Das rationale Tier - Ludwig Huber - E-Book

Das rationale Tier E-Book

Ludwig Huber

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Beschreibung

Kann man nichtmenschlichen Lebewesen Rationalität und Bewusstsein in einem anspruchsvollen Sinn zugestehen? Der international führende Kognitionsbiologe Ludwig Huber zieht in diesem grundlegenden Buch die Bilanz des gegenwärtigen Forschungsstands zum tierischen Denken. Huber will aber nicht nur zeigen, was wir heute über den Geist der Tiere wissen und wie wir es herausgefunden haben, sondern auch, wozu das gut ist. Neben der zweckfreien Befriedigung unserer Neugierde treibt ihn auch ein moralischer Imperativ: »Um sie zu retten, müssen wir uns kümmern, und kümmern können wir uns nur, wenn wir sie verstehen.«

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Seitenzahl: 1018

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Cover

Titel

3Ludwig Huber

Das rationale Tier

Eine kognitionsbiologische Spurensuche

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2412

© Suhrkamp Verlag Berlin 2021© Ludwig Huber

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagfoto: Lifeonwhite.com (c) 2021

eISBN 978-3-518-76977-5

www.suhrkamp.de

Widmung

5Meinem Lehrer Rupert Riedl gewidmet

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

7Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorwort

1

. Historischer Abriss der Grundfragen tierischer Kognition

2

. Können Tiere rational sein?

3

. Werkzeuggebrauch

4

. Kausalverständnis

5

. In die Zukunft schauen

6

. Episodisches Gedächtnis

7

. Metakognition

8

. Gedankenlesen

9

. Haben Tiere Sprache?

10

. Haben Tiere Bewusstsein?

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. Wie denken Tiere? Ein Resümee in

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Punkten

Epilog: Was können wir daraus lernen?

Bibliografie

Sachregister

Personenregister

Artenregister

Fußnoten

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9Vorwort

Ob Tiere rational sein können und ob sie Bewusstsein haben, zählt zu den spannendsten und umstrittensten Fragen der Biologie und vergleichenden Psychologie [1]. Und obwohl schon Charles Darwin [2; S. 488] prophezeite, dass sich die Psychologie auf ein neues Fundament stützen wird, nämlich das der notwendigen Aneignung jeder geistigen Kraft und Fähigkeit durch Abstufung (und dabei auch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte geworfen wird), haben Biologen und Psychologen lange Zeit das Problem des tierischen Bewusstseins außerhalb der seriösen Forschung verortet, es als etwas abgetan, über das man niemals etwas wissen kann und daher nicht weiter darüber nachdenken, geschweige denn forschen sollte. Selbst jene Wissenschaftler, die zu höheren Formen der Kognition bei Menschenaffen, Delfinen oder Rabenvögeln forschen, die ihnen Nachdenken über ihre physikalische und soziale Umwelt, Zeitgefühl, Werkzeugherstellung, Planhandlung und Perspektivenübernahme zugestehen, verweigern sich der Frage, ob wir Tieren Rationalität, Intentionalität und Bewusstsein zuschreiben können, und wenn ja, welchen Tierarten und in welchem Maß [3-5]. Das hat vorwiegend mit drei Problemen zu tun: Erstens ist noch immer nicht klar, was das Bewusstsein, welches mit den anderen genannten Fähigkeiten zusammenhängt, genau ist. Selbst über das Bewusstsein des Menschen, seinen neuronalen Mechanismus und seine Funktionen gibt es viele divergierende Meinungen. Damit sind wir auch schon beim zweiten, dem sogenannten »harten Problem«: dem subjektiven Erleben. Bewusstsein ist ein viel10schichtiges Phänomen, subjektive Erfahrung ist sein rätselhaftester Aspekt. Es ist nicht nur so, dass unsere Gehirne Reize sammeln und mit Bedeutung versehen, sie erzeugen darüber hinaus einen lebendigen Reigen von Erfahrungen und Gefühlen: grün sehen, sich hungrig fühlen oder verblüfft sein über philosophische Fragen. Man selbst zu sein ist ein Gefühl; und niemand anders wird das je so direkt wissen wie man selbst. Drittens wirft die Erkundung des Bewusstseins von Tieren die Frage nach der Sonderrolle des Menschen auf.

