Die Vergebung der Sünden - James Runcie - E-Book

Die Vergebung der Sünden E-Book

James Runcie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der vierte Band der Grantchester Mysteries Sidney Chambers ist zurück und geht weiter seinen etwas unfreiwilligen Ermittlungen nach. Ein mysteriöser Fremder sucht Zuflucht in der Kirche von Grantchester, ein Freund erhält mit giftiger Tinte geschriebene Briefe, ein Klavier fällt einem Musiker auf den Kopf, ein Cricket-Turnier findet ein explosives Ende und im Italienurlaub wird Sidney bezichtigt, ein Gemälde von unschätzbarem Wert gestohlen zu haben. Und auch sein Privatleben will nicht recht zur Ruhe kommen. Sein neuer Vikar wird zu Sidneys Missfallen immer beliebter bei der Gemeinde und seine kleine Tochter beginnt zu laufen und zu plappern. Weitere Bände der Reihe: Band 1 - Der Schatten des Todes Band 2 - Die Schrecken der Nacht Band 3 - Das Problem des Bösen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 407

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



James Runcie

Die Vergebung der Sünden

Sidney Chambers ermittelt

Roman

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Atlantik

Für Marilyn

Liebe bedeutet das zu lieben, was man nicht lieben kann. Vergeben bedeutet zu entschuldigen, was unentschuldbar ist. Glauben bedeutet das Unglaubliche anzunehmen. Hoffnung bedeutet zu hoffen, wenn alles hoffnungslos scheint.

G. K. Chesterton

Die Vergebung der Sünden

An einem kalten Donnerstagvormittag im Februar 1964 betrat ein Mann die Kirche von Grantchester und wollte sie nicht wieder verlassen. Er war aus seinem Hotel in Cambridge geflohen, nachdem er beim Aufwachen festgestellt hatte, dass seine Frau erstochen worden war. Er hatte neben ihr geschlafen, Tür und Fenster waren von innen verschlossen, und neben ihm lag ein Messer. Er konnte sich an nichts erinnern. Jetzt bat er um Asyl.

Der Himmel war von einem dunklen Grau, aber nachdem es drei Tage geschneit hatte, war der Tag lichterfüllt. Der Pfarrer, Canon Sidney Chambers, hatte gerade seinen Labrador ausgeführt. Seine kleine Tochter zeigte Anzeichen von Krupp, der neue Hilfspfarrer musste dringend eingearbeitet werden – da kam ihm so ein Vorfall höchst ungelegen.

Der Fremde hatte offensichtlich in aller Hast nach dem gegriffen, was vom vergangenen Abend her auf einem Stuhl gelegen hatte – Abendanzug, schief sitzende Fliege und Smokinghemd. Trotz der vorösterlichen Kälte an diesem Morgen glänzte sein Gesicht vor Schweiß, der sich unter seinen noch immer nicht ganz wachen Augen sammelte.

Sidney war sich ziemlich sicher, dass das alte Gesetz des Kirchenasyls, nach dem an diesem Ort ein des Mordes Angeklagter vierzig Tage vor Rache und dem Gesetz geschützt war, schon im siebzehnten Jahrhundert abgeschafft worden war. Vielleicht aber, sagte er sich, gab es Ausnahmen. Es war seine Christenpflicht, mit diesem Fremden zu sprechen und ihm Mitgefühl zu erzeigen.

»Ich heiße Josef Madara«, fing der Mann an. Er sprach mit einem osteuropäischen Akzent und hatte den Blick in die Ferne gerichtet, als redete er mit einem Toten oder jemandem, der weit weg war. »Ich bin der 1. Geiger des Holst-Quartetts. Meine Frau spielt Cello. Gestern Abend hatten wir einen Auftritt. Tschaikowski, Schönberg, ein später Beethoven. Alles ging gut. Nach dem Konzert haben wir gegessen und uns im Hotel noch einen Schlummertrunk genehmigt. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Waren noch andere Leute dabei?« Die Augen, die zwischen verschiedenen Farben changierten, irritierten Sidney.

»Nur Dmitri und Natascha Zhirkow, die anderen Mitglieder des Quartetts.«

»Die Geige und Bratsche spielen?«

»Wir sind zwei Ehepaare, fünf Jahre spielen wir schon zusammen.«

»Und gestern Abend ist nichts Ungewöhnliches vorgefallen?«

»Nichts. Es ist wie ein Traum. Und nun bin ich hier. Ist das eine Kirche? Ein heiliger Ort? Wer sind Sie?«

Als Pfarrer und inoffizieller Teilzeitdetektiv war Sidney unerwartetes Erscheinen, missliche Abgänge, Überraschungen und das scheinbar Unerklärliche gewöhnt. Vor allem durfte man in solchen Fällen nichts überstürzen. »Hier sind Sie sicher«, sagte er.

»Darf ich hierbleiben? Ich habe Angst.«

»Heute Vormittag können Sie bleiben, aber nachmittags ist eine Andacht, da müssen Sie weichen.«

»Aber das ist eine Freistatt, ich kann nicht weg hier.«

»Dazu kommen wir gleich«, sagte Sidney beschwichtigend. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was geschehen ist?«

Josef Madara zog einen Tabaksbeutel aus der Tasche und fing an, sich eine Zigarette zu drehen.

»Bitte …«, mahnte Sidney. »Nicht in der Kirche.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich bin katholisch. Ich muss nur irgendwie meine Hände bewegen.«

»Sie wollten mir erzählen …«

»Ich weiß nur noch, dass ich aufgewacht bin und gespürt habe, dass etwas nicht stimmt. Ich lag auf der Seite, dann sah ich Blut. Zuerst habe ich gedacht, ich hätte mich geschnitten, vielleicht war das Glas an meinem Bett umgefallen. Und dann spürte ich etwas Scharfes, Spitzes und sah nach unten …«

»War es hell?«

»Grau. Ich sah etwas Dunkles vor dem Weiß des Betttuchs. Ich machte Licht. Ich sah Sophie und das Blut. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Kissen. Ich riss die Augen auf. Überall Blut. Ich sah das Messer. Dann ging ich zur Tür, ich wollte Hilfe holen, aber die Tür war abgeschlossen, und ich wusste nicht mehr, wo ich den Schlüssel hingelegt hatte. Ich wusch mir das Gesicht. Vielleicht, dachte ich, schläfst du noch. Das Wasser war kalt, ich wollte aufwachen und konnte es nicht, oder war ich schon wach? Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich kleidete mich an. Der Zimmerschlüssel war in meiner Hosentasche. Ich zog den Vorhang zurück, wollte sehen, was für ein Tag es war, aber ich wusste selbst nicht, warum ich das machte. Ich sah einen Bus, auf dem stand, dass er nach Grantchester ging, da würde ich hinfahren, dann wäre ich frei.«

»Waren die Fenster geschlossen?«, fragte Sidney.

»Es gab eine Tür auf den Balkon, wir sind aber nie rausgegangen. Draußen lag Schnee. Ich machte das Fenster auf und warf das Messer weg. Meine Hände waren eiskalt und voller Blut. Ich machte das Fenster zu, zog meinen Mantel an und sah Sophie. Sie trug ein weißseidenes Nachthemd. Voller Blut. Es muss eine Arterie gewesen sein. Ich konnte nicht mehr hinsehen. Ich habe das Licht ausgeknipst, die Zimmertür geöffnet und von außen abgeschlossen. Den Schlüssel habe ich an der Rezeption abgegeben. Dann bin ich gelaufen und gelaufen, bis ich zu dieser Kirche gekommen bin.«

»Warum gerade zu dieser?«

»Ich bin doch mit dem Bus gekommen«, sagte Madara ein wenig verblüfft. Hatte der Priester nicht zugehört?

