Das Puppennetz - Tom Hansen - E-Book

Das Puppennetz E-Book

Tom Hansen

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Beschreibung

Eine verscharrte Leiche auf dem weitläufigen Öjendorfer Friedhof, eine Visitenkarte von "Life Dolls" und maulfaule Informanten auf der Reeperbahn: Hauptkommissar Helbing vom Hamburger LKA muss für seinen aktuellen Fall den Kiez mal wieder auf links drehen – zusammen mit dem sparkassigen Kollegen Merseburger von der Kripo und dessen Assistentin Fritzi. Denn ausgestopfte Frauen, die im Darknet als Sexpuppen verkauft werden, sind auch für Helbing neu.

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Seitenzahl: 418

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Tom Hansen, Ben Wolf

Das Puppennetz

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhaltsverzeichnis

DAS VERHÖR: DER ERSTE KAFFEE

PROLOG

Montagmorgen, 9. Oktober

Sechs Wochen zuvor

Montagvormittag, 9. Oktober

Fünf Wochen zuvor

DAS VERHÖR: DIE ZWEITE ZIGARETTE

Montagmittag, 9. Oktober

Vier Wochen zuvor

Drei Wochen zuvor

Montagabend, 9. Oktober

Dienstagmorgen, 10. Oktober

Mittwochmorgen, 11. Oktober

Zwei Wochen zuvor

DAS VERHÖR: DIE DRITTE LÜGE

Donnerstag/Freitag, 12./13. Oktober

Zwei Wochen zuvor

Montagvormittag, 16. Oktober

Zwei Wochen vor dem 16. Oktober

Montagmittag, 16. Oktober

16. Oktober, nachts

Dienstag, 17. Oktober

Dienstag, 17.Oktober, zur selben Zeit

DAS VERHÖR: DIE VIERTE TRÄNE

Mittwoch, 18. Oktober

Mittwoch, 18. Oktober, wenige Kilometer entfernt

Freitag, 20. Oktober

Zur selben Zeit im Hauptquartier der Harbour Hammers

Eine Woche später, 27. Oktober, abends

Samstag, 28. Oktober

28. Oktober bis 6. November

Montag, 6. November

Montag, 6. November

Dienstag, 7. November

Eine Woche später

Weitere zwei Wochen später

Sonntag, 3. Dezember

DAS VERHÖR: DAS FÜNFTE GEBOT

Montag, 4. Dezember

Dienstag, 5. Dezember

Mittwoch, 6. Dezember

Mittwoch, 6. Dezember

Donnerstag, 7. Dezember

Donnerstag, 7. Dezember

Freitag, 8. Dezember

Samstag, 9. Dezember

DAS VERHÖR: DIE SECHSTE BESTELLUNG

Sonntag, 10. Dezember

Sonntag, 10. Dezember

Sonntag, 10. Dezember

Zur selben Zeit zwei Meter tiefer

Eine Woche später, Sonntag, 17. Dezember

Zur selben Zeit

Währenddessen in Fritzis Verließ

Zur selben Zeit vor einer Villa in Aumühle

Eine Stunde später

DAS VERHÖR: DIE SIEBTE UND LETZTE FRAGE

Montag, 18. Dezember

EPILOG

Impressum neobooks

Inhaltsverzeichnis

Das Puppennetz

Impressum

Tom Hansen & Ben Wolf

c/o AutorenServices.de Birkenallee 2436037 Fulda

[email protected]

DAS VERHÖR: DER ERSTE KAFFEE

„Warum?“

„Weil ich’s konnte.“

„Das ist alles?“

„Natürlich nicht.“ Er griff nach seinem Plastikbecher und nimmt einen Schluck von der dunklen Plörre aus dem Kaffeeautomaten. Sehr viel mehr als das Koffein half der widerliche Geschmack dabei, wach zu bleiben. Seit einer Woche hatte er kaum noch geschlafen. Und jetzt das Verhör. Streng genommen war so was Folter, bemitleidete er sich selbst.

„Na, denn: Schießen Sie mal los“, forderte ihn Helbing auf.

Sein Gegenüber atmete laut und lange aus. Einige Zeit schien es, als sei es das Einzige, was heute noch aus seinem Mund käme. Im „Aussage verweigern“ waren sie ja alle gut. Andererseits waren die Beweise sowieso erdrückend.

„Die Gelegenheit war einfach zu gut. Außerdem bleibt man im Darknet ja auch anonym. Dachte ich zumindest.“

„Also haben Sie mit Ihrer Erbschaft die Sache selbst in die Hand genommen?“, setzte Helbing nach.

„So isses.“

„Und warum Fritzi?“

„Warum nicht?“

„Schlechte Antwort.“

„Von sich wollte sie wohl nicht die Beine breitmachen. Keine Ahnung. War mir auch egal. Wer bestellt und zahlt, der wird auch beliefert. Hanseatische Kaufmannsehre.“

„Echte hanseatische Kaufmänner hätten jemand wie Ihnen einen Nagel durch den Kopf gehämmert, wie Störtebecker!“

„Na, da freu ich mich doch geradezu auf den deutschen Wohlfühlknast“, grinste er.

PROLOG

Irgendwie hatte er sich das alles einfacher vorgestellt. Zum tausendsten Mal saß er an seiner „Werkbank“ und grübelte und grübelte und grübelte. Genau genommen war es ein Seziertisch inklusive Auffangbecken für Körperflüssigkeiten. Auf einem Tisch daneben lag, nach Größe sortiert und rechtwinkelig angeordnet, das Besteck. Frisch poliert und von allerbester Qualität. An mangelhaftem Werkzeug sollte sein Start-up nicht scheitern.

Schon als Kind hatten ihn Puppen fasziniert. Schaufensterpuppen. Jeden Nachmittag verbrachte er im vollgestellten Lagerraum des elterlichen Modegeschäfts. Zunächst war es rein platonisch. Er gab ihnen Namen, erzählte von seinen Erlebnissen in der Schule und kleidete sie an. Als der erste Bartflaum ihn gefühlt zum Mann machte, zog er sie lieber aus. Das Risiko, dabei erwischt zu werden, turnte ihn nur noch mehr an. Er fand es sogar noch geiler, als die Kundinnen durch ein heimlich gebohrtes Guckloch in der Umkleidekabine zu beobachten.

Jenny war seine Favoritin. Jenny war meistens blond und das einzige Modell mit Körbchengröße Doppel-D. Ein Fehlkauf, wie seine Mutter meinte. Mit diesem Körperbau könnten sich ihre Kundinnen nicht identifizieren. Außerdem sahen die Kleider ihrer Ansicht nach an Puppen mit normaler Figur weitaus besser aus. Eine Meinung, die er nicht teilen konnte.

Irgendwann fing er an, Jenny in Einzelteile zu zerlegen, und Stück für Stück in seinem Rucksack nach Hause zu tragen. Seine Mutter würde sie eh nicht vermissen. Beim Zusammensetzen bohrte er zwischen ihren Beinen ein Loch und setze ihr eine Gummi-Muschi ein. Kurz darauf hatten er und Jenny in seinem Zimmer ihr erstes Mal. Natürlich war er viel zu schnell gekommen, aber Jenny störte sich nicht daran. Wie auch.

Dabei war er alles andere als ein Freak. Er gehörte zu den beliebtesten Schülern seiner Klasse und wurde im siebten Jahrgang sogar zum Klassensprecher gewählt. Nur mit den Mädchen wollte es nicht so recht klappen. Natürlich war er ständig in eine neue verliebt, so wie die meisten Jungs in seinem Alter. Nur machte ihm seine Schüchternheit einen Strich durch die pubertäre Rechnung. Selbst mit 17 kam er immer noch auf null Körperkontakte. Im Grunde genommen war es da eh schon zu spät. Wer den Zeitpunkt für den ersten Kuss verpasst, ist raus aus dem Spiel. Rien ne va plus. Klar, es gab die Spätzünder. Aber es gab auch Lottogewinner.

Zudem hielt er Mädchen sowieso nur in einer idealisierten Form anbetungswürdig. Sobald es über die Schwärmerei hinausging und er sie näher kennenlernte, wurde es ihm schnell zu anstrengend. Mädchen mit eigenem Willen fand er augenblicklich hässlich. Die eben noch engelsgleichen Gesichter verwandelten sich in seinen Augen zu hässlichen Fratzen.