Bereits im Jahre 1976 hat der amerikanische Biologe Donald Griffin mit seinem Buch The question of animal awareness [6] ein bis dahin herrschendes Tabu in Bezug auf die Erforschung des Bewusstseins bei Tieren gebrochen [siehe auch 7]. Angesichts rapide wachsenden Wissens ist heute, fünfundvierzig Jahre nach Griffins Buch, die Zeit reif, auch die strittigsten Fragen der Tierkognition, eben Rationalität und Bewusstsein, zu beleuchten. Bücher über tierisches Denken gibt es viele, aber oft sind sie anekdotenhaft und oberflächlich. Teilweise bieten sie hübsche Geschichten, die für den Laien schön illustriert sind, aber – mit einer großen Portion Anthropozentrismus garniert – zu unbegründeten oder nicht überprüfbaren Schlussfolgerungen verleiten. Die wirklich heißen Fragen und die aktuellen, auf solider wissenschaftlicher Erkenntnis beruhenden Ansätze zu ihrer Beantwortung werden dabei nicht behandelt. Sie bringen uns in der Frage des tierischen Denkens kaum weiter.

Im vorliegenden Buch sollen verschiedene Aspekte von Bewusstsein und von Rationalität behandelt werden, jedoch will ich von einem primär funktionalen Ansatz ausgehen. Bereits Griffin war davon überzeugt, dass die Gründe für die Spuren menschenähnlichen Bewusstseins bei Tieren im Evolutionsprozess zu suchen seien: Die These lautet, dass Bewusstsein nicht entstanden wäre, wenn es keine überlebensfördernden Funktionen hätte. Neueste Forschungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass die ursprüngliche Funktion von Bewusstsein die Ermöglichung von 11willentlichen Bewegungen ist. Mit diesen kann ein Organismus seine Aufmerksamkeit besser ausrichten und sich auf genau das fokussieren, was für seine Fitness und das Überleben wichtig ist. Mit dem Verfügen über Repräsentationen von Objekten und Ereignissen in der Welt, der Fähigkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Repräsentationen herzustellen (awareness), der Fähigkeit, sich auf eine davon auszurichten (intention), und der Fähigkeit zu planen, wie das von der Intention erfasste Ziel zu erreichen ist, würden manche Tiere einige der zentralen Funktionen von menschlichem Bewusstsein besitzen. Dass Menschen darüber hinaus noch weitere Fähigkeiten haben, etwa sich ihrer eigenen bewussten Prozesse gewahr zu werden, sich reflexiv selbst zu repräsentieren und dies detailreich anderen mitzuteilen, steht außer Frage.

Aber sogar die Selbst-Überwachung, in der Fachterminologie »Metakognition« genannt, kommt nicht nur schon bei Kindern vor, sondern auch bei einigen Tierarten. Auch haben manche Tiere die Fähigkeit, über das Wissen anderer nachzudenken, ihre Handlungen zu antizipieren und damit zum Teil deren Perspektive zu übernehmen. Einige Tiere können innovativ und kreativ sein – sie finden spontan Lösungen für völlig neue Probleme, indem sie frühere Erfahrungen rekombinieren oder Artgenossen selektiv kopieren. Manche können Werkzeuge nicht nur effizient einsetzen, sie können die Wirkung durch gezielte Modifikation steigern oder sogar neue Werkzeuge herstellen. Nicht nur beim Werkzeugeinsatz können Tiere vorbereitend handeln, manche können generell zukünftige Ereignisse vorausdenken und entsprechend ihre Handlungen planen, wobei sie ihr aktuelles Bedürfnis zu Gunsten eines zukünftigen Bedürfnisses unterdrücken. Manche Tiere treffen Entscheidungen durch Abwägen von Zielen, durch Auswahl der effizientesten Wege dorthin und unter Berücksichtigung aktueller und zukünftiger Motivationen. Mit diesen Fähigkeiten erfüllen sie (einige, wenn auch nicht alle) Kriterien praktisch-rationalen Handelns.