»Und Sie haben niemandem davon erzählt?«

Viel mehr hatte der Mann offenbar nicht zu sagen. »Ich mag die Farbe von dem Stein hier und das Glas. Von wann ist die Kirche?«

Sidney versuchte, mehr aus ihm herauszuholen. »Und soviel Sie wissen, ist Ihre Frau noch in Ihrem Zimmer?«

»Muss sie wohl.«

»Das Hotelpersonal wird die Leiche finden.«

»Oder vielleicht … Dmitri und Natascha klopfen vielleicht und finden sie.«

»Wann wollten Sie abreisen?«

»Heute.«

Es war nach elf, und Josef Madara wirkte wie ein Mann, der sein Tagewerk für heute getan hatte. Sidney brauchte Hilfe und dachte an Inspektor Keating. »Ich muss einem Freund sagen, was geschehen ist.«

»Ich bleibe hier?«

»Vorläufig ja.« Am Nordportal hörte man Geräusche. »Es ist schön, dass Sie zu uns gefunden haben«, sagte Sidney, »und wir werden uns um Sie kümmern. Ich muss die Kirche abschließen, zu Ihrem eigenen Schutz. Welche Zimmernummer hatten Sie in Ihrem Hotel?«

»Es war im zweiten Stock.«

»Und Ihr Name war noch mal …«

»Madara. Meine Familie kommt ursprünglich aus Lettland.«

»Und ich kann mich darauf verlassen, dass Sie hier warten, Mr Madara?«

»Die Kirche ist meine Hoffnung«, erwiderte der Musiker. »Ich sehe das Kreuz Jesu vor mir und weiß, dass er herabsteigen und mich willkommen heißen wird.«

Doch die Gestalt, die aus der Dunkelheit auftauchte, war nicht der Herr und Retter der Menschheit, sondern Malcolm Mitchell, der neue Hilfsgeistliche. Nachdem Sidney seinen Schäflein den intellektuellen Leonard Grahams zugemutet hatte (eine seiner Predigten über Kierkegaard war komplett unverständlich gewesen), hatte er als Ersatz einen hünenhaften jungen Mann eingestellt, der für Kuchen und Modelleisenbahnen schwärmte.

Malcolm Mitchell war ein jungenhafter Typ mit einem sonnigen Lächeln. Er setzte sich neben Josef Madara und fragte leise und geduldig, ob er etwas brauche. Eine Tasse Tee vielleicht oder ein Glas Wasser. War ihm auch warm genug, wollte er vielleicht eine Decke? Selbst wenn die Kirche geheizt war, fröstelte man hier leicht.

Sidney erklärte seinem Hilfspfarrer die Situation, verabschiedete sich und radelte über die gefrorenen Wiesen zu seinem Freund, Inspektor Geordie Keating in der Polizeiwache. Er hörte schon dessen entnervten Aufschrei: »Freistatt! Mord! Warum zum Teufel hast du nicht angerufen?«

Natürlich hatte Keating recht, aber bei diesem ungewöhnlichen Fall sprach Sidney doch lieber persönlich mit ihm. Die Streufahrzeuge waren unterwegs, die ersten Schneemänner tauchten in der Stadt auf, und Geordie trank gerade seine dritte Tasse Tee. »Das riecht nach Ärger«, sagte er.

»Leider ja. Am besten kommst du gleich mit ins Garden House Hotel.«

»Ich habe gerade gefrühstückt, Sidney, Hering, was ich nachträglich bedaure, und fürs Mittagessen ist es zu früh. Was ist passiert?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Hast du Zeit?«

»Manchmal habe ich den Eindruck, dass du unsere Freundschaft schamlos ausnutzt.«

Das Hotel war ein modernes Haus am Fluss Cam, und auf dem Weg die Mill Lane hinunter blieb Zeit, Keating einzuweihen. Es war ein bitterkalter Vormittag ohne Vogelgesang und mit wenig Verkehr. Die Menschen bewegten sich vorsichtig, ein alter Mann stürzte, ein Kind weinte, ein junges Mädchen rutschte aus, schrie auf und lachte gleich wieder. Inspektor Keating bat den Hoteldirektor, sie zu dem Zimmer von Josef und Sophie Madara im zweiten Stock zu begleiten. An der Rezeption drängte sich eine Busreisegruppe und traute sich nicht ins Freie.

Sidney fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem sich die Tür öffnen und den Blick auf eine blutige Leiche freigeben würde.

Umso verblüffter war er, als er ein peinlich sauberes, ordentliches Zimmer betrat – das Bett war gemacht, die Koffer waren gepackt und saubere Handtücher bereitgelegt.

»Sind wir wirklich im richtigen Zimmer?«, fragte Keating.

»Zimmer 211, ganz recht«, bekräftigte der Direktor.

Sidney hatte Madaras Geige entdeckt. »Und da ist ein Koffer mit dem Namen der Madaras auf dem Gepäckanhänger.« Darin fanden sich ein Rock, eine Bluse, Unterwäsche und ein Schminktäschchen, Sophie Madaras Cello allerdings war nirgends zu sehen. »Vielleicht hat sie das Instrument im Konzerthaus gelassen«, vermutete Sidney.

»Wie kannst du deine Zeit mit so einer Räuberpistole vertrödeln«, ereiferte sich Keating.

»Ich habe sie ihm geglaubt, Geordie.«

»Manchmal bist du wirklich zu blauäugig.«

Sidney musste plötzlich an Ostern denken, die Entdeckung des leeren Grabes und die Leintücher, die so gefaltet waren, dass man an Jesu Rückkehr glauben musste.

Keating wandte sich an den Manager. »Ist das Zimmer schon gereinigt worden?«

»Ich erkundige mich gleich mal.«

»Ist es möglich, dass die beiden gar nicht hier geschlafen haben?«

»Irgendjemand war im Zimmer.«

»Dann haben entweder Madara oder seine tote Frau aufgeräumt.«

Sidney überlegte, ob man ihn ausgetrickst hatte. Er hielt sich für einen recht guten Menschenkenner. Aber wer hätte, wenn Madara kein Phantast war, unbemerkt ein abgeschlossenes Zimmer betreten und den Tatort in Ordnung bringen können? Und vor allem: Wo war das Opfer?

In seinem Hotel, erläuterte der Manager, herrsche immer viel Betrieb. Gestern Abend wurde hier ein fünfzigster Geburtstag gefeiert, eine Leiche wegzuschaffen wäre nahezu unmöglich gewesen.

»So etwas ist mir noch nie passiert«, ärgerte sich Sidney.

»Und so etwas sieht dir auch nicht ähnlich«, tröstete Keating ihn.

»Ich war so fest davon überzeugt, dass Madara die Wahrheit sagt.«

»Aber wo ist dann die Frau?«

»Wenn ich das wüsste … Aber vielleicht hat er die Tat gar nicht hier, sondern in ihrem gemeinsamen Zuhause begangen.«

»Ich tippe darauf, dass sie ihn verlassen hat«, meinte Keating. »Sie haben sich gestritten, und der Mann hat geträumt, dass er sie umgebracht hat. Hast du gefragt, ob irgendwelche Medikamente im Spiel waren? Und könnte er betrunken oder nicht ganz bei Sinnen gewesen sein?«

»Ich kann nur das beurteilen, was ich gesehen habe – einen verzweifelten Mann, der davon überzeugt war, seine Frau unabsichtlich erstochen zu haben.«

»Das Messer hatte er wohl nicht bei sich …«

»Angeblich hat er es aus dem Fenster geworfen.«

Keating wandte sich an den Manager. »Hat jemand die Frau gesehen?«

»Ich war gestern nicht im Dienst, aber ich kann fragen.«

»Sie sagen, dass er in diesem Zimmer geschlafen hat?«

Der Manager prüfte das Bett. »Er oder irgendjemand anders.«

»Und wenn seine Geschichte stimmt, hat er vielleicht hinterher aufgeräumt und stand so unter Schock, dass er nicht mehr daran gedacht hat.«

»Aber was sollen wir von so einer erfundenen Geschichte halten?«

»Vielleicht brauchte er ein wenig Nervenkitzel oder suchte einen Gesprächspartner. Oder er wollte dich aus dem Weg haben, um deine Kirche zu berauben.«

»Das wäre eine recht komplizierte Taktik.«

»Soll ich versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen?«

»Hier können wir wohl sowieso nichts mehr machen.«

Sie waren schon auf dem Weg zur Treppe, als aus dem Nebenzimmer ein Mann und eine Frau kamen, die wirkten, als wollten sie sich ohne Bezahlung davonmachen. Sie hatten neben ihrem Gepäck auch Musikinstrumente dabei.

