Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - E-Book

Das Proust-ABC E-Book

Ulrike Sprenger

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Beschreibung

Von ›Abraham‹ und ›Autobiographie‹ über ›Erinnerung‹ und ›Madeleine‹ bis zu ›Zeit, verlorene‹ und ›Zimmer‹: Das Proust-ABC ist ein pointierter alphabetischer Wegweiser durch Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es lässt Zusammenhänge erkennen, die sonst im Dunkeln blieben, und ist ein »Lustgenerator für die Wissensbegierde«, wie es Alexander Kluge in seinem Vorwort nennt: »Ein im positivsten Sinne ›dienender‹ Text wie Das Proust-ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag.«

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Seitenzahl: 420

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Ulrike Sprenger

Das Proust-ABC

Vorwort von Alexander KlugeMit 7 Abbildungen

Reclam

2021, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: akg-images, Raymond Moretti (1931–2005), Marcel Proust, Detail © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961828-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020569-3

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Abraham

Académie française

Agostinelli, Alfred (1888–1914)

Aimé

Akazienallee

Albaret, Céleste (geb. Gineste, 1891–1984)

Albertine (Simonet)

Alkohol

Allegorie

Allergie

Alter

Andrée

Angst

Antisemitismus

Apfelbäume

Aquarium

Aristokratie

Arzt

Austern

Auteuil

Autobiographie

Automobil

Badeanzug

Balbec

Balzac, Honoré de (1799–1850)

Bäume

Bergotte

Bergson, Henri (1859–1941)

Berma

Birne

Bloch, Albert

Botanik

Bruder

Camembert

Cattleya

Charlus oder Baron Palamède de Guermantes

Chrysantheme

Combray

Competition, The All-England Summarize Proust

Contre Sainte-Beuve

Dreyfus

Duell

Ehe

Eifersucht

Eindruck, erster

Eisenbahn

Elstir

Erinnerung, unwillkürliche

Erinnerung, willkürliche/intellektuelle

Erwachen

Erzähler

Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht

Etymologie

Europa

Farben

Film

Firnis

Fontäne

François le Champi

Françoise

Fuller, Loïe (1862–1928)

Gedichte

Geld

Genealogie

Genoveva von Brabant

Gewohnheit

Gilbert der Böse

Gilberte (Swann)

Großmutter

Guermantes, Basin Herzog von

Guermantes, Gilbert Fürst von

Guermantes, Marie-Hedwige oder Marie-Gilbert Fürstin von

Guermantes, Oriane Herzogin von

Haar

Hermaphrodismus

Homosexualität, männliche

Homosexualität, weibliche

Hut

Huxley, Thomas Henry (1825–1895)

Impressionismus

Jasmin

Jean Santeuil

Joyce, James (1882–1941)

Judentum

Jupien

Konversation

Körper

Krieg

Kunst

Kuss

La Pérouse, Jean François de Galaup, comte de (1741–1788?)

Laterna magica

Leben nach dem Tod

Lektüre

Léonie, Tante

Liebe

Madeleine

Martinville, Kirchtürme von

Masturbation

Metapher

Mond

Monokel

Moralistik

Musik

Mutter

Namen

Nase

Odette de Crécy, spätere Madame Swann

Pflastersteine

Qualle

Regenmantel

Ringleinspiel

Roman

Ruhm

Saint-Loup-En-Bray, Robert Marquis de

Sainte-Beuve, Charles Augustin (1804–1869)

Salat aus Ananas und Trüffeln

Salon

Schlaf

Schmetterling

Schuhe

Sessel

Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de (1626–1696)

Sex

Sinne

Snobismus

Spargel

Spitznamen

Sprache

Sprachschnitzer

Stereoskop

Stimme

Strohmatte

Swann, Charles

Telefon

Tochter

Tod

Traum

Übersetzung

Unstetigkeiten des Herzens

Urämie

Vater

Venedig

Vergessen

Weißdorn

Zeit, verlorene

Zimmer

Auswahlbibliographie

Danksagung

Für meinen Vater Peter Ludolf Sprenger

Vorwort

Ein wesentlicher Teil der Moderne entstand und entsteht immer erneut aus der Ernsthaftigkeit von Verhältnissen und der Not. Dabei gibt es auch die Imitatio, die Verschiebung der Notzeit über die Generationen hinweg. Der Vater Marcel Prousts war ein Arzt. Er war verantwortlich für Frankreichs Abwehr der vierten und der fünften Attacke der Cholera. Eine seiner Antworten war die Quarantäne. Diese Abschottung wiederholt sich dann in den Räumen, in denen der Poet Marcel Proust, sein Sohn, lebte und arbeitete. Kork-Täfelung, schwere, schalldichte Vorhänge, Verdunkelung gegen die Werbewelt, Hysterie, die Elektrizität und Unruhe der Gegenwart: Davor schützt das abgeschottete Zimmer den Dichter. In dieser Trennung von der Aktualität gedeiht seine Einbildungskraft.

Die Quarantäne, die wir derzeit erleben, ist nicht freiwillig gewählt. Neben der Spiegelung des Ernstes der Lage ist eine solche Quarantäne aber auch heute ein »literarisch wirksames Instrument«. Die Abschottung begünstigt die Konzentration. Sie potenziert das Organ des Poetischen: die Introspektion. Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung. Das ist das Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für den Dichter ist die Abschottung ein Instrument der Wahrnehmung. Wie eine der Optiken im aufkommenden Zeitalter des Stereoskops, der Fotografie und des Films.

Dem Gehäuse, in dem der Hieronymus Proust dichtet, und auch der Abgeschlossenheit, zu der wir derzeit gezwungen sind, entspricht, wie gesagt, der Cordon Sanitaire, den der Vater Marcel Prousts als Arzt entwarf. Er identifizierte Ägypten als Einfallstor der Erreger der Cholera. Er half, einen Ring der Abwehr zu errichten, reichend über Persien und Südrussland. Die Krankheit tötete die Hälfte der Befallenen.

Der verborgene Ort, die Höhle, die Bibliothek der inneren, mentalen und emotionalen Kontinuitäten, dieses ORGANON DER EINBILDUNGSKRAFT, in das sich der Sohn des Epidemiologen einschloss, ist ein öffentlicher Raum, in dem die intimen und die öffentlichen Erfahrungen ihre Orgien, ihre legitimen Heiraten, ihre One-Night-Stands vollziehen und zugleich ihre absolute Sehnsucht ausdrücken nach Kontinuität und nach Ewigkeit der Liebesverhältnisse. Das ist weder als Heterotopie noch als Utopie etwas Reales. Noch nie aber hat sich die Sehnsucht nach Realismus gerichtet.

Das Kind Marcel Proust, das kurze Zeit nach der Niederschlagung des Aufstands der Commune von 1871 in Paris geboren wird, ist kein Kind der Revolution. Proust ist konservativ strukturiert. Literarisch bleibt er aufsässig und rebellisch. Nach wie vor gilt meine Aufmerksamkeit dem Raum, in dem er schreibt, seinem Beobachtungsinstrument. Wie Proust arbeitet auch Johannes Kepler. Der Astronom war kurzsichtig. Allein durch das Fernrohr kann er seine Einsichten nicht gewonnen haben. Um die Ellipsenbahnen der Planeten zu bestimmen, kann er nicht auf seine beschädigten Augen vertraut haben, sondern er stützte sich auf seine Kenntnis der platonischen Körper und auf aristotelische und physikalische Bewegungsgesetze. Ähnlich Marcel Proust: Er erahnt, erspäht, kontextualisiert, füllt in Worte, setzt in Zusammenhang, was ihm die lebendige Erfahrung gebot. Er verwandelt die ihm anvertraute Erfahrungswelt (wie Ovid) in dauerhafte Texte.

Die Abwehr gegen die Attacken der Cholera erforderte schwere Schlachten. Den preußischen Behörden war diese Abwehr des tückischen Erregers in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts misslungen. Überall hatten die Behörden die Landesgrenze gesperrt. Die Flüsse und die Kanäle und die dortige Schifffahrt hatten sie übersehen. So drang der Erreger nach Berlin. Ein Strunk kalter Trauben, die der Philosoph Hegel eigentlich gar nicht begierig war zu essen, von denen er aber naschte, brachte den großen Philosophen um. Nur die fromme Lüge der Wahrheitssucher von der Universität zu Berlin, dem Tod Hegels liege keine Cholerainfektion zugrunde, und die Agitation seiner Frau Marie einschließlich Falschbehauptung, dass nichts von Cholera Ursache dieses Todes gewesen sei, bewahrten den berühmten Philosophen vor dem Massengrab mit Zutat von viel Kalk. Es hätte Marcel Proust sicher gefallen, dass hier ein Schwindel notwendig war, um den Mann vor dem Kalk im Massengrab zu bewahren. Das Massengrab mit Kalk ist Chiffre für das, was nach der Zeit Prousts an Schrecken in den 1940er Jahren im Osten Europas noch bevorstand.