Puppen hingegen blieben immer still und damit vollkommen. Sie waren es bis heute. Warum sollte man also anderen Männern diese ewige Schönheit vorenthalten?

Montagmorgen, 9. Oktober

„Kann mal bitte einer die Kotze aufwischen? Danke!“, rief Helbing über den Flur und ging ins Büro. In der Davidwache sah es mal wieder aus wie Sau. Die üblichen Überreste einer normalen Wochenendschicht mit zwei Fußballspielen und unzähligen Junggesellenabschieden auf dem Kiez, die überraschenderweise aus dem Ruder gelaufen waren – und so manchem die Fahrt in den Hafen der Ehe verhageln würden, sobald der Club Tropicana mit „Dienstleistungen Diverses“ auf der Kreditkartenabrechnung auftauchte.

Helbing war genervt. Dabei hatte er dieses Wochenende endlich frei gehabt. Hatte er zumindest gedacht. Bis er es auf dem Fußballplatz verbringen musste. Sein Patenkind wandelte erfolglos auf Ronaldos Spuren. Ein Muss für den besten Geschenkelieferanten, fanden zumindest die Erzeuger der verhinderten Fußballlegende in spe.

Helbing hasste solche Freizeittermine. Noch mehr aber hasste er sich selbst, dafür, dass er nicht schon aus der Kirche ausgetreten war, bevor die Ehre des Patenamtes an ihn herangetragen wurde. Freizeit hatte für ihn absolut terminfrei zu sein, ansonsten war es keine. Sein Wochenende zwischen all diesen aggressiven Spießern verbringen zu müssen, die mit ihren Anfeuerungsrufen wie „Hau ihn um!“ ihre Kinder zu seinen Kunden von morgen machten, war für ihn schlimmer als ein Abend in der Oper. Was hätte er nicht für eine Pizza auf der Couch mit 3 Filmen oder einer neuen Serienstaffel gegeben. Gab es schlimmere Wochenenden als die, an denen man sich schon am Samstagmorgen auf den Montag freute? Eben.

„Sie gucken schon wieder wie die Merkel.“ Fritzi hatte sich wie immer an seine Fersen geheftet und folgte ihm sein derzeitiges Büro. Sie hatte gerade ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und war mit 23 und nur 1,60 Meter das von allen liebevoll umsorgte Küken der Dienststelle. Fritzi war eigentlich nur ihr zweiter Vorname, aber er klang wesentlich lustiger als Johanna, ihr erster Vorname. Zumal für eine Frau. Insofern war sie es seit dem Kindergarten gewohnt, Fritzi genannt zu werden.

Helbing hatte als Hauptkommissar des LKA die Kollegen der hiesigen Kripo in einem besonders schweren Fall von Menschenhandel einige Wochen unterstützt. Jetzt war es Zeit, die Sachen zu packen und ins sehr viel ruhigere LKA im beschaulichen Alsterdorf zurückzukehren.

„Kannst du nicht wieder auf die Polizeischule gehen? Ne Fortbildung machen oder so“, seufzte Helbing. Insgeheim liebte er diesen morgendlichen Schlagabtausch mit ihr. Es war ja nicht so, dass er jeden Tag schlechte Laune hatte. Jedenfalls nicht 24 Stunden lang. Nur morgens. 9 Uhr war einfach nicht seine Zeit. Dank Fritzi stieg sein Laune-Barometer um einiges schneller an. Zugegeben hätte er das natürlich ums Verrecken nicht.

Fritzi schüttelte wie immer betont missbilligend den Kopf. „Mach ich – wenn Sie zur Benimmschule gehen. Oder zum Lach-Yoga, würde auch Ihnen guttun.“

„Eher erschieße ich mich!“

„Sollten Sie ruhig mal ausprobieren. Das Lach-Yoga, nicht den Selbstmord. Meine Mutter ist seitdem viel besser drauf.“

„Deine Mutter muss sich auch nicht jeden Tag mit Psychopathen und sonstigen Schwerstkriminellen rumschlagen.“

„Jaja. Apropos: Was liegt heute an?“ Gegen Helbings miese Laune am Morgen war sie immun. Insofern perfekt geeignet für den Job.

„Böse Jungs schnappen, wie jeden Tag. Allerdings müsste ihr das ab heute wieder ohne mich schaffen.“

„Sie gehen schon?“

„Jep. Und deshalb ist heute Aufräumen angesagt. Bevor mich Dein Chef erwischt und mit dem nächsten Fall belästigt.“

„Hab ich da meinen Namen gehört?“ Trautmann, der Leiter der Kripo, kam auf seinen italienischen Lederschuhen beschwingt in Helbings Büro gelaufen.

„Morgen, Chef“, flötete Fritzi. Helbing nickte nur und durchforstete sein Schlüsselbund nach dem Schlüssel für den Aktenschrank. Es war höchste Zeit, endlich ein paar von den Dingern auszusortieren. Bei mindestens der Hälfte hatte er schon lange nicht mehr die leiseste Ahnung, zu welchem Schloss sie gehörten. Beim Rest blieb immer noch ein Drittel übrig, deren Schlösser in seinem Leben schon lange keine Rolle mehr spielten: alte Fahrradschlösser, der nachgemachte Haustürschlüssel zum ehemaligen Haus seiner Eltern und sogar ein kleiner Inbusschlüsse für die wackelige Armlehne seines ehemaligen Bürostuhls.

„Wo haben Sie denn Ihre bessere Hälfte gelassen?“, wollte Trautmann von Helbing wissen.

„Keine Ahnung, wo Kollege Merseburger steckt. Vermutlich ermittelt er seit drei Stunden irgendwo irgendwas, der alte Streber“, brummte Helbing in Gedanken versunken, während er sein Schlüsselbund weiter inspizierte.

„Ein Vorbild für uns alle. Fleißig, der Mann“, lobte Trautmann den nicht anwesenden Kripo-Kommissar mehr oder weniger ernst.

„Wohl eher überengagiert“, murmelte Helbing. „Ha!“ Triumphierend hielt er Trautmann einen Schlüssel entgegen.

„Was, ha? Während ihr Kollege bösen Buben auf die Schliche kommt, haben Sie an Ihrem Schlüsselbund einen Schlüssel gefunden?“

„Nicht irgendeinen – DEN Schlüssel!“ Glücklich ging Helbing in die Hocke und öffnete den Aktenschrank. Er hätte ihn lieber zulassen sollen. Eine unaufhaltsame Aktenlawine begrub seine Beine und den Bürofußboden unter sich. Je organisierter das Verbrechen, desto unorganisierter schien Helbings Ablagesystem zu sein. Während der Ermittlungen hatten andere immer Probleme, den Überblick zu behalten, aber für Helbing hatte dieses leichte Chaos System. Nur so konnte es Assoziationsketten bilden und Spuren ausmachen. Vor dem Beginn der Gerichtsverfahren musste er jedoch jedes Mal alles neu ordnen und aufbereiten. Ein Bürokrat war wirklich nicht an ihm verlorengegangen.

„Wussten Sie, dass man die Dinger bündeln und stapeln kann?“, fragte Trautmann.

„Ich schon, aber Fritzi offensichtlich nicht.“

„Jetzt schieben Sie das nicht auf unsere junge Kollegin. Sie ist die Einzige, die diesen Laden hier zusammenhält. Und dabei eine ausgesprochen gute Figur macht, wie ich finde“, flirtete Trautmann seine Untergebene an.

Sexuelle Belästigung im Kommissariat, nicht schlecht, dachte Helbing.

Fritzi lächelte unangenehm berührt und schaute auf den Fußboden.

„Da bin ich!“ Merseburger kam mit einer prall gefüllten Tüte vom Bäcker ins Büro.

„Na, wie schön. Dann sind wir ja vollzählig“, bemerkte Helbing sarkastisch.

„Sie haben für uns alle Brötchen mitgebracht?“, fragte Trautmann erfreut.

„Nicht nur das. Auch Teilchen! Hab doch heute Geburtstag“, antwortete Merseburger.

Helbing, Fritzi und Trautmann guckten sich leicht erschrocken an.

„Ja, richtig, natürlich - Mensch, Merseburger! Genau deswegen bin ich auch hier. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch! Ihre Kollegen haben sicher auch etwas für Sie vorbereitet“, kickte Trautmann den Ball mit einem Arschlochpass in Helbings Feld.

