Das Rascheln des Präriegrases - Nora-Lena Brägger - E-Book

Das Rascheln des Präriegrases E-Book

Nora-Lena Brägger

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Beschreibung

Neuanfang im Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Amerika ist der Traum vieler. Aber in das ärmste Indianerreservate Amerikas geschickt zu werden, kommt der 17-Jährigen wie eine Verbannung vor. Die Eltern haben die rebellische Tochter zur Tante in die USA geschickt, in der Hoffnung, dass sie weit weg von daheim auf andere Gedanken kommt. Für Samira beginnt ein neues Leben. Sie erfährt hautnah, wie die Indianer täglich zwischen Tradition und Moderne ums Überleben kämpfen. Auch sie selbst ist hin- und hergerissen: zwischen zwei Männern und zwischen dem vertrauten Leben in der Heimat und einem Neuanfang im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

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Nora Brägger

Das Rascheln des Präriegrases

Nora Brägger

Das Rascheln des Präriegrases

Roman

orte Verlag

© 2017 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: iStock, GaryAlvis

Gesetzt in Arno Pro Regular

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-220-5

ISBN eBook 978-3-85830-227-4

www.orteverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

Da stand ich, vor dem Eingang des Flughafens von Rapid City, einer der grössten Städte des US-Bundesstaates South Dakota.

Die Hitze erdrückte mich fast. Die Sonne blendete mich, und so hielt ich die Hand schützend vor die Augen. Ich sah mich nach einem Schattenplatz um und ging schliesslich zu einer Baumgruppe, stellte meine grosse Reisetasche, meinen Rucksack und meinen Koffer ab. Als ich endlich freie Hände hatte, zog ich mein Sweatshirt aus und krempelte die Hosenbeine meiner langen, engen Jeans hoch. Im Flugzeug und in der Flughafenhalle war es unterkühlt gewesen, dass ich richtig gefröstelt hatte. Hier draussen brannte die Sonne. Die Bäume waren vertrocknet, dass sie kaum Blätter trugen und keinen grossen Schatten spendeten. Aber etwas Besseres gab es nicht. So setzte ich mich erschöpft unter den Baum und lehnte mich an den Stamm. In meiner Tasche kramte ich nach meiner Wasserflasche, dem Deo, der Sonnenbrille und dem iPod.

Na toll, es hatte gerade noch drei Schlucke Wasser in der Flasche. Gierig liess ich das Wasser in meine trockene Kehle rinnen. Ich hielt die Flasche so lange senkrecht über meinen Mund, bis auch der allerletzte Tropfen hinein gefallen war.

Ich schaute mich um: ein paar vereinzelte, vertrocknete Sträucher, eine Strasse, ein paar Autos. Weiter hinten waren wohl Parkplätze, sonst konnte ich nichts erkennen.

Die wenigen Leute, die vorher noch hier waren, hatten sich aus dem Staub gemacht. Weit und breit keine Spur von meiner Tante. Das fing schon gut an. Ich seufzte tief, setzte meine Headphones auf und lehnte mich zurück.

Was machte ich hier? Wo war meine Tante? Hatte sie mich vergessen?

Ich scrollte durch die Playlisten, bis ich zu Ultimativ Favorites kam. Ich brauchte jetzt die Power meiner Lieblingskünstler, damit ich nicht ganz in einem stickigen, dunklen Loch versank. Als der erste Beat des Songs Pulses von Karmin ertönte, schloss ich die Augen und liess mich von der Musik forttragen. Ich war zu müde, um mir länger Gedanken zu machen. Ich vergass, wo ich war und was mich erwartete. Ich summte leise mit und träumte vor mich hin.

Eine Hand berührte mich plötzlich an der Schulter, und ich sprang erschrocken auf. Ein junger Mann stand mir gegenüber und sah mich amüsiert an. Ich musterte ihn skeptisch.

Ich setzte meine Headphones ab und schaute ihn böse an: «Was sollte das? Wolltest du mir meinen iPod klauen? Verschwinde und lass mich in Frieden.»

Der Mann schaute mich stirnrunzelnd an, und ich bemerkte, dass ich deutsch gesprochen hatte. Wir waren hier in Amerika. Ich musste englisch reden, und so wiederholte ich meinen Satz, ohne lange nachzudenken, auf Englisch. Doch der Mann machte keine Anstalten zu gehen. Er machte einen Schritt auf mich zu, weshalb ich ihn böse anfunkelte. Gerade wollte ich etwas erwidern, da sagte er mit einer ruhigen Stimme: «Bist du Samira? Ich bin Liam, und ich soll die Schweizer Nichte von Julia Blackfooth am Flughafen abholen. Da niemand ausser dir hier ist, nehme ich an, dass du diejenige bist, richtig?»

«Ja.» Ich musterte Liam von Kopf bis Fuss.

«Es tut mir leid, wenn ich dich vorher erschreckt habe, das wollte ich nicht.»

«Ist schon okay.»

«Na gut, lass uns dein Gepäck in den Wagen laden.»

Ich warf mir nach kurzem Zögern den Rucksack über die Schulter und folgte Liam, der mein restliches Gepäck trug. Der Wagen entpuppte sich als eine ziemliche Schrottkiste. Liam hatte wohl meine zweifelnden Blicke gesehen, denn er schmunzelte: «Keine Sorge, die Kiste hält. Sie gehört einem Freund von mir. Er ist Mechaniker.»

«Okay, wenn du meinst», erwiderte ich achselzuckend und setzte mich auf den Beifahrersitz. Ich war zu müde, um darüber nachzudenken, ob ich ihm vertrauen sollte oder nicht. Da sass ich neben diesem fremden Mann, von dem ich nur wusste, dass er Liam hiess und von meiner Tante geschickt worden war, um mich abzuholen. Wieso hatte mich meine Tante nicht selbst abgeholt? Ich wollte Liam danach fragen, doch ich liess es bleiben. Was spielte es für eine Rolle, wer mich abholte? Nichts spielte mehr eine Rolle. In der Verbannung war ich so oder so.

Liam startete den Motor und ein gurgelndes Geräusch ertönte, bis der alte Truck holpernd ansprang.

Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete die karge Landschaft, die an uns vorbeizog. Am Anfang gab ich mir alle Mühe, nicht interessiert zu wirken, doch die Neugier packte mich, und ich betrachtete Liam verstohlen.

«Nun erzähl mal! Wieso verschlägt es dich hierher ins Pine-Ridge Indianerreservat?

Ich hatte mir Tausende von Varianten ausgedacht, die erklären würden, warum ich hier gelandet bin. Nun wusste ich nicht, wie ich es formulieren sollte. «Das ist eine gute Frage. Ich weiss es nicht», murmelte ich nachdenklich.

