richtigen Augenblick abwarten«, erklärte Sidney verlegen.

»Du hast es vergessen.«

»Aber nein …«

»Tasse Tee, Leonard?« Hildegard stand am Fenster und konnte sich nicht konzentrieren.

Sidney warf einen Blick auf das Buch, das sein Hilfspfarrer mitgebracht hatte. »Für deinen Dostojewski wirst du einen zusätzlichen Koffer brauchen. Aber noch etwas ganz anderes, Leonard. Warst du heute schon einmal im Haus?«

»Ja, warum?«

»Hildegard hat zwei Tauben vor der Tür gefunden.«

»Als Geschenk?«

Hildegard reichte ihm seinen Tee. »Wie man’s nimmt …«

»Ich glaube, Tauben kann man tatsächlich essen. Die Russen haben ein Gericht, das sie golubzi nennen, eine Art Kohlroulade …«

»Das hier sah mir nicht danach aus«, fiel ihm Sidney ins Wort.

»Wonach dann? Nach einer Warnung?«

»Ich wüsste allerdings nicht warum. Soweit ich weiß, habe ich mir in letzter Zeit nichts zuschulden kommen lassen.«

»Vielleicht solltest du mit Inspector Keating darüber reden.«

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

»Sidney …«, mahnte Hildegard.

»Sicherheitshalber. Selbst wenn wir das Rätsel selbst lösen müssen.«

Hildegard legte ihm die Arme um den Hals. »Am besten vergessen wir das Ganze. Ich will nicht, dass du Probleme bekommst. Schließlich kenne ich dich.«

Sidney gab seiner Frau einen Kuss auf die Wange und spielte mit einer ihrer Locken. »Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.«

Leonard war immer gerührt von diesen kleinen Liebesbeweisen zwischen den Frischvermählten. »Bestimmt gibt es eine ganz harmlose Erklärung. Aber am besten lasse ich euch Turteltauben jetzt allein.« Zu spät merkte er, dass er sich damit arg in der Wortwahl vergriffen hatte.

Es war fast elf. Sidney hörte die Spätnachrichten. Jugoslawiens Marschall Tito hatte Geburtstag, sowjetische Schiffe beobachteten Atomtests der Amerikaner vor den Weihnachtsinseln, und Sussex hatte Pakistan mit sieben Wickets geschlagen, außerdem gab es einen Bericht über den Besuch der Queen zusammen mit Prinzessin Margaret und Lord Snowdon in eben jenem Gottesdienst, an dem auch Sidney mit seiner Frau vormittags teilgenommen hatte.

Sidney setzte sich an den Schreibtisch und sah seine Post durch. Dann kniete er sich vor sein Betpult. Er bat um Gnade, Vergebung und Erkenntnis und darum, dass die Vögel vor seiner Tür kein bedrohliches Vorzeichen waren.

»Gott im Himmel, von dem alle Gnade und aller Rat kommt, von dem alle gerechten Werke kommen, schenke Deinen Dienern den Frieden, den die Welt nicht geben kann …«

Er hörte Hildegard summend die Treppe hochgehen. Was er zunächst für ein deutsches Volkslied gehalten hatte, erkannte er jetzt als Gershwins »The Man I Love«. Dass er jener Mann für sie sein durfte, erstaunte ihn immer wieder. Wie schlecht auch ein Tag gelaufen war oder wie schwer die Sorgen ihn gedrückt hatten – er wusste, dass er sich ihrer bedingungslosen Liebe gewiss sein konnte und sie sich seiner. Diese Erkenntnis war der kostbarste Schatz in seinem Leben, den er um keinen Preis gefährden wollte.

Als Sidney schließlich nach oben kam, gab Hildegard ihm nur noch einen schlaftrunkenen Kuss und drehte sich auf die Seite. Er lauschte ihren Atemzügen. Plötzlich packte ihn die Angst bei dem Gedanken, dass ihr Atem eines Tages erlöschen könnte. Sie waren erst ein halbes Jahr verheiratet, aber jede noch so kurze Trennung fiel ihm schwer. Noch nie hatte er das Gefühl gehabt, dass sein Dasein auf dieser Erde so vollkommen war. Dieses Glück machte ihm fast Angst, er fürchtete, dass es nicht anhielt, dass er es nicht verdiente, dass es sich um einen grausamen Scherz handelte, damit er bei einem Verlust umso schmerzlicher getroffen wäre.

Sidney versuchte, im Takt mit Hildegard zu atmen, in der Hoffnung, der Rhythmus ihrer Atemzüge könnten ihm helfen einzuschlafen und sie beide für die Nacht vereinen. Doch Hildegards Atemzüge waren unregelmäßig, mit langen Pausen, nach denen sie schnappend um Luft rang, als habe sie so schwer geträumt, dass sie um ein Haar vergessen hätte weiterzuatmen. Hin und wieder stieß sie einen leisen Schrei aus oder bewegte sich unruhig im Bett, lag erst auf dem Rücken und wandte sich dann Sidney zu, in Träumen oder der Vergangenheit gefangen, keiner wachen Gegenwart bewusst, vor allen Gefahren im warmen Halbdunkel geborgen. Das ist Liebe, dachte er, so nah bei seiner Frau zu liegen und ihr zu lauschen.

