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James Runcie

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Beschreibung

Auftakt der Krimireihe um Pfarrer Sidney Chambers England, 1953. Als Pfarrer des kleinen Städtchens Grantchester hat Sidney Chambers mit seinen Schäfchen alle Hände voll zu tun. Und als wäre das nicht genug, betätigt er sich noch als Privatdetektiv - widerwillig allerdings. Gemeinsam mit seinem Freund Inspector Keating stößt er auf eine Reihe mysteriöser Kriminalfälle: den vermeintlichen Selbstmord eines Anwalts, einen Juwelenraub und einen Kunstfälscherskandal, der Sidneys beste Freundin in Lebensgefahr bringt … Sidney ermittelt notgedrungen: mit viel Einfühlungsvermögen, Charme und großem Verständnis für das Allzumenschliche. Dies ist Band 1 der Grantchester Mysteries mit Sidney Chambers. Weitere Bände der Reihe sind: Band 2 - Die Schrecken der Nacht Band 3 - Das Problem des Bösen Band 4 - Die Vergebung der Sünden

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James Runcie

Der Schatten des Todes

Sidney Chambers ermittelt

Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann

Atlantik

Für Marilyn

Der Schatten des Todes

Canon Sidney Chambers hatte nie Detektiv werden wollen. Dazu kam er ganz zufällig, nach einer Beerdigung, als eine gut aussehende Frau unbestimmten Alters den Verdacht äußerte, der Tod eines Rechtsanwaltes aus Cambridge sei nicht, wie weithin berichtet, Selbstmord gewesen, sondern Mord.

Es war ein Wochentag im Oktober 1953, und die blassen Strahlen der tiefstehenden Herbstsonne fielen über das Dorf Grantchester. Die Gäste, die an der Trauerfeier für Stephen Staunton teilgenommen hatten, schützten die Augen mit der Hand vor dem Licht, als sie sich schweigsam zum Leichenschmaus in den Red Lion begaben. Es waren Freunde, Kollegen und Verwandte aus seiner Heimat Nordirland. Die ersten Herbstblätter fielen flirrend von den Ulmen. Der Tag war zu schön für eine Beerdigung.

Sidney, im Anzug und mit Priesterkragen, wollte sich gerade den Trauergästen anschließen, als er eine modisch gekleidete Dame bemerkte, die wartend im Schatten des Kirchenportals stand. Sie trug sehr hohe Absätze, ein wadenlanges schwarzes Kleid, eine Fuchsstola und einen Glockenhut mit Pünktchenschleier. Schon während des Gottesdienstes war sie Sidney aufgefallen, weil sie die eleganteste Erscheinung in der Kirche gewesen war.

»Kennen wir uns?«, fragte er.

Die Dame streckte ihm eine behandschuhte Hand hin. »Ich bin Pamela Morton. Stephen Staunton war ein Kollege meines Mannes.«

»Das sind traurige Tage«, meinte Sidney.

Die Dame wollte die Förmlichkeiten offenbar rasch hinter sich bringen. »Können wir irgendwo miteinander reden?«

Sidney, der kürzlich den Film Der Mann ihrer Träume gesehen hatte, fand Mrs. Mortons Stimme mindestens so sinnlich wie die von Lauren Bacall. »Erwartet man Sie nicht beim Empfang?«, fragte er. »Und was ist mit Ihrem Mann?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Zigarette rauchen gehe.«

Sidney zögerte. »Ich muss mich dort natürlich blicken lassen …«

»Es wird nicht lange dauern.«

»Dann gehen wir am besten ins Pfarrhaus, vorerst dürfte man mich nicht vermissen.«

Sidney war ein großer, schlanker Mann Anfang dreißig. Er mochte warmes Bier und Jazz, spielte begeistert Cricket, las leidenschaftlich gern und war bekannt für seine unaufdringliche klerikale Eleganz. Den Ernst des schmalen Gesichts mit der hohen Stirn, der geraden Nase und dem langen Kinn milderten freundliche dunkelbraune Augen und ein sanftes Lächeln, dem man ansah, dass Sidney nur das Beste von den Menschen denken wollte. Er war bald nach dem Krieg ordiniert worden. Nach einer kurzen Tätigkeit als Hilfspfarrer in Coventry und einem Intermezzo als Hauskaplan beim Bischof von Ely war er 1952 als Gemeindepfarrer in der Kirche St. Andrew and St. Mary in Grantchester angestellt worden.

Pamela Morton musterte den ziemlich heruntergekommenen Eingang zum Pfarrhaus. »Wahrscheinlich werden Sie ständig gefragt …«

»Ob ich lieber in der Pfarrei aus Rupert Brookes Gedicht The Old Vicarage leben würde? Ja, das stimmt. Aber ich bin hier recht zufrieden. Obgleich das Haus natürlich zu groß für einen Junggesellen ist.«

»Sie sind nicht verheiratet?«

»Man sagt, ich sei mit meinem Beruf verheiratet.«

»Wofür steht eigentlich dieses ›Canon‹?«

»Es ist ein Ehrentitel, der mir von einer Kathedrale in Afrika verliehen wurde. Aber betrachten Sie mich einfach als ganz gewöhnlichen Feld-Wald-und-Wiesenpfarrer.« Sidney streifte die Schuhe auf dem Vorleger ab und öffnete die unverschlossene Tür. »Bitte treten Sie ein.«

Er führte seinen Gast in ein kleines Wohnzimmer mit einem Chintzsofa und alten Stahlstichen an den Wänden.

Pamela Morton schaute sich aufmerksam um. »Es tut mir leid, wenn ich Sie aufhalte.«

»Macht gar nichts. Nach einer Beerdigung wissen die Leute ohnehin nicht, was sie zum Pfarrer sagen sollen.«

»Sie können erst aufatmen, wenn er weg ist«, bestätigte Pamela Morton.

»Vielleicht erinnere ich sie zu sehr an den Tod?«

»Das glaube ich weniger, Canon Chambers. Vermutlich erinnert Ihr Anblick sie eher an ihre vielen Sünden.«

Pamela Morton lächelte sanft und legte den Kopf schief, sodass ihr eine pechschwarze Haarsträhne übers linke Auge fiel. Sidney stellte fest, dass er eine gefährliche Frau vor sich hatte. Allein diese Geste konnte eine verheerende Wirkung auf einen Mann haben. Dass seine Besucherin sich viele Frauen zu Freundinnen gemacht hatte, hielt er für wenig wahrscheinlich.

Mrs. Morton zog die Handschuhe aus und legte sie zusammen mit Stola und Hut auf die Sofalehne. Als Sidney ihr eine Tasse Tee anbot, schüttelte sie sich leicht. »Es mag dreist klingen – aber haben Sie vielleicht etwas Stärkeres?«

»Ich könnte Ihnen Sherry anbieten, den ich persönlich allerdings nicht sehr schätze.«

»Whisky?«

Das war Sidneys Lieblingsdrink, den er aber, wie er sich einredete, nur zu medizinischen Zwecken im Haus hatte.

»Wie hätten Sie ihn gern?«

»So wie Stephen ihn getrunken hat. Etwas Wasser, kein Eis. Er hat natürlich irischen getrunken, Ihrer ist vermutlich Scotch.«

»Stimmt. Ich habe eine Schwäche für guten Single Malt, kann ihn mir aber leider nicht leisten.«

»Durchaus verständlich bei einem Pfarrer.«

»Sie kannten Mr. Staunton gut?«

»Darf ich mich setzen?« Pamela ging zu dem Sessel am Kamin. »Es handelt sich um eine etwas heikle Angelegenheit.«

Sidney schenkte ihr Johnnie Walker ein und gestattete sich aus Gründen der Geselligkeit auch ein kleines Glas. »Heikel?«

»Ich gehe davon aus, dass auch hier das Beichtgeheimnis gilt?«

»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.«

Pamela Morton zögerte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einem Priester erzählen würde. Und auch jetzt weiß ich nicht, ob ich es tun sollte.«

Sidney setzte sich und merkte, dass ihm die Sonne in die Augen schien. Aber da er nun einmal saß, wäre es unhöflich gewesen, wieder aufzustehen. »Ich bin ein versierter Zuhörer«, sagte er.

»Stephen und ich waren seit jeher gute Freunde«, fing Pamela Morton an. »Ich wusste, dass seine Ehe nicht mehr sehr glücklich war. Seine Frau ist Deutsche, was allerdings nichts besagt …«

»Eben.«

»Trotzdem wurde geredet. Er war ein sehr gut aussehender Mann und hätte jede haben können. Eine Deutsche so bald nach dem Krieg zu heiraten war ziemlich mutig.« Sie stockte. »Es fällt mir schwerer, als ich dachte.«

»Erzählen Sie nur weiter.«

»Vor ein paar Monaten wollte ich meinen Mann in der Kanzlei abholen. Als ich dort ankam, stellte sich heraus, dass er nicht im Haus war, es hatte irgendein Kuddelmuddel um ein Testament gegeben, um das er sich kümmern musste. Stephen war allein. Er habe noch viel zu erledigen, sagte er, lud mich dann aber auf einen Drink ein. Es klang völlig harmlos. Er war der Sozius meines Mannes, ich kannte ihn seit vielen Jahren und mochte ihn. An jenem Tag merkte ich, dass irgendetwas ihn sehr beschäftigte. Vielleicht die Gesundheit, dachte ich, finanzielle Belange, seine Ehe – das sind doch die Dinge, um die Männer sich Sorgen machen …«

»Sehr richtig.«

»Wir fuhren nach Trumpington. Stephen meinte wohl, dass wir dort keine Bekannten treffen würden, denen wir erklären müssten, warum wir bei einem Drink zusammensaßen. Das war, wenn ich’s recht überlege, der Anfang unserer Komplizenschaft.«

Sidney beschlich ein leises Unbehagen. Als Pfarrer war er daran gewöhnt, sich informelle Beichten anzuhören. Manchmal wünschte er allerdings, man würde ihm gewisse Details verschweigen.