«Wirklich, es muss doch irgendeinen Grund geben. Du hast deine Koffer bestimmt nicht freiwillig gepackt und beschlossen: So, jetzt gehe ich in eines der ärmsten Indianerreservate von ganz Amerika.»

«Richtig. Ich bin nicht freiwillig hier, und ich wäre jetzt lieber im Flugzeug nach Spanien mit meinen Freundinnen.»

«Ah, Spanien. Und warum bist du trotzdem hier?»

Diese Frage war mir unangenehm. Der Typ ging mir mächtig auf den Keks. Merkte er nicht, dass ich nicht darüber reden wollte? Ich schwieg.

«Okay, ich habe verstanden, du willst nicht darüber sprechen. Macht nichts, früher oder später werde ich es erfahren.»

«Bist du sicher?»

«Ja.»

«Wenn du meinst.»

«Ich habe eine Idee: Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig fünf Fragen stellen? Ich verspreche dir, dass ich dich danach in Ruhe lasse.»

«Jetzt wirklich? Du willst daraus ein Spiel machen?»

«Du darfst beginnen.»

«Ach, wie grosszügig von dir», sagte ich und stellte die erste Frage: «Wie alt bist du, und was machst du den ganzen Tag?»

«Ich bin neunzehn Jahre alt und habe vor drei Wochen die Schule abgeschlossen. Im Herbst werde ich studieren. Ich will Lehrer werden. Im Moment bin ich ein freier Mann und geniesse das.»

«Okay, ich fasse zusammen: Du hast die Schule mit neunzehn Jahren abgeschlossen, ich mit siebzehn Jahren, das heisst, ich bin dir zwei Jahre voraus. Und ich glaube es kaum, aber du bist bereit, nochmals für die nächsten fünfzig Jahre deines Lebens in die Schule zu gehen?»

«Ja, genau.»

«Meine zweite Frage wäre: Wieso …»

«Halt, stopp», unterbrach Liam mich: «Du hast bereits zwei Fragen gestellt, du kommst jetzt zur dritten.»

«Na gut. Wieso willst du Lehrer werden?»

«Ich mag Kinder, und ich will etwas verändern. Und der Schlüssel für eine Veränderung des Lebens im Reservat ist eine bessere Zukunft für die Jugend. Ohne Schulbildung hat man keine Chance, einen guten Job zu bekommen, und ich will den Kindern helfen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen.»

Ich war beeindruckt von ihm, und ich konnte spüren, dass er mit voller Überzeugung hinter seinen Plänen stand. «Könntest du dir nicht vorstellen, von hier wegzugehen, um anderswo ein besseres Leben zu beginnen?»

«Nein, niemals. Es ist unglaublich wichtig, dass sich im Reservat etwas verändert und dass man sich dafür einsetzt. Es bringt nichts, wenn man vor der Realität davonläuft. Es braucht Mut und Stärke zu akzeptieren, wie es ist. Aber noch viel wichtiger ist, etwas zu unternehmen, zum Beispiel sich für eine bessere Schulbildung einzusetzen. Ich kann meine Familie, meinen Stamm nicht im Stich lassen. Ich nehme an, du hast keine Ahnung, wie es im Reservat ist. Aber das wirst du noch früh genug erfahren», antwortete er mit einem bitteren Unterton.

Es war still, er sagte eine Weile nichts, und ich war mit meinen Gedanken weit weg. Es bringt nichts, wenn man vor der Realität davon läuft. Es braucht Mut und Stärke zu akzeptieren, wie es ist. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider, und der Schmerz in meiner Brust begann erneut aufzuflammen.

«Wie lautet deine letzte Frage?», erkundigte sich Liam und riss mich aus meinen trüben Gedanken. Ich schaute ihm direkt in die Augen. Versuchte sie festzuhalten und daraus zu lesen. Er wandte seinen Blick schnell wieder auf den Highway.

«Meine letzte Frage ist etwas absurd, aber ich denke oft darüber nach: Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?»

Er schmunzelte, schaute kurz zu mir herüber und antwortete, ohne lange zu überlegen: «Meine Familie, mein Pferd und ganz viele Bücher.»

«Du bist ein Bücherfreak! Jetzt wird mir klar, wieso du Lehrer werden willst! Haben wir hier einen kleinen Streber? Naja, ich weiss nicht so recht: Die Brille fehlt. Aber ansonsten würdest du perfekt in die Rolle passen.»

Liam lachte und schüttelte den Kopf.

«Na los! Frag schon, ich weiss genau, du hast nur darauf gewartet!»

Er grinste zu mir herüber und sagte: «Ich muss mir gut überlegen, was ich alles wissen will. Ich habe ja nur fünf Fragen!»

Ich verdrehte die Augen und zählte auf drei.

«Okay, ist ja gut! Wieso bist du hierhergekommen, wenn du nicht freiwillig hier bist?»

«Mist, und ich dachte schon, du hättest es vergessen.»

«Ha, das dachtest du nicht wirklich, oder?»

«Naja, ich hoffte es zumindest.»

«Na los! Ich höre. Ich habe dir deine Fragen auch beantwortet.»

«Das willst du nicht wissen. Ist nicht spannend.»

«Doch, ich bin neugierig. Aber du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst. Schliesslich kennen wir uns erst seit Kurzem, um genau zu sein seit vierunddreissig Minuten.»

«Was, schon so lang? Bist du dir sicher? Sind es nicht 36,5 Minuten?»

«Du bist ja wirklich lustig, Samira! Na los, beantworte meine Frage! Steckt da etwa eine peinliche Geschichte dahinter?»