Zufriedenheit war, wie Sidney wusste, ein seltenes Geschenk, aber er war dankbar dafür, und während er wegdämmerte, beschäftigte er sich noch eine Weile mit anderen kleinen schönen Dingen in seiner Welt, zu denen nicht zuletzt die Donnerstagabende gehörten, an denen er sich im Eagle zum Backgammonspiel mit Inspector Keating traf.

Sie kamen gleichzeitig und bei Regen dort an. Geordie war schlechter Laune wegen des Wetters – immerhin hatten sie schon fast Juni –, das ihn zudem zwang, seinen abgewetzten Regenmantel zu tragen, der ihn, wie er befürchtete, älter wirken ließ. Als das erste Pint vor ihnen stand, beklagte er sich bitter darüber, dass seine grauen Haare erbarmungslos den Rückzug antraten, er den Gürtel in den letzten Jahren gleich um zwei Löcher hatte enger schnallen müssen und mit der Lesebrille, die er neuerdings tragen musste, wie ein Beamter aussah. »Und noch dazu«, seufzte er, »wie ein schlecht angezogener.«

»Ganz recht«, bestätigte Sidney, der nicht genau zugehört hatte, während er das Spielbrett aufstellte.

»Findest du also auch, dass ich verlottert aussehe?«

»Deine Sachen wirken vielleicht etwas abgetragen.«

»Ja, weil von meinem Gehalt nur die Kinder was Neues kriegen – auch wenn ich die in letzter Zeit kaum noch sehe.«

»Das bringt der Job so mit sich.«

Sidney erzählte dem Freund von den beiden Tauben auf der Schwelle. Er hatte angenommen, der Inspector würde ihn für übertrieben argwöhnisch halten, aber nein – Keating hörte ihm gespannt zu.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er schließlich. »Du musst vorsichtig sein.«

»Das bin ich immer.«

»Nein, im Ernst. Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll aber …«

»Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander?«

»Stimmt, und weil sich die Sache sowieso herumspricht, ist es besser, wenn du es von mir hörst. In der Round Church ist eine Leiche gefunden worden.«

»Wie schrecklich. Und du bist sicher, dass der Betroffene nicht eines natürlichen Todes gestorben ist?«

»Leider ja. Das Opfer wurde erstickt. Wie lange das dauerte, oder wie lange er dabei bei Bewusstsein war, wissen wir nicht, aber anscheinend ist er auch gefoltert wurden. Auf seine Brust wurde mit einem Messer ein Muster eingeschnitten.«

»Was für ein Muster?«

»Ähnlich einer Vogelklaue, zweifelsohne eine Art Zeichen. Der Pathologe sagt, dass er so was noch nie gesehen habe.«

»Das Malzeichen des Tieres?«

»Vielleicht.«

»Sehr verstörend. Und du meinst, da gäbe es einen Bezug zu den Tauben, von denen ich dir erzählt habe?«

»Ja, das ist es eben …«

»Du redest doch sonst nicht so um den heißen Brei herum, Geordie …«

»Das Mordopfer war ein Pfarrer, ein gewisser Philip Agnew, du dürftest ihn kennen.«

»Mein Gott, den habe ich am Freitag erst in Coventry gesehen.«

»Was war er für ein Mensch?«

Sidney zögerte einen Augenblick. Die Nachricht hatte ihn erschüttert. »Ein sehr guter, frommer Mensch, fast zu gut für die Welt.«

Bei dem Getöteten handelte es sich um einen Junggesellen mittleren Alters, der Obdachlose in einer Kirche aufnahm und fast all sein Geld den Armen gab. Die Kirche sollte seiner Meinung nach ein Kunstwerk und eine Liebesgabe sein, keine Institution oder ein Mittel zum Zweck. Er führte ein genügsames Leben, verzichtete auf Fleisch und Alkohol, weil man seiner Meinung nach gegen die Listen des Teufels nur mit klarem Kopf und leerem Magen ankämpfen konnte.

Sidney hatte ihn einmal predigen hören – über die vier Worte im Evangelium vor Christi Verhaftung im Garten Gethsemane. »Und es war Nacht.« Dieser Satz, so hatte Philip Agnew dargelegt, war nicht einfach die Beschreibung einer Tageszeit, des Anbruchs der Dunkelheit im Augenblick der Gefangennahme, sondern eine Verkündigung des drohenden Bösen.