»Wir saßen in der hintersten Ecke des Pubs, weit weg von den anderen Gästen. Dass Stephen gern mal ein Glas trank oder auch zwei, hatte ich schon gehört, aber sein Tempo überraschte mich doch. Er war nervös. Zunächst plauderte er unbefangen drauflos, dann schlug seine Stimmung um. Er sagte mir, wie satt er sein Leben habe. Dieser Ausbruch kam völlig unerwartet für mich. Er habe nie das Gefühl gehabt, nach Cambridge zu gehören, erklärte er. Sie seien beide Vertriebene, er und seine Frau. Er hätte gleich nach dem Krieg zurück nach Irland gehen sollen, aber sein Arbeitsplatz sei nun mal hier. Er wolle meinem Mann gegenüber nicht undankbar sein, der ihm diese Chance verschafft hatte – und außerdem hätte er ja sonst mich nicht kennengelernt. Allmählich wurde ich unruhig. Und doch faszinierten mich Stephens Offenbarungen, er sprach so eindringlich und voller Verzweiflung. Er wusste mit Worten umzugehen, das hatte ich schon immer bewundert. Ich habe ein wenig Theater gespielt. Vor meiner Ehe.«

»Verstehe«, sagte Sidney und fragte sich, wohin das Gespräch noch führen würde.

»Aus seinem Redeschwall ging klar hervor, was er mir sagen wollte: Dass sein Leben ein Trümmerhaufen war. Wer ihn so sprechen hörte, hätte meinen können, dass er an Selbstmord dachte, aber das wäre völlig falsch gewesen.«

Pamela Morton hielt kurz inne.

»Sie brauchen mir nicht alles zu erzählen«, sagte Sidney.

»Doch. Es ist wichtig. Er sehne sich danach, alles stehen und liegen zu lassen und an einem anderen Ort neu anzufangen, sagte er. Noch im Pub sah er mir lange in die Augen und dann … Könnte ich wohl noch einen Schluck haben? Ich muss mir Mut antrinken.«

»Natürlich.«

»All das kommt Ihnen vermutlich ziemlich schäbig vor. Sie wissen, was jetzt kommt?«

»Ich glaube nicht«, sagte Sidney ruhig. »Bitte sprechen Sie weiter.«

»Er müsse ständig an mich denken, sagte Stephen, jede Minute ohne mich sei eine Qual, er liebe mich. Unglaublich, nicht? Es sei wunderbar, endlich einmal mit mir allein zu sein, mir all das sagen zu können. Er lebe nur für die kurzen Augenblicke, in denen wir uns sähen. Wären wir zusammen, hätte sein Leben Sinn und Zweck, dann würde er weniger trinken und glücklich sein.«

Pamela Morton sah auf. Sie dachte wohl, Sidney würde jetzt nach ihrer Reaktion fragen. »Fahren Sie fort«, sagte er nur.

»Während er sprach, spürte ich diese seltsame Glut in mir. Mir war, als müsste ich ohnmächtig werden. Ich hatte über all das nie nachgedacht, und doch sprach er aus, was ich fühlte. Ich begriff, dass mein Leben nicht in einer Provinzstadt zu enden brauchte. Ich würde noch einmal von vorn anfangen. Wir konnten unsere Vergangenheit hinter uns lassen, so tun, als hätte es keinen Krieg gegeben, als hätten wir keine Freunde verloren und hätten keine Familie, als wären wir einfach zwei Menschen, die ihre Zukunft noch vor sich hatten. Die Welt, sagte Stephen, steht uns offen. Er habe etwas Geld gespart, ich solle es mir in aller Ruhe überlegen, er wolle nur, dass ich letztlich ja sage …«

»Und?«

»Verrückt, dachte ich. Verrückt und unmöglich. Ich war gleichzeitig verstört und hingerissen. Lass uns auf der Stelle ins Auto steigen, drängte er, hinunter zur Küste fahren und die nächste Fähre über den Kanal nehmen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Stell dir vor, wie wir über das Durcheinander lachen werden, das zu Hause entstehen wird, sagte er. Wir werden quer durch Frankreich fahren, schwärmte er, und in heillos romantischen Hotels übernachten, während alle anderen ihr stumpfsinniges Leben in Cambridge fortsetzen. Wir werden an die französische Riviera fahren und in lauen Sommernächten unter den Sternen tanzen. Es war verrückt und wunderbar. Natürlich wussten wir, dass wir nicht sofort aufbrechen konnten, aber es war nur eine Frage der Zeit. Alles war möglich. Alles konnte sich ändern.«

»Wann war das?«, fragte Sidney.

»Kurz nach der Krönung. Der Pub hatte noch geflaggt. Vor vier Monaten.«

»Verstehe.«

»Ich kann mir vorstellen, was Sie denken.«

»Ich verurteile Sie in keiner Weise«, erwiderte Sidney, der noch immer nicht wusste, was er von der ganzen Sache halten sollte. »Ich höre zu.«

»Aber Sie werden sich fragen, warum wir nach dieser ersten spontanen Gefühlsaufwallung so lange gebraucht haben. Meine Kinder waren schon aus dem Haus, aber natürlich habe ich an sie gedacht. Sobald wir auseinandergegangen waren, kam die Angst. Ich konnte kaum glauben, was geschehen war. Vielleicht hatte ich geträumt, und Stephen hatte all diese Dinge nie gesagt, aber dann fingen wir an, uns heimlich zu treffen, und ich wusste, dass ich nur noch dieses eine wollte. Ich war wie besessen. Kaum zu glauben, dass niemand merkte, wie sehr ich mich verändert hatte. ›Bestimmt sieht man es mir an‹, dachte ich und wagte kaum zu hoffen, dass ich ungestraft davonkommen würde. Je länger es ging, desto eiliger hatte ich es wegzukommen. Ich war wie ausgewechselt, kannte mich selbst nicht mehr, trotzdem sagte ich zu Stephen, dass wir uns vor übereilten Schritten hüten müssten, und schlug ihm vor, bis Neujahr zu warten.«

»Und damit war er einverstanden?«

»Wenn er mich nur sehen könne, sagte er, würde er glauben, dass alles möglich sei. Wir waren glücklich.«

»Und niemand wusste von Ihren Plänen?«

»Ich habe eine Freundin in London. Sie … – ja, wie soll ich es Ihnen erklären, Canon Chambers – sie war einverstanden, dass ich vorgab, bei ihr zu sein …

»Während Sie in Wirklichkeit …«

»Während ich in Wirklichkeit mit Stephen in einem Hotel war. Sie müssen mich für sehr unmoralisch halten.«

Ihre Offenheit verblüffte Sidney. »Ein Urteil darüber steht mir nicht zu, Mrs. Morton.«

»Pamela. Bitte sagen Sie Pamela zu mir …«

Es war zu früh für derlei Vertraulichkeiten. Sidney beschloss, ihr keinen weiteren Drink anzubieten.

»Sie begreifen also, warum ich gekommen bin, Canon Chambers?«

Sidney begriff überhaupt nichts. Warum erzählte diese Frau ihm all das? Er überlegte, ob sie kirchlich getraut war, ob sie jemals an ihr Ehegelöbnis gedacht hatte, welcherart die Beziehung zu ihren Kindern war. »Was erwarten Sie von mir?«, fragte er.

»Ich kann nicht zur Polizei gehen und diese Geschichte erzählen.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass die Polizei vertraulich damit umgeht. Mein Mann würde alles erfahren, und ich will keinen Staub aufwirbeln.«

»Aber das ist doch eine private Angelegenheit, mit der die Polizei nichts zu tun hat?«

»Leider nein, Canon Chambers.«

»Aber warum?«

»Liegt das nicht auf der Hand? Ich glaube nicht, dass Stephen sich umgebracht hat. Es passt einfach nicht zu ihm. Wir wollten zusammen fortgehen.«

»Woran denken Sie?«

Pamela Morton richtete sich kerzengerade auf. »An Mord, Canon Chambers.« Sie kramte nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche.

»Aber wer würde so etwas tun?«

»Das weiß ich nicht.«

Sidney war überfordert. Wenn jemand ihn aufsuchte, um sein Gewissen zu erleichtern – gut und schön. Aber ein Mordvorwurf war eine andere Sache. »Das ist eine sehr gefährliche Unterstellung, Mrs. Morton. Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

»Und Sie haben es sonst niemandem erzählt?«

»Sie sind der Erste. Als ich Sie beim Gottesdienst über Tod und Verlust predigen hörte, wusste ich, dass ich Ihnen trauen kann. Sie haben eine beruhigende Stimme. Tut mir leid, dass ich nicht öfter in die Kirche komme. Nachdem mein Bruder im Krieg gefallen ist, tue ich mich in Glaubensdingen etwas schwer.«

»Es ist schwierig, ich weiß.«

»Was ich gesagt habe, ist die Wahrheit, Canon Chambers.«

Sidney stellte sich vor, wie sie den Gottesdienst durchgestanden und dabei ihren Kummer zurückgedrängt hatte. Ob sie sich unter den Trauergästen nach Verdächtigen umgesehen hatte? Aber warum hätte jemand Stephen Staunton umbringen sollen?