Ohne weiter darüber nachzudenken, begann ich zu erzählen: «Ich habe mich noch nie gut mit meiner Familie verstanden. In letzter Zeit hatte ich besonders viel Stress mit meinen Eltern. Ihrer Meinung nach verbrachte ich zu wenig Zeit mit Lernen für die Schule und zu viel Zeit mit Feiern, Ausgehen und meinen Freunden. Ich bestand die Matura gerade so, aber ich bestand. Das ist doch das, was zählt. Meine Eltern waren mit mir überhaupt nicht zufrieden. Und als sie vorletztes Wochenende wegfuhren und ich sturmfreie Bude hatte, liess ich eine riesen Party steigen. Blöderweise kamen sie früher als erwartet nach Hause. Meine Eltern waren geschockt, in welchem Zustand sie das Haus vorfanden. Sie waren am Ende mit ihrem Erziehungslatein und schickten mich schnurstracks zu meiner Tante nach Amerika. Meine lieben Eltern denken, dass ich mit etwas Abstand von zu Hause, zu meinem wahren Ich zurückfinden werde. In letzter Zeit hätte ich mich sehr verändert. Meine Eltern würden mich nicht wiedererkennen und seien enttäuscht von mir. Der Punkt ist, dass sie mit mir nicht mehr klarkommen oder besser gesagt: Sie sind mit mir noch nie klargekommen. Ich kann es ihnen nie recht machen. Meine ältere Schwester Charlotte hatte die Messlatte hoch gelegt. Sie ist das goldige Sternchen der Familie. Sie erwarten von mir, ihr nachzueifern, was ich aber nicht tue. Denn ich habe null Bock, Schulsprecherin zu werden, dem Chor oder der Sonntagsschule beizutreten, weder das Ballett noch das Geigenspielen finde ich interessant, und wie sie ihr Pferd über die Hindernisse jagt, da kann ich nicht zusehen. Mein Ding, nein, meine Leidenschaft, habe ich längst gefunden: das Fussballspiel.»

«Du spielst Fussball?», fragte Liam mich ganz überrascht. «Wow, dass hätte ich nicht gedacht.»

«Ja! Wieso nicht? Ist das so abwegig? Um es korrekt zu sagen: Ich hatte gespielt.»

«Spielst du nicht mehr?»

«Naja. Das ist eine unschöne Geschichte.»

« Erzähl.»

Ich erzählte weiter, da ich wusste, Liam würde nicht locker lassen: «Fussball zu spielen, bedeutete mir alles, und meine Mannschaft war für mich wie eine Familie. Die Familie, die ich mir immer wünschte, aber nie hatte. Naja, und dann hatte ich diesen Unfall. Seither spielte ich nicht mehr, und alles lief schief, was schief laufen konnte. Ich war an einem absoluten Tiefpunkt angekommen. Das Einzige, was zählte, waren meine Freunde, Parties, Rauchen, Kiffen … du weisst schon. Ich versuchte meine Probleme auszublenden. Der Realität zu entkommen. Meine Eltern waren am Verzweifeln, sie konnten nichts tun.»

«Eine wilde Zeit liegt hinter dir», erwiderte ich nachdenklich. Ich habe mir oft versucht vorzustellen, wie die Schweizer Nichte von Jul wohl aussehen mochte und wie sie sein würde. Ich mochte Jul sehr, und ich war neugierig gewesen, ihre Nichte, sozusagen meine Schweizer Cousine kennenzulernen. Ich war wirklich erstaunt. Nicht nur weil sie sehr hübsch war mit ihren langen, braunen, gewellten Haaren und ihrer bleichen, aber zarten Haut. Und ihre Augen natürlich. Wow, die waren der Hammer. Sie waren ganz grün, so grün wie ein junges Blatt eines Baumes, wie die Tannzapfennadeln im Norden oder wie das Moos in den Wäldern. Sie waren voller Energie. Wenn sie mich ansah,konnte man meinen, sie blicke einem geradewegs in die Seele. Es war unheimlich und faszinierend zugleich.

Ich spürte, wie sie sich mir gegenüber verschloss und wie sie sich in ihre Vergangenheit verkroch. Ihre Erzählungen und die damit verbundenen Erlebnisse liessen ihre Gesichtszüge ernst und verschlossen werden. Sie hatte eine Mauer um sich gebaut. Schwer, dunkel und unüberwindbar. Meine Neugierde hatte ich wieder einmal nicht unter Kontrolle. Ich hätte meine Fragen ruhen lassen sollen. Sie nicht zu diesen Antworten drängen.

Für einen kurzen Moment spürte ich beinahe eine Erleichterung, über meine Familie und meine Erlebnisse gesprochen zu haben. War es einfacher, mit einer fremden Person über Vertrautes zu reden? Die Erleichterung verflog schnell, und ein dicker Kloss schnürte mir die Kehle zu. Wieso habe ich mich von Liam drängen lassen, darüber zu sprechen? Es war mein Leben, und niemand musste darüber Bescheid wissen. Jetzt waren alle Gefühle und meine wahnsinnige Wut, die ich in meinem Innern zu vergraben versucht hatte, wieder da und erfüllten mich.

Was dachten sich meine Eltern? Sie konnten doch nicht ihre Tochter nach Amerika in ein Indianerreservat am Ende der Welt abschieben? Das war unfair. Charlotte konnte tun, was sie mochte, unsere Eltern waren immer auf ihrer Seite. Ihr wurde alles verziehen, weil sie eine tolle Vorzeigetochter war und meine Eltern stolz auf sie waren. Ich passte nicht in ihre möchte-gern-perfekte Familie, und ich wollte das auch nicht. Ich wünschte mir immer eine Familie, die mich ernst nimmt und der ich nicht egal bin, mit der man lachen und Spass haben kann. Meine Eltern konnten mich nicht verstehen, und sie versuchten es nicht einmal. In meiner Familie hat man keinen Spass: Alles, was zählt, sind Arbeit und Erfolg. Ein klassisches Beispiel unserer oberflächlichen Gesellschaft. Ich soll mich anpassen und mein Leben nach ihren Vorstellungen richten. Aber ich widersetze mich hartnäckig, denn ich habe andere Ideen und Träume.

Mein Plan war mit meinen drei besten Freundinnen zuerst Urlaub auf Mallorca zu machen. Anschliessend wollte ich in einem Restaurant servieren, um Geld zu verdienen und nach meinem achtzehnten Geburtstag von zu Hause auszuziehen. Ich wäre meine Eltern und Charlotte los gewesen. Doch wie immer machten sie mir einen Strich durch die Rechnung.

Wieso waren sie bloss früher nach Hause gekommen? Hatte mich Charlotte verraten? Zutrauen würde ich es ihr. Aber auch wenn wir uns nicht ausstehen können: Ich glaube sie hat es nicht getan. Es war einfach ein doofer Zufall. Das Glück hatte mich schon lange verlassen, und das Pech war mein bester Freund geworden.

Es war klar, dass das gewaltigen Ärger geben würde. Meine Eltern hatten noch nicht einmal meine Abschlussnoten verarbeitet. Ich hatte bestanden, und das war es, was für mich zählte. Meine Eltern sahen das anders. Sie kriegten fast eine Herzattacke, als ich ihnen das Zeugnis zeigte. Sie hatten genaue Vorstellungen, was ich später studieren würde: Anwältin oder Ärztin sollte ich werden, wie meine Eltern. Ob ich das wollte oder nicht, das war gar nicht die Frage. Blöd nur, dass ich komplett andere Interessen hatte. Ich wollte garantiert nicht wie Charlotte Jura studieren.