12In diesem Buch sollen die großen und zugleich schwierigsten Fragen der vergleichenden Kognitionsforschung – ich nenne sie das Sextett tierischer Intelligenz – anhand von guten Beispielen präsentiert, in all ihren Facetten diskutiert und abschließend mit der gebotenen Vorsicht beantwortet werden. Ausgehend von der Frage der menschlichen Rationalität, die eingangs historisch beleuchtet und als Rahmenkonzept vorgestellt wird, sollen neueste Forschungsergebnisse behandelt werden, die entweder bevorzugte Interpretationsschemata infrage stellen oder neue einfordern. Besonders wichtig ist dabei, voreilig gefasste, oft von der menschlichen Spezies und von alltagspsychologischen Vorstellungen abgeleitete Kategorisierungen kritisch zu hinterfragen und tierische (Fehl-)Leistungen aus dem Blickwinkel der artspezifischen, natürlichen Erfordernisse zu betrachten. Ich werde mich auch ausführlich mit der Sprache beschäftigen, sowohl mit ihren evolutiven Ursprüngen und diversen Kommunikationsformen als auch mit den komplexesten bisher gefundenen Ausprägungen im Tierreich. Und schließlich werde ich Formen, Ursprünge, Grade und Kriterien von Bewusstsein beleuchten, dessen zugrunde liegende neuronale Prozesse skizzieren und mit der Fähigkeit des Menschen enden, sich seines Bewusstseins bewusst zu sein.

Warum ist es überhaupt wichtig zu wissen, ob Tiere rational, intentional oder bewusst handeln können? Die Antwort lautet: weil es sowohl von theoretischer als auch praktischer Relevanz ist. Theoretisch relevant ist es in doppelter Hinsicht: weil es an sich gut ist, Tiere besser zu verstehen, aber dieses Wissen dann auch für die Einschätzung unserer selbst von großer Bedeutung ist. Damit ergibt sich die praktische Relevanz: Wir sind nicht nur von Tieren umgeben, wir leben mit Tieren, wir leben von Tieren. Dennoch sehen wir uns von ihnen in wichtigen Dingen getrennt. Bewusstsein, Sprache und Rationalität sind wesentliche Charakteristika, mit denen wir unsere menschliche Einzigartigkeit und damit unsere Überlegenheit und letztlich unser Recht begründen, 13Tiere in vielfältiger Weise zu dominieren und zu nutzen. Wenn ein Tier Schmerzen verspüren kann, fühlen wir uns verpflichtet, zu vermeiden, dass ihm unnötiger Schmerz zugefügt wird. Aber dennoch sprechen wir ihm nicht den besonderen Eigenwert und die Würde zu, die mit Bewusstsein und Rationalität assoziiert wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen für menschliches Handeln und das Zusammenleben von Mensch und Tier.

Schon die Kontrastierung zu dem Tier (im Singular) ist oft ein Zeichen menschlicher Überheblichkeit. Denn natürlich gibt es nicht nur eine, sondern etwa 9 Millionen Tierarten. Im Titel dieses Buchs heißt es dennoch »Tier«, weil ich einerseits die Tatsache verteidige, dass es sich dabei nicht um einen bloßen Gegenstand der Erfahrung handelt, sondern auch um den Namen für ein Konstrukt, das erst im Rahmen kultureller Ordnungsmuster verständlich wird. Begriffe sind ja in der menschlichen Sprache nicht nur exakte Beschreibungen eines Objekts oder Sachverhalts, sondern auch Abstraktionen, Symbole, Kategorien.[1]  Andererseits möchte ich so betonen, dass Tiere Individuen und nicht einfach (namenlose) Vertreter ihrer Art sind. Gerade die moderne Kognitionsbiologie erkennt und würdigt die oft großen individuellen Unterschiede, und man kann getrost auch bei nichtmenschlichen[2]  Tieren von Persönlichkeiten sprechen, von denen wir im Folgenden zahlreiche kennenlernen werden, darunter Alex, Betty, Figaro, Guillem, Kanzi, Kermit und Sarah.