Pamela Morton begriff, dass sie noch Überzeugungsarbeit leisten musste. »Dass er sich das Leben genommen hat, ist eine absurde Vorstellung. Wir hatten so viel, worauf wir uns freuen konnten. Es war, als wären wir noch einmal jung – mit allen Chancen, die dazugehören. Wir wollten noch einmal von vorne beginnen. Wir wollten so leben, wie wir nie gelebt hatten. Das waren die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe. ›Wir werden leben, wie wir nie gelebt haben.‹ Spricht so ein Mann, der drauf und dran ist, sich umzubringen?«

»Nein, da haben Sie recht.«

»Und jetzt ist alles dahin. Die Hoffnung. Die Liebe, nach der wir uns so gesehnt haben.« Pamela Morton griff nach dem Taschentuch. »Ich ertrage es kaum. Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht weinen.«

Sidney trat ans Fenster. Was um Himmels willen sollte er jetzt machen? Die Sache ging ihn nichts an – aber dann wurde ihm klar, dass ihn als Pfarrer alles etwas anging. Es gab keine Abteilung des menschlichen Herzens, für die er nicht zuständig war. Außerdem war, wenn Pamela Morton recht hatte und Stephen Staunton nicht Selbstmord begangen hatte – der vielerorts noch als Sünde betrachtet wurde –, ein Unschuldiger getötet worden und sein Mörder noch auf freiem Fuß.

»Was kann ich tun?«, fragte er.

»Sie könnten sich umhören – möglichst unauffällig. Ich möchte nicht, dass jemand von meiner Rolle in dieser Geschichte erfährt.«

»Und bei wem soll ich mich umhören, wie Sie sich ausdrücken?«

»Bei den Menschen, die ihn kannten.«

»Aber was sollte ich sie fragen?«

»Sie sind Pfarrer, bei Ihnen sprechen die Leute sich aus, nicht?«

»Ja, schon, aber …«

»Und Sie können fast jede beliebige Frage stellen, auch die persönlichste?«

»Man muss natürlich vorsichtig sein.«

»Aber Sie wissen, was ich meine …«

»Versprechen kann ich nichts. Ich bin kein Detektiv.«

»Aber ein Menschenkenner. Und ein Menschenversteher.«

»Nicht immer.«

»Zumindest verstehen Sie hoffentlich mich.«

»Ja. Sie haben sich sehr klar ausgedrückt. Es muss schlimm für Sie gewesen sein, das alles allein zu tragen …«

Pamela Morton steckte das Taschentuch weg. »Allerdings. Aber mein Besuch hat offenbar seinen Zweck erfüllt. Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen? Sie werden meinen Namen nicht nennen?«

»Natürlich nicht.« Dabei fragte sich Sidney schon jetzt, wie lange er dieses Geheimnis würde für sich behalten können.

»Das alles tut mir schrecklich leid«, fuhr Mrs. Morton fort. »Und ich schäme mich. Ich wusste nicht, wie ich es Ihnen sagen, welche Worte ich wählen sollte. Danke, dass Sie mich angehört haben.«

»Dazu bin ich da«, gab Sidney zurück und überlegte zugleich, ob das so stimmte. Mit Ehebruch – geschweige denn mit Mord – hatte er noch nie zu tun gehabt.

Pamela Morton stand auf. Trotz der Tränen war ihre Wimperntusche nicht verlaufen. Wieder strich sie die Haarsträhne zurück, dann streckte sie ihm die Hand hin.

»Auf Wiedersehen, Canon Chambers. Sie glauben mir, nicht wahr?«

»Es war mutig von Ihnen, mir all das zu erzählen.«

»Mut sei eine Eigenschaft, die mir fehlt, hat Stephen immer gesagt. Ich hoffe, dass Sie mich als Erste informieren, wenn Sie erfahren, was ihm zugestoßen ist.« Sie lächelte traurig. »Ich weiß ja, wo Sie sind.«

»Ich bin immer hier. Auf Wiedersehen, Mrs. Morton.«

»Pamela.«

»Auf Wiedersehen, Pamela.«

Sidney schloss die Haustür und sah auf die Uhr, die sein Vater ihm zur Priesterweihe geschenkt hatte. Vielleicht konnte er doch noch kurz beim Traueressen vorbeischauen. Er ging in das kleine Wohnzimmer mit den abgewohnten Möbeln, die seine Eltern auf einer örtlichen Auktion für ihn erstanden hatten. Dem Zimmer fehlt entschieden eine heitere Note, dachte er. Dann ging er mit den Gläsern in die Küche zur Spüle und drehte den Warmwasserhahn auf. Er wusch gern ab; das Bemühen, einen Gegenstand zu säubern, zeitigte sofort sichtbare Ergebnisse. Einen Augenblick blieb er am Fenster stehen und sah einem Rotkehlchen zu, das auf der Wäscheleine herumhüpfte. Bald würde er sich ans Schreiben seiner Weihnachtskarten machen müssen.

An Pamela Mortons Glas waren Lippenstiftspuren. Ein Gedicht von Edna St. Vincent Millay fiel ihm ein, das er in der Sunday Times gelesen hatte:

What lips my lips have kissed, and where, and why,

I have forgotten, and what arms have lain

Under my head till morning; but the rain

Is full of ghosts tonight.

Welch Durcheinander die Menschen doch in ihrem Leben anrichten, dachte er.

Sidneys Freund Inspector Keating war nicht erfreut. »Der Fall könnte kaum klarer liegen«, seufzte er. »Da wartet einer im Büro, bis alle anderen gegangen sind, leert eine Karaffe Whisky und schießt sich dann eine Kugel in den Kopf. Am nächsten Morgen findet ihn die Putzfrau, ruft die Polizei, wir gehen hin, und das war’s: Klar wie die Kristallgläser meiner Frau.«

Die beiden Männer saßen an ihrem Stammtisch im Eagle, einem Pub in Cambridge, der bequemerweise nicht weit von der Polizeistation in der St. Andrew’s Street entfernt war. Sie hatten sich angefreundet, nachdem Sidney bei der Beerdigung von Keatings Vorgänger amtiert hatte, und jetzt trafen sie sich jeden Donnerstagabend, um ein, zwei Pint Bitter zu trinken, eine Runde Backgammon zu spielen und vertrauliche Mitteilungen auszutauschen. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen Sidney seinen Priesterkragen ablegen, einen Pullover anziehen und so tun konnte, als wäre er kein Pfarrer.

»Manchmal«, bemerkte er, »liegt ein Fall eher zu klar.«

Keating würfelte eine Fünf und eine Drei. »Stimmt. Aber die Fakten sind hier völlig eindeutig.« Er hatte einen leichten Northumberland-Akzent, der einzig verbliebene Hinweis auf jene Grafschaft, die er als Sechsjähriger verlassen hatte. »Deshalb wirst du wohl nicht von uns verlangen, dass wir aufs Geratewohl losrennen.«

»Davon kann keine Rede sein.« Er wird doch nicht glauben, dass es sich um ein dienstliches Ersuchen handelt, dachte Sidney erschrocken. »Ich melde nur leise Bedenken an.«

Inspector Keating legte nach. »Stephen Stauntons Frau hat ausgesagt, dass ihr Mann Depressionen hatte. Außerdem trank er zu viel. Ein echter Ire eben. Von seiner Sekretärin wissen wir, dass er neuerdings jede Woche nach London fuhr und seine Pflichten in der Kanzlei vernachlässigte. Sie musste ihn decken und ihm Routinearbeiten abnehmen, Eigentumsübertragungen und dergleichen. Dann ist da noch die Sache mit den Bankabhebungen der letzten Zeit, hohe Summen in bar. Geld, das seine Frau nie zu Gesicht bekommen hat und von dem niemand weiß, wohin es geflossen ist. Das lässt darauf schließen …«

Sidney würfelte zweimal eine Fünf und rückte mit vier Steinen weiter. »Du gehst davon aus, dass er gespielt hat.«

»Allerdings. Und ich gehe ebenfalls davon aus, dass er Firmengelder dafür abgezweigt hat. Wäre er nicht tot, müsste ich wahrscheinlich wegen Betrugs gegen ihn ermitteln.« Keating warf eine Vier und eine Zwei und schlug einen von Sidneys Steinen. »Und deshalb gehe ich außerdem davon aus, dass er, als die Schulden überhandnahmen und die Entdeckung drohte, zum Revolver gegriffen hat. Kommt schließlich immer wieder vor. Verdoppeln?«

»Natürlich.« Sidney würfelte. »Sehr schön, jetzt komme ich zurück ins Spiel. Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

Die Frage brachte Inspector Keating in Rage. »Nein, Sidney, er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.«

»Zweifel sind also erlaubt?«

Keating beugte sich vor und würfelte. Er hatte geglaubt, das Spiel schon in der Tasche zu haben, aber jetzt zog Sidney langsam, aber sicher davon. »Nicht in diesem Fall. Nicht jeder Selbstmörder hinterlässt einen Brief.«

»Die meisten schon.«

»Mein Schwager arbeitet bei der Polizei in Beachy Head. Abschiedsbriefe gibt’s da nicht. Die gehen zu den berühmten Kreidefelsen, nehmen Anlauf und springen.«

»Mag sein …«

»Unser Mann hat sich umgebracht, Sidney. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja der Witwe einen seelsorgerlichen Besuch abstatten, sie freut sich bestimmt. Aber bilde dir bloß keine Schwachheiten ein.«

»Nein, natürlich nicht«, beteuerte sein Freund, den unerwarteten Spielsieg schon in Sichtweite.