Sidney nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte ihm nicht mehr. »Wie schrecklich. Gibt es schon Verdächtige?«

»Angeblich hat sich ein Landstreicher hier in der Gegend herumgetrieben. Möglich, dass sich der Pfarrer eine Weile um ihn gekümmert hat. Wir versuchen natürlich zu ermitteln, wo er sich zurzeit aufhält.«

»Und bis dahin läuft hier ein Mörder frei herum.«

»Der womöglich ein Pfaffenhasser ist. Ich brauche deine Hilfe.«

»Ich möchte nicht, dass Hildegard davon erfährt.«

»Das mit den Tauben weiß sie ja schon …«

»Ja, aber der Tod von Agnew wird sie bestürzen.«

»Vermutlich hat das inzwischen schon in ganz Cambridge die Runde gemacht, und alle werden höchst beunruhigt sein. Deshalb müssen wir diesen Landstreicher so schnell wie möglich finden.«

»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ausgerechnet er …«

»Wer soll es sonst sein?«

»Wie glaubhaft ist es, dass ein Landstreicher einem anderen Menschen ein Zeichen auf die Brust schneidet? Mit dem Messer zuzustechen, um Geld zu erbeuten oder aus Wut – das ist eine Sache. Aber jemandem ein Zeichen in die Brust zu ritzen … das Malzeichen des Tieres …«

»Nun mal langsam, Sidney!«

»Das Buch der Offenbarungen, das Ende der Welt. Es könnte das Werk eines Mannes mit Wahnvorstellungen sein.«

»Was einen Landstreicher nicht ausschließt.«

»Das stimmt, aber das Motiv könnte komplizierter sein, als man auf den ersten Blick meint.«

»Das ist immer so, Sidney. So ist das nun mal in der Welt der Verbrechen. Warum sollte der Verbrecher es uns leicht machen.«

»Und es liegt kein Grund auf der Hand? Kein Geld, das fehlt oder sonst etwas Außergewöhnliches?«

»Nichts in der Art. Vielleicht ist es schiere Niedertracht.« Der Inspector stand auf, um ein zweites Bier zu bestellen. »Trotzdem – es gibt einem zu denken. Warum lässt ein liebender Gott zu, dass einer der Seinen getötet wird? Das ist böse. Warum greift er nicht ein? Ich dachte, darum geht es beim Gebet.«

»Wir können Gottes Handlungen nicht immer nach menschlichen Moralvorstellungen beurteilen.«

»Aber welche Maßstäbe haben wir sonst?«

»Bezogen auf den Glauben gibt es Wahrheiten, die nicht auf Tatsachen beruhen. Mystik. Metaphern. Phantasie. Nichtwissen. Manche Menschen glauben, dass das Böse kein Problem ist, das es zu lösen gilt, sondern ein Mysterium, dem man sich stellen muss.«

»Mysteriös ist die Sache jedenfalls, mal ganz abgesehen von den verflixten Tauben. Ich kann doch auf deine Unterstützung rechnen?«

Sidney seufzte. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.«

Das Gespräch mit dem Inspector bedrückte Sidney auch noch am nächsten Morgen, als er seinen Labrador ausführte. Die Nachricht von dem Mord hatte sich herumgesprochen, und Sidney fing hier und da eigenartige Blicke auf – es war, als sähen die Menschen den Pfarrer als Vorboten eines gewaltsamen Todes. Er versuchte, sich auf seine täglichen Pflichten zu konzentrieren – die bevorstehende Sitzung des Gemeinderats, die Kranken, die seinen Besuch erwarteten –, kam aber in Gedanken immer wieder auf den Tod von Philip Agnew zurück, diesem gütigen, frommen Menschen, der einen friedlichen Lebensabend verdient hatte, statt dieses jähen Angriffs, in dem er erwürgt und grausam verstümmelt worden war. Wem war so eine Tat zuzutrauen, was konnte sein Stand als Geistlicher damit zu tun haben?

Dickens schnoberte vorsichtig an einem Schaf herum, das am Ende der Weide lag. Sidney hoffte inständig, dass es nicht tot war – »das Lamm, das geschlachtet wurde« vielleicht –, und beschloss, der Sache ausnahmsweise nicht nachzugehen.

Er dachte an die Tauben vor seiner Tür und überlegte gerade, ob er sich einen Rat bei dem Tierpräparator Jerome Benson holen sollte, als er ebendiesen mit einer Tasche über der Schulter auf sich zukommen sah. Er war etwas kleiner und schmaler, als Sidney ihn in Erinnerung hatte, und sein Gesicht war gerötet.

»Sollte ich Sie kennen?«, fragte der Mann, nachdem Sidney ihn begrüßt hatte.

»Das hoffe ich doch. Wir hatten vor ein paar Jahren einmal miteinander zu tun. Damals ging es um Daniel Morden und das Feuer in seinem Sommerhaus.«

»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit meinem Bruder.«

»Entschuldigen Sie vielmals. Sie sind nicht der Tierpräparator Jerome Benson?«

»Nein«, erwiderte der Mann knapp, offensichtlich verärgert, dass man ihn aufhielt. Er sah nach rechts und links und suchte nach der schnellsten Möglichkeit, an Sidney vorbeizukommen, um seinen Weg fortzusetzen.

»Sie sind nicht aus dieser Gegend?«

»Nein.«

»Auf Besuch hier? Oder zur Arbeit?«

»Ich bin Musiker.«

»Meine Frau ist auch Musikerin.«

»Garantiert auf einem anderen Gebiet als ich.«

»Pianistin, um genau zu sein. Sie gibt Klavierstunden.« Sidney wusste, dass den Mann dies wahrscheinlich gar nicht interessierte. Das Gespräch nahm keinen guten Verlauf, und die Situation wurde auch nicht besser, als Dickens mit einem Ball im Maul zurückkam.«

»Ich mache Jazz.«

Sidney strahlte. Jazz war sein Lieblingsthema, leider hatte er nur selten Gelegenheit, sich ihm zu widmen. Er warf wieder den Ball für Dickens und fragte: »Welches Instrument?«

»Ich spiele Horn. Wenn ich kann.«

»Ich bin ein großer Fan von Lester Young«, erklärte Sidney.