Das PROUST-ABC von Ulrike Sprenger hat mich schon in der früheren Auflage entzückt. Bei der Einteilung der Genres der Literatur in Epik, Dramatik und Lyrik fehlt immer eine vierte Rubrik. Ist es die Kritik? Ist es etwas Unbekanntes, eine Neuerung? Was ist es? Ich bin überzeugt, dass das vierte Genre der Literatur mit Kommentierung zu tun hat. Kommentar, Sammlung, gründliche Untersuchung (wie sie die Brüder Grimm betrieben – »Das Poetische heißt sammeln«): Das ist das, was zu den drei Grundkategorien hinzutritt. Zu dieser Formenwelt gehört das Alphabet. Es dient nicht bloß der Aufzählung der Buchstaben. Es enthält einen Such-Algorithmus für das Sammeln, eine Chance der Gliederung und der Verkürzung. In den TV-Gesprächen, die ich mit Ulrike Sprenger, dieser eigensinnigen Ausgräberin poetischer Besonderheiten, führte, habe ich den vierten Begriff der Literatur immer wieder studieren können.

Das PROUST-ABC beginnt mit »A« wie Abraham, dann Académie française, Agostinelli, Aimé (das sind Liebhaber von Proust, in seinen Texten ins Weibliche transfiguriert), Akazienallee, Céleste Albaret (die letzte Haushälterin Prousts), Albertine (die erste und letzte Geliebte), Alkohol, Allegorie, Allergie, Alter, …, Angst, Apfelbäume, Aquarium, Arzt … Das ist nur ein Ausschnitt für den Buchstaben »A«. Ihm entspricht im Talmud und in der antiken Tradition Griechenlands das Alpha und somit auch die »dunkle Seite des Alpha«. Das ist der »verlorene Buchstabe«, nach dem die Poetik, aber auch die Menschheit, sucht. Man sieht, dass ein Überblick mit der optischen Verzerrung des Alphabets die Neugier weckt.

Bei »Z« finden wir in diesem PROUST-ABC nur zwei Eintragungen: »Zimmer« (siehe oben die Stichworte Quarantäne, Wahrnehmungsinstrument der Erfahrung, Cousin des Stereoskops, Dunkelkammer, Korkzimmer) und »Zeit, verlorene«. Das gehört schon zum Titel von Marcel Prousts Hauptwerk. Mit dem Raster des ABC lassen sich weite Ebenen und ganz knappe Grate und Gipfel einer literarischen Landschaft kartographieren. Das Buch, schlage ich vor, sollte der Leser wie eine Landkarte 1:300.000 lesen, der Karte in dem Maßstab, in die sich im ernsthaften Krieg die Generalstäbler und Leiter des Geschehens vertiefen.

Marcel Proust zeigt mir (neben so viel anderem), welche Autorität die Literatur besitzt. Ich illustriere das an einem Detail. Die Tochter des Komponisten Jacques Fromental Halévy hieß Geneviève Halévy. Proust war mit ihr vertraut. Geneviève Halévy wurde später die Frau von Georges Bizet. Nach dessen Tod heiratete sie einen reichen Mann aus dem Hause Rothschild. Das Ehepaar errichtete einen Palast im Zentrum von Paris, im Stil des Fin-de-Siècle. Diese Frau voller Gegenwart wurde bei Proust zur Herzogin von Guermantes und Hauptperson des zweiten Bandes seiner SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Es handelt sich um eine Jüdin. Sie ist neureich. Sie ist durch ihre Gegenwart charakterisiert. Bei Proust wird sie zum Juwel des französischen Uradels. Zu einem Diamanten der Vergangenheit, zurückreichend zu den Adelsfamilien, die das Königreich Jerusalem begründeten und später Zypern regierten. Damit schließt sich der Kreis zu der bezaubernden Oper des Vaters der Geneviève, Jacques Fromental Halévy, Die Königin von Zypern. Sie ist zugleich eine »Tochter der Republik Venedig«, eine Gründerin eines Intelligenzkreises der Renaissance. Nur poetische Autorität und textuelle Energie vermag in dieser Weise Namen und Lebensläufe zu transmutieren, Mythen zu schaffen und zu bezaubern.

Alles das geschieht bei Marcel Proust, wie schon gesagt, in Klausur. Wie ein Hieronymus im Gehäuse sitzt Marcel Proust in seiner kreativen Höhle. Wir Menschen sind Prärietiere, aber auch Höhlentiere. Nur in Verschlossenheit lassen sich Geist, Peripherie und Zentrum einer Zeit gleichzeitig einfangen. Wie Arachne, die Weberin aus Byzanz, die von der neidischen Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf Kleidern die Geschichte ihrer Zeit schöner erzählte als die Göttin, »spinnt« Proust – bis zur Erschöpfung, unter Einsatz seines Lebens – in seinen dunklen Räumen.

Ein im positivsten Sinne »dienender« Text wie das PROUST- ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag. Wir erleben heute Literatur im Kontext der Algorithmenwelt von Silicon Valley: einer riesigen Überredungskunst und einer technischen Verfügungsgewalt. Am Gegenalgorithmus zu dieser Algorithmenwelt arbeiten die Patrioten der »Bibliothek von Alexandria«, die Liebhaber der Literatur. Der Gegenalgorithmus ist den allmächtigen Algorithmen nicht feindlich gesinnt, sondern fähig, einzudringen in die gewaltigen Leerräume, die die Algorithmen offenlassen. Algorithmen funktionieren wie die Hofhaltung im Märchen von Dornröschen. Das goldene Geschirr reicht gerade für 12 weise Frauen im Lande. Also wird die 13. Fee ausgeschlossen. Liebhaber der Literatur bleiben Anwälte der 13. Fee.

Ein ABC scheint zunächst ein technisches Instrument unserer Schriftkultur. Als solches ist es komplex, und im Baskischen funktioniert es anders als im Chinesischen. Dem Alphabet verwandt ist aber auch die DNA, die Schrift unseres Genoms. Wir tragen diese SCHRIFT AUS NUR VIER BUCHSTABEN täglich in uns, in unseren Zellen, in unserem Gehirn, in unseren Ohren und auch auf dem größten Organ, das wir besitzen, der Haut. Der Gegenspieler dieser DNA, ein nicht alphabetisierbares, robustes, primitives, aber dennoch intelligentes System, sind die RNA-Partikel, z. B. das die Quarantäne-Schranke setzende Coronavirus. Letztlich sind aber auch die Schreibweisen des Kosmos und der Quanten Schriften und Alphabete. In dieser Vielfalt als einem Ozean der Verständigungen bewegen sich die Flöße der Literatur. Man wünschte sich viele ABCs, viele Rhizome, deren Wurzeln zum Himmel weisen, hin zu den Texten.

Der abgeschottete Raum, in dem Marcel Proust dichtet und lebendig ist, ist wie ein Fernrohr und zugleich wie ein Mikroskop. Wie ein Innenohr verdichtet er die Töne. Wie in der Zelle eines Schreibers im 12. Jahrhundert sitzt der Autor in seinem abgeschlossenen Raum, seinem räumlichen und zeitlichen Erkenntnisinstrument, seiner astronautischen Laube. Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt. Ich bin glücklich, das PROUST-ABC hier vorstellen zu dürfen: ein Instrument, so wichtig wie der Bleistift, wie ein Inhaltsverzeichnis, wie ein Notizblock für neue Einfälle.