»Gehören Sie zufällig zum Holst-Quartett?«, fragte Sidney.

»Woher wissen Sie das?«

»Sie haben es offenbar eilig.«

»Wer sind Sie?«, fragte die Frau.

»Tut nichts zur Sache«, erklärte Keating. »Ich bin Polizeibeamter.«

»Sie reisen ab?«, fragte der Manager.

»Unsere Freunde sind wohl schon weg«, sagte Dmitri Zhirkow. »Eigentlich reisen wir sonst immer zusammen.«

Er war größer und schmaler als Josef Madara, hatte eine fliehende Stirn, einen runden Rücken und eine Metallbrille mit runden Gläsern. Sidney fiel ein, was eine Bekannte ihm einmal gesagt hatte – dass so, wie sich manchmal Ehepaare im Lauf der Jahre immer mehr ähneln, sich Musiker ihren Instrumenten angleichen. Du wirst nie einen dicken Flötisten sehen, hatte sie gesagt, oder einen dünnen Tubabläser oder einen introvertierten Schlagzeuger. Jetzt, da er dieses Paar vor sich sah, überlegte er, ob das wohl stimmte und ob die verschwundene Frau so wohlgeformt wie ein Cello war.

»Ich denke, wir müssen hier einiges klären«, sagte Keating. Der Manager brachte sie in einen der Aufenthaltsräume, wo man sie zumindest in der nächsten halben Stunde nicht stören würde.

Hier waren noch deutliche Spuren der gestrigen Feier zu sehen, schlappe Luftballons hingen an den Stühlen, schmutzige Teller, halb leere Weingläser und überquellende Aschenbecher standen auf den Tischen. Sidney meinte, man solle überprüfen, wie viele Gäste im Hotel übernachtet hatten, aber Keating war von dieser Idee nicht begeistert. Bisher gab es ja keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. »Wir fragen jetzt einfach noch ein bisschen herum und überprüfen, ob Sophie Madara vielleicht nach Hause oder zu ihrer Mutter gefahren ist. Dass er telefonieren kann, hast du dem Mann wohl nicht angeboten?«

»Wozu? Er denkt, dass seine Frau tot ist und er sie umgebracht hat.«

Jemand vom Personal brachte Kaffee und Kekse, und die Zhirkows wiederholten, dass sie angenommen hatten, die Madaras wären nach London zurückgefahren. Sie selbst hatten es eilig, denn sie sollten dort am Montag ein Trio spielen.

»Ist das Ihre einzige Sorge?«

»Im Augenblick, ja.«

»Dann gebe ich Ihnen mal noch etwas zum Nachdenken.«

Natascha Zhirkow hörte sich aufmerksam an, was der Inspektor zu sagen hatte. Sie trug die Haare zu einem Bob frisiert, der geschickt ihr etwas rundes Gesicht kaschierte.

»Josef ist hypernervös, Inspektor«, erklärte sie erstaunlich gelassen. »Bestimmt hat er sich das alles nur ausgedacht.«

»Ein exzentrischer Typ«, ergänzte ihr Mann.

Für das Ergehen ihres Kollegen schienen sie sich nicht sonderlich zu interessieren.

Dmitri Zhirkow wiederholte immer wieder, dass er nach London zurückfahren müsse, und seine Frau versuchte, das Gespräch zu beenden. »Wir können Ihnen nicht viel sagen, Inspektor. Als Polizeibeamter durchschauen Sie inzwischen bestimmt, was geschehen ist.«

Keating gab nicht auf. »Hat es Spannungen innerhalb des Quartetts gegeben? Was für eine Frau ist Mrs Madara? Warum sollte ihr Ehemann behaupten, sie getötet zu haben oder warum sollte sie verschwinden?«

»Wäre es nicht am besten, gleich eine Suche einzuleiten?«

»Ich habe schon telefoniert«, erklärte Keating, was nicht stimmen konnte, denn er und Sidney waren die ganze Zeit zusammen gewesen.

Sidney fragte das Ehepaar, ob es nicht mit in die Kirche kommen wollte, um mit Madara zu reden, vielleicht war der Flüchtige seinen Kollegen gegenüber gesprächiger.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Natascha.

»Aber er ist Ihr Freund.«

»Davon würden Sie nicht ausgehen, wenn Sie uns gestern Abend gesehen hätten.«

»Du willst doch hoffentlich nicht wieder damit anfangen«, raunzte ihr Mann.

»Warum eigentlich nicht?«

»Ich dachte, Sie hatten einen Auftritt«, sagte Sidney.

»Stimmt, und alles lief wie geschmiert, aber hinterher …«

»Haben Sie sich gestritten«, ergänzte Keating. »Ich hab’s gewusst.«

Natascha Zhirkow sah durch die nasse Scheibe auf den schneebedeckten Rasen, die geparkten Autos. Viel heller würde es heute nicht mehr werden.

»Worum ging es?«, wollte Sidney wissen.

»Das ist alles nicht so einfach«, sagte Natascha Zhirkow. Inzwischen waren die Dienstmädchen hereingekommen, eines stellte den Staubsauger an.

»Wenn es einfach wäre, hätten wir hier längst Schluss machen können.«

»Sag’s ihnen ruhig«, drängte Dmitri Zhirkow. »Sie kriegen es ohnehin raus, der verdammte Pfaffe weiß es bestimmt schon.«

»Josef hat gemeint, wir sollten das Quartett auflösen«, sagte Natascha.

»Und warum?«, fragte Sidney.

»Weil wir angeblich schlecht spielen, dabei hat Sophie die meisten Fehler gemacht.«

»Und das haben Sie ihm gesagt.«

»Durch die Blume.«

»Aber er hat es nicht verstanden.«

»Da sind wir eben deutlich geworden.«

»Und dann haben wir alle durcheinandergeredet. Es war nicht sehr erfreulich.«

»Zurücknehmen kann man so was nach einem Streit nicht«, meinte Dmitri Zhirkow.

Keating versuchte, sich Klarheit zu verschaffen. »Sie glauben aber nicht, dass diese Auseinandersetzung zu einem Mord hätte führen können?«

»Voraussagen lässt sich so was natürlich nicht. Und wenn Josef tatsächlich getan hat, was er behauptet …«

»Gestanden hat er bisher nichts.« Dass die beiden von dem angeblichen Tod ihrer Kollegin so ungerührt waren, befremdete Sidney.

»Was hat er denn gesagt?«, fragte Natascha. »Wie viel hat er Ihnen erzählt?«

Sidney erbot sich, vorauszugehen und nachzusehen, ob der Asylsuchende noch in der Kirche war. Eine Situation wie im Hotel, wo er Keating in ein leeres Zimmer geführt hatte, wollte er vermeiden, auch wenn er insgeheim hoffte, dass Madana sich auf den Weg nach London gemacht hatte. Vielleicht hatte sich hier ein exzentrisches Musikerehepaar nach einem ungewöhnlich heftigen Streit, einer furchtbaren Nacht und hoffnungslosem Wunschdenken wieder versöhnt.

Geschneit hatte es nicht mehr, aber die Temperatur war weiter gefallen und der Boden gefroren. Nach Hause zu radeln war zu riskant, also machte sich Sidney wohl oder übel zu Fuß auf den Weg, mit kalten Händen, nassen Füßen und rotem Gesicht. Der Frost zwackte ihm in die Ohren, und er hatte seine Mütze vergessen. Sein Vater hatte ihm oft genug vorgehalten, dass die meiste Wärme am Kopf entweicht. Es gibt kein schlechtes Wetter, hatte er immer gesagt, sondern nur falsche Kleidung.

Sidney versuchte, sich auf die Predigt zu konzentrieren, die er an diesem Fastensonntag zu halten hatte. Konnte er seine Überraschung angesichts des leeren Hotelzimmers für den Text verwenden und auf den Schock von Maria Magdalena übertragen, als sie das leere Grab Jesu entdeckt hatte? Maria Magdalena hatte nach den Tiefen von Trauer und Verlust das höchste Glück durch Jesu Auferstehung erlebt.