Man konnte fast meinen, sie hätten auf diesen Moment gewartet, damit sie einen Grund hatten, mich abzuschieben. Sie hatten wohl eingesehen, dass aus mir nie eine perfekte Tochter werden würde, und hielten es für einfacher, mich möglichst schnell loszuwerden. Ich war ihnen total egal. Damit hätte ich mich schon längst abfinden müssen. Ich war eine Schande für diese Familie, ich befleckte ihre makellose Oberflächlichkeit. Ihren Erfolg. Ihren Drang nach Anerkennung und Achtung in der Gesellschaft. Aber es machte mich traurig und wütend, immer wieder von Neuem. Sie waren meine Familie. Wieso konnten sie mich nicht akzeptieren, wie ich war? Wieso sahen sie immer nur das, was ich nicht war? Ich habe mich oft ernsthaft gefragt, ob sie mich adoptiert hatten, oder ob sie im Krankenhaus das Baby verwechselt hatten. Sie lachten immer, wenn ich ihnen diese Frage stellte. Doch so abwegig war das gar nicht. Abgesehen von meinem Charakter, passte ich auch vom Aussehen nicht in diese Familie. Meine Eltern und Charlotte hatten alle gerade, blonde Haare und blaue Augen. Ich hingegen hatte kastanienbraune, gewellte Haare und fiel mit meinen knallgrünen Augen überall und immer auf. Wenn ich in der Schule sagte, dass Charlotte meine ältere Schwester sei, glaubte mir niemand, und ich glaubte es oft selbst nicht.

In der Schule fehlten mir die Motivation und der Ehrgeiz, um super Noten zu schreiben. Abgesehen davon war ich nicht sonderlich talentiert, weder in Mathe, Physik, Chemie, geschweige denn in Französisch. In Englisch und Deutsch war ich ganz gut, und Kunst und Sport waren definitiv meine Favoriten. Doch diese zwei Fächer zählten bei meinen Eltern nicht besonders viel, denn Künstler waren irgendwelche Verrückten, und Sportler keine Anwälte oder Ärzte. Für mich waren Kunst und Sport das Wichtigste und das Liebste. Mit der Zeit versuchte ich nicht mehr, es ihnen recht zu machen. Ich gab es auf, ihre Anerkennung zu erlangen, denn es war unmöglich.

In letzter Zeit hatte ich es wirklich etwas übertrieben. Ich hatte es mir selbst zu verdanken, dass ich hier im Reservat gelandet war. Die Homeparty hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Party wäre eine der besten gewesen, wenn nicht meine Eltern plötzlich im Haus gestanden wären. Das kleine Wörtchen wenn. Ich hatte meine Eltern noch nie so wütend gesehen. Am Anfang fand ich es sehr amüsant, doch relativ schnell verging mir das Grinsen. Am nächsten Morgen hielten sie mir das Flugticket nach Amerika unter die Nase und zerstörten meine Freiheitspläne. Das Visum bekam ich ohne Probleme, und so stand meiner Reise nichts mehr im Weg.

Ich weiss, Amerika, das ist jedermanns Traum, oder nicht? Aber in ein abgelegenes Kaff, genauer gesagt, in eines der ärmsten Indianerreservate in den USA, verbannt zu werden, hat nicht viel mit dem American Dream zu tun. Ich meine, Amerika ist cool: New York, Los Angeles und San Francisco. Aber in ein Indianerreservat geschickt zu werden, die nächste Stadt weiss ich wie viele Kilometer entfernt? Vor meiner Abreise hatte ich Google über Pine Ridge Indian Reservation ausgefragt. Was ich da über das Reservat in Erfahrung gebracht hatte, war beängstigend, schockierend, traurig und entsprach so ziemlich meinem letzten Alptraum. Ich sah Bilder, die ich lieber nicht gesehen hätte, und nun soll ich das alles in der Realität erleben? Ich wusste nicht, welches Gefühl stärker war: Abstossung oder Angst. Und wenn ich ganz ehrlich war, dann gab es noch ein drittes Gefühl, das ich hartnäckig und stur zu verdrängen versuchte. Die Neugierde.

Momentan kreisten meine Gedanken um meine verkorkste Familie. Meinen Eltern waren oft nicht zu Hause, weil sie viel arbeiteten, und Charlotte war immer am Lernen. Es war nie jemand da, mit dem ich spielen konnte. Ich hatte keinen Vater, der mich stolz anfeuerte, wenn ich an einem Fussballmatch teilnahm. Ich hatte keine Mutter, die mittags kochte und ihre Kinder freudig erwartete. Stattdessen hatten wir eine mexikanische Hausangestellte, Rose, die für uns kochte und putzte. Rose war eine sehr fröhliche und lustige Frau und hatte es immer geschafft, mich aufzumuntern. Sie war ein Sonnenstrahl in unserem grauen Haus. Ihr Mann war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben, und seither war sie alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Ich war oft bei ihr zu Hause gewesen, wenn ich es bei mir zu Hause nicht mehr aushielt. Ihre beiden Söhne waren für mich wie kleine Brüder. Die zwei kleinen Brüder, die ich nie hatte, mir aber immer wünschte. Sie teilten mit mir die Leidenschaft für Fussball. Wir sammelten zusammen Paninibilder, trippelten im Garten, gamten FIFA auf Play Station oder feuerten wie Verrückte unsere Lieblings-Fussballclubs an.

Das Fussballspiel. Wie ich das geliebt hatte! Den Duft von frisch gemähtem Rasen, den Kick, den ich immer gespürt hatte, wenn ich dem Ball hinterher jagte. Ein richtig tolles Team hatte ich. Aber alles kam anders. Ich verletzte mich. Es sei nichts Schlimmes, hiess es. Doch es wurde immer schlimmer. Ich wurde operiert. Ich humpelte ein halbes Jahr mit Krücken herum, und damit war mein grosser Traum, eine Karriere als Profifussballerin, geplatzt. Ich musste es akzeptieren, ich konnte es nicht ändern. Es war unfair, ich konnte es nicht verstehen, ich wollte mich nicht damit abfinden, aber ich musste. Seither ging alles den Bach hinunter. Ich fühlte mich einsam und vom Glück verlassen.

Meine Eltern waren erleichtert, dass ich endlich mit diesem schwachsinnigen Sport aufgehört hatte. Sie dachten, ich würde nun mehr Zeit für die Schule einsetzen. Wahrscheinlich investierten sie nochmals grosse Hoffnung, dass aus mir die lang ersehnte perfekte Tochter Nummer zwei wurde. Da hatten sie sich gewaltig geirrt.