Alexander Kluge, im Juni 2020

Abraham

Als der ►Erzähler im »Drama seines Zubettgehens« zu Beginn von Combray versucht, sich den ►Kuss der Mutter zu erzwingen, erscheint der drohend herannahende Vater in der Gestalt Abrahams: »Er stand noch vor uns, […] mit der Geste in dem Stich nach Benozzo Gozzoli, den mir Swann geschenkt hatte, als Abraham Sarah befiehlt, von Isaaks Seite zu weichen.« Es zeigt sich deutlich die zwiespältige Rolle, die der  Vater im Roman spielt: Zwar erlaubt er Sohn und Mutter, den versäumten Gutenachtkuss nachzuholen, ja sogar die Nacht gemeinsam zu verbringen; seine willkürliche Entscheidung aber fördert die nervöse Schwäche des Sohnes und untergräbt die Erziehungsprinzipien von  Mutter und  Großmutter, die keine Ausnahmen dulden. Insofern opfert hier der Vater tatsächlich wie Abraham den eigenen Sohn: Er verschafft ihm augenblickliche Erleichterung und beendet seine Angst, leistet aber auch jener Schwäche Vorschub, die Marcel immer wieder an der Verwirklichung seines Romanprojekts hindern wird: »Von jenem Abend her, an dem meine Mutter einen Rückzug angetreten hatte, rührte, zugleich mit dem langsamen Tod meiner Großmutter, der Niedergang meines Willens, meiner Gesundheit. Alles hatte sich in dem Augenblick entschieden …«

Provokant wirkt diese Rollenverteilung im Drama des Zubettgehens auch, weil sie die religiöse Konstellation der Familie Proust umkehrt: Die geliebte jüdische Mutter wird im  Roman zur Christin, der christliche Vater dagegen erscheint als bedrohliche alttestamentarische Figur. Hier findet die Tatsache Niederschlag, dass Proust sich zeit seines Lebens immer wieder damit auseinandersetzen musste, gleich zwei gesellschaftlich verachteten Minderheiten anzugehören: den Juden und den Homosexuellen. Der Roman hält das von Proust persönlich ungelöste Problem in der Schwebe, indem sich der Erzähler nie explizit zu ►Judentum oder ►Homosexualität bekennt, aber anhand zahlreicher Figuren sowohl den zeitgenössischen ►Antisemitismus als auch die Homophobie reflektiert.

Académie française

Die Académie française wurde 1635 unter Louis XIII von Kardinal Richelieu gegründet, mit der Absicht, die schon länger üblichen Zusammenkünfte berühmter Schriftsteller in eine feste Institution zu binden und dieser die Aufgabe zu übertragen, die Regeln der französischen  Sprache verbindlich festzuhalten und ihre Einhaltung zu überwachen. Zu Prousts Zeiten bedeutete es – wie noch heute – die höchstmögliche Ehrung für einen Schriftsteller, Mitglied der Académie zu werden. Proust selbst hat gegen Ende seines Lebens Freunden gegenüber die Hoffnung formuliert, unter die 40 »Unsterblichen« – wie die Mitglieder sich nennen – aufgenommen zu werden. Das hindert ihn aber nicht daran, in seinem ►Roman die Académie als intrigante Institution zu entlarven, die ihre Mitglieder weniger nach literarischem Talent als nach korrekter politischer Orientierung und gesellschaftlichen Beziehungen auswählt. Einer der ehrfürchtigsten Bewunderer der Académie ist Norpois, der sich, ähnlich dem ►Vater des Erzählers, durch politischen Opportunismus und mangelndes Kunstverständnis auszeichnet: Er erkennt weder das Talent Bergottes noch das des künftigen Erzählers. In Bergottes Haltung zur Académie spiegelt sich Prousts eigene, die zeigt, dass auch das größte literarische Genie nicht vor Eitelkeit und ►Snobismus gefeit ist: »Ihm war deutlich geworden, dass er über Genie verfügte, aber er glaubte es nicht, denn er fuhr fort, Ehrerbietung gegenüber mittelmäßigen Schriftstellern zu heucheln, um bald Akademiemitglied zu werden, obwohl die Akademie oder der Faubourg Saint-Germain ebenso wenig mit jenem Teil des unsterblichen Geistes zu tun haben, der Bergottes Bücher geschrieben hat, wie mit dem Kausalitätsprinzip oder dem Gottesgedanken.« Die neuere Forschung zeigt, dass diese skeptische Haltung gegenüber dem künstlerischen Karrierestreben von Proust erst in der endgültigen Fassung des Romans stark betont wird, die frühen Texte und Entwürfe sich dagegen durchaus strategisch mit den Möglichkeiten einer Karriere als Autor beschäftigen.

Agostinelli, Alfred (1888–1914)

Zunächst Chauffeur Prousts (1907–08) und später sein Geliebter (1913–14); in dieser Zeit stellt Proust ihn als Sekretär ein und besorgt seiner Frau eine Arbeitsstelle. Die Begegnung mit Agostinelli führt zu einer radikalen Umstrukturierung des ganzen Romans, da Proust nach dem Tod des Geliebten in das ursprünglich dreiteilig geplante Werk neue, unter dem Namen »roman d’Albertine« bekannt gewordene Teile einfügt, nämlich Sodom und Gomorrha, Die Gefangene und Die Entflohene. Agostinelli wird zum Vorbild für die Geliebte des Erzählers, ►Albertine, in deren Eigenschaften sich das wiedererkennen lässt, was Proust an Alfred zugleich reizt und beängstigt: Wie Albertine ist Agostinelli sportlich und fasziniert von der Geschwindigkeit. Als Chauffeur ermöglicht er Proust das völlig neue Erlebnis, die Welt aus der Perspektive eines fahrenden ►Automobils zu sehen, aus der sie sich in eine flüchtige Abfolge ständig wechselnder Bilder verwandelt. Diese ästhetisch reizvolle Flüchtigkeit überträgt sich aber – wiederum wie bei Albertine – auch auf die Person Agostinellis und wird dann zur Bedrohung des Liebesverhältnisses: Sportlichkeit und Lebenslust entziehen Agostinelli der Kontrolle und den Besitzansprüchen Prousts; es kommt zu Eifersuchtsszenen, zur Flucht Agostinellis und schließlich zum endgültigen Zerwürfnis, als Proust ihn davon abbringen will, Pilot zu werden. Am 30. Mai 1914 stürzt Agostinelli unmittelbar nach Erwerb der Pilotenlizenz bei seinem ersten Flug ins Meer und ertrinkt. Noch über den ►Tod hinaus setzen sich die ständigen Missverständnisse und die Unkontrollierbarkeit des Verhältnisses fort, als Proust einen verspäteten Brief erhält, in dem ihm Agostinelli für das Geschenk eines Flugzeugs dankt und eine mögliche Rückkehr andeutet. Teile dieses Briefes arbeitet Proust später wörtlich in Albertines Brief zu Beginn der Entflohenen ein, der den Erzähler erst nach der Nachricht von Albertines Tod erreicht. Im Todesjahr Agostinellis schreibt Proust an seinen früheren Geliebten und Freund Reynaldo Hahn: »Alfred liebte ich wirklich. Es genügt nicht zu sagen, dass ich ihn liebte, ich betete ihn an. Ich weiß nicht, warum ich das in der Vergangenheitsform schreibe, denn ich liebe ihn noch immer.« Das hier beschriebene Trägheitsmoment der Gefühle, die den noch lieben, der schon tot ist, und später dennoch den vergessen, den sie noch lieben, wird eines der Hauptthemen sein, mit dem sich der  Roman anlässlich von Albertines Tod auseinandersetzt.

Aimé

Aimé (wörtlich: der Geliebte) ist Oberkellner im Grand-Hôtel in  Balbec und eine der wichtigsten Figuren im Milieu der Kellner, Liftboys, Chauffeure, Boten, Zimmermädchen und Wäscherinnen, deren erotische Reize den Erzähler immer wieder beschäftigen. Er trägt eine konservative Geisteshaltung zur Schau, ist ehrbarer Familienvater und überzeugt von ►Dreyfus’ Schuld. Geliebt aber wird er von diversen Figuren des Romans ( Saint-Loup,  Charlus und auch dem Erzähler) vor allem wegen seiner Bereitschaft, für ►Geld alles zu tun, insbesondere diskrete Spitzeldienste zu leisten. In Aimé verkörpert sich einmal mehr der ►moralistische Befund, dass man das schätzt, was einem nützlich ist, und dass Liebe immer mit Eigenliebe zusammenfällt: Er gehörte »zu jener Kategorie von Leuten aus dem Volk, die auf ihren Vorteil bedacht sind, denjenigen die Treue halten, denen sie dienen, sich um keinerlei Moral bekümmern, und von denen wir – weil sie, falls wir sie gut bezahlen, in ihrer Unterwerfung unter unseren Willen, in der sie alles aus dem Weg räumen, was ihm in der einen oder anderen Weise entgegenstehen könnte, ebenso unfähig zu Indiskretion, Nachlässigkeit oder Unredlichkeit sind wie frei von Skrupeln – zu sagen pflegen: ›rechtschaffene Leute‹.« In Die Entflohene beauftragt der Erzähler Aimé damit, Beweise für Albertines Homosexualität zu sammeln; als dieser sie ihm verschafft, ist er jedoch keineswegs erlöst: Einerseits muss er aufgrund der prinzipiellen Käuflichkeit Aimés am Wahrheitswert der Enthüllungen zweifeln, andererseits werden Albertines Äußerungen, die Aimé ihm wörtlich hinterträgt, zu einer neuen Obsession. Den Satz »Ah, du bringst mich in den siebten Himmel«, den sie einer Wäscherin gesagt haben soll, muss er sich ständig wiederholen, er wird zum Symbol einer Lust, die er nie teilen oder kontrollieren konnte.