In ethischer Sicht hinterfragt die aktuelle Kognitionsforschung traditionelle Einstellungen im Umgang mit Tieren, insbesonders 14seiner Instrumentalisierung, ob als Nahrungsmittel oder Versuchstier. Hier bahnen sich gewaltige Umbrüche an. Wurden bereits Menschenaffen dem verbrauchenden Zugriff des Menschen entzogen, sind es vielleicht sehr bald alle Affen, dann vielleicht alle Säugetiere und Vögel, selbst Fische und Kopffüßer könnten irgendwann von den Speiseplänen verschwinden. Das Schmerzempfinden und sogar Leiden der Tiere ist ein Hauptmotiv des Überdenkens traditioneller Haltungen und Meinungen. Sie hängen stark mit der Zuschreibung von Bewusstsein zusammen. Ich werde die ethischen Konsequenzen und Implikationen, die sich aus den neuesten Ergebnissen der Vergleichenden Kognitionsforschung ergeben, ganz am Schluss skizzieren.

Auch für das Selbstverständnis des Menschen ergeben sich neue Sichtweisen. Indem wir verstehen, in welcher Weise Tiere rational sein können, sind wir aufgefordert, unsere eigene Rationalität zu überdenken. Vielleicht ist unser Denken viel kleinteiliger und partikulärer, viel weniger theoretisch, stärker in unsere Umwelt eingebunden und von ihr bedingt, als wir bisher vermutet haben. Die Möglichkeit, relativ komplexes tierisches Verhalten auf eine Mehrzahl relativ einfacher, bereichsspezifischer Prozesse zurückzuführen, könnte uns veranlassen, unsere Vorannahmen und Vorurteile bezüglich der menschlichen Rationalität neu zu bewerten. Und wir müssten uns fragen, ob es richtig ist, menschliche und tierische Rationalität mit zweierlei Maß zu messen. Ein fundierter und unvoreingenommener Blick auf die Rationalität mag zeigen, dass es keine scharfe Grenze zwischen der Vernunft des Menschen und den Denkweisen von Tieren gibt. Vergleiche zwischen verschiedenen Tierarten und auch zwischen Tieren und Menschen, insbesondere auch Kindern, in Bezug auf bestimmte Begabungen und Denkstile können zeigen, in welchem Maße bestimmte Fähigkeiten auf gemeinsamen (homologen) oder zumindest konvergenten (analogen) Prozessen beruhen und in welcher Weise diese Prozesse Rationalität erkennen lassen. Diese Einsichten werden auch das Verständnis der mensch15lichen Rationalität erhöhen, da sie Licht auf ihre Entwicklung werfen.

Vor diesem Hintergrund sind es drei große Themen mit je zwei Bereichen, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen: die 1) kreative Herstellung von Werkzeugen und 2) andere Formen technischer Intelligenz (Kausalverständnis); 3) das Ausdehnen des Denkens in die Zukunft (Vorbereitung und Planung) und 4) in die Vergangenheit (episodisches Gedächtnis); 5) das Nachdenken über den eigenen Wissensstand (Metakognition) und 6) über den Wissensstand anderer (Perspektivenübernahme und Gedankenlesen). Diese sechs Verstandesleistungen sind primäre Kandidaten für rationales Denken in einem erweiterten Sinne. Ob man diese Aspekte der Rationalität mit einem anderen Begriff versehen sollte, um die Besonderheit menschlicher Rationalität oder zumindest ihres Potenzials zu normativer Begründung und Dezentrierung (Versetzung von Gedanken) zu retten, bleibt eine Frage für Philosophinnen und Philosophen.[3] 

In den einzelnen Kapiteln werden jene Denkleistungen von Tieren behandelt, welche wissenschaftliche Evidenz für deren Rationalität liefern können. Es sind Denkvorgänge, welche beim Menschen nicht ohne Bewusstsein möglich sind, wie kreativer Werkzeuggebrauch, Perspektivenübernahme, einsichtsvolles Problemlösen und Zeitreisen (episodisches Gedächtnis, Planen). Im ersten Kapitel werde ich auch Begriffsbildung, logisches Schlussfolgern, Willenshandlungen, Intentionalität und die sogenannten Exekutivfunktionen behandeln. Diese Liste ist nicht vollständig, es sollen aber jene Bereiche ausgespart bleiben, wo die experimentelle, systematische und standardisierte Forschung noch in den Kinderschuhen steckt, wie etwa rationales Nachahmen, Kreativität und Lehren.