Die Pfarrstelle in Grantchester war mit dem Corpus Christi College in Cambridge verbunden, wo Sidney Theologie studiert hatte, jetzt als Tutor tätig war und das Privileg genoss, an der High Table zu speisen. Dass seine Arbeit akademische und kirchliche Aktivitäten umfasste, freute ihn, aber hin und wieder fürchtete er, seine Lehrtätigkeit ließe ihm nicht genug Zeit für die Seelsorge. Manchmal wünschte sich Sidney, ein besserer Pfarrer zu sein.

Er wusste, dass seine Verantwortung für die Trauernden weit über die Ausrichtung der Trauerfeier hinausging. Wer einen geliebten Menschen verloren hatte, brauchte Beistand, wenn der erste Schock abgeklungen war und die Freunde wieder in ihren Alltag zurückgekehrt waren. Aufgabe des Pfarrers war es, unermüdlich Trost zu spenden, seine Gemeindemitglieder zu lieben und ihnen zu dienen – ohne Rücksicht auf die eigene Person. Deshalb hatte Sidney auch keine Bedenken, Stephen Stauntons Witwe am nächsten Morgen einen Besuch abzustatten.

Das Haus war ein viktorianisches Reihenmittelhaus in der Eltisley Avenue, am Rande der Grantchester Meadows gelegen, ein Heim, wie junge Familien es bezogen, wenn sie ihr zweites Kind erwarteten. Eine solide, aber reizlose Gegend mit Zweckbauten, die von den Bomben verschont geblieben waren, aber keinerlei lokale Besonderheiten aufwiesen, sodass Sidney das Gefühl hatte, durch irgendeine beliebige englische Straße zu gehen.

Hildegard Staunton war blasser, als er sie von der Beerdigung ihres Mannes her in Erinnerung hatte. Das kurze Haar war blond und lockig, die Augen groß und grün, die Augenbrauen schmal gestrichelt, die Lippen ungeschminkt. Alles Gefühl schien aus ihrem Gesicht gewichen. Sie trug einen olivgrünen Hausmantel mit Schalkragen und Manschetten an den Ärmeln, die Sidney bemerkte, als sie sich übers Haar strich. Vielleicht glaubte sie, dass sie einen Friseurbesuch brauchte, zu dem sie sich aber nicht aufraffen konnte.

Bei der Trauerfeier hatte Hildegard Haltung bewahrt, jetzt aber konnte sie nicht still sitzen. Kaum hatte sie sich gesetzt, sprang sie wieder auf. Hätte jemand sie durchs Fenster beobachtet, hätte er denken können, dass sie etwas verloren hatte – was ja gewissermaßen auch stimmte.

»Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht«, fing er an.

»Ich tue so, als wäre er noch hier«, gab Hildegard zurück. »Nur so kann ich weiterleben.«

»Es muss ein befremdliches Gefühl sein.« Sidney dachte voller Unbehagen an den Ehebruch ihres Mannes und den möglichen Mord.

»In England zu sein fühlt sich seit jeher befremdlich an. Manchmal meine ich, das Leben eines anderen Menschen zu führen.«

»Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?«

»In Berlin, nach dem Krieg.«

»Er war Soldat?«

»Bei den Ulster Rifles. Das britische Außenministerium hatte Leute nach Deutschland geschickt, die uns umerziehen sollten, wie es so schön hieß, und wir gingen brav zu den Vorträgen über abendländische Kultur. Allerdings hörten wir nicht recht zu. Wir wollten lieber tanzen.«

Sidney versuchte, sich Hildegard Staunton in einem deutschen Tanzsaal vorzustellen, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Beim Tanzen auf Ruinen … Sie wechselte die Stellung auf dem Sofa und rückte den Hausmantel zurecht. Vielleicht mag sie ihre Geschichte gar nicht erzählen, überlegte Sidney, aber daran, dass sie seinem Blick auswich, erkannte er, dass sie weitersprechen wollte. Ihre Stimme war sanft, verlangte aber Aufmerksamkeit.

»Manchmal fuhren wir abends aufs Land und tranken Weißwein unter den Apfelbäumen. Wir brachten den Ulstermen Einmal am Rhein bei, und sie uns The Star of the County Down. Ich hörte Stephen gern zu, wenn er dieses Lied sang. Und wenn er über sein Zuhause in Nordirland sprach, schilderte er es so anschaulich, dass ich dachte, es könnte meine Zuflucht vor all dem werden, was im Krieg passiert war. Wir würden am Meer leben, sagte er, in Carrickfergus vielleicht. Wir würden am Ufer von Lough Neagh spazieren gehen und dem Ruf des Brachvogels lauschen. In seiner Stimme lag so viel Zauber. Ich glaubte ihm alles, was er erzählte. Und dann sind wir doch nicht nach Irland gezogen, seine berufliche Zukunft war hier. Und so begann unsere Ehe mit etwas Unerwartetem. Dass wir in einem englischen Dorf leben würden, hätte ich mir nie vorstellen können. Als Deutsche hat man es hier natürlich nicht leicht.«

»Ihr Englisch ist sehr gut.«

»Ich gebe mir die größte Mühe. Aber uns Deutschen begegnet man bekanntlich mit Misstrauen. Ich sehe den Leuten an, was sie denken. Der Krieg ist ja noch nicht lange vorbei. Und ich nehme es ihnen nicht übel. Schließlich kann ich nicht überall herumerzählen, dass mein Vater kein Nazi war, dass er bei einer kommunistischen Protestversammlung erschossen wurde, als ich sechs war. Ich denke nicht, dass ich irgendetwas Unrechtes getan habe. Aber das Leben ist schwer für uns nach diesem Krieg.«

»Es ist für alle schwer.«

Hildegard hielt inne, ihr war etwas eingefallen.

»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, Canon Chambers?«

»Das wäre nett.«

»Ich verstehe mich nicht besonders gut darauf. Stephen hat sich immer darüber amüsiert. Meist trank er Whiskey.«

»Ich selbst habe viel für Scotch übrig.«

»Bei ihm war es natürlich irischer Whiskey, also Whiskey mit ›e‹.«

»Anderer Geschmack, andere Schreibweise.«

»Bushmills«, fuhr Hildegard fort. »Der älteste Whiskey der Welt, hat Stephen immer gesagt, und dass er ihn an seine Heimat erinnerte. Ein protestantischer Whiskey. Aus dem County Antrim. Sein Bruder schickte zwei Kisten im Jahr, eine zu Stephens Geburtstag und eine zu Weihnachten. Also zwei Flaschen pro Monat, aber es reichte nicht. Vielleicht ist er deshalb vor seinem Tod nach London gefahren. Weil er Nachschub brauchte. In Cambridge konnten wir keinen Bushmills auftreiben, und anderen Whiskey trank er nicht.«

»Nie?«

»Dann schon lieber Wasser, sagte er immer. Oder Gin. Und den hat er wie Wasser getrunken.« Hildegard lächelte traurig. »Hätten Sie lieber einen Sherry? Pfarrer mögen Sherry, glaube ich.«

Dass Sidney da eine Ausnahme war, verschwieg er lieber. »Ja, das wäre nett …«

Mrs. Staunton ging zu der Glasvitrine auf dem Sideboard. Viele Bücher gab es nicht im Zimmer, dafür aber ein Bechstein-Klavier und geschmackvolle Reproduktionen von Landschaftsbildern sowie eine Sammlung von Porzellanfiguren, unter anderem einen Fiedler, der eine Tänzerin umwarb, und einen Harlekin, der einen Mops am Schwanz zog. Die meisten aber stellten Kinder dar – einen flötespielenden Jungen in rosa Jacke, ein Mädchen in einer gleichfarbigen Bluse mit Blumenkorb, eine kleine Ballerina, ein Geschwisterpaar an einem Picknicktisch.

Sidney fiel wieder ein, warum er eigentlich gekommen war. »Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich betrachte Sie als Mitglied meiner Gemeinde, und deshalb …«

»Ich bin Lutheranerin.«

»Sie sind jederzeit willkommen.«

»Kinder, Küche, Kirche – die typisch deutschen drei K.« Hildegard lächelte. »Auf allen drei Gebieten leiste ich nichts Großartiges.«

»Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …«

»Sie haben den Gottesdienst für meinen Mann gehalten, das war schon sehr viel. Sich bewusst für den Tod zu entscheiden, nachdem man den Krieg überlebt hat – das ist schwer zu verstehen. Vermutlich missbilligen Sie seinen Schritt.«

»In der Tat glaube ich, dass das Leben heilig und uns von Gott geschenkt ist.«

»Und dass es deshalb nur Gott nehmen kann.«

»Allerdings.«

»Und wenn es keinen Gott gibt?«

»Ein Gedanke, der mir fremd ist.«

»Ja, als Pfarrer müssen Sie das wohl sagen.«

Hildegard Staunton reichte Sidney seinen Sherry. Warum habe ich mich nur auf diese Geschichte eingelassen, dachte er, fragte aber nur: »Werden Sie nach Deutschland zurückgehen?«

»Manche Leute sagen, dass es kein Deutschland mehr gibt. Aber meine Mutter ist in Leipzig, und ich habe eine Schwester in Berlin. Hier könnte ich nicht bleiben, glaube ich.«

»Sie fühlen sich nicht wohl in Cambridge?«

»Es kann entmutigend sein – sagt man so? Das Wetter. Und der Wind.«

Ob die Ehe der Stauntons wohl jemals glücklich gewesen war?