Neben Informationen und Gerüchten liefert Aimé in seinem Versuch, sich gewählt auszudrücken, auch die exquisitesten ►Sprachschnitzer des Romans.

Akazienallee

Die Allee duftender Bäume im Bois de Boulogne, in dem der Erzähler als Kind Madame Swann, die Mutter seiner geliebten ►Gilberte, immer wieder beobachtet, erscheint ihm wie die Kulisse eines Tiergeheges, vor der sich erst die aufregende Schönheit der bewunderten weiblichen Kreatur in ihrer ganzen Pracht entfaltet. Die wechselseitige Verstärkung von Schönheit der Natur und Schönheit der Frau in den Augen des (in Mutter wie Tochter) verliebten Kindes illustriert zwei nicht hintergehbare Prinzipien der Wahrnehmung, die immer wieder vom Roman vorgeführt werden: erstens die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der augenblicklichen, subjektiven Befindlichkeit des Wahrnehmenden – nur mit den Augen der Liebe gesehen scheinen Madame Swann und die Allee füreinander geschaffen zu sein –, aber zweitens auch die Relativität und Unzuverlässigkeit einer solchen subjektiven Perspektive. Die Erscheinung, die auf das Kind noch perfekt, erhaben und unnahbar wirkte, kann der rückblickende Erzähler im gleichen Atemzug als verblühende Lebedame entlarven: »in der Hand einen malvenfarbenen Schirm, auf den Lippen ein vieldeutiges Lächeln, in dem ich nichts anderes sah als das Wohlwollen einer Hoheit und in dem doch ganz und gar die Herausforderung einer Kokotte lag …« Mit dem hier zur Schau gestellten Wissensvorsprung des gealterten Erzählers wird zugleich auch die Vergänglichkeit seiner eigenen Schönheitsempfindung schmerzhaft spürbar. Als der Erzähler Jahre später die Akazienallee wieder besucht, erlaubt ihm sein nun abgeklärter Zustand nicht mehr, in der neuen Mode jene Schönheit wahrzunehmen, die ihn an Madame Swann bezauberte: »Und in alle diese neuen Akte des Schauspiels vermochte ich nicht mehr den Glauben zu setzen, um ihnen Zusammenhang, Einheit, Existenz zu verleihen; sie zogen verstreut an mir vorbei, zufällig, inhaltsleer, enthielten keinerlei Schönheit, die meine Augen, so wie damals, hätten versuchen können zusammenzufügen.« Der Erzähler erkennt aber, dass diese Trostlosigkeit nicht etwa an der mangelnden Schönheit der neuen Kleider und Frauen liegt oder an der veränderten Natur, sondern am Verlust der verliebten Stimmung: »Doch wenn ein Glaube verwelkt, so überlebt ihn – und zunehmend lebhafter, um den Mangel an Kraft, die uns verlorengegangen ist, zu kaschieren, den neuen Dingen Wirklichkeit zu verleihen – eine götzendienerische Anhänglichkeit an die vergangenen Dinge, die er beseelt hatte, als ob in ihnen und nicht in uns das Göttliche wohnte […].« Nur in der ►Erinnerung, in der die damalige subjektive Stimmung und die wahrgenommene objektive Wirklichkeit eines vergangenen Zeitpunkts gemeinsam aufbewahrt sind, ist die vergangene Schönheit wiederzubeleben. Am Übergang von Auf dem Weg zu Swann zu Im Schatten junger Mädchenblüte lässt die Beschreibung der Akazienallee schon deutlich spüren, wie neben dem Thema der Erinnerung allmählich jene Überlegungen zu ►Alter, Vergänglichkeit, ►Vergessen und der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung an Gewicht gewinnen, die sich in Sodom und Gomorrha noch verstärken und in Die Entflohene und Die Gefangene den Roman ganz beherrschen.

Albaret, Céleste (geb. Gineste, 1891–1984)

Langjährige und letzte Haushälterin Prousts. Als Zweiundzwanzigjährige heiratet sie den bereits im Dienst Prousts stehenden Chauffeur Odilon Albaret und arbeitet zunächst als Botin für Proust. Als durch häuslichen Streit und den Krieg alle übrigen Dienstboten ausfallen, übernimmt sie die gesamte Haushaltsführung und sorgt unter geduldiger Inkaufnahme aller Launen Prousts bis zu seinem Tod für ihn, organisiert seinen Tagesablauf und bringt mit ihm seine letzten Manuskripte in Ordnung. 1973 erscheinen ihre auf Interviews mit Georges Belmont basierenden Memoiren unter dem Titel Monsieur Proust.

Céleste (wörtlich: die Himmlische) wird neben früheren Haushälterinnen der Familie Proust zu einem der Hauptvorbilder für ►Françoise, auch für deren zuweilen überfürsorgliche und herrschsüchtige Eigenschaften in den letzten Teilen des Romans. Unter ihrem eigenen Namen kommt Céleste zusammen mit ihrer Schwester Marie Gineste in Sodom und Gomorrha und in Die Gefangene vor, wo sie besonders durch ihre außergewöhnliche ►Sprache auffällt, die eine wilde, unverbildete Poesie besitzt: »[Céleste sagte] zu mir, während ich Croissants in meine Milch tunkte: ›O kleiner schwarzer Teufel mit dem Kohlrabenhaar, o schlimmer Schalk!, ich weiß nicht, woran Ihre Mutter dachte, als sie Sie trug, denn Sie haben alles von einem Vogel an sich. Sieh nur, Marie, würde man nicht sagen, dass er sich die Federn putzt und seinen Hals recht gelenkig hin und her wendet?‹« In der unbewussten Poesie ihrer Sprache ist die Céleste des Romans mit ►Charlus verwandt, der besonders in seinen Wutausbrüchen virtuose Bilder produziert, aber genau wie Céleste nicht fähig ist, sein Talent schreibend umzusetzen. Das leistet für beide erst der von ihnen inspirierte Erzähler.

Albertine (Simonet)

Nach ►Gilberte,  Odette Swann und Oriane de  Guermantes, für die er mehr oder weniger erfolglos schwärmt, die erste und letzte Geliebte des Erzählers. In der Liebesgeschichte – wie man sie wohl nennen darf, auch wenn sich die Forschung darüber streitet, ob ein tatsächlicher Geschlechtsakt angedeutet wird – zwischen Marcel und Albertine wiederholen sich viele Elemente, die man schon aus den früheren Beziehungen im Roman kennt: Ein unbestimmtes Begehren geht dem Kennenlernen voraus, geweckt durch den Zauber des ►Namens einer Unbekannten (wie bei Gilberte und Mlle d’Éporcheville, die sich wiederum als Gilberte entpuppt); der erste Kontakt zwischen den Liebenden ist nicht unmittelbar, sondern wird über die ►Kunst hergestellt und verklärt (wie durch die ►Musik Vinteuils bei Odette, durch Bergotte bei Gilberte, durch das Theater bei Rahel); die folgende Beziehung schließlich ist von ►Eifersucht und Verzweiflung des Mannes geprägt (wie bei Swann und Odette). Das neue, im ursprünglichen Konzept des Romans nicht vorgesehene Liebesverhältnis verändert und steigert jedoch all diese bereits bekannten Momente, insbesondere das Zusammenspiel von Liebe und Kunst: Albertine wird dem Erzähler von ►Elstir vorgestellt und erscheint von Anfang an als »impressionistische« Schönheit. Der Erzähler sieht das Mädchen mit dem schönen Namen mehr als eine Reihe von Farb- und Stimmungseindrücken denn als Person oder Charakter: eine Silhouette vor dem Meer in Balbec, ein Lächeln inmitten eines Schwarms junger Mädchen, ein vorbeischießendes Fahrrad. Gerade in ihrer Ruhelosigkeit, ihrer ständigen Bewegung liegt ihr Reiz: »Von ihren Augen ging, obwohl sie sich nicht rührten, ein Eindruck von Bewegung aus, so wie an Tagen mit starkem Wind, an denen man der Luft, wenngleich sie nicht zu sehen ist, die große Geschwindigkeit anmerken kann, mit der sie vor dem Blau des Himmels hinwegfegt.« Schon lange bevor Albertine zur »Entflohenen« wird, ist sie eine »Fliehende«. Der Erzähler erfreut sich an den flüchtigen Eindrücken, ja sie wecken sein Begehren und führen zu einer Art Jagdlust, das Zentrum dieser hübschen Impressionen zu erhaschen, und ein kurzer Blick in das Gesicht Albertines, deren Augen den Himmel über dem Meer spiegeln, scheint ihm ein ganzes Universum zu versprechen.