Natürlich hatten sie nichts vorbereitet. Helbing schon gar nicht und Fritzi war noch nicht lange genug hier, um Merseburgers Geburtsdatum zu kennen.

Merseburger grinste: „Hab euch nur verarscht. Hatte einfach Lust auf was Süßes und dachte mir, ich tue ein gutes Werk und bring euch auch was mit.“

Trautmann schaltete sofort wieder um vom geselligen in den dienstlichen Ton: „Das heißt also, Sie kommen ohne Entschuldigung zu spät zum Dienst?“

„Im Gegenteil: Hab beim Bäcker die Staatsanwältin getroffen und kurz dienstlich mit ihr gesprochen. Sie meinte, du sollst noch nicht abziehen, Peter. Sie kommt heute im Laufe des Tages mit einem neuen Fall vorbei, den sie mit uns besprechen möchte. Die Kollegen, die bisher dransaßen, kommen nicht weiter und sind wohl nach neuesten Erkenntnissen auch nicht zuständig. Geht um Frauenhandel.“

„Frauenhandel?“ Helbing hatte seit „Staatsanwältin“ nicht mehr richtig zugehört. Und das keineswegs, weil er Merseburger nicht respektieren würde. Im Gegenteil: Sie waren in den letzten Wochen ein perfektes Team geworden. Merseburger, der Aktenfresser, ohne dessen Pedanterie jeder Anwalt ihre mühsam ermittelten Beweise und Indizien vor Gericht in der Luft zerreißen würde und Helbing, der auf dem Dienstweg die Abkürzungen kannte und nutzte. Zudem hatte Helbing ein unschlagbares Gespür für Leute, die noch etwas Wichtiges zu sagen hatten, es bislang aber nicht wollten. Irgendwie kriegte er jeden zum Reden. Und das ohne mit Gewalt zu drohen oder so ‘n Quatsch. Für derartigen Hollywood-Blödsinn hatte er nichts übrig. Er wusste einfach, wie er mit jedem Einzelnen reden musste. Schließlich hatte jedes Milieu seinen eigenen Sprachcode – von der Kellerkneipe bis zur Vorstandsetage.

Der Grund für Helbings geistige Abwesenheit hieß Sandra Ancelotti, die Staatsanwältin. Ende dreißig wie er, pechschwarze lange Haare, noch längere Beine, und Augen, die ihn jedes Mal in die butterweichen Knie zwangen. Natürlich verheiratet mit ihrer Jugendliebe, einem erfolgreichen Anwalt. War eh klar. Aber träumen war erlaubt.

Drei Stunden später hatten Helbing und Fritzi die Akten sortiert und den Rest des Büros aufgeräumt. In Helbings Hormonküche herrschte dagegen weiterhin Chaos. Jedes Mal, wenn er auch nur an die Staatsanwältin dachte, geriet er völlig aus dem Gleichgewicht. Wie er das hasste! Fast noch mehr, als ihren perfekten Ehemann.

„Herr Helbing, sagen Sie bloß, Sie haben aufgeräumt?“ Sandra Ancelotti stand im figurbetonten Kostüm in Helbings Büro und schaute sich verschmitzt lächelnd um.

„Ich habe aufräumen lassen, Frau Ancelotti“, antwortete Helbing, um seinen sozialen Status auf Augenhöhe mit Sandras Ehemann zu bringen. „Wozu hat man schließlich seine Untergebenen.“

„Das hab ich gehört!“, rief Fritzi aus dem Nebenzimmer.

„Das solltest Du auch! Wäre schön, wenn Du Dich mal wie eine verhalten könntest“, konterte Helbing.

„Das könnte Ihnen so passen!“, rief sie zurück.

Helbing seufzte. „Sie sehen, Frau Ancelotti, ich hab es auch nicht leicht.“

„Sie Ärmster. Möchten Sie in den Arm genommen werden?“

Helbing schaute sie etwas zu verstört an.

„Sie müssen nicht, war nur ein Angebot“, schob Sandra Ancelotti lässig hinterher.

Helbing begann zu schwitzen und bekam rote Ohren, wie immer wenn er aufgeregt war.

„Äh, ja, nein, also – mir geht’s gut, danke.“

Sandra Ancelotti schmunzelte. Mein Gott, peinlicher ging’s nicht, dachte Helbing. Erschöpft ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und bedeutete der Staatsanwältin, es ihm gleichzutun. Auf dem Besucherstuhl, natürlich. Auch wenn es ihm tausend Mal lieber gewesen wäre, wenn sie ihr Luxusgesäß auf seinem Stuhl, und damit auf seinem Schoß, platziert hätte.

„Herr Merseburger hat Sie sicherlich schon vorgewarnt, nehme ich an?“, eröffnete sie das Dienstgespräch.

„Sie sind hier, weil die Kollegen nix gebacken kriegen.“

„So würde ich das nicht nennen, aber ja. Sie sind nun mal der Beste, Herr Helbing“, zwinkerte sie ihm zu.

„Ach, sagen Sie doch nicht sowas, Frau Ancelotti. Aber erzählen Sie mir mehr davon“, grinste Helbing.

„Es geht um einen Serienmörder. Zumindest glauben wir, dass einer dahintersteckt.“

„So weit, so irrelevant für mich. Wir sind ja die Jungs für die organisierte Kriminalität, wie Sie dort auf den frisch aufgeräumten Akten lesen können. Ich nehme also an, ihr Serienmörder ist in einem Verein tätig?“

„Einer Firma, um genau zu sein. Mutmaßlich. Wir glauben, dass dahinter Menschenhandel steckt und der Tod nur Teil des Geschäftsmodells ist, wenn ich das so bürokratisch sagen darf.“

„Bei mir dürfen Sie alles, Frau Ancelotti.“

Sandra fuhr amüsiert fort.

„Auf jeden Fall haben wir auf dem Öjendorfer Friedhof eine illegale Frauenleiche entdeckt. Vermutlich stammt sie aus dem Ostblock.“

„Eine illegale Leiche? Dachte immer, nur das Produzieren von Leichen wäre illegal. Hatte die Leiche keine Aufenthaltsgenehmigung für den Friedhof?“

Sandra Ancelotti lachte ihr herzhaftes, italienisches Lachen, das auch beim norddeutschesten Mann das Blut in Wallungen brachte. „Sie wissen, was ich meine.“

„Nee, ehrlich gesagt nicht.“

„Sie wurde illegal auf dem Friedhof verscharrt.“

„Aha! Das ist in der Tat hochgradig illegal in Deutschland. Verstößt bestimmt gegen die Friedhofssatzung.“

„Sie mich auch, Helbing. Jedenfalls wurden der Leiche postmortem sämtliche Organe entnommen.“

„Organhandel?“

„Seltsamer weise nicht, nein. Die Organe wurden ihr postmortem auch wieder beigelegt.“

„Aha. Klingt für mich erstmal nach einem Perversen mit einem ganz bestimmten Ritual.“

„Möglich. Wie gesagt, wir kommen in dem Fall nicht weiter. Der einzige Hinweis ist eine Visitenkarte, die wir auf dem Grab gefunden haben.“

„Eine Visitenkarte?“, rief Helbing entgeistert und beugte sich nach vorn. „Dann rufen Sie den Mörder doch an.“

„Helbing, Sie machen mich fertig. Da steht nur ein Firmenname und eine äußerst vage Kontaktadresse drauf: Life Dolls Inc., Secret Bar.“

„Death Dolls wäre wohl passender. Die Secret Bar ist, glaube ich, in der Herbertstraße.“

„Woher Sie das zu wissen glauben, frage ich lieber nicht.“

„Ermittlungen. Ganz professionelle Ermittlungen haben mich dort hingeführt, Frau Ancelotti.“

„Natürlich. Und nebenbei noch einen kleinen Schaufensterbummel gemacht, hm?“

„Höchstens nach dem Weg gefragt. Ich kenn mich da ja nicht so aus.“

„Na, klar. Am Fall interessiert?“

„Hab ich denn eine Wahl?“

„Natürlich nicht.“

„Dann ja.“

„Sehr schön. Ich lasse Ihnen die Ermittlungsakte zukommen. Besonders dick ist die allerdings nicht.“

Helbing winkte ab.