»Ich wünschte, ich könnte spielen wie er.«

»Treten Sie hier in der Gegend auf?«

»Nein. Ich will einen alten Freund besuchen und übernachte bei meinem Bruder. Er greift mir unter die Arme, wenn ich etwas klamm bin.«

»Jerome Benson ist also Ihr Bruder?«, vergewisserte sich Sidney.

»Genau.«

»Von Jazz zu leben ist sicher nicht leicht.«

»Das können Sie laut sagen.«

Sidney war entschlossen, verbindlich zu bleiben. »Wohin gehen Sie als Nächstes?«

»Nach Birmingham. Ein Freund von mir spielt in einem Quartett, und sie wollen sich von dem Saxophonisten trennen. Allerdings überlegen sie sich’s vielleicht noch mal, wenn sie mich gesehen haben.«

»Sie dürfen nicht so streng mit sich sein.«

»Das Leben ist hart. Aber es hat uns auch keiner ein leichtes versprochen.«

Sidney fragte sich, ob der Mann ihn um Geld bitten würde. Wenn er mit dem Hund unterwegs war, hatte er nie welches bei sich. »Jazz ist seit jeher die Musik für harte Zeiten, denke ich.«

»Brother, can you spare a dime. Money gettin’ cheaper.«

»Sixteen Tons …«

»Mein Bruder wartet bestimmt schon, ich muss weiter.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten, Mr. Benson.«

»Jimmy«, gab der andere zurück. »Jimmy heiße ich.«

Als Sidney zum Pfarrhaus zurückkam, wurde er von Hildegard schon sehnlichst erwartet. Sie war in der Stadt gewesen und hatte auf dem Marktplatz Helena Randall getroffen, eine ehrgeizige junge Reporterin von den Cambridge Evening News. Miss Randall hatte wissen wollen, ob ihr Mann mit dem Mord an einem Pfarrer aus dem Ort beschäftigt sei und schon Hinweise habe. Sie würde gern nachmittags herkommen und mit ihm darüber sprechen.

»Warum hast du mir nichts davon erzählt, Sidney?«

»Ich wolltet dich nicht beunruhigen.«

»Wie hättest du das denn vor mir verheimlichen wollen?«

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du nach Cambridge fährst.«

»Hat es etwas mit den Tauben zu tun? Muss ich mir Sorgen machen?«

»Ich wusste, dass du dir Sorgen machen würdest. Deshalb wollte ich dir nichts sagen.«

»Aber wenn du mir nichts oder so gut wie nichts sagst, werde ich immer das Gefühl haben, dass es sich um etwas Wichtiges handelt.«

»Es ist kompliziert.«

»Komm, erzähl mir jetzt alles«, verlangte Hildegard.

Sosehr es ihm widerstrebte, Sidney musste Jerome Benson aufsuchen, und sei es nur, um ihn nach den toten Tauben zu fragen und die Möglichkeit auszuschließen, dass sein Bruder der Landstreicher war, den man in der Nähe von Philip Agnews Pfarrhaus gesehen hatte.

Sein letzter Besuch in dem baufälligen Haus am Rand von Grantchester, in dem Benson wohnte und arbeitete, lag schon einige Jahre zurück. Dickens hatte es noch sehr genau in Erinnerung und sträubte sich, es zu betreten. An den Wänden im Vorderzimmer hingen die herkömmlichen Arbeitsmuster des Tierpräparators, und zwar ausschließlich Fische – zwei Barsche, drei oder vier Hechte, eine dicklippige Meeräsche, eine Seeforelle, ein Karpfen, ein Rochen und eine Flunder. Der Raum dahinter bot eher Unheimliches – inszenierte Darstellungen von einem Fuchs mit einem erbeuteten Fasan, von zwei Wieseln, die einen Schwertkampf aufführten – und ausgesprochen Makabres: ein Schaf mit zwei Köpfen, eine mumifizierte Katze, ein Gürteltier, das eine Seifenschale hielt, und die Nachbildung eines menschlichen Auges.

Benson blieb während des ganzen Gesprächs stehen, machte sich nervös an den Leimtöpfen sowie an kleinen Meißeln und Pinzetten zu schaffen, die wild verstreut auf seiner Werkbank lagen, und setzte sofort zur Verteidigung an, als Sidney auf die Tauben vor der Haustür und das vermeintlich tote Schaf auf der Weide zu sprechen kam.