Ich war so in meinen Gedanken vertieft gewesen und hatte Liam nicht mehr zugehört.

«Alles in Ordnung bei dir? Willst du darüber sprechen? Dich beschäftigt etwas. Du siehst traurig aus. Wir hätten dieses Fragespiel nicht machen sollen. Meine Neugier war zu gross. Manchmal bin ich ein Trampel. Tut mir leid.»

«Das waren schon wieder zwei Fragen, Liam!», sagte ich in einem vorwurfsvollem Ton. Ich versuchte, mich geschickt aus der unangenehmen Situation zu ziehen.

«Jaja, ist schon gut, aber jetzt mal ernsthaft: Ist alles okay?»

Was war das für eine bescheuerte Frage, dachte ich. Nichts ist okay. Was denkt der sich bloss? Ich schaute ihn an, und um ein Haar wäre meine ganze Wut aus mir herausgebrochen, doch meine Vernunft bremste mich abrupt. Ich war auf dem allerbesten Weg, mir am ersten Tag alles zu vermasseln.

Ich riss mich zusammen: «Es ist okay. Es tut mir leid, wenn ich ein Drama mache. Du hast bestimmt andere Sorgen, und ich möchte nicht wissen, was du nun von mir denkst. Das kann mir ja egal sein, aber es wäre echt Scheisse, wenn ich es mir mit dem ersten Typen, den ich hier kennenlerne, vermassle.» Ich fuhr mir dabei verlegen durch die Haare.

«Mach dir keinen Kopf. Du bist ganz in Ordnung, glaube ich zumindest.»

Erleichtert erwiderte ich: «Danke, du auch. Ich könnte allerdings eine Ablenkung gebrauchen.»

Liam dachte kurz nach und meinte: «Ich werde dir noch eine letzte Frage stellen.»

«Nein! Bitte nicht! Hör auf mit diesem blöden Fragespiel.»

«Du weisst ja nicht, was ich dich fragen werde!»

«Ich höre.»

«Welche drei Dinge würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?» Er grinste zu mir herüber, und mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. «Ich denke, ich würde meine drei besten Freundinnen, meine Kamera und meinen iPod mitnehmen.»

«Du fotografierst gerne?»

«Hey, das war die letzte Frage!» Ich lachte über mein gespieltes Entsetzen. Stoppte aber irritiert, als ich bemerkte, wie viel ich gelacht hatte. Seit ich mit Liam unterwegs war, hatte ich so viel gelacht, wie schon lange nicht mehr. Oder täuschte ich mich? Egal, ich liess meine Grübelei bleiben.

«Ja, ich fotografiere viel und gern. Meine Kamera ist immer griffbereit.» Ich zwinkerte verschwörerisch, griff in meine Tasche und machte schnell ein paar Schnappschüsse von Liam. Er schaute mich zuerst überrascht an, dann blickte er wieder gelassen auf die Strasse.

«Wie wäre es mit einem kurzen Halt bei der nächsten Tankstelle? Ich muss noch tanken, und wenn du willst, kannst du dir etwas zu essen kaufen.»

Schon bald leuchtete ein grelles Schild auf, das eine Tankstelle mitten in der Pampa anzeigte. Während Liam tankte, ging ich in den kleinen Shop und sah mich nach etwas Essbarem um. Die Auswahl war klein. Ich fand eine Packung Chips und eine Flasche Coke. Unglaublich, es gab wirklich kein Wasser! Nur Süssgetränke, Süssigkeiten und Fast Food. Ich hatte furchtbaren Durst und ich hätte jetzt liebend gern ein eisgekühltes Wasser gehabt, doch ich musste mich mit der zuckersüssen Coke zufrieden geben. Ich lief zu Liam zurück, der immer noch am Tanken war, nahm ein paar Schlucke von der Coke und streckte ihm die Flasche fragend entgegen. Er schüttelte angewidert den Kopf.

«Es gibt kein Wasser!»

«Ich weiss. Aber da habe ich lieber Durst, als diese schreckliche Zuckerbrühe zu trinken!»

Ich schwang mich auf die Haube und wollte mir eine Zigarette anzuzünden.

«Du rauchst? Aber doch nicht hier!», sagte Liam entrüstet.

«Ja, na und? Hast du etwas dagegen?»

«Ja!»

«Ach, komm mir jetzt bitte nicht mit: Das schadet deiner Gesundheit!»

«Genau mit dem komme ich. Es stimmt ja auch. Wieso rauchst du? Du hast es nicht nötig, und vor allem rauche nicht hier bei einer Tankstelle. Das ist sehr gefährlich!»

«Das ist eine gute Frage: Wieso rauche ich eigentlich?», ich tat, als würde ich nachdenken.

«Samira! Im Ernst jetzt, warum?»

«Weil es mir ein gutes Gefühl gibt.»

«Ein gutes Gefühl? Das verstehe ich nicht. Kannst du das näher beschreiben?»

«Hast du überhaupt einmal eine geraucht?»

«Ja.»

«Okay. Naja, dann kennst du ja das Feeling.»

«Ich mag es nicht.»

Ich zuckte mit den Schultern, schwang mich von der Haube und zündete mir provokativ eine Zigarette an. Liam stieg auf den Fahrersitz und startete den Motor. Die Hand mit der Zigarette hielt ich aus dem Fenster und blies den Rauch aus dem Auto, ich schaute Liam an und fragte: «Ist das okay so?»

«Naja.»

«Ich nehme an, das war ein Ja. Schön, wir konnten uns einigen.» Ich schmunzelte und sah aus den Augenwinkeln, dass Liam lächelte.

Wir setzten unseren Weg durch die endlose Weite der Prärie fort. Die Sonne war längst am Horizont verschwunden, und es wurde schnell dunkel.

Ich dachte an meine Tante. Ich kannte sie eigentlich nicht. Ich hatte sie ein paar Mal gesehen, doch das letzte Mal war schon lange her. Ich konnte mich kaum an sie erinnern. Ich hatte in den Fotoalben meiner Mutter ein Foto von ihr gesucht, bevor ich abgereist war. Ich nahm ein kleines Papierstück aus meiner Hosentasche, faltete es auseinander und betrachtete eine junge Frau, die mich abenteuerlustig und voller Energie anschaute. Sie stand auf einem Hügel, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht. Auf dem Rücken trug sie einen grossen Tramperrucksack, der Wind wehte ihr die langen braunen Haare ins Gesicht und hinter ihr breitete sich eine weite karge Landschaft aus. Ich fuhr über das Foto, drehte es um und versuchte, die unleserliche Schrift zu entziffern. Pine Ridge Indian Reservation 1999.