»Hat Ihr Mann ebenso empfunden?«, fragte er vorsichtig.

»Wir haben uns hier beide als Fremde gefühlt.«

»Er war deprimiert?«

»Er war aus Ulster – sagt das nicht alles?«

»Ich glaube nicht, dass alle Männer aus Ulster deprimiert sind.«

»Natürlich nicht. Aber manchmal … wenn dazu noch der Alkohol kommt …«

»Ich weiß. Er ist keine Hilfe.«

»Warum fragen Sie?«

»Das war indiskret, ich muss mich entschuldigen. Ich überlegte nur, ob Sie einen solchen Schritt befürchtet hatten.«

»Nein.«

»Also war es ein Schock für Sie?«

»Ja, aber eigentlich kann mich nichts mehr schockieren, Canon Chambers. Wenn man fast die ganze Familie im Krieg verloren hat, wenn vom eigenen Leben nichts mehr geblieben ist, und wenn die einzige Hoffnung zu Staub zerfällt – was sollte einen da noch aus der Fassung bringen? Sie haben im Krieg gekämpft?«

»Ja.«

»Dann verstehen Sie mich vielleicht.«

Wäre ich ein besserer Christ, dachte Sidney, würde ich versuchen, mit Hildegard über den Trost des Glaubens zu sprechen.

Es war ein verstörendes Gespräch, weil ihm so viele Probleme durch den Kopf gingen – das Wesen des Todes, das Konzept der Ehe, die Frage des Verrats. Jedes dieser Themen würde Hildegard vermutlich schmerzlich berühren, er versuchte deshalb, das Gespräch so neutral wie möglich zu halten.

»Sie sind also aus Leipzig, der Heimat Bachs?«, fragte er.

»Ich spiele seine Musik jeden Tag. Ich habe an der Hochschule bei Edwin Fischer studiert. Er war mir wie ein Vater. Vielleicht haben Sie von ihm gehört.«

»Möglich, dass meine Mutter Schallplatten mit ihm hat.«

»Wahrscheinlich Das wohltemperierte Klavier. Sein Spiel war so luftig, so freudig, er war ein wunderbarer Mensch. 1942 ging er nach Luzern, und ich verlor mein Selbstvertrauen.«

»Geben Sie Klavierstunden?«

»In Deutschland hatte ich viele Schüler. Bekanntlich ist Arbeit die beste Waffe gegen Lebensüberdruss.«

»Weltschmerz.«

»Sie kennen das Wort?« Hildegard lächelte. »Respekt, Canon Chambers. Hier zu arbeiten ist nicht einfach. Wenn ich nach Deutschland zurückgehe, werde ich wohl täglich unterrichten. Arbeiten muss ich ohnehin – denn was mein Mann mit seinem Geld gemacht hat, weiß ich nicht.«

»Es gibt kein Testament?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Vielleicht wollte der Sozius Ihres Mannes bis nach der Beerdigung warten, um mit Ihnen darüber zu sprechen.«

»Ich kenne ihn nur flüchtig. Mein Mann war sehr verschwiegen, was seine Arbeit anging. Sie befriedigte ihn nicht. Ich weiß nur, dass es Clive Morton genauso ging. Ich glaube, Golf interessiert ihn mehr als die Juristerei.«

»Wenn es Ihnen recht ist, erkundige ich mich in Ihrem Namen.«

»Ich möchte Ihnen keine Mühe machen.«

»Es ist keine Mühe.«

»Dringend ist es nicht«, fuhr Hildegard Staunton fort. »Ich habe mein eigenes Bankkonto und fürs Erste genug Geld.« Sie seufzte. »Wenn ich nur nicht immer so müde wäre. Das muss der Kummer sein. Es ist, als ob man in einen Aufzugschacht schaut. Alles ist dunkel, und man sieht kein Ende.«

Sidney setzte sich neben sie. »Ich fühle mit Ihnen, Mrs. Staunton. Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen.«

Hildegard sah ihn offen an. »Doch, ich freue mich, auch wenn Sie denken müssen, dass ich heute nicht ganz bei mir bin. Bitte sehen Sie es mir nach.«

»Sie haben einen großen Verlust erlitten.«

»Ich habe nicht an etwas so Gewalttätiges gedacht. Dass Stephen seinen Revolver vom Krieg her behalten hat, wusste ich. Manchmal, hat er mir erzählt, dachte er darüber nach, was er mit dem Revolver gemacht hat. Über die Menschen, die er getötet hat. Er war sehr empfindsam. Ich denke, dass die Erinnerung zu viel für ihn war. Vielleicht empfand er die Ehe mit mir als eine Art Wiedergutmachung. Ich glaube, es machte alles nur noch schlimmer. Ständig überlegte er, ob er vielleicht Menschen aus meinem Bekanntenkreis umgebracht hatte, Lehrer, Freunde, Angehörige. Es war schwer, in solchen Augenblicken die richtigen Worte zu finden, es war nicht schön.«

Sidney erinnerte sich an seinen eigenen Krieg, an das letzte Jahr, als er bei den Scots Guards gekämpft hatte, die langen Zeiten des Wartens, die schlaflosen Nächte vor dem Einsatz, Gefahr und Tod. Das Töten war ihm nicht so deutlich in Erinnerung geblieben wie sein schlechtes Gewissen und die Verluste: Männer wie Jamie Wilkinson, »Wilko«, den er zur Erkundung hinter die feindlichen Linien geschickt hatte und der nie zurückgekommen war. Er sah die Angst in den Gesichtern der Männer vor sich, das schnelle Zuschlagen und danach die schmerzlich rasche Bestattung von Freunden. Niemand sprach darüber, aber Sidney wusste, dass sie alle an das Erlebte dachten und hofften, dass sich diese Gedanken und ihre Ängste legen würden. Den ganzen Rest ihres Lebens würden sie nun im Schatten des Todes zubringen.

»Hören Sie mir zu?«

Sidney kam mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

Hildegard schien seine Unaufmerksamkeit zu amüsieren. Wieder zeigte sich der Ansatz eines Lächelns. Ihr Mund gefiel ihm.

»Sie haben wohl ein bisschen geträumt, Canon Chambers? Für mich ist das normal, normaler als die Wirklichkeit.«

Es würde nicht einfach sein fortzufahren, dachte Sidney, aber er musste es versuchen: »Ich wollte Sie etwas fragen und hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«

»Wenn ich Ihre Frage beantworten kann …«

»Es mag seltsam klingen«, begann Sidney vorsichtig, »aber können Sie sich vorstellen, dass jemand Ihrem Mann schaden wollte?«

»Was für eine Vorstellung!«

»Ich muss es leider so formulieren.«

»Warum hätte jemand ihm schaden wollen? Das hat er ja selbst erfolgreich besorgt.«

»Gewiss …«

»Mein Mann war überall beliebt, Canon Chambers, er hatte sehr viel Charme.«

Sidney trank seinen Sherry aus. »Ich bedaure sehr, dass ich ihn nicht kennengelernt habe.«

Er wandte sich zum Gehen, als Hildegard Staunton sagte: »Sie sollten natürlich auch mit seiner Sekretärin sprechen.«

»Warum ›natürlich‹?«

»Kennen Sie Miss Morrison?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Sie war auf der Trauerfeier. Sie hat sein Leben organisiert und kannte alle seine Mandanten. Sie könnte die Frage beantworten, wenn Sie ohnehin wegen des Testaments hingehen. Während der Arbeit waren die beiden ständig zusammen. Und ich saß hier in diesem Haus.« Hildegard wandte den Blick ab.

Auf dem Kaminsims stand die Porzellanfigur eines kleinen Mädchens. Mädchen füttert Hühner stand in altdeutscher Schrift auf dem Sockel. Wer mochte sie ihnen geschenkt haben? Oder war das Figürchen vielleicht seit Hildegards Kindheit in der Familie gewesen? Es gab noch so viele Fragen, die er gern gestellt hätte.

»Wir konnten keine Kinder bekommen«, sagte sie, wie als Antwort auf seine unausgesprochene Frage.

»Ich wollte Ihnen nicht wehtun.«

»Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Engländer ihre Haustiere mehr lieben als ihre Kinder. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken mehr. Es war mir lieb, dass Sie den Trauergottesdienst gehalten haben, Sie haben ein so gütiges Gesicht.«

»Das kann ich zwar nicht beurteilen – aber trotzdem vielen Dank.«

»Kommen Sie doch noch einmal vorbei, nachdem Sie bei Miss Morrison waren«, schlug Hildegard vor. »Kann sein, dass Sie von ihr noch mehr erfahren.«

Hildegard Staunton streckte die Hand aus, und Sidney schlug ein. Ihr Händedruck war fest, und sie sah ihrem Gast offen ins Gesicht. »Vielen Dank für Ihren Besuch. Und kommen Sie wieder.«

»Es wäre mir eine große Freude.«

Als Sidney zurück zur Kirche ging, war er tieftraurig. Er dachte an eine Wiese in einem fremden Land, einen Sommerabend, Weißwein und Apfelbäume, einen jungen Iren und seinen deutschen Schatz zu Beginn ihres gemeinsamen Abenteuers und einen Mann, der sang:

From Bantry Bay up to Derry Quay

And from Galway to Dublin town

No maid I’ve seen like the sweet colleen

That I met in the County Down.