„Wer braucht schon Starthilfe? Waren Fingerabdrücke auf der Visitenkarte?“

„Ja, sind aber nicht in unserer Datenbank.“

„Dann wären Sie ja auch nicht hier, korrekt?“

„Korrekt. Immer wieder eine Freude mit Ihnen zusammen zu arbeiten.“ Sie zögerte kurz. „Also dann hören wir voneinander?“

„Unbedingt. Ich freu mich jetzt schon drauf.“ Und wie er das tat!

Sechs Wochen zuvor

Wie er den Dreck hier hasste! Eigentlich müsste er dringend putzen. Aber das wäre sinnlos gewesen in einem Gebäude mit über zweihundert Zimmern. Und dumm. So abgewrackt wie es jetzt war, bot es die perfekte Tarnung. Wer würde in einem abbruchreifen, verlassenen Krankenhaus einen klinisch sauberen OP-Saal vermuten? Den hatte er mit Sakrotan geradezu geflutet. Und mit Hingabe. Toni, den er seit Kindertagen kannte und der die Mädchen ranholte, hatte eine dicke Stahltür aus einer abgewrackten Fabrik eingebaut, damit keiner zur ungebetenen Visite hereinplatzen konnte. Die Tür zum Aufwachraum war ebenfalls aus Stahl und zusätzlich schallgedämmt. So wie der gesamte Raum. Allem Anschein nach wurden darin damals die selbstmordgefährdeten, aggressiven Psychos untergebracht und durch eine Panzerglasscheibe von einem kleinen Nebenraum aus beobachtet.

Für Frauen war der Aufwachraum ideal. Ohne lautes Gekreische schien keine von ihnen sterben zu wollen. Ihre kleineren Gehirne waren wohl nicht dazu in der Lage, die Ausweglosigkeit der Situation zu erfassen. Sie waren ohnehin nur schweigend zu ertragen. Da war es doch am besten, wenn sie für immer schwiegen.

Zu seinem Leidwesen währte der Genuss der Stille auch ohne Insassin nicht lange. Schritte hallten durch den Flur. War Toni schon im Anmarsch? Der sollte doch erst in zwei Stunden kommen. Und eigentlich war er für einen Italiener recht zuverlässig und pünktlich. Außerdem war es draußen noch hell und demnach viel zu gefährlich, jetzt schon hierherzukommen. Aber wer sollte es sonst sein?

Die Schritte wurden lauter. Sollte er sich verstecken? Quatsch, wozu? Ohne Schlüssel kriegte sowieso keiner die Stahltür auf. Dummerweise war das Schlüsselloch viel zu groß. Eine neue Stahltür mit modernem Schließzylinder wäre zu auffällig gewesen.

Den dicken Schlüssel hatte er an seinem Schlüsselbund befestigt, das wie immer in seiner Hosentasche steckte. Aber hatte er vorhin abgeschlossen? Vermutlich schon. Besser gesagt, er hoffte, dass er es automatisch getan hatte. Jetzt war es zu spät.

Was, wenn es einer dieser verbeamteten Schnüffler war, die auch die Leiche auf dem Öjendorfer Friedhof gefunden hatten? Oder ein Außendienstmitarbeiter der Albaner? Hatten die schon Wind von seiner Kooperation mit den Harbour Hammers bekommen und wollten das Geschäft im Keim ersticken – und damit ihn? Er hatte keine Wahl: Leise schlich er zum Schrank, holte die Glock 17 raus, entsicherte sie und lud durch. Wenn hier einer reinkam, kam er wenigstens nicht wieder lebend raus.

Er ging hinter einem halbhohen Stahlschrank an der Wand in Deckung und nahm die Tür ins Visier. Die Schritte verstummten direkt vor der Tür. Ein zufälliger Besucher konnte es auf keinen Fall sein. Niemand käme auf die Idee, bei hunderten Türen ausgerechnet auf diese zuzulaufen. Es sei denn, Toni hatte ihn verraten. Allerdings hatte er dazu keinen Grund. Schließlich bekam er 10.000 Euro pro Mädchen. Und dafür, dass er keine Fragen stellte. Und keine beantwortete!

Vorsichtig robbte er zur Tür. Er musste wissen, wer vor der Tür stand. Und falls er denjenigen nicht kannte, würde er einfach durchs Schlüsselloch schießen. Der Knall wäre zwar höllisch laut, aber das Krankenhaus lag weit genug ab vom Schuss.

Seine Knie schmerzten bei jeder Bewegung. Daran waren auch nur die Frauen schuld. Das stundenlange Hocken vor seinem Guckloch zur Umkleidekabine in der Boutique seiner Mutter hatte seine Spuren hinterlassen. Obwohl es ihn nie so befriedigt hatte, wie die Zeit mit Jenny, war es doch wie eine Droge gewesen. Diese Ahnungslosigkeit der Frauen. Diese Dummheit zu glauben, sie wären wirklich unbeobachtet. Gott, für denkende Frauen hatte er noch nicht einmal mehr Verachtung übrig.

Stück für Stück näherte er sich mit seinem rechten Auge dem Schlüsselloch – und schaute direkt in eine andere Pupille.

„Buh!“, rief jemand von der anderen Seite und fing schallend an zu lachen.

Bleich vor Schreck und mit kaltem Schweiß auf der Stirn schmiss er sich instinktiv auf den Boden. Toni! Dieses verblödete, italienische Arschloch! Wenn er nicht so gut darin wäre, Mädchen aufzugabeln und er selbst in dieser Disziplin nicht so miserabel abschneiden würde, hätte er ihm auf der Stelle seine scheiß Pupille weggeschossen.

„Jetzt mach schon auf“, rief Toni durch die Tür, ohne zu ahnen, dass er dem Tod wesentlich näher war als Venedig.

Mit zittrigen Fingern schloss er die Tür auf und brüllte Toni schon beim Öffnen an.

„Bist du nicht ganz dicht? Ich hätte Dich fast erschossen!“ So ein großes Projekt konnte nur funktionieren, wenn sich jeder ganz genau an die Regeln hielt. Der kleinste Fehler konnte alles in Gefahr bringen. Wo hätte er zum Beispiel Tonis Leiche entsorgen sollen - allein? Sein Tod war nicht eingeplant. Zumindest noch nicht.

Toni betrat kopfschüttelnd den OP und fläzte sich auf den ehemaligen Chefarztsessel in der hintersten Ecke.

„Jetzt reg Dich ab. Ein bisschen Spaß muss sein.“

„Wir sind hier nicht bei der ZDF Hitparade, du Arsch! Oder glaubst du tatsächlich, wir machen das hier zum Spaß?“ Er spukte die Wörter förmlich aus vor Wut.

„Na, warum denn sonst?“, fragte Toni ehrlich erstaunt. „Doch nicht nur wegen der Kohle. Du geilst Dich an den Mädels genauso auf, wie ich. Na ja, nicht ganz so wie ich, ich mag sie lieber lebendig, aber gut – leben und leben lassen. Oder sterben. Egal, du weißt, was ich meine.“

„Es ist mir scheißegal, was du meinst! Ich verlange nichts weniger von dir, als dass du dich an die verfickten Regeln hältst! Du hättest erst in zwei Stunden hier sein sollen. Ist dir überhaupt klar, warum?“

„Nö, ich hatte halt jetzt schon Zeit.“

„Weil es in zwei Stunden dunkel ist!“, schrie er Toni direkt ins Gesicht. „Ist es jetzt dunkel da draußen?“

„Na ja, als ich eben mit Sonnenbrille aus dem Auto gestiegen bin…“ Weiter kam Toni nicht. Ehe er sich versah, lag er auch schon auf dem kalten Fliesenboden und hatte den Lauf einer Glock 17 an der Schläfe. Sein potenzieller Henker kniete auf seinem Brustkorb, wurde plötzlich ganz ruhig und sagte mit kalter Stimme:

„Ich sollte Dich sofort abknallen!“

„Nun mal langsam. Es tut mir leid, okay? Kommt nicht wieder vor.“

„Und wenn doch?“

„Dann kannst du mich immer noch umbringen.“

Diese einfache Logik schien seinem Auftraggeber tatsächlich einzuleuchten. Er steckte die Pistole wieder ein, stand auf und setzte sich auf den Chefarztsessel. Toni richtete sich auf, blieb aber als Zeichen der Unterwerfung lieber auf den Fliesen sitzen und rieb sich die Schläfe.