Wie ließe sich wohl eine solche Erschütterung des Glaubens heutzutage darstellen, in einem gesichtslosen Hotelzimmer zum Beispiel, einem Privathaus, einer Schule oder Fabrik? Was würde geschehen, wenn man Josef Madara eröffnete, dass die Ehefrau nicht tot in jenem Zimmer lag, sondern lebte, dass es auch in einer verzweifelten Lage noch Hoffnung gab.

Der Anblick von Helena Randall, die mit dem Kirchenvorstand sprach, brachte ihn auf andere, aber nicht erfreulichere Gedanken. Die ehrgeizige Journalistin von den Cambridge Evening News hatte sich wintertauglich ausstaffiert, mit Dufflecoat, Gummistiefeln, einer russisch angehauchten Pelzmütze und einem viel zu jugendlichen Collegeschal. Sie war schon dran an dem Fall.

»Seit wann schließt ihr eure Kirche ab?«, fragte sie. »Ihr netter Hilfspfarrer wollte mich nicht reinlassen.«

»Woher haben Sie das schon wieder?« Sidney war entschlossen, sich nicht unterbuttern zu lassen.

»Ich bin bekanntlich Investigativreporterin.«

»Hat Geordie Ihnen etwas erzählt?« Helena flirtete seit Jahren mit Keating, und der hatte noch immer eine Schwäche für sie.

»Meine Quellen gebe ich nie preis.«

»Was wollen Sie?«

»Freien Zugang zur Kirche, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Sie sind doch sonst nicht so erpicht auf Kirchenbesuche …«

»Stimmt, aber normalerweise spielt sich in denen ja auch nichts so Spannendes ab.«

»Wir sind nicht zur Belustigung des Publikums da«, gab Sidney zurück.

»Das haben wir alles schon mal durchgekaut, Canon Chambers. Das Volk interessiert sich nur sehr begrenzt für Religion, zumal in einer so tristen viktorianischen Umgebung.«

»Fragen, bei denen es um Moral, das ewige Leben und die Gewissheit des Todes geht, würde ich nicht unbedingt trist nennen.« Sidney kramte nach seinen Schlüsseln.

»Sie können eben nicht mehr davon ausgehen, dass das Volk sich für diese Dinge interessiert«, fuhr Helena fort. »Heutzutage haben alle in ihrer Freizeit jede Menge andere Möglichkeiten, und mit der Angst vor der ewigen Verdammnis ist es nicht mehr weit her. Darf ich nun mit hereinkommen oder nicht?«

Ehe er antworten konnte, erschien auch die Polizei. »Das hab ich mir doch gleich gedacht«, murrte Keating und berichtete, dass Dmitri und Natascha Zhirkow mit ihrem Kollegen auf der Wache sprechen wollten, sie müssten sich erst sammeln, hatten sie gesagt. Inzwischen hatte Keating mit Inspektor Williams in London telefoniert, der zwei seiner Leute zur Wohnung der Madaras schicken wollte, um nach Spuren der verschwundenen Frau zu suchen.

»Ist der Mann noch drin?«, fragte er jetzt.

»Das weiß ich noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Miss Randall hat mich aufgehalten.«

Helena lächelte. »Ich habe mich bei früheren Fällen immer nützlich machen können. Und ihr beiden Hübschen liebt mich sowieso und wollt es nur nicht zugeben.«

»Darauf würde ich nicht zu sehr bauen«, sagte Sidney.

»Ihr werdet mir noch nachweinen, wenn ich euch verlassen habe.«

»Wohin wollen Sie, wenn ich fragen darf?«

»In diesem Kaff halte ich es nicht mehr aus.«

»Cambridge ist kein Kaff.«

»Aber auch nicht London. Ein Knüller und ich hab’s geschafft. Wer weiß, vielleicht ist dieser Fall mein Durchbruch.«

»Nicht so hastig«, bremste Keating. »Bis jetzt haben wir nur ein leeres Zimmer, einen Verrückten und eine wilde Geschichte. Sie warten hier, während wir mit ihm reden, dann sehen wir weiter.«

In dem weichen Winterlicht wirkte der Raum wie niemals von der Moderne berührt. Malcolm Mitchell saß lesend in einer Kirchenbank, als sei diese Situation völlig normal. Er hatte eine Decke geholt und dem Flüchtigen eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen gebracht. Josef Madara betete.

Sidney überlegte, ob der Fremde, als er sie kommen hörte, bewusst eine Büßerpose eingenommen hatte. Er hatte Tränenspuren im Gesicht, und die blaugrünen Augen waren weit geöffnet und voller Leid. Er sah aus wie eine Kreuzung aus einem El-Greco-Gemälde und Alan Bates in Woher der Wind weht.

»Habt ihr sie gefunden?«, fragte er, ohne die Besucher anzusehen. »Ist sie noch da?«

Sidney verneinte.

»Dann muss Gott sie zu sich genommen haben.«

Inspektor Keating kam näher und stellte sich vor. »Ich fürchte, da muss eine schlüssigere Erklärung her.«

»Als ich ging, war sie noch da.«

»Und ihr Cello auch?«, fragte Keating.

»Ja. Sie trennt sich nie von ihrem Instrument.«

»Aber jetzt ist es weg.«

Sidney wollte wissen, wie Madara seine Sophie kennengelernt hatte, seit wann sie verheiratet waren, ob sie vor ihm einen anderen Mann geliebt, ob sie Fans und Bewunderer hatte. Gab es Dinge, die sie ihm verschwieg? Wie oft waren sie getrennt? War sie manchmal verschwunden und wusste er dann nicht, wo sie war?

Madara blieb bei seiner Aussage. Seine Frau war die liebste und beste Frau auf der Welt, eine Madonna, und er war der Sünder.

»Weil Sie Ihre Frau getötet haben?«

»Nein, es geht um etwas anderes, um schlimme Dinge.«

»Ehebruch?«

»Sie wissen davon?«

»Mit Natascha Zhirkow?«, fragte Sidney.

»Ja.«

»Und Ihre Frau war im Bilde?« Keating hatte wieder einmal gehörigen Respekt vor Sidneys Gespür.

»Genau weiß ich es nicht.«

»Und Dmitri Zhirkow?«

»Der sicher nicht.«

»Mindestens drei Mitglieder Ihres Quartetts wussten also Bescheid«, stellte Keating fest. »Und wenn Ihre Frau wirklich tot ist, haben alle anderen ein Mordmotiv. Ich nehme Sie mit aufs Revier.«

»Aber hier ist meine Freistatt.«

Keating nahm Sidney die Antwort ab. »Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Mr Madara. Auch andere Leute wollen in die Kirche.«

»Vergebung ist nicht möglich, ich bin ein elender Sünder.«

»Dann reden wir am besten auf dem Revier darüber.«

Helena wartete in der Vorhalle und kritzelte in ein schon gut gefülltes Notizbuch. Wie viel mochte sie von dem Gespräch gehört haben? »Darf ich mitkommen?«, fragte sie.

Keating fertigte sie kurz ab. »Natürlich nicht. Wir informieren Sie zu gegebener Zeit, aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen.«

»Wie charmant. Habt ihr schon irgendwelche Anhaltspunkte?«

»So wie ich Sie kenne, saugen Sie sich sonst welche aus den Fingern.«

»Fakten wären mir lieber.«

»Uns auch, Miss Randall.«

Auf der Wache hatte Keating noch jede Menge Fragen an Sidney. »Inwieweit ist das so was wie Wunscherfüllung? Warum rückt der Mann freiwillig damit heraus, dass seine Frau tot ist? Und wie ist einer der anderen drei oder sonst jemand in das abgeschlossene Zimmer gelangt? Warum ist Madara bei dem Überfall nicht aufgewacht und auch ums Leben gekommen?«

»Unabhängig von dem, was er uns weismacht, müssen wir Sophie finden. Wenn sie tot ist, haben wir einen ausgewachsenen Mordfall am Hals, und wenn nicht …«

»Vielleicht kann sie uns verraten, was hier gespielt wird«, ergänzte Keating.

Erst am späten Nachmittag kam Sidney wieder ins Pfarrhaus zurück, wo ihn eine Ofenkartoffel und etwas kalter Schinken erwarteten. Dass kein Chutney im Haus war, machte seine Laune nicht besser. Ein schöner Eintopf und ein Tee mit Rum wären ihm lieber gewesen, aber es war Fastenzeit, in der er auf Alkohol verzichtete, da hieß es Abstriche machen.