Da war Tante Jul etwa fünfundzwanzig Jahre alt und ich gerade mal drei. Das war ein Drama gewesen. Als Jul alleine nach Amerika in ein Indianerreservat reiste und sich in einen Indianer verliebte und nicht mehr zurückkam. Ihre Eltern waren schockiert, doch sie konnten nichts machen. Jul hatte ihre grosse Liebe und ihre Heimat gefunden. Sie blieb dort und ist seither nur für ein, zwei Besuche nach Hause zurückgekehrt. Ihre Eltern unterstützten sie von da an nicht mehr, doch Jul hatte die Ausbildung zur Lehrerin in der Schweiz abgeschlossen und fand hier Arbeit. Sie heiratete Bill, bekam drei Kinder und lebte auf einem Hof inmitten der Prärie. Das war alles, was ich wusste.

Ich hatte sie immer heimlich bewundert, dass sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, um sich in einer ganz anderen Welt niederzulassen. Ich bewunderte sie für ihren Mut und die Kraft, sich ihrer Familie zu widersetzen, um ihren Traum zu leben und nicht nach den Vorstellungen der Eltern. Meine Mutter, ihre ältere Schwester, hatte diese Entscheidung nie verstanden. Aber ich glaube, insgeheim bewunderte sie ihre kleine Schwester ebenfalls, aber würde es nie zugeben.

«Zeig mal! Wer ist das auf dem Foto?», fragte Liam.

«Ich muss dich leider enttäuschen, wenn du gedacht hast, es wäre mein Freund. Es ist Tante Jul.»

Liam betrachtete die Fotografie. «Eine eindrucksvolle Aufnahme!»

«Ja, das war 1999, als sie das erste Mal im Reservat war.»

«Deine Tante ist schon lange hier. Womöglich kennt sie das Leben hier besser als ich.»

«Hat sie sich sehr verändert?»

«Was?»

«Ich meine Tante Jul von diesem Foto zu heute?»

«Ach so. Nein, ich denke nicht. Ich meine, klar hat sie sich verändert, aber sie ist immer noch die Gleiche geblieben. Sie ist eine wirklich tolle Frau!»

«Hmmm …»

«Du musst dir keine Sorgen machen. Du wirst sie mögen, und sie wird dich mögen. Alle freuen sich auf dich!»

«Wenn du meinst.» So schnell konnte mich Liam nicht überzeugen. Meine Gedanken schwirrten zurück in die Schweiz.

Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wieso meine Eltern mich zu Tante Jul schickten. Sie verstanden sich überhaupt nicht. Meine Mutter hatte praktisch keinen Kontakt mehr zu ihr, oder täuschte ich mich? Vielleicht dachten sie, ich passe gut hier her, weil ich auch so ein komischer Vogel sei. Vielleicht war Tante Jul die Einzige, die mich noch nicht aufgegeben hatte. Sollte ich mich darüber freuen?

Was machte ich bloss hier? Ich sass in diesem verfluchten Truck, weit weg von zu Hause, von meinen Freunden, auf dem Highway Richtung Nirgendwo. Was sollte ich hier draussen? Das war die absolute Verbannung. Was würde aus mir werden? Aus meinem Leben? Nein, nein, nein, ich würde jetzt nicht in Selbstmitleid zerfliessen, das kam nicht in Frage. Ich hatte das alles tausendmal durchgekaut. Jetzt war Schluss, ich würde das Beste daraus machen! Liam war locker drauf, und das würde bestimmt toll werden. Ich würde neue Leute kennenlernen, und verdammt noch mal: Jetzt sollte ich mich zusammenreissen! Meine Vernunft war scheinbar noch vorhanden und bewahrte mich vor dem ultimativen Tiefpunkt.

Ich betrachtete Liam verstohlen von der Seite. Er sah nicht schlecht aus, er sah sogar sehr gut aus. Er hatte schulterlange, rabenschwarze Haare, nein nicht zu einem langen Zopf zusammengebunden. Er war sehr schlank, gross, braungebrannt und athletisch. Die Wangenknochen waren markant. Seine dunkelbraunen bis schwarzen Augen funkelten neugierig, und sein Mund schien immer zu schmunzeln. Ich fühlte mich nicht zu ihm hingezogen. Ich hatte eher das Gefühl, dass wir gute Freunde werden würden.

«Können wir Musik hören?», fragte ich ihn, um die Stille zu durchbrechen.

«Klar», antwortete er und schaltete das Radio ein.

Liam zappte durch die Sender auf der Suche nach einem, der ihm gefiel. Schliesslich fand er einen, bei dem nicht nur ein monotones Rauschen ertönte. Es war KILI Radio, der Sender des Pine Ridge Indianerreservats. Neben dem normalen Radioprogramm mit Wettervorhersagen, Verkehrsmeldungen, Neuigkeiten und Musikwünschen, würden auch alte Gesänge und Geschichten ausgestrahlt, erklärte Liam.

Ich hörte fremde Klänge und Stimmen, die mich in eine andere Welt zu ziehen schienen. Liam summte leise mit, und ich vergass meine Sorgen. Wir redeten nicht mehr besonders viel. Doch wenn wir redeten, war es vertraut, als würden wir uns seit Jahren kennen und nicht erst seit wenigen Stunden. Ich mochte seine ruhige, aber neugierige Art zuzuhören, seinen Humor und war beeindruckt von seinem Wissen.

Nach etwa dreieinhalb Stunden Autofahrt fuhren wir um einen Hügel herum und in der Ferne konnte man ein Licht in der Dunkelheit leuchten sehen.

«Ist es das?», fragte ich Liam aufgeregt und setzte mich aufrecht hin.

«Ja, wir sind gleich da.»

Seit etwa einer dreiviertel Stunde waren wir über die holprige, nicht asphaltierte Strasse des Pine Ridge Reservats gefahren. Durch das leichte Hin- und Herschaukeln wäre ich fast eingenickt, doch jetzt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war halb elf Uhr abends, und ich war todmüde von der langen Reise. Dennoch war ich ganz kribbelig und konnte es kaum erwarten, meine Tante und ihre Familie kennenzulernen. Meine anfängliche Skepsis war der Neugier gewichen, und ich reckte den Kopf, um mehr zu sehen. Was lächerlich war. Es war stockdunkel, abgesehen von den Scheinwerfern des Autos, die die Umgebung für kurze Zeit in Licht tauchten.

Als wir vor dem Haus hielten, tauchte aus dem Nichts ein dunkler Schatten von der Veranda auf. Ein grosser Hund rannte wild bellend und schwanzwedelnd um den Truck herum. «Hier sind wir. Und das ist Sky, die uns willkommen heisst.»