„Wir müssen über deinen nächsten Job sprechen“, ging Tonis Vorgesetzter zum geschäftlichen Teil über.

„Sehr gern. Was darf es denn diesmal sein? Blond oder brünett?“

„Egal, das können wir zur Not färben. Hauptsache, sie sieht der Letzten möglichst ähnlich. Unser Kunde ist stocksauer, dass es bei seiner Favoritin nicht geklappt hat. Obwohl er das Risiko kannte. Aber erzähl das mal einem Mann, der es gewohnt ist, immer das zu bekommen, was er will“, seufzte er.

„Das wird schwierig“, gab Toni zu bedenken.

„Ja, ach was?!“ Toni sollte ihn besser nicht reizen. Die Pistole war immer noch durchgeladen. „Ich weiß aber schon eine Lösung. In der Herbertstraße sitzt eine, die so ähnlich aussieht, aber fast noch schärfer ist.“

„In der Herbertstraße?“, rief Toni entsetzt. Das konnte er unmöglich ernst meinen. Niemand war so lebensmüde und blöde, eine Nutte aus der Herbertstraße zu entführen. Da konnte man den Albanern oder sonstigen Menschenhändlern auch gleich auf die Motorhaube ihrer AMGs kacken. In der Herbertstraße saßen nur die besten, geilsten, hübschesten und vor allem teuersten Frauen von ganz Hamburg. Ach was, von ganz Deutschland! Die Ablösesummen, die zwischen ihren Zuhältern gezahlt wurden, konnten mit denen in der dritten Bundesliga mithalten.

„Du behauptest ernsthaft, ich würde das ganze Unternehmen gefährden, nur weil ich zwei Stunden zu früh auf einen verlassenen Hof fahre, aber kommst jetzt mit so einem Himmelfahrtskommando um die Ecke?“

„Jetzt mach dir nicht ins Hemd, Toni.“

„Ich mach mir nicht ins Hemd. Ich scheiß mir in die Hose! Das ist unser Todesurteil! Die machen uns kalt!“

„Quatsch! Die werden nie herausfinden, wo ihr Goldbückstück abgeblieben ist. Wir halten dicht, unser Freund von der Post weiß gar nicht, was er ausliefert, unsere Finanziers wollen bloß ihr Geld verzinst zurück haben und unser Kunde wird den Albanern erst recht nicht sagen, dass er ihre ehemalige Nutte vögelt.“

Toni atmete tief durch und zündete sich eine Zigarette an.

„Wie soll das überhaupt gehen?“

„Na, du machst erstmal einen Schaufensterbummel.“

„Und dann? Zieh ich die da einfach raus oder was?“

„Wenn du tatsächlich sterben willst, dann ja. Ansonsten observierst du sie, sobald sie Feierabend hat. Die aus der Herbertstraße wohnen meistens nicht in ihrem Arbeitszimmer. Und dann brichst Du bei ihr ein, betäubst sie und bringst sie hierher.“

Toni war immer noch nicht überzeugt, geschweige denn motiviert.

„Gibt’s dafür ‘ne Gefahrenzulage?“

„Träum weiter. Wir haben gar keine Wahl. Entweder wir riskieren‘s und haben eventuell die Albaner am Hals oder wir lassen es und haben unseren Kunden am Hals. Der uns dann auch noch ‘ne schlechte Bewertung gibt. Das wäre der Todesstoß für unser junges Unternehmen.“

„Scheiße!“, fluchte Toni und stand auf. „Gut, dann geh ich mal bummeln. Ich kann ja zumindest die Auslage checken.“

„Braver Junge. Und wenn du sie findest: nicht ficken! Höchstens eine ihrer Kolleginnen, damit du wie ein ganz normaler Kunde wirkst. Sonst erkennt sie dich gleich wieder, wenn du sie verfolgst.“

„Alles klar, Chef. Gibt’s dafür wenigstens Spesen?“

„Du darfst während Deiner Arbeitszeit vögeln und willst dafür auch noch Geld? Sieh zu, dass Du Land gewinnst! Und falls das zu lange dauert mit der Nutte, holst Du mir eine andere ran. Laufen ja nachts genug rum am Hans Albers Platz. Noch eine zum Üben kann nicht schaden. Wir können uns keinen zweiten Fehler erlauben.“

Montagvormittag, 9. Oktober

„Merseburger! Wir müssen los“, rief Helbing Richtung Büroküche. Prompt kam sein derzeitiger Arbeitsabschnittsgefährte mit zwei frisch gestrichenen Brötchen zurück.

„Ausgerechnet jetzt? Ich hab grad was zum Frühstück gemacht.“

„Kein Thema, ich nehm‘ das auch to-go“, entgegnete Helbing und nahm sich im Rausgehen eins der Brötchen.

„Hey, das ist mein Frühstück!“

„There is’ no I in Team, Merseburger. Und auf dem Brötchen leider auch nicht. Egal, los geht’s!“

Seufzend stellte Merseburger den Frühstücksteller ab, schnappte sich seine Jacke und das übriggebliebene Brötchen und stapfte Helbing hinterher.

„Wir fahren aber mit dem Dienstwagen!“, rief er.

„Irrtum Nummer zwei, Merseburger. VW nur über meine Leiche.“

„Deine italienische Schrottkarre springt doch eh wieder nicht an“, keuchte er, als er Helbing eingeholt hatte.

Helbing blieb so abrupt stehen, dass Merseburger vor Schreck das Brötchen aus der Hand fiel. Bedrohlich langsam drehte sich Helbing um, zeigte auf das Brötchen am Boden und sagte betont ruhig:

„Einfach pusten.“

Merseburger verzog das Gesicht: „Du Arsch!“

„Wer meine Diva beleidigt, muss mit allem rechnen.“

„Such Dir ‘ne Freundin, Helbing. Das entspannt.“

„Wozu? Die zickt genauso rum und verschlingt noch mehr Kohle.“

„Auch wieder wahr.“

Beim dritten Startversuch sprang Helbings alter Alfa Spider endlich an. Heiser fauchte der Auspuff den hinter sich stehenden Dienstwagen an. Das Verdeck war zwar leicht undicht und die Heizung funktionierte meist nur im Sommer, aber ansonsten ein Top-Auto. Menschen waren nach über dreißig Jahren ja auch nicht mehr fabrikneu, wie Helbing immer wieder betonte.

„Wo fahren wir überhaupt hin?“, wollte Merseburger wissen, nachdem er sich auf den Beifahrersitz gezwängt und sein Brötchen mit Puste desinfiziert hatte.

„In‘ Sexshop.“

Merseburger schaute Helbing verwundert an.

„Schon mal was vom Internet gehört? Da gibt’s Pornos frei Haus.“

„Was Du als verheirateter Mann nach Feierabend machst, tut hier nichts zur Sache, Merseburger. Wir haben den neuen Fall von Sandra bekommen.“

Merseburger grinste.

„Von Sandra, schau an. Ihr seid also schon beim Du.“

„Ich bin halt ’n Frauentyp.“ Eine Lüge im doppelten Sinne. Weder liefen ihm die Frauen die Bude ein noch war er bei Sandra Ancelotti schon so weit, dass sie ihm das Du angeboten hätte. Aber das musste Merseburger ja nicht wissen.

„Jedenfalls haben wir eine illegal verbuddelte Frauenleiche auf dem Öjendorfer Friedhof“, lenkte Helbing die Aufmerksamkeit wieder auf den Fall. „Inklusive Visitenkarte des >Bestatters<. Demnach hat der sein Büro in der Secret Bar in der Herbertstraße. Heute Vormittag hat er aber wohl noch keine Geschäftszeit. Also klopfen wir erstmal bei der Tratschtante vom Kiez auf den Busch.“

„Oh Gott, bitte nicht zu Mösen-Micha!“, stöhnte Merseburger und biss von seinem Brötchen ab.