Hildegard hatte die Hoffnung auf ein gemeinsames Essen aufgegeben und legte gerade ihre Tochter zu einem Nachmittagsschlaf hin. Beide Eltern hatten in der letzten Zeit häufig auf Schlaf verzichten müssen. Die Kleine war noch nicht ganz drei Monate alt und fing gerade erst an, auf andere Empfindungen als Hunger, Schmerzen und Müdigkeit zu reagieren. Wie könne Sidney sich nur schon wieder auf ein Abenteuer einlassen, fragte seine Frau.

»Meine Schuld war es nicht. Ich kam in die Kirche, und da war er.«

»Kann sich nicht Keating darum kümmern?«

»Er braucht meine Hilfe.«

Sidney gab seiner Frau einen Kuss und verzog sich in sein Arbeitszimmer. Er musste an Harold Macmillans Erklärung für die Unwägbarkeiten der Politik und das Unvorhersehbare von Vorfällen denken, die auch eingefahrene Routine ins Wanken bringen konnten. So gewissenhaft er als Seelsorger auch sein mochte – an Zuwendung musste er seiner Gemeinde immer etwas schuldig bleiben. Anders als ein Maurer oder Tapezierer, der seine Tätigkeit einstellte, wenn es dunkel wurde, war ein Pfarrer mit seiner Arbeit nie fertig.

Er machte den Kamin sauber und baute das Feuer neu auf. Dabei hörte er, wie Hildegard ein Schlaflied für Anna sang.

Guten Abend, gut’ Nacht,

mit Rosen bedacht,

mit Näglein besteckt

schlupf unter die Deck’:

Morgen früh, wenn Gott will,

wirst du wieder geweckt.

Seine Frau hatte eine so schöne Stimme. Was saß er an seinem Schreibtisch und zerbrach sich den Kopf über diesen neuen Fall, in den er sich hatte hineinziehen lassen, wenn er in der gleichen Zeit mit Frau und Tochter hätte zusammen sein können? Hatte er denn ganz und gar vergessen, was wichtiger war?

Als sie sich am nächsten Nachmittag am Küchenherd wärmten, kam Sidney der Gedanke, sich ein wenig zu entlasten, indem er Malcolm Mitchell bat, am Sonntag die Predigt zu halten. Dessen ganzes Sinnen und Trachten war gerade darauf gerichtet, ein zweites Stück Victoria Sponge zu ergattern. Rücksichtslos in die Wirklichkeit zurückgeholt, suchte er nach einer Ausrede.

»Ich bin doch gerade erst hier angekommen.«

»Die Gemeinde soll dich kennenlernen. Ich verspreche mir viel davon …«

Das Telefon meldete sich. »Ich komme nicht weiter mit diesem Irren«, vermeldete Keating. »Von Rechts wegen müssten wir ihn entlassen, aber er will nicht gehen und wiederholt nur ständig, er sei ein Sünder. Ich habe Dr Robinson gebeten, sich ihn mal anzusehen. Kann sein, dass wir einen Psychiater hinzuziehen müssen. In diesem Fall ist alles anders als normal. Die meisten Menschen halten bei der Polizei eisern den Mund, der hier redet und redet, aber nichts hat Hand und Fuß. Was meinst du, hat er seine Frau abgemurkst und versteckt, oder ist sie ihm davongelaufen?«

»Die Londoner Kollegen sind sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«

»Eine Nachbarin hat ausgesagt, dass sie seit Mittwoch keiner mehr gesehen hat.«

»Das war der Tag des Konzerts.«

»Und wann hat man sie zuletzt zusammen im Hotel gesehen?«

»Abends gegen zehn. Eine Barfrau hat bemerkt, dass sie Streit hatten, von dem Wortwechsel mitbekommen hat sie aber so gut wie nichts. Auf der Party muss es hoch hergegangen sein, das Geburtstagskind war ein Rugbyspieler.«

»Wurde Sophie Madara vielleicht in einem Zug gesehen? Es müsste allerdings sehr früh gewesen sein. Und wo ist ihr Cello? Warum hat man es, wenn sie in dem Hotelzimmer ermordet wurde, nicht dort gefunden?«

Am Sonntagvormittag hielt Malcolm Mitchell seine erste Predigt. Passend zur Fastenzeit war es eine Betrachtung über Jesu Worte »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«.

Hatte Jesus recht, fragte Malcolm. Vielleicht war er zu großzügig. Können wir ihm das unbesehen glauben?

Sachte, dachte Sidney.

»Wir wissen, was wir tun«, fuhr Malcolm fort. »Wir sind für unsere Taten verantwortlich. Ein Kind wird nicht in Sünde geboren, der Mensch ist nicht von Geburt an ein Mörder. Uns allen wurde ein Gewissen geschenkt. Wir wissen, dass es unrecht ist, eine Katze zu quälen.«

Es war eine altmodische Gut-und-Böse-Predigt. Männer und Frauen sollten instinktiv das Richtige vom Falschen unterscheiden können, sonst müsse man es ihnen beibringen.

Malcolms Vorgänger, Leonard Graham, jetzt Pfarrer an St. Luke’s in Holloway, war zu Besuch gekommen. Beim Gemeindefrühstück gratulierte er dem neuen Mann, während Sidney mit dem Kirchenvorsteher einige dringende Fragen besprach (die Regenrinne der Kirche war defekt, es gab Beschwerden über die Lehrerin der Sonntagsschule, und wegen des Schneefalls waren sie mit dem Ostergarten in Verzug).

»Schien ganz gut anzukommen«, sagte Malcolm zu Leonard und biss herzhaft in sein Butterbrötchen. »Ihre frühere Haushälterin war sehr angetan.«

»Mrs Maguire? Soviel ich weiß, war sie nie sehr scharf auf Predigten.«

»Ich habe ihr zu ihren Backkünsten gratuliert.«

»Soso …«

»Und sie hat gesagt, dass sie mir ihre spezielle Walnusstorte backen will.«

»Bis man bei ihr so weit gekommen ist, dauert es sonst Jahre. Gut gemacht, Malcolm. Und damit meine ich natürlich auch die Predigt.«

»Die habe ich schon mal gehalten.«

»Ich kenne einen Pfarrer, der einen Zweijahreszyklus hat – hundertvier kurze Ansprachen und ein paar obendrauf für Fest- und Feiertage. Dadurch kann er sich in Ruhe seinen Hobbys widmen. Wie steht es bei Ihnen damit?«

»Ich schwärme für Modelleisenbahnen. Vielleicht weil ich ein Einzelkind war und mich viel allein beschäftigen musste.«

Hildegard war dazugekommen. »Was für ein Thema habt ihr gerade am Wickel?«

»Eisenbahnen, Mrs Chambers. Malcolm will das ganze Haus mit seinem Schienennetz verzieren.«

»Das habe ich nie gesagt«, wehrte Malcolm erschrocken ab.

»Wenn Anna älter ist, hat sie bestimmt Spaß an einer Eisenbahn«, sagte Hildegard versöhnlich. »Allerdings sind Sie wahrscheinlich dann gar nicht mehr da.«

Leonard nahm sich einen Keks und fragte scheinbar beiläufig: »Was machen die Ermittlungen?«

»Endlich zu Hause«, hörten sie Sidney rufen, der sich den Schnee von den Schuhen schüttelte. Er hatte schon erfahren, dass sein Hilfspfarrer Mrs Maguires Herz im Sturm erobert hatte und überlegte angesichts von Malcolms Appetit, ob er den versprochenen Walnusskuchen mit der Familie teilen oder für Notzeiten horten würde.

Während Hildegard das Essen vorbereitete, erkundigte Leonard sich nach dem Fall Madara. Aus dem Stegreif sprach er über die Obsessionen verheirateter Mörder am Beispiel von Shakespeares Othello, Tolstois Kreutzersonate und sämtlichen Werken von Dostojewski. Er streifte auch das Thema eines eingebildeten Todes als Wunscherfüllung und die Möglichkeit, dass Madara am Münchhausensyndrom litt.