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Canon Chambers, aber jedes tote Tier lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben. Es mag ja eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings walten, aber das fällt wohl eher in Ihr Fach. Ich benutze nur Tiere, die eines natürlichen Todes gestorben sind, ich gehe nicht los und töte sie. Im übrigen habe ich Ihnen das schon einmal gesagt.«

»Ich gebe zu, dass ich mit den gesetzlichen Vorschriften des Präparierens von Tieren nicht vertraut bin.«

»Seinerzeit haben Sie mir vorgeworfen, ich hätte eine Eule geschossen.«

»Von einem Vorwurf kann keine Rede sein.«

»Würde ich mich nicht an die Gesetze halten, wäre ich sofort raus aus dem Geschäft. Darf ich Sie bitten zur Sache zu kommen? Unser damaliges Gespräch war nicht sehr erfreulich, und dieses hier scheint auch nicht besser zu werden.«

»Da muss ich Ihnen leider recht geben. In meiner Diözese wurde ein Geistlicher, Philip Agnew, ermordet aufgefunden.«

»Das tut mir leid. Aber früher oder später ereilt der Tod uns alle.«

»Gewiss, aber die Verbindung dieser Vorfälle kommt mir sonderbar vor.«

»Glauben Sie das wirklich, Canon Chambers? Für Menschen, die es mit der Sterblichkeit zu tun haben, ist das der natürliche Lauf der Dinge.«

Sidney versuchte es anders. »Wohnt Ihr Bruder noch bei Ihnen?«

»Warum? Sind Sie ihm begegnet?«

»Ich habe ihn für Sie gehalten.«

»Wir werden häufig verwechselt. Allerdings ist Jimmy von wilderer Natur als ich. Die Polizei hat ihn schon ein paarmal aus dem Verkehr gezogen.«

»Er wird in Schwierigkeiten gewesen sein.« Sidney hatte den Verdacht, dass es um Drogen ging, aber keiner von beiden mochte das offen aussprechen.

»Auf die brauche ich wohl nicht näher einzugehen. Die Leute verdächtigen Jimmy aller möglichen Vergehen, nur weil er ein bisschen anders ist.«

»Ich verdächtige ihn nicht Mr. Benson. Er ist Jazz-Musiker, nicht wahr?«

»Das schützt ihn nicht vor Verfolgung.«

»Für mich zumindest spricht das für ihn.«

»Nicht alle sind so unvoreingenommen wie Sie, Canon Chambers. Er war manchmal zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Wissen Sie, ob er mal bei Hochwürden Philip Agnew war? Der Priester war vielen gequälten Seelen ein guter Freund.«

»Ich glaube kaum. Wir sind als Atheisten aufgewachsen. Vielleicht sind wir Ihresgleichen gegenüber deshalb misstrauisch und erwarten andererseits Vergebung von Ihnen.«

»Das ist meine wichtigste Aufgabe. Aber ich muss die Sünde hassen, auch wenn ich den Sünder liebe.«

»Mag sein, dass mein Bruder in Ihren Augen gesündigt hat, aber ein Mörder ist er nicht.«

»Der Verdacht wird auf ihn fallen. Er wurde in der Gegend gesehen, er hat keinen festen Wohnsitz, und er hatte in der Vergangenheit Konflikte mit der Polizei.«

»Gerade deshalb braucht er Unterstützung.«

»Sofern sich diese innerhalb der Grenzen des Gesetzes bewegt.«

»Oder des Naturrechts.« Benson ging zur Tür und öffnete sie weit.

Dickens bellte ein paar der Ausstellungsstücke an, eine Gruppe von Seevögeln – ein Papageientaucher, ein Tordalk, eine Lumme und ein Sterntaucher. Der Hund war von seiner Umgebung offensichtlich ebenso verunsichert wie Sidney von dem Gespräch. Mehr würde er heute nicht erfahren. Frustriert trat er den Rückzug an.

Sidney widmete sich wieder seinen Aufgaben in der Gemeinde, aber im Unterbewusstsein beschäftigte ihn das Verbrechen weiter. Er hoffte, Inspector Keating beim nächsten Treffen einen entscheidenden Hinweis geben zu können, stellte aber bei seiner Ankunft im Eagle verärgert fest, dass der Inspector schon da war, ein leeres Glas vor und Helena Randall neben sich.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte sie lächelnd.

Sidney war fest entschlossen, sich von ihr nicht täuschen zu lassen. »Ich habe Sie nicht hier erwartet.«

»Ich wollte nicht stören. Wir haben nur ein bisschen geplaudert. Nicht wahr, Inspector?«

»Es war mir ein Vergnügen, Miss Randall.«

Helena streckte ihre Hand aus und zupfte ihrem Gegenüber etwas vom Jackett. »Da war nur ein Fussel. Oder vielleicht ein Hundehaar? Jemand muss sich ja kümmern.«

»Ich weiß …«, sagte Keating.

»Ich werde ein Auge auf Sie haben«, sagte Helena, warf ihm einen Handkuss zu und wünschte den Herren einen schönen Abend.

Sidney runzelte bedeutsam die Stirn.