Damals hatten sie ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt.

Die Anwaltskanzlei Morton Staunton war im Erdgeschoss eines Flachbaus untergebracht, der an den gelben Backsteinvorbau des Bahnhofs von Cambridge angrenzte. Links befanden sich ein Wartezimmer und Miss Morrisons Büro, rechts die Zimmer der beiden Teilhaber Clive Morton und Stephen Staunton.

Die Sekretärin war eine Überraschung für Sidney. Er konnte sich nicht erinnern, sie bei der Trauerfeier gesehen zu haben und hatte sich eine Klischeevorstellung gemacht – grüner Tweedrock und braver Haarknoten, eine typische Girton-College-Absolventin, die mit ihrer Mutter und mehreren Katzen zusammenlebte. Stattdessen stand nun eine zierliche, elegante Frau Ende dreißig mit flinken Augen und feingeschnittenen Zügen vor ihm. Sie war ganz in Schwarzweiß gekleidet und trug Silberschmuck, der gut mit ihrem modisch frisierten grauen Haar harmonierte.

»Miss Morrison? Ich glaube, wir sind uns bislang nicht begegnet …«

»Ich habe mich gleich nach dem Gottesdienst davongemacht – all das ging mir sehr nah, das werden Sie verstehen.«

»Ja, natürlich.« Schon bedauerte Sidney, dass er hergekommen war. Was fiel ihm ein, sich hier einzumischen? Während seiner Vorbereitung auf das Priesteramt hatte er sich auf das ruhige Leben eines braven Landpfarrers gefreut, und jetzt steckte er die Nase in anderer Leute Angelegenheiten und wurde in Probleme verwickelt, die ihn überforderten. Es galt, sich auf den offiziellen Grund für seinen Besuch zu konzentrieren: die Beschaffung von Stephen Stauntons Letztem Willen.

»Ich komme hoffentlich nicht ungelegen?«, fragte er.

»Es gibt noch viel zu ordnen, aber mein Job hat sich halbiert, und ob wir einen neuen Partner bekommen, weiß ich nicht.«

Sidney warf einen Blick auf Miss Morrisons Schreibtisch mit den um eine offensichtlich viel genutzte Schreibmaschine herum verstreuten Schriftstücken. Auf einem dicken Buch – anscheinend einem russischen Roman – lag eine Tüte Zitronenbonbons.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.

»Ich komme im Namen von Mrs. Staunton«, begann Sidney. So weit stimmte das sogar. »Sie können sich vorstellen, dass sie zurzeit ziemlich angegriffen ist. Ich habe ihr angeboten, mich zu erkundigen, ob ihr Mann ein Testament hinterlassen hat.«

»Das habe ich mir auch schon überlegt, Canon Chambers. Erstaunlicherweise ist das nicht der Fall. Da war er wohl wie viele andere Anwälte auch, die sich gut darauf verstehen, Anweisungen für andere Leute zu formulieren, und darüber ihre eigenen Angelegenheiten vergessen.«

»Und Mr. Staunton brauchte so etwas wie einen weiblichen Kümmerer?«

»Mein Chef war kein Ausbund an Ordnungsliebe.«

»Sie haben seinen Bürokalender geführt, seine Termine organisiert und dergleichen?«

»Ja, natürlich.«

»Sie hatten sozusagen sein Leben fest in der Hand.«

»Nicht ganz.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Er hatte seine Geheimnisse.«

»Die meisten Menschen legen wohl Wert auf eine gewisse Privatsphäre. Das geht mir nicht anders.«

»Mr. Staunton hatte einen privaten Taschenkalender, und wenn jemand direkt mit ihm verhandelte, notierte er das dort. Da gab es manchmal ein ziemliches Durcheinander. Wenn er zum Beispiel abends noch Termine ausmachte und mir am nächsten Morgen nichts davon sagte, kam es gelegentlich zu Überschneidungen. Im Großen und Ganzen kamen wir aber recht gut miteinander aus.«

»Er hat Ihnen also nicht alles erzählt?«

»Er schützte sein Privatleben. Und er wollte sich nicht durch zu viele Termine einengen lassen.«

Ihr beiläufiger Ton überzeugte Sidney nicht. »Ich frage das nicht gern, Miss Morrison – aber war Ihr Chef ein schwieriger Mensch?«

»Es war nicht leicht mit ihm, aber wenn man so lange mit jemandem zusammenarbeitet, gewöhnt man sich an alles.«

Sidney wollte gerade eine Frage zu Stephen Stauntons Gemütsverfassung stellen, als ein Zug so geräuschvoll vorbeifuhr, dass die Scheiben zitterten. »Das ist ja schrecklich«, sagte er.

»Nur die Schnellzüge machen so viel Lärm, sie kommen aber nur alle zwei Stunden hier durch, das ist nicht so schlimm. Man gewöhnt sich daran.«

Sidney wollte seine Befragung gerade wieder aufnehmen, als Clive Morton erschien, ein hochgewachsener Mann mit zurückgekämmtem etwas zu langem blonden Haar, in das sich schon das erste Grau mischte. Er trug einen dunkelblauen Blazer und Flanellhosen, ein weißes Oxfordhemd und einen Savage-Club-Schlips – ganz eindeutig betrachtete er sich als das Aushängeschild der Firma.

»Wir haben uns seit der Trauerfeier nicht mehr gesehen, nicht wahr?«, begrüßte er Sidney. »Hoffentlich hat meine Sekretärin Ihnen jeden Wunsch erfüllt.«

»Er fragte nach einem Testament«, schaltete Miss Morrison sich ein.

Der Anwalt wirkte überrascht. »Fällt das denn in Ihr Gebiet?«

»Mrs. Staunton bat mich, hier …«

Clive Morton schien Sidneys Besuch verdächtig zu sein. »Soso …«

Das also war der Mann, den Pamela Morton hatte verlassen wollen. »Ich kam gerade vorbei, als …«

»Für Papierkram hatte er nicht viel übrig, unser Stephen. Er konnte ziemlich schludrig sein. Ich glaube kaum, dass er sich um ein Testament Gedanken gemacht hat. Er hatte ja nicht mal den Anstand, uns mit ein paar dürren Worten zu erklären, warum er etwas so Grauenvolles getan hat. Die arme Mrs. Hughes …«

»Wie bitte?«

»Unsere Putzfrau. Sie hat ihn gefunden.«

»Es gibt also tatsächlich keine Erklärung für seine Tat?«

»Einen so dramatischen Schritt braucht man nicht groß zu erklären. Er hat sich mit reichlich Whisky Mut angetrunken, und – peng! – weg war er.«

»War er schon lange Ihr Teilhaber?«

»Fast fünf Jahre. Wir haben zusammen hier am Trinity College studiert und nach dem Krieg wieder Kontakt zueinander aufgenommen.«

»Sie waren also befreundet?«

»Mehr oder weniger. Ab und zu gab es Misstöne, aber nie was Ernstes. Allerdings muss ich sagen, dass Stephen verdammt launisch sein konnte. Der Charmeur aus Ulster, der zu viel trinkt und einem dann erzählt, dass alles hoffnungslos ist – Sie kennen ja den Typ …«

Clive Morton beherrschte den Raum. Miss Morrison nickte kurz und ging hinaus. Sie wirkte verstört.

Sidney hakte nach. »War er jähzornig?«

»Allerdings. Einmal habe ich gesagt, ich fände es witzig, dass einer, der eine deutsche Frau hat, seine Schriftstücke mit SS paraphieren muss. Da ist er ausgerastet.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Humor war nicht seine stärkste Seite.« Clive Morton ging zu dem Tisch mit den Getränken hinüber und machte eine Flasche Sherry auf. »Wie wär’s mit einem Drink, Canon Chambers? Es ist fast Mittag – und Sie können sich ja vorstellen, was in den letzten Tagen hier los war …«

»Danke, aber …«

»Na, kommen Sie schon …«

»Einen kleinen Whisky vielleicht.«

»Tatsächlich? Ich hätte Sie für einen Sherrytrinker gehalten.«

»Ja, das denken die meisten. Aber ich hätte doch lieber einen Whisky, wenn das möglich ist.«

»Wie nehmen Sie ihn?«

»Pur, bitte, aus dem Dekanter.«

»Stephen hatte eine Schwäche für Whiskey mit ›e‹. Mir ist Gin Tonic lieber. Miss Morrison bringt uns sicher gleich Eis, sie weiß, dass ich vor dem Mittagessen eine kleine Stärkung brauche.«

Sidney nahm einen Schluck Whisky, den Morton aus dem Dekanter eingeschenkt hatte. Er schmeckte genau wie zu Hause. »Ist der aus Stephen Stauntons Vorrat?«

»Keine Ahnung. Um unsere Getränke kümmert sich Miss Morrison. Normalerweise bieten wir Gin oder Sherry an, ein Mandant, der besonders aufgewühlt ist, kriegt auch schon mal einen Schluck Brandy. Stephen hat sich immer an seinen Whiskey gehalten.«

Sidney war kein Kenner, aber er hatte genug Zeit mit seinen Kameraden von den Ulster Rifles verbracht, um zu schmecken, dass er nicht Stephen Stauntons Lieblingswhiskey auf der Zunge hatte. Es fehlten der rauchige Geschmack, die fruchtige Süße, die an Vanille und dunkles Toffee erinnerte – kurzum, es war kein Bushmills.