»Bitte setz Sidney nicht noch mehr Flausen in den Kopf«, sagte Hildegard, die wieder ins Zimmer gekommen war. »Eine Dame will dich sprechen, Sidney, ich habe sie in dein Arbeitszimmer geführt. Es sei dringend, sagt sie. Eine Mrs Zhirkow vom Holst-Quartett. Ein ungewöhnlicher Name.«

»Warum?«, fragte Sidney.

»Gustav Holst hat nur wenige Streichquartette geschrieben.«

Das erste Stück, das sie zusammen gespielt hatten, erzählte Natascha Zhirkow, sei ein Arrangement der Jupitersuite aus den Planeten gewesen. Im Übrigen habe Josef Madara wie Holst lettische Wurzeln. Holsts Musik habe ihn immer an den Tag erinnert, an dem er seine Frau kennengelernt hatte. Eigentlich eine romantische Geschichte, wenn die Umstände nicht so traurig wären.

Dann gestand sie ihre Affäre mit Madara. Sie habe schon immer Angst vor seiner Frau gehabt, sagte sie.

Warum sollte eine Frau dann ihren Mann davon überzeugen wollen, dass er sie ermordet hat?, fragte Sidney.

»Um ihm ein Alibi zu verschaffen. Damit ihn niemand für das verantwortlich macht, was sie vorhat.«

»Nämlich?«

Aus dem Wohnzimmer hörte man Hildegard das Rondo a-Moll von Mozart spielen, dessen melancholische Anmut alle Sorgen der Welt vergessen ließ.

»Ich glaube, dass Sophie mich umbringen will. Deshalb bin ich hier, Canon Chambers. Ich brauche Ihren Schutz.«

»Unglaublich«, ereiferte sich Keating, als sie sich zu ihrer Backgammon-Runde in der RAF-Bar des Eagle trafen. »Diese Bande ist mir einfach zu gesprächig.«

»Du hältst das für Absicht?«

»Sie wollen uns in die Irre führen, so viel steht fest, aber wir haben keine Beweise dafür, dass ein Verbrechen begangen wurde.«

»Bis auf die Tatsache, dass eine Frau verschwunden ist.«

»Und eine andere um ihr Leben fürchtet. Könnte auch gelogen sein. Vielleicht sind Josef Madara und Natascha Zhirkow noch zusammen und wollen auch Dmitri Zhirkow loswerden. Für dich ist das nichts Besonderes, du bist Rätsel gewöhnt, sie sind Teil deines Glaubens.«

»Und deines Jobs.«

»Eigentlich ist es zum Lachen – die meisten Leute können es gar nicht erwarten, aus einer Polizeiwache wieder rauszukommen, aber bei mir sitzt ein Mann, der unbedingt drinbleiben will. Ob’s am Wetter liegt?«

Am nächsten Tag wollte Sidney auf der Polizei von Josef Madara Näheres zu seiner Affäre mit Natascha Zhirkow wissen.

»Haben Sie mal so was durchgemacht, Canon Chambers?«

»Ich frage Sie.«

»In meinem Land heiraten Priester nicht.«

»Das ist mir bekannt. Aber es schließt ja wohl nicht aus, dass sie gelegentlich Frauen schöne Augen machen.«

»Und das tun Sie nicht?«

»Es gehört zu meinem Beruf, die Menschen zu lieben«, antwortete Sidney ein wenig befangen. »Aber es muss die richtige Art von Liebe sein. Wollen Sie mir davon erzählen?«

»Von meiner Sünde, meinen Sie?«

»Ich bin Priester, betrachten Sie es als Beichte.«

Madara wandte den Blick ab. »Es war nach einer Probe. Natascha wollte eine bestimmte Passage üben.«

»Ohne die anderen?«

»Sie sollte als Gast in einem Kammerkonzert auftreten. Es war der lyrische Satz für Viola und kleines Orchester, den wollte ich mit ihr durchgehen.«

»Ist er schwierig?«

»Es war das letzte Werk des Komponisten, beim Spielen spürt man das. Es würde sich gut für ein Ballett eignen. Wir haben darüber gesprochen, wie man die Emotionen rauslässt und gleichzeitig die Technik im Griff behält. Das kann manchmal danebengehen, wenn man sich zu sehr bemüht.«

»Sie haben also Natascha gesagt, sie solle ruhig und abgeklärt und dabei kontrolliert spielen, und da ist es natürlich passiert. Ist Ihre Frau dahintergekommen?«

»Sie hat etwas geahnt – und das ist vielleicht noch schlimmer. Ich schäme mich sehr.«

Sidney versuchte es anders. »Wo ist Ihre Frau jetzt, Josef?«

»Ich weiß es nicht, ich dachte, sie ist tot. Ich habe sie gesehen, sie lag neben mir. Das Blut …«

»Ja, das haben Sie uns bereits erzählt.«

»Und Sie glauben mir nicht?«

»Sie haben gemeint etwas zu sehen. Was Sie tatsächlich gesehen haben, ist eine andere Frage.«

»Sie denken, ich hätte mir das alles nur eingebildet?«

»Ich denke mir bis jetzt nur, dass wir herausfinden müssen, wo Sophie abgeblieben ist. Hat sie irgendwann mit dem Gedanken gespielt, sich das Leben zu nehmen?«

»So etwas sollten Sie nicht fragen.«

»Wann waren Sie am glücklichsten?«

»In der ersten Zeit unserer Ehe. Wir lebten auf dem Land, am Rand einer Kleinstadt, nicht weit von London entfernt. Der Ort hat eine Kirche mit einem mittelalterlichen Turm und eine Windmühle. Sophie und ich hatten eines dieser kleinen früheren Armenhäuser neben der Windmühle, die man heutzutage mieten kann. Immer, wenn wir wieder dort waren, erinnerten wir uns daran, wie es damals war.«

»Dankbarkeit ist etwas Schönes.«

Josef lächelte. »Als wir jung waren, hatten wir zwar kein Geld, aber wir hatten einander, und niemand wusste, wo wir steckten. Die Musik war unsere Zuflucht vor dem Lärm der Welt. Manche Ehen sind so. Wenn du sonst niemanden brauchst, schützt dich das vor dem Schmerz.«

»Aber so kann man nicht dauerhaft leben.«

»Manche Menschen schon. Nur wenn man anderen begegnet, kommen die Probleme.«

»Wie Sie feststellen mussten.«

»Zu einem hohen Preis. Helfen Sie mir, Canon Chambers. Ich habe Ihnen alles gesagt.«

Als Sidney heimkam, säuberte Hildegard gerade den Kamin, Anna lag in ihrem Moseskörbchen, und von Essensvorbereitungen war weit und breit nichts zu sehen. Als er sich vorsichtig erkundigte, wann es so weit sei, stand seine Frau auf und erklärte, sie bräuchten unbedingt ein Au-pair-Mädchen. So wie jetzt ginge es nicht mehr weiter. »Du hast deine und ich habe meine Arbeit, und Anna kommt dabei zu kurz. Selbst der Hund gerät ins Hintertreffen.«

»Ich nehme ihn doch überall mit hin. Nur ist es zurzeit so kalt …«

»… dass er auch zu Hause ist und mir Arbeit macht. Abends bin ich total erledigt. Ich habe an meine Schwester geschrieben, die findet schon jemanden für uns, ein junges Mädchen vielleicht, das ihr Englisch verbessern will. Dann wird es nicht so teuer für uns, und Anna lernt nebenbei noch ein bisschen Deutsch.«

»Dann seid ihr zwei gegen einen.«

»Darum geht es nicht, Sidney. Und du vergisst Malcolm.«

»Der ist meistens unterwegs.«

»Nicht, wenn es bei uns Kuchen gibt.«

»Darüber rede ich demnächst mal mit ihm.«

»Er kann nichts dafür. Und meist ist es sein Kuchen. Die Frauen im Dorf mögen ihn. Endlich, sagen sie, gibt es hier einen Pfarrer, der Zeit für sie hat.«

»Im Gegensatz zu mir …«

Hildegard sah Sidney bedeutungsvoll an. »Du hast Wichtigeres zu tun, sagen sie.«

»Ich tue es doch für sie, damit sie Frieden halten, statt sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.«

»Vielleicht müsstest du sie mal so richtig das Fürchten lehren.«

»Leider ist das nicht mehr zeitgemäß«, grübelte Sidney. »Gottes Donnerkeil ist nicht mehr so wichtig wie ein Cricketschläger.«

»Du kannst Anna wickeln, Schatz, das heitert dich immer auf. Ich muss aufpassen, dass du Anna nicht ganz und gar vergisst.«

Sidney ging mit seiner Tochter ins Badezimmer und sah sich um. Etwas war anders als sonst. Tatsächlich, es war das Toilettenpapier. Malcolm hatte vorgeschlagen, es in liturgischen Farben anzuschaffen – Grün für die Dreifaltigkeit, Lila für die Fastenzeit und Rosa für kirchliche Festtage.