16Das Buch soll nicht nur darstellen, was wir (am Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts) wissen, sondern auch, wie wir es herausgefunden haben. Es wird daher eine Vielzahl von Studien überwiegend experimenteller Natur[4]  vorgestellt. In besonders kritischen Fällen, wo die Interpretationen und Schlussfolgerungen vom genauen Verständnis der eingesetzten Methoden abhängen, werde ich ins Detail gehen und die Versuchsanordnungen und die Überlegungen dahinter beschreiben. Manchmal müssen auch die Ergebnisse etwas ausführlicher dargestellt und teilweise illustriert werden, weil man Versuchsanordnungen oft schwer nachvollziehen kann, wenn man nicht die beteiligten Apparaturen und Gegenstände, die Anordnungen, die Reize und die Tiere selbst vor Augen hat. Viele Beispiele stammen aus meiner eigenen Forschung; diese habe ich hier oft genauer behandelt und auch mit persönlichen Kommentaren versehen.

Ich möchte dem Wissenschaftskolleg (WIKO) in Berlin, namentlich Daniel Schönpflug und Thorsten Wilhelmy, und dem Institute for Advanced Sciences in Lincoln, namentlich Anna Wilkinson und Stuart Humphries für ihre Gastfreundschaft und Unterstützung danken. In der interdisziplinären Atmosphäre und der Distanz vom teilweise hektischen Universitätsalltag in Wien entstanden große Teile des Buches. Gleiches gilt für meine berufliche Heimat, das Messerli Forschungsinstitut, das mit seiner interdisziplinären Ausrichtung auf Fragen der Mensch-Tier-Beziehung einen großartigen Nährboden für dieses Buch gebildet hat. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders der Messerli-Stif17tung und (posthum) seiner Gründerin Herta Messerli dafür danken, dass ich dort einen Lehrstuhl für die naturwissenschaftlichen Grundlagen von Tierschutz und Mensch-Tier-Beziehung einnehmen durfte. Dies hat es mir ermöglicht, mit einem großartigen Team von eifrigen und talentierten Kolleginnen und Kollegen sowie mit vielen motivierten und interessierten Studentinnen und Studenten den geistigen Fähigkeiten von Tauben, Weißbüschelaffen, Hunden, Keas, Goffinkakadus, Brillantgiftfröschen, Köhler-Schildkröten und Kune-Kune-Schweinen (um nur die wichtigsten zu nennen!) auf die Spur zu kommen. Besonders großer Dank gebührt meinem Freund und Kollegen Ulrich Kattmann, der große Teile des Buches gelesen und mir viele gute Verbesserungsvorschläge gemacht hat, sowie Alice Auersperg für die sorgsame Korrektur des Goffinkakadu-Kapitels. Vieles, was ich hier zu Papier gebracht habe, wurde im philosophisch-theologisch-biologischen Seminar (dem »Zwettl-Seminar«) vorgetragen und in anschließenden Diskussionsrunden mit kritischen Studierenden unter der wunderbaren Leitung von Marianne Popp auf den Prüfstand gestellt. Auch meiner Kollegin Judith Benz-Schwarzburg aus der Ethik-Abteilung des Messerli Forschungsinstituts sei für kritische Kommentare und hilfreiche Anregungen herzlich gedankt.

Danken möchte ich meinem Bruder Martin für die Vermittlung zum Suhrkamp Verlag und seine vielen guten Ratschläge in allen Belangen des Buchprojekts. Ganz besonderer Dank gebührt meinen Eltern Aloisia und Ludwig (posthum) für immerwährende großzügige Unterstützung und meiner Frau Petra für unerschöpfliche Geduld und großes Verständnis während der Abfassung des Buches.