Sobald er aber versucht, diese vielfältigen Impressionen in ein Liebesverhältnis zu überführen, bemerkt der Erzähler die negativen Seiten einer flüchtigen Vielfalt, die sich nicht zu einer Person zusammenfügen will: »Diese besagte Albertine war kaum mehr als ein Schattenriss, alles, was sich darübergelegt hatte, stammte von mir, so sehr überwiegt in der Liebe – selbst wenn man einen rein quantitativen Standpunkt einnimmt – das, was wir selber einbringen, gegenüber dem, was das geliebte Wesen dazu beiträgt.« Die Bilder, die Albertine ihm bietet, gehen über flüchtige Eindrücke nicht hinaus, hinter ihnen befinden sich keine Person, sondern die Phantasien des Erzählers. Auch in der Folge kann er keiner »wirklichen« Albertine habhaft werden; schon beim ersten ►Kuss entzieht sie sich ihm und wiederholt damit das Trauma des verweigerten Gutenachtkusses aus Combray. Die Beziehung wird zunehmend zur Qual und illustriert im Wechsel von besitzgieriger Eifersucht und zufriedener Gleichgültigkeit den tiefen Pessimismus Prousts gegenüber jeder Möglichkeit gelingender Liebe.

Gerade die impressionistischen Reize seiner Geliebten machen deren Besitz für den Erzähler noch unerreichbarer als den von Odette für Swann: Einerseits genießt er den ästhetischen Reiz ihrer Flüchtigkeit, die Vielfalt der aneinandergereihten Eindrücke – die »unendliche Folge eingebildeter Albertinen, die sich in mir stündlich ablösten« gleicht impressionistischen Bilderserien, wie zum Beispiel Monets Heuhaufen oder Kathedralen, die denselben Gegenstand unter immer verschiedenen Bedingungen, in immer neuem Licht und anderen Farben zeigen. Auf dem Fahrrad oder bei den gemeinsamen Ausflügen im Automobil wird Albertine zu einer Göttin der Geschwindigkeit, die den Erzähler die Landschaft wiederum als eine faszinierende Serie rasender Bilder erleben lässt. Andererseits machen diese Flüchtigkeit, dieses Auftreten als Reihe unzusammenhängender Eindrücke jeden Besitz und jede Kontrolle Albertines unmöglich. Dass ästhetischer Genuss sich zwangsläufig mit seelischem Leid paart, wird schon bei den Autofahrten deutlich: Der Reiz einer beschleunigten Landschaft wird aufgewogen durch die Qual der Eifersucht auf den Chauffeur, für den Albertine sich interessiert. In sich ständig wandelnden Bildern entzieht Albertine selbst ihren Körper der eindeutigen Wahrnehmung; auch nach längerer Zeit kann der Erzähler nicht einmal genau sagen, wie sie aussieht. Gerade jene Eigenschaften schwanken, die traditionell als Signalement die Identität einer Person festlegen: Ihre Augen sind einmal grün, ein andermal veilchenblau, ihre Haare einmal braun, ein andermal schwarz.

Die Verbindung der Liebesgeschichte mit Elstir und der Kunst des ►Impressionismus ist dabei nicht Ursache für die Erkenntnis des Erzählers, dass wahre Liebe und echte Kommunikation zwischen Personen immer illusorisch sind, schon für Swann und Odette oder Marcel und Gilberte war dies deutlich. Das Zusammenspiel von Malerei und Liebe formuliert hier den neuen Gedanken, dass gerade das, was wir an der Kunst bewundern und genießen, sich im Leben grausam gegen uns wenden kann: Heuhaufen- und Kathedralen-Serien mögen schön sein, die ›Albertinenserie‹ macht gleichwohl unglücklich. Die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit Albertines sind heillos und können nicht einmal im Nachhinein durch die alles verklärende unwillkürliche ►Erinnerung wiedergutgemacht werden. Diese kann einen Gegenstand oder eine Person auferstehen lassen, ja sie lässt eigentlich erst erfahrbar werden, was der Alltagswahrnehmung im Augenblick des Erlebens entgangen ist. In der Wiederauferstehung wird auch ein verlorengegangener Teil der Persönlichkeit des Erinnernden miterweckt, er erkennt nicht nur den Gegenstand, sondern weiß plötzlich, wer er selbst damals war. Bei Albertine misslingt nicht nur die nachträgliche Offenbarung ihrer Identität in der Erinnerung, sondern die identitätszersetzende Wirkung der impressionistischen Eindrücke überträgt sich auch auf den Erzähler. Im Kontakt mit »der unendlichen Folge eingebildeter Albertinen« löst er sich selbst in eine unendliche »Serie von Ichs« auf, die seine Erinnerungen nicht mehr zusammenfügen kann. Da das Verhältnis zu Albertine schon zu deren Lebzeiten nur aus einer Reihe einander überlagernder und einander ersetzender Bilder bestand, bleibt es auch in der Erinnerung immer unabgeschlossen.

Wollte man Albertine allerdings auf Eifersucht, Schmerz und Vergessen reduzieren, auf eine »femme fatale«, deren unlösbares Geheimnis ihren Geliebten in die Verzweiflung treibt und ihm auch noch die Erinnerung raubt, so würde man Prousts lustvoller Demontage seines eigenen Erzählers nicht gerecht. Immer wieder entlarvt Albertine dessen Obsessionen, und es wird deutlich, dass er sich in seiner grenzenlosen Eifersucht und seinen ständigen Verdächtigungen von jeder Realität entfernt hat – zuletzt benimmt er sich wie ein Gefängniswärter. Und sie weist den Leser nicht nur auf die charakterlichen Unzulänglichkeiten des Erzählers hin, sondern kratzt auch an seinem idealisierten Kunstbegriff. Sie macht sich lustig über seinen Sprachstil und imitiert diesen in einer sprachlich völlig überzuckerten Beschreibung der Eiskreationen des damals berühmtesten Konditors von Paris, Rebattet. Die Sinnlichkeit von Albertines Beschreibungen ist einerseits eine ironische Anspielung auf die Unfähigkeit ihres Gefängniswärters, körperlichen Genuss zu verstehen oder zu erleben. Indirekt trifft sie damit aber auch den manchmal bis zur Schwerfälligkeit und Lächerlichkeit überladenen Stil Prousts; Albertine wird zum Medium einer kunstvollen und witzigen Selbstkritik. Nicht Theater oder Romane findet sie schön, ihre Liebe gilt den plump gereimten Rufen der Gemüse- und Fischhändler, und auf diese Weise stellt sie wieder den Vorrang einer schriftlich fixierten Sprachkunst in Frage, wie Marcel (und Proust) sie schätzt. Mit ihrer ordinären Sprache, ihren Lügen, ihrem instinktiven, ungebildeten Sinn für Schönheit, ihrer unbeschwerten Treulosigkeit, ihrer Sinnlichkeit und ihrer Respektlosigkeit vor den Werten des Erzählers fügt Albertine diesem nicht nur Leid zu, sondern bildet ein ständig relativierendes Gegengewicht zu seinen idealistischen oder auch pessimistischen Reflexionen. Gerade weil sie nicht zu fassen ist und keines der Urteile über sie sich letztlich bestätigen lässt, sorgt sie auch in entscheidender Weise dafür, dass der  Erzähler nicht zu einem Verkünder von Wahrheiten erstarrt und der  Roman die gleiche schillernde und reizvolle Offenheit behält wie Albertine selbst.