»Was immer du gerade denkst, behalte es für dich. Sie ist ein gutes Mädchen.«

»Sie arbeitet für die Zeitung, Geordie. Geheimnisse werden bei ihr wohl kaum gut aufgehoben sein.«

»Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, Sidney. Die Zeiten sind schwierig.«

Sidney wusste nicht recht, was er von Helena Randall halten sollte. Hinter ihrer zerbrechlichen Figur und dem präraffaelitisch anmutenden langen blonden Haar verbarg sich eiskalter Ehrgeiz. Sie war unnatürlich blass, und die permanent hochgezogenen Augenbrauen über dem befremdlichen gelben Lidschatten verliehen ihrem Gesicht einen neugierig-fragenden Ausdruck. Die langen Finger spielten im Haar oder hielten einen gezückten Kugelschreiber, der zwischen ihrem schmalen Mund und einem Spiralnotizbuch hin und her wanderte. Ihren Dufflecoat trug sie stets offen, weshalb die knappe Bluse, die dünne Strickjacke und die Bundfaltenhose darunter kaum Schutz vor der Kälte boten. Nicht zuletzt deshalb hatte sie häufig Schnupfen oder sogar Bronchitis, womit sie, wie Sidney es erstaunlich unbarmherzig auslegte, offenbar an das Mitleid ihrer Mitmenschen appellieren wollte.

Inspector Keating schätzte ihre »kritische Intelligenz«, das heißt ihr Talent, einen Sachverhalt vor allen anderen zu erkennen, und gab bereitwillig zu, dass er sie nicht nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem berühmten Waterhouse-Gemälde »The Lady of Shalott« anziehend fand, sondern auch, weil sie stets bewundernd an seinen Lippen hing.

Sidney räumte ein, dass die Abneigung, die er für Helena Randall hegte, sich für einen Christenmenschen nicht gehörte, aber etwas an ihrer hohen und gleichzeitig ausdrucksleeren Stimme, ihrem unechten Lachen und ihrem einschmeichelnden Wesen ging ihm gewaltig auf die Nerven. Er vermutete, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Keating hatte gestanden, dass Helena ihn schon ein paarmal gefragt hatte, warum um alles in der Welt sich ein Priester in Kriminalfälle einmischte und dabei den Profis in die Quere kam, die es schließlich besser wussten.

»Natürlich habe ich sie sofort eines Besseren belehrt und dich verteidigt.«

»Wirklich? Hast du ihr ganz bestimmt keinen Anlass gegeben zu denken, dass sie womöglich recht hat?‹«

»Ganz und gar nicht. Sei nicht so empfindlich. Sie ist eben ein cleveres Mädchen.«

Sidney fand nicht, dass er empfindlich war. Mit seinen reichen Erfahrungen als Pfarrer und nun auch als Ehemann erkannte er die typischen Anzeichen einer beginnenden oder zu Ende gehenden Beziehung sehr deutlich: ein tiefes Sich-in-die-Augen-Sehen am Anfang, Sprachlosigkeit am Ende; Vertraulichkeiten wie eine heimliche Berührung, ein heimlicher Blick hier; das Teilen von Essen, Weingläsern und das gemeinsame Lösen von Kreuzworträtseln da; der Unterschied zwischen einem geselligen und einem feindseligen Schweigen. Dass Keating Helenas Entfernung des Hundehaars mit keinem Wort erwähnte, zeigte Sidney, wie gefährlich vertraut sie miteinander umgingen, und er wusste, dass er besonders wachsam sein musste, wenn er seinen Freund vor der zerstörerischen Torheit einer Affäre bewahren wollte.

Er erzählte Geordie von seiner Begegnung mit den Benson-Brüdern, worauf der zu seiner Überraschung überaus heftig reagierte.

»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

»Du warst anderweitig beschäftigt. Im übrigen deutet meiner Meinung nach nichts darauf hin, dass Jimmy Benson der Obdachlose war, der in der Nähe des Pfarrhauses von Agnew gesehen wurde.«

»Der Mann ist ein Landstreicher.«

»Er ist Jazzmusiker.«

»Das läuft mehr oder weniger auf dasselbe hinaus.«

»Auf gar keinen Fall.«

»Und wo steckt deiner Meinung nach dein fahrender Spielmann jetzt?«

»Ich denke, dass er auf dem Weg nach Birmingham ist.«

»Du meinst also, dass er den Ort des Verbrechens schon verlassen hat?«

»Ich glaube nicht, dass er ein Verbrechen begangen hat.«

»Das zu beurteilen ist meine Sache.«

»Formalrechtlich ist es Sache des Richters. Ich werde Jerome Benson fragen, wann sein Bruder zurückkommt.«

»Nein, Sidney, wir werden ihn fragen. Ich schicke sofort meine Leute los, vielleicht ist es noch nicht zu spät. Mal ehrlich – du hast dir mit diesem Mann reichlich Zeit gelassen. Helena war da fixer. Sie hat sämtliche Mitglieder der Round Church gefragt, ob sie etwas Verdächtiges bemerkt haben. Ich bin ganz froh, sie als inoffizielle Mitarbeiterin in meinem Team zu haben. Sie hält uns ganz schön auf Trab.«

»Demnach lässt du dich von ihr bei deinen Ermittlungen unterstützen?«

»Ich möchte sie auf meiner Seite haben. Außerdem hat sie ebenso ein Recht darauf, sich für den Fall zu interessieren wie du.«