Ich stieg freudig aus. Sky sprang sofort auf mich zu, um mich gründlich zu beschnuppern. Ich musste lachen, kraulte sie hinter den Ohren und dachte mir: Da freut sich immerhin jemand über meine Ankunft.

Liam und ich luden mein Gepäck ab, als meine Tante aus dem Haus kam und rief: «Samira! Da bist du ja. Mein Gott, lass dich ansehen!»

Etwas zurückhaltend sagte ich: «Hi, Tante Julia. Ja, hier bin ich.»

Meine Tante hatte lange, braune Haare – wie auf dem Foto – zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, trug zerschlissene Jeans, ein T-Shirt, darüber ein kariertes Hemd, war braun gebrannt und ihre Augen strahlten voller Wärme. Sie umarmte mich ganz unerwartet und drückte mich an sich. «Nenn mich einfach Jul.»

«Okay», murmelte ich und war überrumpelt und überwältigt von ihrer Energie und Herzlichkeit. Liam hatte Recht gehabt, sie schien die Gleiche geblieben zu sein. Ihre Augen strahlten, sie sah glücklich und zufrieden aus, genau wie auf dem Foto.

Schon sprudelten die nächsten Worte aus ihr heraus wie ein Wasserfall: «Und hattest du eine gute Fahrt mit Liam? Hat er dich gut unterhalten? Es tut mir leid, dass ich dich nicht abholen konnte. Es kam etwas dazwischen. Hast du Hunger? Komm rein, ich werde dir alle vorstellen. Hey, Liam komm auch, du bist sicher hungrig und hast noch nichts gegessen.»

«Oh ja, vielen Dank, das wäre toll.»

Wir gingen hinein, und meine Tante stellte mir ihren Mann Bill und ihre drei Kinder Leon, Naomi und Ron vor. Bill war ein grosser Mann um die vierzig, mit einem freundlichen Gesicht und einer tiefen Stimme. Er war mir sofort sympathisch, und sein Händedruck war kräftig und herzlich. Ich fühlte mich willkommen, und das war ein Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Die Augen der Kinder glänzten aufgeregt und neugierig. Ich schätzte Leon auf etwa acht Jahre, Naomi und Ron um die zehn Jahre herum. Leon hatte die Energie seiner Mutter, seine Augen leuchteten, genauso wie ihre, voller Energie. Naomi strahlte eine Ruhe aus, welche auch von Bill aus ging, und Ron, Ron war etwas dazwischen. Sie waren alle aufgeblieben, weil sie mich unbedingt sehen wollten, bevor sie zu Bett gingen. Wir setzten uns um den grossen Eichentisch im Wohnzimmer, und nachdem meine Tante das Essen aufgewärmt hatte, schöpfte sie Liam und mir die Teller voll. Ich hatte riesigen Hunger und ass zwei grosse Portionen Lasagne. Ich hatte die naive Vorstellung gehabt, dass man sich hier nur von getrocknetem Fleisch, Bohnen und Wurzeln ernähre. Das war früher bestimmt so gewesen, doch die Zeiten verändern sich. Ich schämte mich für meine Gedanken, für mein Misstrauen, wie gut, dass niemand Gedanken lesen konnte.

Ich musste von der Reise und von der Schweiz berichten. Doch viel gab es nicht zu erzählen. Die Müdigkeit machte sich ausserdem bemerkbar. Schliesslich war ich seit morgens um sieben Uhr unterwegs. Zuerst von Zürich nach Amsterdam, dann nach Minneapolis und anschliessend nach Rapid City. Der Zeitunterschied betrug acht Stunden. In der Schweiz war es jetzt gegen halb acht Uhr morgens. Ich war seit über 24 Stunden wach, und das ganze Warten, Umsteigen, Fliegen, Autofahren mit all den neuen Eindrücken war mir jetzt zu viel. Ich wünschte allen Gute Nacht, bedankte mich nochmals bei Liam fürs Abholen, und dann folgte ich meiner Tante die Treppe nach oben. Jul führte mich in ein kleines Zimmer auf der Vorderseite des Hauses. Es sah nett aus, und auf dem Nachttischchen stand ein kleiner Blumenstrauss.

«Gute Nacht», sagte meine Tante und ging aus dem Zimmer. Bevor sie die Türe schloss, drehte sie sich um: «Samira?»

«Ja?»

«Ich freue mich, dass du hier bist.»

Ich murmelte so etwas wie: «Ich auch», und legte mich dann samt den Kleidern auf das Bett, wo ich sofort einschlief.

Ich erwachte von den Sonnenstrahlen, die auf meinen Wangen tanzten. Für einen kurzen Moment schien alles vergessen zu sein, alle meine Sorgen und Ängste wie in Luft aufgelöst. Ich betrachtete die kleinen Staubteilchen, die im Sonnenlicht auf und ab schwebten. Dann sah ich mich ratlos in einem fremden Zimmer um. Ich fragte mich, wo ich war. Ich stand verwirrt auf und setzte mich erschöpft auf das Bett zurück, als die Erinnerungen wie ein Gewitter über mich hereinbrachen. Die Ruhe und Zufriedenheit, die ich zuerst verspürt hatte, waren urplötzlich verschwunden. Ich war nicht zu Hause in der Schweiz, ich würde nicht aufstehen und mit meinen Freundinnen nach Spanien in den Urlaub fahren, nein, nichts war normal. Ich war in Pine Ridge, in der Verbannung. Ich ging zum Fenster, zog die schweren, dunklen Vorhänge zu und kroch ins Bett zurück.

Ich musste wohl eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte und auf die Uhr schaute, war es Nachmittag um halb drei. Nun hatte ich mehr als genug geschlafen, und ich spürte meinen Bauch knurren, ich hatte tierischen Hunger. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann und was ich zuletzt gegessen hatte. Hastig stand ich auf und zog die Vorhänge beiseite. Ich fühlte mich jetzt deutlich besser als am Morgen, und meine Lebensgeister waren wieder wach. Ich öffnete das Fenster, und eine drückende Hitze kam mir entgegen. Die Luft war stickig und schwer, trotzdem lehnte ich mich aus dem Fenster und schaute mich um. Die Landschaft war trocken, karg und eintönig. Kein Baum, kein grünes Gras. Weit und breit nur Hügel mit vertrocknetem, beige-gelblichem Gras. Das war also die Prärie?! Irgendwie gefiel mir diese Trostlosigkeit. Es passte ganz gut zu meiner momentanen Stimmung. Ich schloss das Fenster und zog meine Kleider aus. Ich fühlte mich schmutzig von der langen Reise, und ging unter die Dusche. Es war herrlich, das warme Wasser über die Schultern prasseln zu lassen, und die steifen Glieder zu dehnen und zu lockern.