Alkohol

Angesichts der Tatsache, dass Proust im Laufe seines Lebens fast jede Art der zu seiner Zeit gängigen Drogen ausprobierte und in den letzten Lebensjahren seinen Schlaf-Wach-Rhythmus nur noch künstlich durch die wechselnde Einnahme von Beruhigungs- und Aufputschmitteln steuerte, verwundert die unbedeutende Rolle, die der Alkohol sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk spielt. Proust trinkt gerne kaltes Bier, das er sich aus dem Ritz kommen lässt, aber mehr des Geschmackes als des Rausches wegen. Im Roman ist der Alkoholgenuss immer mit Schmerz und Schuld verbunden: Wenn der Großvater trinkt, macht sich die ►Großmutter verzweifelt zu einem ihrer langen Spaziergänge in den Garten auf, und obwohl es der Arzt aus medizinischen Gründen empfohlen hat, leidet sie, wenn ihr Enkel Bier trinkt. Es kommen wenige, vom Erzähler als eher unangenehm dargestellte Alkoholräusche vor: einmal, als er auf dem Weg nach Balbec sein verordnetes Bier zu sich nimmt, woraufhin das Blau des Fensterrollos und die glänzenden Knöpfe des Schaffners ihn hypnotisieren; mehrfach betrinkt er sich später bei seinen Ausflügen mit Saint-Loup. Während dieser mit Rahel beschäftigt ist, sieht Marcel sich als einsamen Trinker, ein zufälliger Blick in die Spiegel des Séparés offenbart ihm ein unendlich vervielfältigtes, hässliches und fremdes Bild seiner selbst, ein »widerwärtiges Ich«. Albertine wird zwar nach dem Genuss einer Flasche Cidre äußerst anschmiegsam, aber angesichts ihrer sonstigen Sprödigkeit und Launenhaftigkeit ihm gegenüber kann der Erzähler diesen Sinneswandel unter Alkoholeinfluss nur mit gemischten Gefühlen genießen.

Hinter der negativen Rolle des Alkohols verbirgt sich Prousts Strategie, dem Erlebnis der unwillkürlichen ►Erinnerung ihren wichtigen und einzigartigen Status als gewinnbringende, zur Offenbarung führende Rauscherfahrung im Roman zu erhalten und sie nicht neben einer durch Alkohol herbeigeführten Euphorie verblassen zu lassen. Im Gegensatz zur unwillkürlichen Erinnerung führt nämlich vom Alkoholrausch kein Weg zur Erkenntnis der Vergangenheit und damit auch kein Weg zum künftigen ►Roman, der die verlorene ►Zeit wieder einfangen will. Die »vom Rausch übersteigerten Empfindungen« stehen unter dem »flüchtigen und machtvollen Einfluss des Augenblicks«: »ich war in die Gegenwart eingeschlossen wie Helden, wie Berauschte; vorübergehend verfinstert, warf meine Vergangenheit nicht mehr jenen Schatten ihrer selbst vor mich, den wir die Zukunft nennen; da ich meinem Leben nicht mehr die Verwirklichung der Träume dieser Vergangenheit als Ziel setzte, sondern die Seligkeit der gegenwärtigen Minute, sah ich auch nicht mehr über diese hinaus.« Im Unterschied zu Baudelaire und anderen Zeitgenossen, die provokant die sündhafte Droge an die Stelle göttlicher Inspiration setzen, sieht Proust die subjektive Wahrnehmung als Mittel der Offenbarung.

Allegorie

In bildender Kunst und Literatur die Darstellung eines abstrakten Begriffs durch eine Figur, zum Beispiel die der Gerechtigkeit durch eine Frau mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand. Vom Mittelalter bis zum Barock war die Allegorie sehr beliebt bei der Verbildlichung christlicher Tugenden und Laster, geriet aber später als künstlerisches Verfahren in Misskredit. Baudelaire entdeckt sie für die französische Dichtung wieder, und auch Proust schätzt die antiquierte, aber reizvoll verschlüsselte Art der allegorischen Darstellung, die viele Anspielungen aufnehmen kann. Im Roman vergleicht Swann das blasse Küchenmädchen aus  Combray mit der Figur der Nächstenliebe (Caritas) auf den mittelalterlichen Fresken der Arena-Kapelle in Padua. Auf den ersten Blick scheint er damit nur dem Mädchen zu schmeicheln und ein altehrwürdiges Bild zu zitieren, auf den zweiten verbirgt sich aber in diesem Vergleich zusätzlich noch eine raffinierte Gegenallegorie: Françoise nämlich erweist sich als das genaue Gegenteil christlicher Nächstenliebe, da sie das Mädchen zum Spargelschälen zwingt, obwohl es eine schwere Allergie auf ►Spargel entwickelt und mit Asthmaanfällen reagiert. Wie bei den mittelalterlichen Kirchenfenstern in Combray oder den Legenden der Merowinger entlockt Proust hier der Allegorie neben einer archaischen Schönheit und Einfachheit einen verborgenen Unterton von Gewalt und Grausamkeit.

Allergie

Prousts heftige Asthmaanfälle wurden durch bestimmte Pflanzen und Düfte ausgelöst. Er selbst pflegte den Ruf seiner Anfälligkeit, so dass Anekdoten kursierten, er bekomme bereits einen Anfall, wenn er nur das Gemälde einer Rose betrachte, oder er habe einem Freund vorgeworfen, dieser habe zuvor einer Dame die Hand gegeben, welche ein Rose berührt hatte, oder er verwehre bestimmten Damen wegen ihres starken Parfums den Zutritt zu seiner Wohnung. In späteren Jahren war seine Lichtempfindlichkeit legendär, wegen der er erst nach Einbruch der Dämmerung das Haus verließ. Im Roman erscheinen die Empfindlichkeit äußeren Reizen gegenüber und die Notwendigkeit, diese im ►Zimmer abzuschirmen, als wesentliche Bedingungen poetischer Schöpfungskraft.

Alter

Das Alter ist neben dem sozialen Auf- und Abstieg die wichtigste Triebkraft der erstaunlichen Verwandlungen, denen Prousts Figuren immer wieder unterliegen. Die Personen scheinen sich im Alter nicht bloß zu verbrauchen oder dahinzuschwinden, ihr Verfall ist vielmehr mit einem körperlichen oder moralischen Identitätswechsel verbunden; charakteristische Eigenschaften verschwinden und neue, ungeahnte bahnen sich ihren Weg. Der elegante, weltgewandte Charlus wird dick, unansehnlich und zuletzt gesellschaftlich geächtet, Saint-Loup wird homosexuell, Odette doch noch wahrhaft elegant, bei Swann schälen sich durch Alter und Krankheit jene jüdischen Gesichtszüge heraus, die sein Leben lang unauffällig waren, und der Erzähler stellt an sich selbst plötzlich Ähnlichkeiten mit seinem ►Vater fest, mit dem ihn kaum etwas verband. Am Ende des Romans treffen sich alle gealterten Figuren zu einem makabren Maskenball; die Spuren der Zeit haben sie zu grotesken Gestalten gemacht, die der Erzähler kaum wiedererkennt: »Bloch war in Sprüngen hereingekommen, wie eine Hyäne.«

Das Altern der Figuren und ihre Metamorphosen weisen nicht nur auf die Vergänglichkeit des Lebens hin, sondern auf die grundsätzliche Inkonstanz und Flüchtigkeit dessen, was man eine Person nennt. Diese besteht eigentlich nur aus wenigen, willkürlich herausgegriffenen und unverlässlichen Eindrücken, die man unter einem ►Namen zusammenfasst: »Ein Name, das ist oft alles, was für uns von einem Menschen bleibt, und zwar nicht erst, wenn er tot ist, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten. Und unsere Vorstellungen von ihm sind so undeutlich, oder so absonderlich, und entsprechen so wenig denjenigen, die wir von ihm gehabt hatten, dass wir völlig vergessen haben, dass wir uns um ein Haar mit ihm duelliert hätten, uns aber daran erinnern, dass er als Kind eigenartige gelbe Gamaschen in den Champs-Élysées trug, während er sich umgekehrt trotz aller unserer Beteuerungen nicht erinnern kann, jemals dort mit uns gespielt zu haben.«