„Doch, genau zu dem. Kommt das Knirschen von Deinen Zähnen oder ist das Sand?“

„Leck mich! Mösen-Micha grabbelt mich immer an, der alte Analritter.“

„Mösen-Micha ist doch nicht schwul.“

„Wer sagt das?“

„Der Kiez. Sonst hieße er Rosetten-Ralf oder so. Der Kiez lügt nicht.“

„Ja, nee, is‘ klar.“

„Sei froh, dass er Dich nicht als Komparsen für die Filme vermittelt, bei denen er Regie führt.“

„Jaja, wieso gehen wir da eigentlich nicht zu Fuß hin? Ist doch quasi schräg gegenüber.“

„Erstens weil ich nie zu Fuß gehe und zweitens, weil wir danach zum Öjendorfer Friedhof müssen, wie ich bereits erwähnte. Mal wieder nicht richtig zugehört, wa’?“

„War wohl in Gedanken schon bei Mösen-Micha.“

„Soll ich ihm sagen, dass Du die ganze Zeit an ihn denken musst?“

„Wenn Du keinen Wert mehr auf Deine Schneidezähne legst, gern.“

Auf dem Kiez herrschte gähnende Leere. Wenn man von den zwei Tonnen Müll auf den Gehwegen absah. Die gehörten genauso wie die Kotze in der Wache zu den üblichen Überresten eines normalen Wochenendes. Die Jungs mit den orangen Uniformen kämpften sich bereits tapfer bis zum Gipfel des Müllberges vor.

„Na, Micha, alles fit im Schritt? Oder haste Dir schon wieder was eingefangen?“, begrüßte Helbing den Verkäufer der Ü18-DVDs.

„Du fängst Dir gleich eine!“, konterte Mösen-Micha in seiner gewohnt schnoddrigen Art.

Mösen-Micha war eines der letzten Originale auf dem Kiez. Mit seinem Sortiment trieb er schon seit über zwanzig Jahren den Umsatz der Taschentuchindustrie in die Höhe.

„Was willst Du hier?“, schnauzte er Helbing an.

„Informationen, was sonst?!“, erwiderte Helbing im selben Ton. „Schon mal was von Life Dolls gehört?“ Helbing hielt ihm die Visitenkarte in einer Plastikfolie unter die Nase.

„Nee.“

„Natürlich nicht. Von Rape-Videos oder Snuff-Filmen haste auch noch nie was gehört, nehme ich an.“

„Selbstverständlich nicht. Mit solchem Schweinkram will ich nichts zu tun haben.“

„Richtig, Du bist ‘n anständiger Jung, nech?“

„Jo, ehrbarer Kaufmann und so.“

Jetzt traute sich auch Merseburger einen Schritt näher.

„Gut, Du Hanseat, dann lass uns das Ganze doch mal abkürzen: Wenn Dir spontan nicht doch noch was zu Life Dolls einfällt, müssen wir leider unsere ehrbaren Kollegen von der Sitte informieren. Die drehen Deinen Laden dann komplett auf links und finden vermutlich die eine oder andere DVD mit 17jährigen Darstellerinnen unter Deiner Ladentheke.“

„Und schon fällt mir was ein“, antwortete Mösen-Micha und kam hinter seinem Tresen hervor. „Vor einiger Zeit kam hier so ‘n Typ rein, der war fast so süß wie Du."

„Fass mich nicht an!“, rief Merseburger leicht panisch. Helbing konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Wenn Merseburger den harten Bullen spielte, dauerte es nie länger als zwei Minuten, bis der ängstliche Aktenschieber wieder zum Vorschein kam.

„Entspann Dich. Wenn Du verkrampfst, tut es nur unnötig weh“, zog ihn Mösen-Micha auf.

„Is‘ gut jetzt, Micha“, schaltete sich Helbing ein. „Weiter im Text, bitte.“

„Jaja, jedenfalls hat mich dieser Typ gefragt, ob ich diese Visitenkarten an besonders gute Kunden verteilen könnte. An Kunden, die gern etwas exotischere Ware kaufen. Sollte das einfach mit in die Tüte packen, wie in der Apotheke.“

„Die Sitte, Micha, die Sitte!“, griff Helbing die Vorlage von Merseburger auf.

„Mann, Leute, die Sitte ist hier aufm Kiez mein kleinstes Problem! Ihr seid hingegen schon viel zu lange in meinem Laden.“

„Wieso? Wirste vom Privatsektor observiert?“, fragte Helbing.

„Aufm Kiez wird jeder observiert. Aber von Leuten, die sich unsichtbar machen können, im Gegensatz zu euch.“

Merseburger zog eine DVD aus dem hinterstem Regal.

„Ist die Blonde auf dem Cover schon volljährig?“

„Ja“, antwortete Micha genervt, „das is‘ meine Schwester.“

„Na klar. Haste auch ‘n Film mit Deiner Mudder?“

„Nee, aber mit meiner Oma: sexy Grannys, weiter links. So, und jetzt macht Euch dünne, ihr Komiker. Sonst hol ich ‘n paar Jungs, die euch nicht so nett bitten.“

Helbing lehnte sich in Zeitlupe auf den Tresen und überlegte. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragte er ruhig und sachlich:

„Wissen die denn ein bisschen mehr über Life Dolls als du?“

Mösen-Micha lehnte sich ebenfalls nach vorne.

„Willste sie mal fragen? Kann aber nicht garantieren, dass sie mit dem Mund antworten. Meistens lassen die ihre Fäuste für sich sprechen. Die haben nicht so viel Respekt vorm staatlichen Gewaltmonopol wie ich.“

„Hm, okay. Nur noch eine Frage: Wie sah der Typ aus, der die Visitenkarten vorbeigebracht hat? Und hat Dein Laden eine Videoüberwachung?“

„Das sind zwei Fragen.“

„Sagen wir, sie hängen eng miteinander zusammen. Denn falls Du nicht mehr weißt, wie er aussah, wissen es vielleicht Deine Videobänder.“

„Gut, zu Frage eins: normal. Normal groß, normal alt, normal schlank.“

„Was heißt denn normal?“, hakte Merseburger aus dem Hintergrund nach und stellte eine Best of DVD von Kelly Trump zurück ins Regal.

„Besser als Du. Nich‘ nur gucken, auch kaufen!“, pflaumte ihn Micha an.

„Also sagen wir: 1,80 groß, um die 40 Jahre alt und 80 Kilo schwer?“, unterbrach Helbing das Verkaufsgespräch.

„Kommt hin, hab ihn nicht gewogen“, antwortete Mösen-Micha.

„Geht’s vielleicht noch ‘n bisschen ungenauer?“

„Schon wieder eine Frage. Nein, geht es nicht. Wobei: warte. Er hatte so ‘n Tattoo am Hals. Sah aus wie ‘ne Schlange mit ‘nem Stab in der Mitte.“

„Hat sich die Schlange um den Stab geschlängelt?“

„Ja, wie bei der Kiezapotheke um die Ecke.“

„Okay. Und deine Videoüberwachung?“

„Hab keine. Aber dafür hab ich zu tun. Tschüss!“

Helbing drehte sich um und warf einen Blick in den menschenleeren Laden.

„Was hast Du denn zu tun? Warenprobe mit ‘ner Familienpackung Kleenex im Hinterzimmer?“

Mösen-Micha griff unter den Ladentisch, zog einen Baseballschläger hervor und knallte ihn auf die Tischplatte.

„Nun is‘ aber Schluss mit lustig!“, brüllte er. „Seht zu, dass ihr Land gewinnt!“

Helbing und Merseburger standen draußen auf dem Bürgersteig, auf dem schon so mancher Bürger vom ehrbaren Weg abgekommen war, und schauten sich um.

„Wo ist denn hier bitteschön ‘ne Apotheke?“, fragte Merseburger.

„Na, da vorne an der Ecke. Lass mal hin, brauch eh noch Schmerztabletten.“

„Wieso das denn?“

„Gegen Schmerzen.“

„Haha, und was für Schmerzen?“

„Ach, irgendwas tut ja immer weh mit Ende dreißig: Kopf, Magen, Rücken, Knie – ich bin ‘n körperliches Wrack.“

„Wohl eher ‘n Weichei, das bei jedem Ziepen ‘ne Pille einwirft.“

„Oder so. Ich bin halt nicht bereit, irgendwelche Schmerzen zu ertragen. Wofür gibt es schließlich Medikamente?“

„Für Notfälle.“

„Wenn alle nur in Notfällen was schlucken würden, wäre unsere anständige deutsche Pharmaindustrie längst pleite. Und dann? Hätten wir keine Medikamente für Notfälle. Ich schlucke also quasi proaktiv, auch für Menschen wie Dich.“

„Sehr nobel von Dir.“

In der Apotheke nahm eine alte Dame den Hinweis aus der Werbung extrem wörtlich und fragte bei ihrem Apotheker den kompletten Beipackzettel ab. Eine Zweitbesetzung schien es nicht zu geben. Der Laden lief wohl nicht so gut. Was ungewöhnlich war für eine Apotheke. Die Dinger liefen ja eigentlich immer und überall. In Helbings Heimatstadt mit knapp über 10.000 Einwohnern gab ganze es sieben Apotheken. Die Häuser der Apotheker waren auch nicht unbedingt die kleinsten und schäbigsten der Stadt. Über die schlechte wirtschaftliche Lage jammerten sie trotzdem alle.