War Hildegard damit einverstanden gewesen? Oder hatte Mrs Maguire ihre Hände im Spiel gehabt? Wie sollte er sich verhalten, wenn sein Hilfspfarrer jetzt versuchte, Schritt für Schritt sein Leben zu ändern? Angefangen hatte es mit Kuchen, Toilettenrollen und Modelleisenbahnen. Wo sollte es enden?

Er wechselte Annas Windel und sang dabei leise vor sich hin – kein Schlaflied, sondern einen Choral.

Ein feste Burg ist unser Gott,

ein gute Wehr und Waffen.

Wann würde Anna anfangen zu krabbeln, ihre eigene Welt entdecken und sich damit, so klein sie auch war, allmählich von ihm entfernen?

Er hilft uns frei aus aller Not,

die uns jetzt hat betroffen.

Der alt böse Feind

mit Ernst er’s jetzt meint,

groß Macht und viel List

sein grausam Rüstung ist,

auf Erd ist nichts seinsgleichen.

Anna lag frisch gewickelt und babyduftend in Sidneys Armen, als es an der Haustür klingelte. Wohl oder übel ging er öffnen. Vor ihm stand Helena Randall.

»Sehen Sie mich nicht so an«, wehrte sie sich.

»Wir wollten gerade essen.«

»Es ist sehr nett von mir, dass ich persönlich gekommen bin, ich hätte anrufen können.«

»Sie können gern mitessen.«

»Besten Dank, aber dazu reicht die Zeit nicht. Josef Madara ist ausgebüxt.«

»Geordie wird sich freuen, er wollte ihn sowieso loswerden.«

»Aber zu seinen Bedingungen.«

»Vielleicht führt uns Madara jetzt zu seiner Frau.«

»Sie glauben, er weiß, wo sie ist, und die ganze Sache war ein Schwindel?«

An der offenen Haustür, und noch dazu mit einem Baby auf dem Arm, einen klaren Gedanken zu fassen, das konnte niemand von Sidney verlangen.

»Er hätte jederzeit weglaufen können – warum gerade jetzt?«

»Weil er die Polizeiwache als Alibi brauchte?«

»Wir haben keine Anzeichen für ein Verbrechen entdeckt.«

»Aber auch keine Ehefrau. Wir müssen mit Geordie reden.«

»Deshalb bin ich hier. Glauben Sie, dass die Ehefrau in Gefahr ist?«

»Sie meinen, dass Madara sie töten könnte, nachdem er gestanden hat?«

»Oder er hat es auf Dmitri Zhirkow abgesehen. Dann könnte er sich endgültig mit Natascha zusammentun.«

»Essen ist fertig«, rief Hildegard.

»Vielleicht hat Madara sein Schicksal gar nicht mehr selbst in der Hand«, vermutete Helena.

»Sie meinen, er wird benutzt?«

»Von seiner Frau oder Natascha Zhirkow oder Unbekannten.«

»Das ist mir zu kompliziert. Einfacher wäre die Annahme, dass Josef Madara seine Frau umgebracht und alles, was danach kam, aus seiner Erinnerung getilgt hat. Haben Sie schon herausgebracht, ob er mal einen Psychiater konsultiert hat?«

»Es wird kalt«, rief Hildegard.

»Kommen Sie jetzt mit?«, fragte Helena.

»Dürfte ich erst noch essen?«

»Ich bin mit dem Wagen da und warte draußen. Sie haben zehn Minuten.«

»Zehn Minuten?«, wiederholte Hildegard, als Sidney endlich in der Küche auftauchte. »Mehr Zeit hast du für deine Frau und Tochter nicht übrig?«

Inspektor Keating gestand, dass er Madara die Flucht leicht gemacht hatte. Seine Hoffnung war jetzt, dass der Mann die Polizei zu der verschwundenen Frau führen würde, was aber bisher nicht gelungen war.

»Warum nicht?«, fragte Helena.

»Wir haben ihn verloren.«

Sidney war fassungslos über so viel Inkompetenz. »Er hat kein Geld, kein Auto. Es kann doch nicht so schwer sein, ihn aufzuspüren.«

»Wir wissen, wo er wohnt«, sagte Keating. »Wenn er Geld braucht, wird er zusammen mit den Zhirkows auftreten. Musiker müssen Werbung machen. Wir brauchen nur seine Wohnung im Auge zu behalten und die Zeitungen zu durchforsten. Dafür sind Sie zuständig, Miss Randall.«

»Ich schreibe für die Zeitungen, das bedeutet aber noch nicht, dass ich sie lese.«

»Wäre vielleicht ganz lehrreich zu erfahren, was die Konkurrenz treibt.«

»Hatte Madara womöglich einen Komplizen oder eine Komplizin?«, ging Sidney rasch dazwischen.

»Wir glauben, dass er per Anhalter weitergekommen ist. Wahrscheinlich in Richtung London. Aber als wir einen möglichen Fahrer aufgegabelt hatten, tat der völlig ahnungslos.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Warten.«

Am zweiten Sonntag der Fastenzeit predigte Sidney über das Wesen der Buße.

»Was ist wahre Reue«, fragte er und dachte dabei an Madaras Beichte vor zehn Tagen. Konnte ein Mann auch allzu bußfertig sein, konnte er ein Geständnis ablegen, das im Verhältnis zu dem begangenen Verbrechen fast auf Eitelkeit hinauslief?

Die Zuhörer waren verunsichert. Was hatten diese Überlegungen mit der Osterbotschaft zu tun?

Die Gemeinde in Grantchester hatte sich immer mal wieder über Leonards Predigten beschwert, und Sidney wusste deshalb, dass sie moralische Mehrdeutigkeiten nicht schätzte. »Machen Sie es uns nicht zu schwer, Reverend«, hatte Stan Headley, der Dorfschmied, ihn gebeten. »Wir wollen nur wissen, wo wir stehen – genau wie bei unserem Bankkonto.«

Doch nun konnte er nicht mehr zurück. »Heute möchte ich mit Ihnen über proportionale Buße sprechen«, fing er an. Mrs Maguire sah bekümmert drein.

»Eine Bitte um Vergebung ist nicht allein Sache des Täters. Sie muss aus freiem Willen geäußert und aus freiem Willen entgegengenommen werden. Die Beichte muss Raum für das Opfer lassen, wenn es noch lebt.«

Hoffentlich, dachte er, klingt das nicht zu gönnerhaft. Malcolm Mitchell hatte solche Probleme nicht. Wenn er den Eindruck hatte, dass etwas in seiner Predigt nicht ganz verständlich war, konnte er immer auf kulinarische Vergleiche zurückgreifen. Der Heilige Geist, sagte er dann etwa, ist wie Luft im Kuchenteig. Man muss ihm Zeit zum Atmen geben, damit er aufgeht. Für Malcolm Mitchell war der liebe Gott so etwas wie ein himmlischer Bäcker.

»Beide Seiten«, fuhr Sidney jetzt fort, »müssen einander verstehen. Absolute Vergebung kann es geben, man darf sie aber nicht als selbstverständlich voraussetzen. Sie muss jedes Mal, wenn wir gesündigt haben, neu bestätigt werden. Ohne Vergebung sind wir an die Vergangenheit gefesselt, Vergebung schenkt uns eine Zukunft.«

»Da haben Sie doch noch ganz gut die Kurve gekriegt«, neckte ihn Malcolm hinterher in der Sakristei.