Auch dem Entschluss des Erzählers, seinen lange geplanten Roman zu schreiben, geben erst die erschreckenden Spuren des Alters echte Dringlichkeit. Der Erzähler wird sich bewusst, dass er jetzt gegen sein eigenes Altern und den ►Tod anschreiben muss, aber auch, dass er die ►Zeit und ihre Wirkung zum eigentlichen Hauptthema seines Romans machen kann: »Da kam mir plötzlich der Gedanke, dass in meinem Werk, so ich noch die Kraft hatte, es zu vollenden, diese Matinee – wie auch bestimmte Tage in Combray, die einst ihre Wirkung auf mich gehabt hatten –, die mir gerade heute zugleich die Idee für mein Werk eingegeben als auch die Furcht eingeflößt hatte, es nicht verwirklichen zu können, vor allem anderen in diesem Werk jene Gestalt kennzeichnen würde, von der ich schon damals in der Kirche in Combray eine Vorahnung hatte und die für uns gemeinhin unsichtbar bleibt, nämlich die der Zeit.«

Andrée

In den ersten Skizzen zum Roman hieß Albertine noch so, später wird eine Andrée dann Anführerin der kleinen Bande junger Mädchen, die dem Erzähler in ►Balbec begegnet. Gleich bei ihrem ersten Auftreten führt sie ein übermütiges Akrobatenstück vor, das die Mädchen als gesellschaftliche und sexuelle Aufrührerinnen darstellt und jene Probleme vorwegnimmt, die später der Erzähler mit der unbändigen Albertine haben wird. Andrée setzt mit einem Sprung über einen alten Bankier hinweg, der sich auf der Mole sonnt, und setzt sich mit dieser Geste stellvertretend für die anderen Mädchen über alle Regeln hinweg: über die Ehrfurcht vor ►Alter, Reichtum und Macht und über die guten Sitten, die es verbieten, den weiblichen Körper so zur Schau zu stellen.

Nachdem der Erzähler Albertine aus der kleinen Bande zu seiner Geliebten erkoren hat, wird Andrée zu seiner Rivalin und immer wieder Anlass seiner obsessiven ►Eifersucht. Erste Quelle dieser Eifersucht ist der Tanz im Casino von Incarville, wo Cottard den Erzähler darauf aufmerksam macht, dass Andrée und Albertine sehr eng tanzen und ihre Brüste aneinander reiben; das hier gesäte Misstrauen beginnt zu gedeihen und bringt den Erzähler dazu, auch ursprünglich unverdächtige Szenen als Beweise für ein Verhältnis zwischen den Mädchen zu deuten. Wie bei allen anderen hetero- oder homosexuellen Verhältnissen, derer er Albertine verdächtigt, erfahren wir nie zweifelsfrei, ob Andrée und Albertine tatsächlich mehr als nur Freundschaft verbindet. Nicht die lesbischen Neigungen der Freundinnen sind das eigentliche Thema, sondern die Unmöglichkeit, die wirkliche Identität eines geliebten Menschen vollständig zu erfassen, und die andauernde Qual, die diese Unmöglichkeit dem Liebenden beschert. Andrée verkörpert diese grundsätzliche Qual, die das Liebesverhältnis des Erzählers zu Albertine ständig begleitet, so dass nach deren Tod der Name Andrée zum Synonym der Liebe zu Albertine werden kann. Andrée wird zur besten Erinnerung an Albertine – nicht weil sie deren Freundin war, sondern weil sie den Erzähler an jenes quälende Gefühl erinnert, dass sein Verhältnis zu Albertine bestimmt hat. In einer für den Roman charakteristischen Wiederholung von Personenkonstellationen macht Proust Andrée zuletzt zur besten Freundin von ►Gilberte, einer weiteren verlorenen *  Liebe des Erzählers.

Angst

Nahezu jede Veränderung im Leben des Erzählers – sei sie nun positiv oder negativ – löst Angst aus, sie ist der Gegenpol zum beruhigenden und vertrauten Gefühl der ►Gewohnheit. Urszene dieser Angst vor dem Verlust des Gewohnten ist der Besuch Swanns in Combray, der dem kleinen Marcel den ►Kuss der Mutter entzieht. Jede folgende Verweigerung, jeder drohende Verlust wird diese Angst wieder zutage bringen und den Erzähler in Panik versetzen; in immer neuer Gestalt wiederholen solche Situationen die Ohnmacht, das Geliebte an sich zu binden und es verlässlich zu machen. Schon die Befürchtung, Albertine könne nicht wie vereinbart nach einem Theaterbesuch noch bei ihm vorbeikommen, erweckt die schreckliche, kindliche Angst aus Combray wieder zum Leben: »Als ich diese entschuldigenden Worte hörte, die klangen, als werde sie nicht kommen, spürte ich, wie das Verlangen, dieses samtene Gesicht, das schon in Balbec alle meine Tage zu dem Augenblick hin lenkte, in dem ich vor dem malvenfarbenen Septembermeer dieser Rosenblüte nahe sein würde, aufs schmerzlichste danach drängte, sich mit einem sehr verschiedenen Element zu vereinigen. Dieses schreckliche Bedürfnis nach einem Menschen hatte ich, in Combray, am Beispiel meiner Mutter kennengelernt, und zwar so heftig, dass ich hätte sterben mögen, wenn sie mir durch Françoise bestellen ließ, dass sie nicht mehr hinaufkommen könne.« Die schönen Bilder, in die sich die Verlustangst kleidet, können den egozentrischen Grundton nicht überspielen. Mehr noch als die Sehnsucht quält den Erzähler die Angst, er könne die Kontrolle über die Geliebte verlieren, sie könne sich ihm endgültig entziehen. Eine solche Liebe, in der sich Angst mit Besitzanspruch paart, führt letztlich zur Gefangennahme Albertines und damit zwangsläufig zum Ende der ►Liebe.

Antisemitismus

In dem Maße, in dem der Erzähler sich in der mondänen Gesellschaft von Paris bewegt, wird der sich im Gefolge der ►Dreyfus-Affäre entwickelnde Antisemitismus zunehmend Teil seiner Gesellschaftsbeobachtungen. Sodom und Gomorrha zeigt Juden wie Homosexuelle als »race maudite«, als verfolgte, in der Öffentlichkeit zu ständiger Verstellung verdammte Gruppen. Wie für die ►Homosexualität wurde Proust auch für das ►Judentum die Übernahme einer diskriminierenden Perspektive vorgeworfen, welche sich von der eigenen Identität lossagt. Im Gegenteil erlaubt es jedoch die unbestimmte, nirgends eindeutig festlegbare Position des Erzählers, die unentrinnbare Dynamik sozialer Ausgrenzungsmechanismen nachzuzeichnen, die sich am Anderssein der Juden, noch mehr aber an deren Anpassung stören: Gerade der assimilierte Jude macht sich verdächtig, der vollständig in der Pariser Gesellschaft aufgeht, ja sich wie Swann in deren höchsten Kreisen bewegt. Schon für  Combray kolportiert Marcel dieses Klischee von der ›Tarnung‹ der Israeliten aus der Sicht seiner Eltern, die Swann nicht mehr einladen wollen: »Man wird vielleicht als Erklärung anführen, dass die Schlichtheit des vornehmen Swann bei diesem nur eine ausgefeiltere Form von Eitelkeit gewesen sei und dass, wie so manche Israeliten, der frühere Freund meiner Eltern nur abwechselnd die aufeinanderfolgenden Stadien vorgeführt haben mochte, durch die die Angehörigen seiner Rasse hindurchgegangen waren, von einfältigstem Snobismus und gröbster Unmanier zu geschliffenster Höflichkeit.« Die notorische jüdische Wandelbarkeit wird zum zentralen Argument der Ausgrenzung – die Annahme »verschiedener Stadien« kann rückblickend jede Eigenschaft Swanns als oberflächliche Anpassung entwerten und so die Beendigung der Freundschaft rechtfertigen, deren eigentliches Motiv in der Verachtung für die nicht standesgemäße Odette liegt. Selbst Marcels liebenswürdiger Großvater, ein enger Freund der Swanns, folgt dem bis heute gängigen Muster antisemitischer Verschwörungstheorien, wenn er ein allgegenwärtiges, »geheimes« Judentum annimmt, das es gilt, über einen ebenso geheimen Code zu decouvrieren: Hinter jedem neuen Freund Marcels vermutet er einen Juden und summt zum peinlich berührten Entsetzen seines Enkels eine Melodie aus der Oper La Juive, wenn er vermeint, einen Hinweis wahrzunehmen. Auf der anderen Seite wird Marcels Familie durch ihre Unkenntnis von Swanns hoher gesellschaftlicher Stellung davor bewahrt, die antisemitischen Erkennungsmuster auf ihn anzuwenden: »Offenkundig hatten es meine Eltern bei dem Swann, den sie sich zusammengesetzt hatten, aus Unkenntnis unterlassen, eine Menge von Details aus seinem mondänen Leben unterzubringen, die für andere Leute, die mit ihm zusammenwaren, einen hinreichenden Grund darstellten, Vornehmheit in seinen Zügen herrschen und an seiner gebogenen Nase als ihrer natürlichen Grenze enden zu sehen; doch war es ihnen auch gelungen, in diesem von seinem Prestige unberührten, offenen und großflächigen Gesicht, am Grunde dieser unterschätzten Augen, den unbestimmten, süßen Rückstand – halb Erinnerung, halb Vergessen – unserer müßigen Stunden zu versammeln, die wir nach unseren wöchentlichen Diners gemeinsam um den Spieltisch oder im Garten während unserer Zeit ländlicher Gutnachbarschaft verbracht hatten.«