Mein Dank gilt meiner Kollegin Karoline Eadie für Hilfe bei der Erstellung von Bibliografie und Register und ganz besonders meiner Kollegin Nadja Kavcik-Graumann, welche die manchmal abstrakten und komplexen Experimente durch ihre anschaulichen und präzisen Zeichnungen illustriert hat. Schließlich danke 18ich beim Suhrkamp Verlag für die effiziente und konstruktive Zusammenarbeit insbesondere Jan-Erik Strasser, der mit seinem sorgfältigen und kritischen Lektorat viel zur Begriffsschärfung und Klarheit der Argumentation beigetragen hat.

191. Historischer Abriss der Grundfragen tierischer Kognition

Eine Katze läuft über die Wiese, denn ein Hund jagt hinter ihr her. Bei einer Eiche angekommen, schlägt sie im letzten Moment einen Haken und rettet sich auf einen benachbarten Ahornbaum. Der hechelnde Hund ist einen Moment unaufmerksam, übersieht das schnelle Manöver der Katze und bellt die Eiche an. Die Katze ist in Sicherheit. Dieses durchaus realistische Beispiel wurde von Philosophen wie Norman Malcolm [9, S. 13] und Donald Davidson [4, S. 319] herangezogen, um die Frage zu diskutieren, ob Tiere sich irren können – da der Hund ja zumindest auf den ersten Blick einem Irrtum erlegen ist, wenn er den falschen Baum anbellt. Aber tut er das wirklich? Oder ist Irrtum nur da möglich, wo jemand imstande ist, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden? Nur wer von einer Sache überzeugt ist, eine Meinung hat oder sich ein Urteil bilden kann, kann dann darin irren.

Schon in der Antike und im Mittelalter haben Philosophen (und später auch Theologen, Juristen und Naturwissenschaftler) unterschiedliche Antworten auf die Fragen gefunden, ob Tiere denken können, Entscheidungen treffen, Ziele haben, Handlungen planen – und schließlich auch, ob Tiere etwas in vollem Bewusstsein tun. Oftmals wurde die Frage des Denkens bei Tieren so kategorisch und allgemein gestellt, dass weder auf die möglichen Unterschiede zwischen Tierarten oder gar Individuen Rücksicht genommen wurde noch auf die Möglichkeit unterschiedlicher Denkkategorien. Die Frage »Denken Tiere?« wurde deshalb so allgemein gestellt, weil man auf einen entscheidenden, 20kategorischen Unterschied zum denkenden Menschen hinweisen wollte. In der sogenannten »anthropologischen Differenz« ging und geht es um alles oder nichts. Bei der Frage nach der menschlichen Natur, im Sinne menschlicher Selbsterkenntnis, waren und sind Tiere bis heute wichtige Gradmesser.

Irren ist menschlich?

Gemäß dem deutschen Idealisten Hegel kann man nicht oft genug daran erinnert werden, dass das, wodurch sich der Mensch vom Tiere unterscheidet, das Denken ist.[5]  Demgemäß können Tiere auch nicht irren. Der Hund hat die schnelle Wendung der Katze übersehen, ihm fehlt ein entscheidendes Stück Information, aber er täuscht sich nicht. Er reagiert auf jene Reize, die er wahrgenommen hat, aber er sinniert nicht darüber, ob seine Überzeugungen wahr oder falsch sind. Während er an der Eiche bellt, denkt er nicht an mögliche Alternativen. Auch macht er sich keinen Begriff oder bildet sich ein Urteil über das, was er gesehen hat und weiß. Er könnte somit auch nichts einem anderen Hund berichten, weniger, weil ihm besondere Ausdrucksmöglichkeiten fehlen, sondern weil ihm die Begriffe fehlen, um die Tatsache »Die Katze sitzt auf der Eiche« zu beschreiben.