»Hoffentlich lenkt sie dich nicht zu sehr von der Arbeit ab, Geordie.«

»Das lass nur meine Sorge sein. Und glaub mir – manchmal kann ich ein bisschen Ablenkung gut gebrauchen.«

»Bisher war ich dafür zuständig.«

»Stimmt schon, aber bekanntlich ist weibliche Gesellschaft durchaus reizvoll. In letzter Zeit wird mir einfach alles zu viel, im Job komme ich kaum zum Luftschnappen, und zu Hause ist es nicht besser. Lärm, Streitereien, quengelnde Kinder, die ständig was wollen, nie ein bisschen Ruhe und Frieden. Das Familienleben ist anstrengender als die Arbeit.«

»Meinst du wirklich?«

»Das wirst du schnell genug selbst erfahren. Ich brauche einfach hin und wieder etwas, woran ich mich freuen kann, und Helena ist, wie dir sicher nicht entgangen ist, ein sehr erfreulicher Anblick.«

»Ich habe nur Augen für meine Frau.«

»Wart mal ein, zwei Jahre ab, dann siehst du das vielleicht anders.«

»Das bezweifle ich sehr.«

Sidney kam missgestimmt nach Hause. Geordie habe sein Selbstvertrauen untergraben, erzählte er Hildegard, und er habe sich in Helenas Anwesenheit höchst überflüssig gefühlt.

»Weißt du, in Frankreich gibt es eine passende Redewendung dafür: tenir la chandelle, die bezieht sich darauf, dass der Trauzeuge dem jungen Paar auf dem Weg ins Schlafzimmer die Kerze halten musste. Habt ihr im Deutschen einen ähnlichen Spruch?«

»Ja, wir sagen, man fühlt sich wie das fünfte Rad am Wagen. Ist Inspector Keating tatsächlich so angetan von dieser Frau? Ich begreife nicht, was er an ihr findet.«

»Jugend. Zuwendung.«

»Das, was die meisten Männer wollen.«

»Für mich gilt das nicht, Hildegard. Ich brauche nur dich zu meinem Glück.«

»Das wollte ich hören. Wir haben keinen Platz für ein fünftes Rad am Wagen.«

In diesem Augenblick rief Keating an. Sie seien bei dem Tierpräparator gewesen, hätten aber Jimmy Benson nicht mehr vorgefunden, offenbar habe jemand ihm einen Tipp gegeben. »Vielleicht sogar du, Sidney?«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Ich möchte nur sichergehen, dass du bei deinem Mitleid mit den Mühseligen und Beladenen nicht so weit gehst, dass du sie vor einer Verhaftung schützt.«

»Du wolltest ihn verhaften?«

»Wir wollten ihn zu einer Befragung abholen. Jetzt ist sein Verhalten noch verdächtiger. Er gilt als flüchtig.«

»Vielleicht hat er Angst.«

»Woher hat er wohl gewusst, dass die Polizei kommen würde?«

»Wahrscheinlich hat sein Bruder ihn gedrängt, sich aus dem Staub zu machen. Er weiß, wie leicht Einzelgängern und Außenseitern die Schuld zugeschoben wird«, vermutete Sidney.

»Nur wenn es gute Gründe dafür gibt.«

»Nicht immer. Manche sind geborene Sündenböcke. Es ist bisher mitnichten bewiesen, dass Jimmy Benson etwas mit dem Mord an Agnew zu tun hat. Nur weil jemand Jazz mag und ziellos durchs Leben wandelt, heißt das noch nicht, dass er ein Verbrechen begangen hat.«

»Was hat er zu dir gesagt? Wollte er Geld?«

»Dass er da bei einem Pfarrer nicht weit kommt, weiß er garantiert.«

»Ihr Pfarrer seid trotzdem leichte Beute. Und in der Kirche ist immer ein bisschen Silber.«

»Meist ist es nur Blech.«

»Woher soll er das wissen?«

»Ich glaube kaum, dass er unser Mann ist.«

»Aber sicher sein kannst du nicht. Miss Randall findet, dass wir der Sache nachgehen sollten.«

»Ist sie denn eine Expertin in polizeilichen Ermittlungen?«

»Sie möchte Gerichtsreporterin werden. Ich habe ihr gesagt, dass sie den Fall beobachten kann«

»Bestimmt freut sie sich über deine Gesellschaft.«

»Das geht dich nichts an.«

»Was mich etwas angeht und was nicht, entscheidest du recht willkürlich, scheint mir.«

»Es ist dir offenbar entgangen, dass wir es mit einem Mordopfer zu tun haben – einem Mann Gottes, wie du einer bist – und mit einem flüchtigen Verdächtigen. Ich habe schon genug Sorgen, ohne dass du bösartig über Miss Randalls Motive spekulierst, mir behilflich zu sein. Bist du vielleicht eifersüchtig?«

»Na hör mal …«, wollte Sidney sich ereifern, aber da hatte der Inspector schon aufgelegt.

Philip Agnew wurde Mitte Juni zu Grabe getragen. Es war ein heißer, trockener Tag, und die betriebsame Stadt schien in der brütenden Hitze unter dem Schock des Mordes kurz den Atem anzuhalten.