»Stephen hat immer zu viel getrunken«, fuhr Clive Morton fort, »und früher oder später macht das die Leute fertig. Ich habe das bei vielen Freunden gesehen, besonders bei denen, die nach dem Krieg nicht mehr richtig Fuß fassen konnten. Sie kommen nach Hause und können nicht über das sprechen, was sie durchgemacht haben. Also trinken sie, um sich aufzumuntern, der Alkohol deprimiert sie, und dann trinken sie noch mehr, um die Depression loszuwerden. Waren Sie bei der kämpfenden Truppe, Canon Chambers, oder nur bei der Militärseelsorge?«

»Ich habe bei den Scots Guards gekämpft, Mr. Morton.« Das klang schroffer als beabsichtigt, aber von einem Clive Morton mochte Sidney sich nicht begönnern lassen.

»Alle Achtung«, stellte sein Gastgeber fest.

Sidney erinnerte sich an die Übungen auf den Meadows, wo sie Bajonette in Sandsäcke hatten stoßen müssen und ihnen gesagt worden war, wie wichtig es sei, den Feind zu hassen. Das hatte er nie gut gekonnt, aber vom Tod hatte er vermutlich mehr gesehen als der Anwalt.

»Ist das im Dekanter alles, was noch übrig ist?«, fragte er.

Morton lachte. »Warum? Wollen Sie noch einen?«

Sidney dachte daran, dass Hildegard Staunton gesagt hatte, in Cambridge sei kein Bushmills aufzutreiben, und eine andere Sorte habe ihr Mann nicht angerührt. »Nein, danke, das genügt mir völlig.«

Es gab eine Pause. Sidney wusste, dass er jetzt eigentlich gehen müsste, aber nach längerem Schweigen sagen manche Leute oft mehr, als sie wollen. »Glauben Sie, dass es kompliziert sein wird, Mr. Stauntons Angelegenheiten zu regeln?«, fragte er schließlich. Im Beisein von Pamela Mortons Mann fühlte er sich ausgesprochen unbehaglich. Ob der Ehebruch seiner Frau eine Art heimliche Rache gewesen war?

»Anwälte sind ein wenig wie Ärzte, Canon Chambers. Wir lassen das eigene Leben außer Acht, vielleicht weil wir uns für unsterblich halten. Ein Berufsrisiko.«

»Aber im Fall von Stephen Staunton …«

»Es war wohl unvermeidlich«, stellte Clive Morton fest.

»Glauben Sie?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mochte ihn. Wir waren mal eng befreundet, aber in letzter Zeit ist er auf Distanz gegangen und war ausgesprochen launenhaft. Und mit einem Partner, der schon nach der Mittagspause beduselt ist, kann man nicht arbeiten.«

»Hat Miss Morrison ihn vielleicht hin und wieder gedeckt?«

»Sie haben es erfasst, Canon Chambers. Es war schon beinah lächerlich. Was die Abende betrifft, habe ich zu ihm gesagt, würde ich ein Auge zudrücken, aber einen Mann, der sich zweimal am Tag zuschüttet, könnte ich nicht weiterbeschäftigen.«

»So schlimm war es?«

»Manchmal. Ich will damit nicht sagen, dass er Alkoholiker war. Aber er war mit den Gedanken nicht bei seinen Fällen. Natürlich musste ich ihn verwarnen.«

»Er hätte also seine Stellung verlieren können?«

»Wir waren zwar Teilhaber, aber so ging es nicht weiter.«

»Und das wusste er?«

»Natürlich. Ich habe es ihm klipp und klar gesagt.«

»Könnte der Gedanke, alles zu verlieren, ihn zur Verzweiflung getrieben haben?«

»Ich übernehme keine Verantwortung für Stephens Tod, wenn Sie darauf hinauswollen, Canon Chambers. Er hatte reichlich Gelegenheiten, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Leicht wäre es nicht gewesen, das gebe ich zu, aber ich habe ihn immer anständig behandelt, egal, wie oft er nach London gefahren oder verschwunden ist, ohne jemandem etwas zu sagen. Nur gut, dass Miss Morrison ein Auge auf ihn hatte. Wir konnten uns immer darauf verlassen, dass sie den Schreibkram erledigen und uns im Notfall Bescheid sagen würde, wo er steckte. Mit ihr kam er offenbar gut aus, aber die übrigen Mitarbeiter litten unter seiner reichlich laxen Einstellung. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden … es ist mein Golfnachmittag.«

»Golf?«

»Jeden Mittwoch, das verkürzt die Woche auf angenehme Weise. Manchmal kombiniere ich es mit Geschäftlichem. Das lässt sich auf dem Golfplatz oft leichter regeln als im Büro.«

»Waren Sie an dem Nachmittag, an dem Ihr Kollege gestorben ist, auch beim Golf?«

»Als er starb, war schon Feierabend. Am Mittwoch machen wir früher Schluss. Deshalb konnte Stephen sicher sein, dass niemand ihn aufhalten würde. Eine üble Sache. Wenn jemand sich zu einem so radikalen Schritt entschließt, kann man ihn nicht bremsen.«

»Vermutlich nicht. Und es gab keine ernsthaften Auseinandersetzungen mit Mandanten oder dergleichen? Niemanden, der vielleicht einen Groll gegen ihn hegte?«

»Niemanden, soweit ich weiß. Als Anwalt gerät man immer mal wieder auf den Holzweg, aber mit seinem Charme konnte Stephen jede noch so heikle Situation meistern. Worauf wollen Sie hinaus?«

Sidney zögerte. »Ach, es war nur so ein Gedanke. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufhalte.«

»Schon gut. Ich will Sie nicht drängen, aber soweit ich weiß, hatten Sie keinen Termin bei uns. Wir haben keinen großen Bedarf an Geistlichen in unserer Kanzlei.«

»Und die Kirche hat zum Glück keinen großen Bedarf an Rechtsanwälten«, konterte Sidney. Noch nie war ihm ein Mann so wenig sympathisch gewesen, und sofort schlug ihm das Gewissen. Die Worte seines Tutors an der theologischen Fakultät fielen ihm ein: »In uns allen steckt etwas, was nicht von Natur aus geliebt wird. Das sollte uns immer bewusst sein, ehe wir über andere urteilen. Als er die Kanzlei verließ, schämte sich Sidney seiner Unhöflichkeit. Was machte dieser Fall aus ihm? Höchste Zeit, dass er sich wieder seinen eigentlichen Aufgaben zuwandte.

Er radelte zum Corpus Christi College hinüber und traf dort pünktlich zum ersten Seminar des Trimesters ein. Thema waren die synoptischen Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas und eine Untersuchung der Frage, wie weit sich ihre Berichte über das Leben Christi auf eine frühere Logienquelle Q bezog.

Sidney hatte sich vorgenommen, seinen Unterricht so anschaulich wie möglich zu gestalten. Q sei zwar verschollen, erklärte er, und die frühesten erhaltenen Evangelienberichte konnten erst fünfundsechzig Jahre nach Christi Tod entstanden sein, aber im Grunde sei das keine allzu lange Zeit. Es wäre etwa so, als schriebe einer seiner Studenten einen Bericht über seinen Urgroßvater, der kurz vor der Jahrhundertwende gelebt hatte. Durch das Sammeln von Beweismaterial, durch Befragung von Menschen, die ihn gekannt hatten, könnte er durchaus ein realistisches Bild vom Leben eines Mannes erstellen, den er nie gesehen hatte. Erforderlich war nur eine eingehende Prüfung der Fakten.

Sidney benutzte allgemeinverständliche Begriffe in seinen Seminaren. Er hatte festgestellt, dass Studienanfänger neben akademischer Bildung auch der Ermutigung bedurften. Hervorragende Schüler sahen sich, wenn sie ans College kamen, in der ungewohnten Lage, dass ihre Mitstudenten ebenso intelligent waren wie sie, wenn nicht intelligenter. Da sich außerdem die meisten Professoren sehr erhaben dünkten und nicht gern unterrichteten, kam den Studenten im ersten Jahr häufig ihr Selbstbewusstsein abhanden. Die Kluft zwischen den Erwartungen, die ein Student an das akademische Leben hatte, und dem, was er nun erfahren musste, konnte den Einzelnen entmutigen. Die Institution selbst brachte nur wenig Verständnis für die Desorientierung der jungen Leute auf. Sie müssten doch begreifen, dass ein Studienplatz in Cambridge ein Privileg war und sie sich ins Zeug zu legen hatten, wenn sie nicht wieder heimgehen und sich bei Mami ausweinen wollten. Sidney sah es deshalb als eine seiner Aufgaben an, den sensibleren unter seinen Studenten mehr Verständnis entgegenzubringen, als es seine Kollegen taten. Besonders galt das für jene Theologiestudenten, die eine konsequente Erforschung mancher eher unzuverlässiger biblischer Quellen als Angriff auf ihren Glauben empfanden. Sidney war aufgerufen – wie in vielen anderen Bereichen seines Lebens –, dafür zu sorgen, dass die seiner Obhut Anvertrauten weitsichtig planten und die Nerven behielten. Wie hieß es doch in der Bibel: »Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Streit hilft nicht stark sein … alles liegt an Zeit und Glück.« Vor allem war es wichtig, einen geraden Kurs zu steuern.