Helbing stellte sich auf eine längere Wartezeit ein und blätterte in der Apothekenumschau. Merseburger griff in die Schale mit dem Gratis-Traubenzucker und raunte ihm ins Ohr:

„Was genau wollen wir eigentlich hier?“

„Auf den Busch klopfen, wie bei Mösen-Micha“, antwortete Helbing etwas zu laut. Die alte Dame vor ihnen drehte sich pikiert um.

„Nicht auf Ihren Busch, werte Dame, keine Sorge“, beschwichtigte Helbing sie. Natürlich mit dem gegenteiligen Effekt.

„Wäre auch nicht möglich, junger Mann. Ich bin rasiert“, antwortete sie lässig und drehte sich wieder zum Apotheker um. Auf dem Kiez gab es eben keine Damen, die sich für guten Spruch zu fein waren.

Genau dafür liebte Helbing den Kiez. Um einen weiteren Spruch jedoch zu vermeiden, flüstert er Merseburger, der geschockt neben ihm stand wie ein Klosterschüler, der zum ersten Mal das Wort Penis gehört hatte, leise zu:

„Mir fällt grad nichts Besseres ein, als hier auf den Busch zu klopfen. Abgesehen von der Besichtigung des Leichenfundortes auf dem Öjendorfer Friedhof und dem Durchgehen der Akte nachher.“

„Verstehe“, nickte Merseburger, immer noch zu 99 Prozent sprachlos.

Nachdem der Apotheker die alte Dame davon überzeugen konnte, dass wirklich nur ganz wenigen Menschen von ihrem Medikament ein drittes Bein gewachsen war oder so, waren endlich Helbing und Merseburger an der Reihe.

„Moin, was kann ich für die Herren tun?“, fragte der Apotheker.

Helbing trat näher an die Ladentheke heran.

„Haben Sie noch Angestellte? Darunter eventuell einen Mann zwischen dreißig und vierzig?“

„Nee, das lohnt sich nicht mehr. Ich schmeiß den Laden hier allein.“

„Hm, führen Sie dann Hautcremes für frische Tätowierungen?“

„Natürlich, wir sind hier aufm Kiez“, entgegnete der Apotheker nordisch trocken. „Bevorzugen Sie einen bestimmten Hersteller?“

„Nee, ich bin unbemalt. Mich interessiert eher, ob hier schon mal ein Kunde mit einem tätowierten Apothekersymbol am Hals vorbeigekommen ist. Dieser Schlange am Stab.“

„Sie meinen den Äskulapstab.“

„Wenn Sie es sagen…“, meinte Helbing.

„Keine Ahnung, sowas merke ich mir nicht.“

„Aber ausgerechnet Ihr Symbol an einem Hals müsste Ihnen doch besonders aufgefallen sein.“

„Kann sein. Kann aber auch gut sein, dass da einfach ein Pflaster drüber war. Falls der, den Sie suchen, überhaupt hier war.“

„Na, dann überlegen Sie doch bitte mal ganz scharf“, insistierte Helbing und legte seinen Dienstausweis auf den Tisch.

„Den brauchen Sie mir nicht zu zeigen. Wenn Sie aussehen würden wie Leute aus dem – ich sag mal – privaten Sektor, hätte ich schon längst schärfer nachgedacht.“

„Aha, dann versuchen Sie es für uns doch wenigstens jetzt.“

Der Apotheker seufzte und schaute genervt auf seinen Linoleumfußboden.

„Kann sein, dass so einer hier war“, sagte er schließlich.

„Und wie sah er aus?“, hakte Merseburger nach.

„Normal.“

„Ich hab‘s befürchtet“, brummte Helbing. „Und was heißt bei Ihnen normal?“

„Normal groß, normal alt, normal schlank.“

Exakt die gleiche Formulierung wie von Mösen-Micha.

„Trug er eine Brille?“, hakte Helbing nach.

„Nee.“

„Wann war er denn ungefähr hier?“

„Pfff, ist bestimmt schon ein halbes Jahr her.“

„Also im Frühling.“

„Jao, kommt hin. Die Röcke der Nutten wurden gerade kürzer.“

„Das nenn ich eine Eselsbrücke“, grinste Helbing. „Hat er bar oder mit Karte gezahlt?“

„Meinen Sie das ernst? Warum fragen Sie nicht gleich, was ich an dem Morgen gefrühstückt habe.“

„Fragen kostet ja nix. Selbst in der Apotheke. Hatte er denn einen Akzent oder Dialekt? War er Deutscher?“

„Deutscher ja, mit gepflegtem Hamburger Hochdeutsch, würde ich sagen. Aber falls Sie glauben, ich lasse Sie in meine Buchhaltung gucken, merken Sie die Einschläge nicht mehr.“

„Das wird sich zeigen“, konterte Helbing trocken. „Aber danke fürs Erste. Wir sehen uns mit Sicherheit wieder.“

„Aber gerne doch“, lächelte der Apotheker. Was auf dem Kiez ungefähr so viel hieß wie: Komm wieder und Du stirbst!

„Tja, das Klopfen auf den Busch hat ja nicht so viel gebracht“, sufzte Merseburger, als sie wieder an der Straße standen.

„Nee, nicht wirklich. Also ab zu Rembrandt. Der müsste mittlerweile aufhaben.“

„Rembrandt?“

„Mann, Merseburger, das ist DER Tätowierer hier aufm Kiez. Das ist der Einzige, der die Nutten stechen darf, ohne zu bezahlen.“

„Verstehe. Der kriegt also sogar noch Geld dafür.“

„So langsam kommste aufm Kiez an, Merseburger. Wird vielleicht doch noch was mit Dir.“

Als Helbing und Merseburger das Tattoo-Studio im Souterrain betraten, stach Rembrandt gerade die Outlines für ein neues Tattoo auf dem flachen Bauch einer Kundin, die nur abends und nachts arbeiten musste. Helbings geschultem Auge nach zu urteilen, hatte sie ihr steuerlich nicht absetzbares Arbeitszimmer in der Herbertstraße.

Rembrandt war so etwas wie eine lebende Litfaßsäule für sein eigenes Geschäft: schwarze Lederklamotten und komplett mit Tattoos tapeziert.

„Moin, Rembrandt“, rief Helbing.

Rembrandt schaute kurz auf.

„Wat willst Du denn?“, fragte er im besten Hamburger Straßensound.

„Dein Gedächtnis anzapfen, was sonst.“

„Du weißt doch, dass ich mit Nachnamen Hase heiße.“

„Ist Rembrandt nicht schon ein Nachname?“, stellte Merseburger eine Frage, die es locker in die Top Ten der dämlichsten Fragen aller Zeiten geschafft hätte.

„Was is‘ ‘n das für ‘n Kasper?“, fragte Rembrandt.

„Mein Kollege von der Kripo. Er kommt nicht von hier.“

„Sondern?“

„Aus München.“

„Oh Gott. Na ja, für seine Herkunft kann man ja nix, ne.“

„So isses. Was stichst Du ihr denn Hübsches auf den Bauchnabel?“, versuchte Helbing die Situation zu entschärfen.

„Einen Stern“, strahlte die Freiberuflerin aus der Herbertstraße.

Rembrandt schaute gequält aus der Lederwäsche und zuckte nur mit den Schultern, was so viel bedeuten sollte wie:

„Frauen… Auch ich muss meine Brötchen verdienen.“

„Schön“, log Helbing. „Haste auch schon mal einen Asklepiosstab tätowiert, Remmie?"