Unter den Trauergästen waren zahlreiche Geistliche, die das Opfer gekannt, verehrt und geliebt hatten, und in das Zeremoniell mischte sich ein gewisses Unbehagen. Sidney hielt den Gottesdienst zusammen mit Leonard Graham und Patrick Harland, dem schmächtigen Lektor, der erst vor wenigen Wochen in Coventry neben ihnen gesessen hatte. Harland trug einen billigen Anzug mit ausgebeulten Taschen, der an den Knien und Ellbogen glänzte; seine Augen huschten unruhig umher. Er hatte sich für alle Einzelheiten der Liturgie aufs sorgfältigste vorbereitet. Sidney überlegte, warum er nicht Pfarrer geworden war.

»Er hat die Ausbildung nach einem Jahr aufgegeben«, erklärte Leonard. »Ich glaube, nach der Aufregung um die göttliche Offenbarung fand er die akademische Seite eines Studiums zu anspruchsvoll. Aber er ist ein guter Kerl, auch wenn er allzu empfänglich für die Daseinsgewissheit ist.«

»Und wie fatal das sein kann, wissen wir ja alle«, ergänzte Sidney. Er wollte über Philip Agnews Güte im Angesicht des Bösen predigen, wollte darüber sprechen, wie ein Gott der Liebe etwas so Schreckliches hatte geschehen lassen können. Man musste einen Unterschied machen zwischen moralischem Bösen und natürlichem Bösem wie beispielsweise Krankheit, Überschwemmungen und Erdbeben. Das Problem der Tugend, führte er – nicht zum ersten Mal – aus, war so unlösbar wie das Problem des Bösen. Wie hieß es in der alten lateinischen Phrase: Si Deus est, unde malum? Si non est, unde bonum? Am liebsten hätte er den Satz im Original belassen, aber da Mrs. Maguire und andere regelmäßigen Kirchgänger anwesend waren, wäre es unfair gewesen, mit seinen professoralen Fähigkeiten zu prahlen. »Wenn es einen Gott gibt – warum gibt es dann das Böse?« Das Mysterium des Bösen war komplex, wenn man von einem gütigen Gott ausging, aber das Mysterium der Güte, so führte er aus, war undenkbar ohne einen Gott.

»Ein wichtiger Denkanstoß«, sagte Patrick Harland nach dem Gottesdienst. Sidney meinte einen etwas herablassenden Ton herauszuhören, ermahnte sich aber, nicht so empfindlich zu sein.

»Ein furchtbarer Verlust«, fuhr Harland fort. »Agnew war ein guter Mensch, manchmal etwas zu naiv …«

»Güte und Naivität gehören oft zusammen«, gab Sidney zurück. »Die frömmsten Menschen werden oft für einfältig gehalten.«

Leonard hängte seinen Talar auf, warf einen flüchtigen Blick auf die beiden Männer und murmelte etwas über Dostojewskis Roman Der Idiot, ehe er die Sakristei verließ, um Bekannte zu begrüßen.

Sidney, der sich nicht sicher war, wie schwer Harland der Verlust von Agnew traf, fragte ihn, wie oft er in der Round Church aushalf und ob er das Opfer an dessen Todestag gesehen hatte.

»Ja, nur wenige Stunden vor der Tat. Er sprach mit einem dieser Streuner, die immer Geld haben wollen. Ich finde ja, man sollte ihnen lieber etwas zu essen geben. Bares vertrinken sie nur.«

»Haben Sie das der Polizei erzählt?«

»Ich hielt es nicht für wichtig.«

»Hat man Sie nicht befragt?«

»Ich war ein paar Tage fort.«

»Sie hätten zumindest eine Beschreibung geben können.«

»Es waren so viele. Mr. Agnew bewirtete ständig Fremde.«

»Ich würde es nicht ›bewirten‹ nennen.«

»So lange, wie die immer blieben.«

Sidney ließ nicht locker. »Wie sah denn der Besucher aus, den Sie an Philips Todestag gesehen haben?«

»So wie die anderen auch. Sehr dünn, schlingernder Gang. Das Betteln war ihm offenbar so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihm die Unterwürfigkeit ins Gesicht geschrieben war. Kein angenehmer Anblick.«

»Aber dieser Mann ist womöglich verantwortlich für Philips Tod, oder er weiß etwas Wichtiges darüber. Wir müssen ihn finden.«

»Warum sollte das unsere Aufgabe sein?«

»Wir müssen unsere Informationen mit der Polizei teilen. Ich bestehe darauf, dass Sie meinem Freund Inspector Keating alles mitteilen, was Sie wissen.«

»Wenn Sie es wünschen. Aber ich fürchte, da sind Sie auf der falschen Fährte. Wie Ihr Hund, wenn er wild bellend losläuft.«

»Mein Hund bellt sehr selten. Nur wenn er irgendwas Ungutes wittert.«

»Da ist er vielleicht seinem Herrn ähnlich … Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss die Kerzen löschen und die Kniekissen zurechtrücken. Ordnung muss sein. Guten Tag.«