Anschliessend schlüpfte ich in Shorts und T-Shirt. Meine nassen Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen, etwas Mascara auftragen, die All Stars binden und es konnte losgehen. Ich lief die Treppe hinunter, hielt aber inne, als ich die vielen Bilder an der Wand sah. Ich ging die Stufen neugierig zurück und betrachtete jedes Bild Schritt für Schritt, bis ich im Erdgeschoss angelangt war. Es waren Familienbilder: von den Kindern, von irgendwelchen Zeremonien, und auch von Jul und Bills Hochzeit gab es eine Fotografie.

Das Haus war ganz ruhig und so rief ich zögernd: «Hallo? Jul?»

Als niemand antwortete, ging ich in die Küche. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel, auf dem mir meine Tante eine Notiz hinterlassen hatte.

Guten Morgen Samira (oder inzwischen Guten Nachmittag?)

Ich hoffe, du hast gut geschlafen und bist nun erholt und munter.

Im Kühlschrank hat es einen Teig für Pancakes, Marmelade, Erdnussbutter usw. Es hat auch noch Spaghetti Bolognese von heute

Mittag. Nimm dir, was du magst …

Ich bin einkaufen gefahren und habe die Kinder mitgenommen.

Bill ist bei den Rindern.

Schau dich etwas um, aber geh nicht zu weit weg vom Hof. Wir sind bald zurück.

Bis später

Deine Tante Jul

PS: Meine Nummer +1 605 459 78 65

Na gut, dann war ich also auf mich allein gestellt. Ich sah mich in der Küche um und entdeckte einen kleinen Radio im Regal. Ich stellte ihn an, und eine Stimme ertönte: «Hallo zusammen! Ich bin wieder zurück! Jetzt kann es weitergehen mit den Musikwünschen von KILI Radio! Ruft an und wünscht euch was! Hier bei eurem KILI Radio! Nun spielen wir The Monsters von Eminem und Rihanna, gewünscht von Loren aus Kyle! Ich wünsche euch viel Spass!»

Aus dem Kühlschrank holte ich den Pancaketeig, erhitzte etwas Butter in der Bratpfanne und fügte eine grosse Portion Teig hinzu. Mein Fuss schlug im Takt der Musik, und bald schnipsten auch meine Finger mit. Als sich Kyra aus Wanblee Happy von Pharell Williams wünschte, drehte ich den Radio auf und tanzte laut mitsingend durch die Küche. Diesen Song musste man einfach lieben!

Ich hatte meinen Pancake ganz vergessen, bis mir ein beissender Geruch in die Nase stieg. Mein Pancake! Scheisse! Schnell flitzte ich zur Pfanne. Es war zu spät. Ich kratzte ihn aus der Bratpfanne, tat nochmals Butter hinein und startete einen neuen Versuch. Nun bewachte ich den Pancake wie einen Goldschatz, und dieses Mal verkohlte er nicht. Nachdem ich es geschafft hatte, mir einigermassen passable Pancakes zu braten, die ich mit viel Marmelade ass, machte ich mich neugierig auf Erkundungstour. Sky hatte mich sofort entdeckt und kam schwanzwedelnd auf mich zu.

Ich wollte früher immer einen Hund haben. Sie sind liebenswerte und treue Gefährten. Meine Eltern waren total dagegen. Ich zitiere, was meine Mutter gesagt hatte: «Ein Hund braucht nur viel Zeit und Futter, und zudem gräbt er Löcher im Garten und zerkratzt den Boden im Haus.» Damit war das Thema erledigt. Ich fand mich irgendwann damit ab, dass wir weder einen Hund noch irgendein anderes Haustier haben würden. Ich kniete auf den Boden und streichelte Sky ausgiebig, dann ging ich Richtung Stall, von wo ich ein Wiehern gehört hatte.

Ich war keine Pferdenärrin, und ich war noch nie geritten. Aber ich mochte diese Tiere mit ihren grossen, klugen Augen und den Ohren, die sie nach vorne und hinten bewegten. Man wusste immer, ob sie zufrieden, aufgeregt, ängstlich oder wild waren. Ganz im Gegensatz zu vielen Menschen, bei denen ich nie den Durchblick hatte, wie es ihnen ging, da ihr Gesicht eine Maske war und sie nicht über ihre Gefühle sprachen oder keine hatten. Ich muss gestehen: Ich hatte auch eine Maske auf. Es war einfacher, die ganzen Gedanken und Gefühle zu verdecken, anstatt offen damit herumzulaufen. Egal, was soll’s, ich zerbrach mir jetzt nicht den Kopf darüber. Ich würde dafür noch mehr als genug Zeit haben.

Ich stand am Koppelzaun und hielt die Hand schützend vor die Augen. Etwas weiter unten bei einer kleinen Buschgruppe standen ein paar Pferde und grasten.

Automatisch dachte ich an meine Schwester Charlotte. Seit sie ein kleines Mädchen war, ritt sie klassisch englisch und hatte schon massenhaft Preise bei Turnieren abgeräumt. Ich konnte nie verstehen, wieso sie ritt, denn ich hatte immer das Gefühl, als würde es ihr keinen Spass machen. Ich ertrug es nicht, wie grob sie mit ihrem Pferd umging. Wie sie ihre Fersen in seinen Bauch schlug, an den Zügeln riss und das Pferd in der erzwungenen Haltung im Kreis trabte. Furchtbar! Sie war nicht die Einzige, die so ritt, praktisch alle, die ich bisher gesehen hatte, sahen das Pferd nicht als ein Individuum mit Herz und Seele, sondern als ersetzbare Turniermaschine. Ich stellte es mir wunderschön vor, auf einem Pferderücken durch die Landschaft getragen zu werden, über Felder zu galoppieren, als würde man fliegen. Bei Charlotte ging es bei allem nur um das Eine: zu gewinnen. Als ihr Springpferd Alexander verletzt war, wurde nicht lange gezögert. Innerhalb von wenigen Tagen war Alexander vergessen, verkauft und das, obwohl sie jahrelang auf ihm geritten war und mit ihm Turniere gewonnen hatte. Alexander war ihr tapferer Begleiter und Freund über Jahre gewesen. Hatte ihre Launen und ihre harten Worte geduldet und sie auf das Podest getragen. Doch dann war er plötzlich nicht mehr von Nutzen und wurde aus dem Weg geschafft. Ich werde nie seine traurigen Augen vergessen, als er von seinem neuen Besitzer in den Pferdeanhänger geführt wurde. Sein Wiehern hatte mir Gänsehaut auf die Arme gejagt.