Für sich selbst musste er diese Lektion noch lernen.

Sidney wusste zwar, dass er Inspector Keating am nächsten Tag zum Backgammon sehen würde, aber er beschloss, jetzt gleich mit seinem Freund zu telefonieren – auf die Gefahr hin, sich seinen Zorn zuzuziehen, was prompt geschah, denn Keating hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass er es nicht schätzte, wenn ein glasklarer Fall infrage gestellt wurde, und litt im übrigen noch immer unter der Fußballniederlage gegen Ungarn am vergangenen Abend.

»Sechs zu drei – und dabei haben damals wir das Spiel erfunden, Sidney. Das Wembley-Stadion ist die Heimat des Fußballs, und eine Mannschaft, von der noch kein Mensch gehört hat, haut uns sechs Tore rein. Unglaublich.«

»Ich verstehe nicht, warum du so wild auf Fußball bist, das führt doch bloß zu Enttäuschungen. Cricket ist das einzig Wahre …«

»Nicht im Winter.«

»Dann Rugby Union, oder Hockey …«

»Hockey?«, ereiferte sich Keating. »Nächstens empfiehlst du mir noch Federball. Wieso rufst du überhaupt an?«

»Ich muss etwas mit dir besprechen.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen?«

»Ja, vielleicht, aber ich möchte uns nicht den Backgammon-Abend verderben.«

Inspector Keating stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann kommst du am besten zu mir ins Revier. Wenn du zwischen den Gottesdiensten die Zeit erübrigen kannst.«

»Ich glaube, du hast mehr zu tun als ich.«

»Gut, dann erwarte ich dich in der Andrew’s Street.«

Sidney war noch nie in die heiligen Hallen der Polizeistation von Cambridge vorgelassen worden und hatte strikte Ordnung und neueste Technik erwartet, nicht aber den Anblick, der sich ihm jetzt bot. Inspector Keatings Arbeitsplatz war nicht der logistische Mittelpunkt planvoller Verbrechensbekämpfung, sondern ein Chaos aus Aktenordnern und fliegenden Blättern, Notizzetteln, Diagrammen, Papiertüten und benutzten Teetassen, die jede verfügbare Fläche auf Schreibtischen, Stühlen und Bücherregalen bedeckten. Die Fensterscheiben waren leicht beschlagen durch die Wärme eines kleinen Heizstrahlers, der Aschenbecher quoll über, und die Birne der Schreibtischlampe war durchgebrannt. Man hätte meinen können, im Zimmer eines Universitätsprofessors zu sein – ein Eindruck, den Keating wohl kaum erwecken wollte.

Sidney überlegte oft, ob er dem Freund etwas zu seinem Äußeren sagen sollte. Inspector Keating war fünf Zentimeter kleiner, als ihm lieb war, aber dafür konnte er nichts, und trug ungebügelte Anzüge, wofür er sehr wohl etwas konnte. Der Schlips saß schief, die Schuhe waren abgewetzt und das dünne sandfarbene Haar häufig ungekämmt. Wahrscheinlich forderten der Beruf, seine drei Kinder und eine Frau, die die Finanzen der Familie fest im Griff hatte, ihren Tribut. Manchmal war Sidney froh, dass er Junggeselle war.

Er wusste, dass sein Besuch eigentlich eine Zumutung war, und sein Gewissen meldete sich immer lauter, aber sein Verdacht machte ihm zu schaffen, und er brauchte jemanden, den er daran teilhaben lassen konnte. Er berichtete, was er erfahren hatte, und erwähnte auch die Sache mit dem Whisky.

»Stephen Stauntons Frau hat mir ausdrücklich gesagt, dass er nur Bushmills trank, der einen unverkennbar rauchigen Geschmack mit einem Vanille- und Toffee-Aroma hat. In dem Dekanter aber war ein Feld-Wald-und-Wiesen-Whisky, Johnnie Walker vermutlich.«

»Und daraus schließt du …«

»Dass der Whisky auf Stephen Stauntons Schreibtisch gestellt wurde, damit es aussah, als hätte er sich Mut antrinken wollen, während er in Wirklichkeit keinen Tropfen zu sich genommen hat.«

»Und dann, meinst du, hat er den Revolver in den Mund gesteckt und sich erschossen …«

»Wenn ich mich recht erinnere, waren keine Fingerabdrücke auf dem Revolver.«

»Nein, das haben wir überprüft.«

»Und findest du das nicht auch verdächtig?«

»Du willst andeuten, dass die Waffe abgewischt wurde?«

»Es wäre eine Möglichkeit. Habt ihr den Dekanter untersucht?«

Geordie Keating geriet immer mehr in Rage. »Nicht sehr gründlich. Wir hielten es nicht für nötig. Du musst schon mehr Beweise bringen, Sidney, was du mir da erzählst, reicht einfach nicht. Wer sollte Stephen Staunton umbringen? Und mit welchem Motiv? Er hatte, soweit wir das feststellen konnten, keine Feinde. Er war schlicht und einfach ein trinkfester nordirischer Anwalt mit Depressionen – mehr ist da nicht dran.«

»Nur glaube ich, dass da durchaus noch mehr dran ist, wie du sagst.«

»Wenn du willst, dass ich etwas unternehme, musst du schon weitere Informationen herbeischaffen.«

»Und wirst du dann ermitteln?«

»Natürlich. Jetzt habe ich aber erst mal einen halbwüchsigen Ausreißer, zwei Einbrüche und einen üblen Erpressungsfall am Hals.«

»Dann entschuldige bitte, dass ich dich belästigt habe.«

»Sei nicht albern, Sidney. Wenn es neue Erkenntnisse gibt, kümmern wir uns natürlich darum. Jesus hat sich nicht mit ein, zwei Wundern begnügt, er hat weitergemacht, bis die Menschen ihm geglaubt haben.«

»Von Jesus dürften wir ziemlich weit entfernt sein.«

Sidney verließ die Polizeistation, schwang sich auf seinen Raleigh Roadster und radelte die Downing Street herunter und an der St. Bene’t’s Church vorbei. Er dachte mit einiger Besorgnis daran, was wohl Isaiah Shaw, der Gemeindepfarrer, zu seinen derzeitigen Aktivitäten sagen würde. Sidney spürte Isaiahs Ablehnung nicht nur bei jeder Begegnung, sondern auch dann, wenn er die Kirche nur passierte. Denn Isaiah hatte durchblicken lassen, dass er den frühen Aufstieg seines Kollegen in der Church of England nicht billigte.

Was ihm nicht zu verdenken war. Tatsächlich hatte Sidney Glück gehabt. Nach dem frühen Tod seines Vorgängers hatte der neue Bischof von Ely, ein Absolvent von Corpus Christi, seinen eigenen Kaplan an Sidneys Stelle setzen wollen und Sidney deshalb rasch auf die glücklicherweise vakante Stelle in Grantchester verfrachtet. Die Beförderung mit nur dreißig Jahren an eine so begehrte Pfarrstelle und nur zwei Jahre später die Verleihung eines Kanonikats hatten bei gleichaltrigen Kollegen beträchtlichen Neid erregt. Dass Sidney so mühelos Freundschaft mit den Oberen geschlossen hatte, empfanden sie als Affront gegen ihre eigene Frömmigkeit und ihren Fleiß. Für das Pfarramt, argumentierten sie, brauchte es mehr als den lockeren Charme eines Sidney Chambers.

Sidney meinte deshalb, dass er sich nicht nur seiner Gemeinde, sondern auch seinen Rivalen gegenüber beweisen musste. Den Status des Pfarrers von Grantchester musste er sich nachträglich verdienen.

Er bog in die Trumpington Street ein und beschloss, sich bei Fitzbillies, einer Institution in Cambridge, mit einer Hefeschnecke zu trösten, auch wenn er sich damit den Appetit verdarb. Er überlegte, was Mrs. Maguire, seine Haushälterin, ihm zum Mittagessen hingestellt hatte. Mittwochs waren es meist Würstchen, die ihn wenig reizten, aber als er die Hälfte seiner Schnecke gegessen hatte, reizte ihn auch Süßes nicht mehr. Er war mit sich selbst uneins.

Sidney Chambers schwang sich wieder aufs Rad und fuhr die Mill Lane hoch in Richtung Grantchester Meadows. Vergeblich hoffte er, dass der Fahrtwind ihm zu einem klareren Kopf verhelfen würde. Einige Studenten in Dufflecoats und mit langen Collegeschals unterhielten sich laut und ungeniert auf ihrem Weg zu den Vorlesungen und gerieten dabei auf die Fahrbahn, ohne vorbeikommende Radfahrer zu beachten. Ein Schildermaler frischte die Fassade der Metzgerei auf, und ein Fensterputzer hatte sich die Scheiben der neuen Bank vorgenommen. Die Leitern überspannten den ganzen Gehsteig, sodass abergläubische Passanten auf die Fahrbahn ausweichen mussten. Wie weit weg das doch alles von der dunklen Welt eines Selbstmords oder vielmehr eines Mordes war, dachte Sidney.