Mike Standing, der Schatzmeister, zählte die Kollekte. »Also ganz ehrlich, mir war das zu hoch. Was haben Sie in die Kollekte gegeben, Mitchell?«

»Einen Walnusskuchen von Mrs Maguire.«

»Die Gemeindemitglieder fressen Ihnen also jetzt schon aus der Hand«, meinte Standing bewundernd.

Malcolm nahm Sidney zur Seite. »Wie läuft Ihre Ermittlung? Mir scheint, Sie waren heute ein bisschen daneben.«

»Überhaupt nicht«, widersprach Sidney. »Aber ja, der Fall ist frustrierend.«

»Kann ich was tun?«

Dass sein Hilfspfarrer auch nur einen kleinen Strahl Licht in die Finsternis bringen könnte, hielt Sidney für sehr unwahrscheinlich. Leonard Graham fehlte ihm sehr.

Als er später mit Byron Gassi ging, hielt Inspektor Keating neben ihnen.

»Steigt ein, alle beide!«

»Aber …«

»Es ist doch ein Mord geschehen. Nein, nicht Sophie Madara, die ist immer noch verschwunden. Die andere – Natascha Zhirkow.«

»Wo und wann?«

»In London, in ihrer Wohnung. Sieht aus, als ob es der Ehemann gewesen wäre.«

»Und wie?«

»Erstochen. So ähnlich, wie es angeblich Sophie Madara erwischt hat.«

»Könnte es Madara gewesen sein?«

»Kaum. Zur Tatzeit war er noch in Polizeigewahrsam.«

»Aber kaum war die Tat geschehen, hat er sich davongemacht?«

»Zufall.«

»Wirklich?«, fragte Sidney.

Keating stöhnte. »Du glaubst, jemand hätte eine Nachricht zu ihm geschmuggelt, um ihn wissen zu lassen, dass er sein Alibi nicht mehr braucht? Klingt ziemlich weit hergeholt. Und überhaupt, wer hätte von dem Zhirkow-Mord wissen können?«

»Vielleicht hat er ein Telefongespräch mitgekriegt.«

»Von seiner Zelle aus? Na hör mal …«

»Oder eine gewisse vielversprechende junge Journalistin hat ihm einen Tipp gegeben?«

»Helena weiß von nichts.«

»Das wird sich bald genug ändern.«

»Nicht mal sie kann über etwas berichten, was noch gar nicht passiert ist.«

»Dann also doch Zufall. Hinweise?«

»Dmitri Zhirkow. Wir haben ein Messer mit seinen Fingerabdrücken gefunden – jede Menge. Das Opfer wurde von hinten in den Nacken und dann in den Hals getroffen. Keine Spuren gewaltsamen Eindringens in die Wohnung, Natascha Zhirkow kannte ihren Killer. Gestohlen wurde nichts. Aber behalt es vorerst für dich, William hat nichts an die Öffentlichkeit gegeben.«

»Helena hat schon gefragt, ob sie die Meldung exklusiv haben kann.«

»Hartnäckig ist sie, das muss man ihr lassen. Kannst du mich nach London begleiten?«

»Wann?«

»Gleich morgen früh.«

»Das ist mein freier Tag.«

»Bestens, dann hast du keine Ausrede. Ich bringe dich jetzt nach Hause – ist doch eine echte Zeitersparnis, nicht?«

Dmitri Zhirkow war außer Rand und Band. Er gestand den Mord an seiner Frau, zog seine Aussage zurück, versteifte sich auf Totschlag, änderte dann noch einmal seine Meinung und behauptete, unschuldig zu sein.

In seiner Wut und Panik erklärte er, seine Frau habe ihn angegriffen, und er habe in Notwehr gehandelt. Natascha habe ihn beschimpft, provoziert und Einzelheiten über ein Verhältnis mit Madara erzählt, die er nie für möglich gehalten hätte. Auch die Polizei bekam ihr Fett weg – wie konnte sie nur diesen Dreckskerl Josef Madara entwischen lassen? Alle hatten sich gegen ihn verschworen.

Natascha sei unzurechnungsfähig gewesen, als sie mit Madara geschlafen hatte, brüllte er, und jetzt habe er dank seiner Kollegen selbst den Verstand verloren. Nie wieder würde er mit ihnen arbeiten können, aber ein Musiker würde er immer bleiben, sein Talent habe ihm der liebe Gott geschenkt, niemand könne es ihm nehmen. Genie entschuldige alle Sünden.

Wie hatte sich Dmitri Zhirkow in diesen Zustand hineingesteigert? Wahrscheinlich, überlegte Sidney, hatte er seine Frau wegen ihrer Affäre mit Josef Madara zur Rede gestellt und der Streit war in der Küche eskaliert, wo leider der Messerblock in greifbarer Nähe stand.

Nur eins machte Sidney Sorgen. Als Natascha Zhirkow bei ihm gewesen war, hatte sie nicht so sehr Angst vor ihrem Mann als vor der verschwundenen Sophie Madara gehabt. War Sophie noch im Spiel? Hatte sie den Mord im Auftrag von Dmitri Zhirkow begangen oder aber ihm die Tat in die Schuhe geschoben?

Sidney war mit seinen Überlegungen noch nicht am Ende, als ein Polizist ihn ans Telefon holte. Er konnte nur hoffen, dass es kein Anruf aus dem Pfarrhaus war. Schon jetzt war er spät dran und wollte sich nicht noch einen Rüffel von Hildegard einhandeln.

Am Apparat war Malcolm, seine Stimme klang wie abgeschnürt. »Ist etwas passiert?«, fragte Sidney. »Mit Hildegard? Mit Anna?«

Malcolm hustete, es klang, als würde er ersticken.

»Großer Gott, so reden Sie doch!«

»Dieser Mann, der Kirchenasyl verlangt hat …«

»Madara? Was ist mit ihm?«

Sidney atmete auf. Sein Hilfspfarrer wurde nicht gerade erdrosselt, sondern hatte nur den Mund voller Kuchenkrümel.

»Er ist wieder da.«

Josef war erst in die Kirche und dann zur Polizei gegangen, weil er »viele Dinge« zu gestehen hatte, wie er sagte. Bei der Polizei hatte er vom Tod seiner früheren Geliebten Natascha Zhirkow gehört und wollte weglaufen, aber einer der erfahreneren Kollegen im Revier, der einen neuerlichen Wutausbruch Keatings fürchtete, hatte schnell reagiert und ihn festgehalten.

Sidney und der Inspektor ließen sich Tee und Schinkenbrote kommen und nahmen sich abwechselnd Josef Madara vor. War er zu Hause gewesen? Wie hatte Dmitri von dem Verhältnis seiner Frau erfahren?

Sidney redete Klartext. »Wir müssen wissen, ob Sie oder Ihre verschwundene Ehefrau Natascha Zhirkow ermordet haben.«

»Wie denn? Ich habe in einer Zelle gesessen.«

»Und Ihre Frau?«

»Sie ist tot. Es muss Dmitri gewesen sein.«

»Ist er Ihrer Meinung nach ein jähzorniger Typ?«

»Nein, aber jeder Mensch kann sündigen. Das ist seine Tragödie.«

»Und Sie sind nicht überrascht?«

»Wer in dem Wissen um menschliches Leid lebt, lernt sein Schicksal anzunehmen.«

Keating war mehr fürs Konkrete. »Wir sind ziemlich sicher, dass Dmitri Zhirkow seine Frau umgebracht hat, wohl weil er herausfand, dass sie ein Verhältnis mit Ihnen hatte. Waren Sie noch mit ihr zusammen?«

»Nein.«

»Der Tod Ihrer Geliebten scheint Sie nicht sehr zu berühren.«

»Ich trauere noch um meine Frau.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, ob sie tot ist.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Zurück zu Natascha Zhirkow«, sagte Sidney. »Warum könnte sie Angst vor Ihrer Frau gehabt haben?«

»Meine Frau war eine sehr starke Persönlichkeit. Und wie Dmitri war sie jähzornig.«

»Natascha Zhirkow ängstigte sich mehr vor Ihrer Frau als vor dem eigenen Mann.«