Donald Davidson [4] nennt diese besondere Form eines geistigen Inhalts – eine Überzeugung, ein Wunsch oder eine Absicht – eine propositionale Einstellung. Einerseits hat dieser Inhalt eine bestimmte Form, die sogenannte Subjekt-Prädikat-Struktur, andererseits hat er auch einen Wahrheitswert. Ähnlich wie ein schlecht funktionierendes Blutdruckmessgerät keine falschen Werte im eigentlichen Sinn anzeigt, sich also nur im übertragenen 21Sinn irrt, in Wahrheit aber nur ein technisches Versagen vorliegt, so irrt oder täuscht sich auch der Hund nur in einem übertragenen Sinn, weil er in Wahrheit nur einem perzeptiven (auf bloßer Wahrnehmung beruhenden) oder kognitiven (auf mentalen Prozessen beruhenden) Versagen unterliegt.[6] 

Es drängt sich nun die Frage auf, ob man über propositionale Einstellungen verfügen muss, um sich irren zu können, ob also Irren allein menschlich ist, wie der Philosoph Anselm Oelze (Universität Helsinki) erläutert [11]. In seiner extremen Form mag das eventuell stimmen, denn – wie mein Lehrer an der Universität Wien, Rupert Riedl, immer wieder betonte – reinen Unsinn zu glauben ist ein Privileg des Menschen [12, S. 148]. Aber könnte man nicht auch einfach unvernünftig handeln, anstatt gleich völlig ins Absurde abzuheben? Bereits Aristoteles traf in De Anima diesbezüglich eine Vorentscheidung, weil er nur den Menschen im Besitz von Vernunft (ratio) und Verstand (intellectus) meinte. Nicht nur antike Philosophenschulen, wie etwa die Stoiker, sind ihm dabei gefolgt, sondern auch viele Philosophen des Mittelalters, wie man der ausgezeichneten Darstellung von Anselm Oelze im Aufsatz »Können Tiere irren? Philosophische Antworten aus dem 13. und 14. Jahrhundert« [11] entnehmen kann. Mit dem Fehlen eines Intellekts geht das Unvermögen zur intellektuellen 22Korrektur sinnlicher Fehlurteile einher, meint etwa Avicenna Latinus. Und in De animalibus gesteht Albertus Magnus zwar den Affen die Bildung von »unvollständigen Schlüssen«, einfachen praktischen Syllogismen und Induktionen zu, aber glaubt ihre Vorstellungskraft nicht mit dem Intellekt verbunden. Einfache Unterscheidungen und sogar Verallgemeinerungen bedürfen keiner Urteile, zumindest nicht solcher, die über jene der inneren und äußeren Sinne hinausgehen. Neue Urteile im Sinne einer Einschätzung eines Sachverhaltes können im strengen Sinn nicht korrigiert, sondern nur durch neue Urteile ersetzt werden. Im Falle des Menschen erfolgen Korrekturen durch den Intellekt. Tiere hingegen sind, wie Thomas von Aquin es in den Quaestiones disputatae De veritatae treffend ausdrückt, nicht in der Lage, über ihre Urteile zu urteilen (»nec iudicant de suo iudicio«).

Ganz ähnlich argumentiert Adam Wodeham, der allerdings dabei auf das erkenntnistheoretische Problem hinweist, dass wir lediglich das Verhalten eines Tiers beziehungsweise, wie er es ausdrückt, gewisse Wirkungen und Bewegungen (»effectus et motus«) beobachten können, nicht aber, welche Ursachen dieses Verhalten hat. Wir können die Gedanken von Tieren, so sie denn überhaupt welche haben, nicht von außen sehen. Es wäre daher prinzipiell möglich, dass Tiere ein »komplexes objektives Urteil« (iudicium complexe obiective) fällen können, aber wir wissen es nicht sicher. Wüssten wir es, müssten wir dem Tier eine praktische Vernunft (ratio practica) zuschreiben und es konsequenterweise als vernunftbegabtes Lebewesen (animal rationale) klassifizieren. Es käme also zu einer Verschiebung der Grenze zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren. Um dem zu entgehen, möglicherweise aus Vorsicht gegenüber der Kirche und anderen Anthropozentrikern, neigt er dazu, das Verhalten von Tieren auf der Basis einfacher Erfassensakte ohne intellektuelles Urteil zu erklären. Bestimmte Reize lösen infolge eines natürlichen Impulses, eines Naturinstinkts, instinktive Reaktionen aus. Aber das Tier denkt nicht nach und urteilt nicht über das, was es sieht.