In der kleinen Welt Combrays sieht Marcels Familie in Swann den freundlichen Nachbarn, sein Gesicht assoziiert sich mit den schönen Abendstunden im Garten. Dort jedoch, wo Swanns gesellschaftliche Brillanz bekannt ist, markiert die Krümmung seiner ►Nase zugleich deren Grenzen – Prousts Satz zeichnet die Ausgrenzungsbewegung an ihr nach: Swanns jüdisches Profil zeigt sich erst vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Position, die er beansprucht, es ist ebenso imaginär wie die Gestalt des freundlichen Nachbarn, welche Marcels Familie auf das »offene und großräumige« Gesicht Swanns projiziert. In seiner Zeichnung der Bilder, die man sich jeweils in Combray und Paris von Swann macht, greift Proust eine jahrhundertealte antisemitische Formensprache auf, welche – vor allem in der Malerei – die Gesichtsfläche (Christi) mit dem jüdischen Profil (etwa der Schriftgelehrten im Tempel) kontrastiert. Wenn wir schließlich im kranken, todgeweihten Swann einen »alten Hebräer« sehen, dessen ausgemergelte Wangen einen Halbmond zeichnen, bedeutet das, dass der antisemitische Blick sein Werk vollendet hat – kurz vor Swanns gesellschaftlicher Verbannung und seinem Tod ist selbst für Marcel im ►Salon nur noch der »Jude Swann« sichtbar. Erst nachträglich kann der Erzähler die vielen anderen Seiten des Freundes, nicht zuletzt dessen Ähnlichkeiten mit sich selbst, in der ►Erinnerung auferstehen lassen. Schon in Auf dem Weg zu Swann führt uns Proust den Antisemitismus als mächtigen gesellschaftlichen Wahrnehmungsapparat vor, der unabhängig von persönlicher Kenntnis und persönlichen Beziehungen funktioniert und gerade deswegen beliebig zur Auf- oder Abwertung Anderer genutzt werden kann.

Auf dem mondänen Terrain von ►Balbec wiederholt sich die Darstellung des antisemitischen Blicks am Beispiel von Bloch: Nicht mehr die Physiognomie, sondern jüdische Sprache und Verhalten stehen jetzt im Vordergrund, und Marcel lässt sich nun als beteiligter Beobachter in den paradoxen Antisemitismus verstricken, der sowohl am Jüdischen als auch an dessen Verkleidungen Anstoß nimmt.  Bloch scheint ihm zunächst alle gängigen Vorurteile über das ►Judentum zu bestätigen: Er ist unehrlich und snobistisch, missgünstig dem Erfolg Anderer gegenüber, biedert sich stets bei der feinen Gesellschaft in Balbec an, verleugnet seine eigene Familie, die sich bei einem Besuch des Erzählers wiederum als eine Gruppe unangenehmer Heuchler präsentiert, beständig bemüht, einer Gesellschaft hinterherzulaufen, die sie ausschließen will. Insbesondere irritiert Marcel die assimilatorische Mimikry, die respektlose und übertriebene Imitation der mondänen Kultur – bis hin zur Übernahme von deren Antisemitismus. Während die Cousinen und Schwestern Blochs die neuesten Moden der Sommerfrische auf die Spitze treiben und sich mal als Krabbenfischerinnen, mal als Tangotänzerinnen verkleiden, kombiniert der »ebenso vulgäre wie belesene« Bloch in seiner Sprache Bruchstücke der gesamten Bildungskultur des Abendlandes, spricht bei Wind nur von »Zephyrschwingen«, beschreibt einen Entenbraten als göttliche Opfergabe und präsentiert Saint-Loup seinen Schwestern in epischen Versen: »Hündinnen […], ich stelle euch vor den Ritter Saint-Loup mit dem hurtigen Speer, herbeigeeilt für einige Tage vom marmorschimmernden Doncières, dem rossereichen.« Das Jiddische, jener »halb deutsche, halb jüdische Jargon«, der von der älteren Generation der Familie Bloch gesprochen wird, setzt die unbefangene Aneignung von Versatzstücken verschiedener Kulturen fort. Was den Erzähler zunächst irritiert, fasziniert ihn jedoch ebenso nachhaltig und ändert seine Perspektive auf das Leben in Balbec: Die parodistische Übersteigerung des ►Snobismus, die lustvolle Mischung verschiedenster kultureller Bildungsbrocken, die Kostüme – kurz der Karneval der Blochs führt die Rituale der »feinen Gesellschaft« als Bühnentheater vor und entblößt die Albernheit auch ihrer Posen. Aus der neuen Perspektive erscheint das Verhalten der christlich-französischen Mädchen in Balbec – »mokant und französisch wie die Statuen von Reims« – als eine ebenso übertriebene Karikatur wie die Krabbenfischerinnen und Tangotänzerinnen, allerdings ohne deren provokanten Reiz. Sowohl die Faszination als auch die ständigen Abgrenzungsbemühungen des Erzählers dieser bunten, lebendigen, »eher malerischen als angenehmen« Gruppe gegenüber, die alle aristokratischen und großbürgerlichen Konventionen sprengt, sind erkennbar in seiner eigenen Konkurrenz zu Bloch begründet. Wie in einem Zerrspiegel sieht der  Erzähler sich einem Abbild seiner eigenen mondänen und schöngeistigen Ambitionen gegenüber: Er muss sich von Bloch als Snob entlarven lassen und seine eigenen Vorstellungen eines literarischen Stils von dessen so blumiger wie unverblümter Sprache in Frage stellen lassen; viel später gesteht er, sie jahrelang imitiert zu haben.

Der Antisemitismus erweist sich, analog zur Homophobie, als stets von eigennützigen Interessen gesteuert; die antisemitischen Ausfälle von Charlus sind eine Pose, mit der er den Erzähler provozieren will, ihm Blochs Adresse zu verraten, da er sich in Wahrheit für ihn interessiert. Werden die Wahrnehmungen des Jüdischen bei Marcels Familie von provinzieller Sorge um den eigenen Ruf und beim Erzähler von Unsicherheit, Eifersucht und Konkurrenz getrieben, gründen sie bei Charlus im verbotenen sexuellen Begehren; der Antisemitismus wehrt weniger das Andere ab als jenes Ähnliche, welches die uneingestandene eigene soziale Angst offenlegt.

Innerhalb der Familie Bloch verkörpern sich die Reaktionen auf die ständige gesellschaftliche Ausgrenzung in zwei Extrempolen: Bloch assimiliert sich im letzten Teil des Romans bis zur Unkenntlichkeit; er legt seinen jüdischen Namen ab und wandelt auch seine Erscheinung so, dass – wie der Erzähler bemerkt – nicht einmal der Großvater mehr Hinweise auf seine Herkunft hätte finden können; er gibt sich als englischer Dandy, glättet seine Locken, und die Krümmung seiner Nase verschwindet hinter einem »furchterregenden« ►Monokel, mit dem er seine Zugehörigkeit zur mondänen Welt signalisiert. Blochs Onkel Nissim Bernard hingegen, dessen ►Name allein für den Erzähler die gesamte orientalisch-alttestamentarische Kultur heraufbeschwört, verbirgt weder seine Homosexualität noch sein Judentum und genießt in diesem doppelten, offenen Außenseitertum die Freiheit seines persönlichen Babylon.

Die jüngste Forschung hat belegt, dass schon Prousts jüdische Zeitgenossen seine präzise analysierende Darstellung des Antisemitismus mit Aufmerksamkeit und Zustimmung gelesen haben; Hannah Arendt nennt ihn nach der Shoa rückblickend »den größten Schilderer der Assimilation« und ihres Scheiterns. Hundert Jahre nach Proust dokumentiert Edmund de Waals aufsehenerregender historischer Roman Der Hase mit den Bernsteinaugen