„Einen was? Und nenn mich nicht Remmie. Ich bin kein Hund.“

„Diesen Stab mit der Schlange. Das Apothekersymbol.“

„Ach, so.“ Rembrandt überlegte kurz. „Ja, da war mal so ‘n

Spinner hier, der das haben wollte. Hab ihn gefragt, ob ich gleich noch das rote Kreuz danebenstechen soll. Spinner.“

„Wann war der hier?“

„Keine Ahnung. Is‘ ewig her.“

„Und wie sah der aus?“

Rembrandt seufzte.

„Also, als er hier reinkam, hatte er noch ’nen unbemalten Hals – und als er rausging, war ‘n Asklepiodingsbums drauf.“

„Ha, ha!“

„Helbing, das is‘ ewig her. Normal halt. Normal groß, normal schwer, normal alt und schwarze Haare. Aber die kann er mittlerweile ja auch gefärbt haben.“

„Oder zugenommen haben“, quiekte die Schaufensterschönheit dazwischen.

„Natürlich.“

„Frag doch mal meine Kolleginnen in der Herbert – vielleicht war er ja bei einer von ihnen.“

„Hm, da wäre ein auffälliges Tattoo aufm Schwanz sicher hilfreicher“, überlegte Helbing.

„Klar, aber wenn er’s in der Missionars haben wollte, hatte die Kollegin auch mehr als genug Zeit, sich den Hals anzugucken.“

„Wie? Ihr schließt dabei nicht die Augen vor Ekstase?“

„Nee, höchstens weil wir fast einpennen bei ’ner langen Nachtschicht.“

„Verstehe. Dann woll’n mal hoffen, dass er nich’ auf Doggy-Style steht.“

„Oder Lecken“, lachte sie.

„Oder Kuscheln“, grunste Merseburger vergnügt.

Die Nutte, Rembrandt und Helbing schauten ihn fragend an.

„Boah, Merseburger. Komm“, stöhnte Helbing und ging raus. „Kuscheln...“

Fünf Wochen zuvor

Dieses verdammte Glas Wasser lacht mich aus.

Langsam schien sie wahnsinnig zu werden. War das nicht typisch bei Dehydrierung? Gab es dazu nicht mal eine Doku im Fernsehen? Was würde sie jetzt dafür geben, auf ihrer Couch zu liegen. Mit einem richtigen Glas Wasser! Und nicht mit einem, das voller Gift war. Denn daran bestand für sie kein Zweifel: Dieses Schwein wollte sie umbringen. Warum sonst sperrte man jemanden in einen kahle Zelle und überließ ihn tagelang sich selbst – nur mit einem Glas „Wasser“ auf dem Tisch…

Von der Decke strahlte unerbittlich das kalte Licht einer Neonröhre, die noch nackter war als sie selbst. Er musste ihr die Kleidung ausgezogen haben, als sie noch bewusstlos war. Nur den Tanga und das knappe T-Shirt hatte er ihr gelassen. Gott allein wusste, was er noch mit ihr angestellt hatte. Er konnte heimlich Fotos gemacht haben. Oder er hatte sie begrapscht und sich dabei befriedigt. Vergewaltigt hatte er sie immerhin nicht. Noch nicht. Zumindest hatte sie im Unterleib keine Schmerzen. Geweint hatte sie in den letzten Stunden trotzdem mehr als in ihrem ganzen Leben zuvor

Wie war sie hier gelandet? Das Letzte, an was sie sich erinnern konnte, war der Club, in dem sie gefeiert hatte: in der Academy am Hans Albers Platz. Es war der beste Abend überhaupt gewesen, seitdem ihre Eltern, ihr kleiner Bruder und ihre heiß geliebte Oma beim Erdbeben in Amatrice in Mittelitalien verschüttet wurden. Seitdem war sie allein. Nach endlosen Monaten hatte sie endlich die Kraft und den Mut gefunden, neu anzufangen und sich für ein Auslandssemester zu bewerben. Nachdem sie sich anfangs noch nach den Vorlesungen in ihrer kleinen Studentenwohnung verkrochen hatte, war sie nun zum ersten Mal ausgegangen und hatte auch gleich nette Leute kennengelernt. Darunter war auch dieser Typ, der ihr unbedingt einen Drink spendieren wollte. Zunächst hatte sie abgelehnt. Sie hatte ja was zu trinken. Doch zum einen war der Typ durchaus nett und zum anderen war ihr Drink plötzlich weg. Konnte schon mal vorkommen in dem Gedränge, dachte sie. Falsch gedacht.

Also ließ sie sich von ihm einen ausgeben. Kurz danach musste bei ihr jemand das Licht ausgeknipst haben. K.O-Tropfen. Angst davor hatte sie schon länger gehabt. Die Berichte häuften sich ja. Aber dass es ausgerechnet ihr passieren würde? Das passierte doch nur den anderen.

Und jetzt saß sie in diesem alten und verlassenen Knast. Sie musterte die Tür. Könnte auch zu einem Tonstudio führen, dachte sie. Oder zu Professor Brinkmanns Büro in der Schwarzwaldklinik. Die Serie hatte sie immer mit ihrer deutschen Oma im Fernsehen gesehen, wenn sie sie in den Ferien besucht hatte. Die Tür von Professor Brinkmann hatte es ihr dabei besonders angetan. Sie war auch mit Leder bezogen und machten einen schallisolierten Eindruck. Allerdings fehlte bei ihrer Zellentür von innen der Griff.

Die Wände machten ebenfalls einen schallisolierten Eindruck. Ein Anblick wie in einer Gummizelle. Der abgenutzte Linoleumfußboden sah komplett verdreckt aus, obwohl er roch wie frisch gebohnert. Fenster gab es keine.

Alles in diesem Raum war kalt. Einschließlich ihr. Nicht mal eine Decke hatte er ihr gelassen. Immerhin gab es eine Kloschüssel. Nur leider ohne Klobrille. Und nur eine halbe Rolle Toilettenpapier. Bedeutete das, dass sie schon bald gegen Lösegeld freigelassen werden sollte? Aber wer sollte das zahlen? Sobald ihr Entführer herausfinden würde, das es niemanden gab, verkaufte er sie bestimmt an eines der schäbigen Bordelle im Nirgendwo.

Ihr Magen knurrte. Sollte sie klopfen und nach ihm rufen? Was würde das bringen? Essen? Was zu trinken, das nicht vergiftet war? Wohl kaum. Eher den schnellen Tod. Aber war langsames, qualvolles Verrecken besser? Sie würde dieses Glas Wasser nicht anrühren, so viel war sicher. Glaubte sie.

DAS VERHÖR: DIE ZWEITE ZIGARETTE

„Wie wurden die Opfer ausgewählt? Ausschließlich nach Kundenwunsch?“

„Normalerweise schon. Aber es gab auch ein paar Zufallsfunde – zur Übung.“

„Zur Übung?“

„Ja, das gesamte Verfahren ist recht kompliziert und anspruchsvoll. Da konnte leicht was schiefgehen.“

„Haben Sie selbst mit Hand angelegt?“

„Bei der Bearbeitung? Nein.“

„Und bei der Entführung?“

„Auch nicht.“

„Sie waren nur die graue Eminenz im Hintergrund?“

„Na ja, so grau bin ich nun noch nicht. Ich hab die Sache finanziert und auf die Erfolgsspur gebracht. Bevor ich eingestiegen bin, war das eher noch auf Start-up-Niveau. Bisschen chaotisch, aber mit Potenzial.“

„Das heißt, die Idee für die VIP-Modelle hatten Sie?“

Er überlegte.

„Erhöht das mein Strafmaß, wenn ich jetzt ja sage?“

Helbing stößt ein abfälliges Lachen aus.

„Ihr Strafmaß lässt sich kaum noch maximieren.“

„Dann ja. War meine Idee. Wenn ich so viel Geld investiere, will ich auch eine entsprechende Rendite haben.“

„Wie hoch sollte die Rendite denn sein?“

„Bis zu 1.000 Prozent.“

„Nicht schlecht.“

„Sogar ziemlich gut, würde ich sagen.“

Helbing zündete sich die nächste Zigarette an, um kurz nachzudenken. Entscheidend waren die Namen. Die Namen der Entführer. Die Namen der Zulieferer. Die Namen der noch namenlosen Opfer. Die Namen der Kunden. Allerdings machte einen die Weitergabe von Namen auch zum Verräter. Das denkbar schlechteste Image, das man sich zulegen konnte, wenn man mehreren Jahrzehnten Knast entgegenblickte.

Montagmittag, 9. Oktober