23Ein anderer Philosoph und Theologe des Mittelalters, der Augustinereremit Gregor von Rimini, sieht die Sache in seinen Lectura ganz anders und weist ein einfaches Reiz-Reaktions-Modell zur Erklärung sämtlichen tierischen Verhaltens mit dem Hinweis, dass damit nicht jegliches Tierverhalten befriedigend erklärt werden kann, zurück. Wie ließe sich denn sonst erklären, dass Tiere auf ein und denselben Reiz gegebenenfalls unterschiedlich reagieren? Unterschiedliche Motivationen würden dies nur unzureichend erklären. Er schreibt den Tieren folglich eine gewisse Urteilsfähigkeit zu. Wenn Urteile auch nicht sprachlich gefasst werden können, so geben sie doch gewisse Überzeugungen wieder. Irrtümer seien sogar Belege für die Urteilsfähigkeit, zwar nicht im Sinne propositionaler Einstellungen, aber doch im Sinne von Überzeugungen, die durch neue Sachverhalte korrigiert werden können. Das Fehlen von Begriffen oder sprachlichen Ausdrücken wie »Die Katze sitzt auf der Eiche« darf nicht dazu führen, die Tiere zu Reiz-Reaktions-Maschinen zu degradieren, sie hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten mehr als nötig von uns abzugrenzen. Anders als Adam Wodeham sieht Gregor kein Problem darin, auch in Tieren vernunftbegabte Lebewesen zu sehen.

Anhand der erwähnten Beispiele aus der Antike und dem Mittelalter sehen wir schon, dass wir es bei der Frage, ob Tiere denken, Verstand haben oder irren können, mit mindestens zwei Problemen zu tun haben. Einerseits mit der Bedeutung von Konzepten und Begriffen, mit denen wir komplexe Sachverhalte beschreiben, andererseits mit der methodischen Schwierigkeit, die den Handlungen von Tieren zugrunde liegenden mentalen Prozesse aufzudecken. Ob Tiere irren können, hängt also einerseits davon ab, ob wir einen strengen Urteils- und Irrtumsbegriff anlegen und dann mit Aristoteles, Adam Wodeham oder Donald Davidson zu dem Schluss kommen, dass Tiere, weil sie keine propositionalen Einstellungen bilden können, weder urteilen noch irren können, oder ob wir umgekehrt die beiden Begriffe etwas weiter fassen, in der Folge von Gregor von Rimini, Thomas von 24Aquin, Albertus Magnus und Avicenna durchaus davon sprechen wollen, dass Tiere urteilen und irren. Andererseits rührt ein Problem vom allgemeinen Unwissen her, wie Tiere handeln, Probleme lösen und, spezifischer, auf welcher Ebene Tiere Entscheidungen treffen oder diese korrigieren. Denker der Antike und des Mittelalters hatten (durch Selbstreflexion und Meinungsaustausch) bereits recht gute Kenntnisse über die geistigen Fähigkeiten ihrer eigenen Spezies, aber nur äußerst rudimentäre Kenntnisse über das »Seelenleben« anderer Spezies.

Können Tiere denken?

Ob Tiere denken können, war auch Gegenstand vieler Kontroversen von Philosophen der Neuzeit. Von allen sticht dabei René Descartes heraus, der mit seinen provokanten Thesen in der »Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen« (1637) – er spricht von Tieren als »aufgezogenen Uhren« – eine absolute Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren vornimmt.[7]  Obwohl er Tieren nicht die lebenserhaltenden Funktionen abspricht, hält er sowohl eine vegetative als auch eine sensitive Seele für überflüssig und widerspricht dabei sogar Aristoteles. Die automatenhafte Konzeption von tierischem Verhalten entspringt seiner mechanistischen Auffassung alles Lebendigen (sogar der Mensch wäre ohne Geist – Descartes spricht in der Abhandlung über den Menschen (1632) von Seele – nur eine bloße »Gliedermaschine«). Obwohl er Tieren Wahrnehmungen und Empfindungen zugesteht, beharrt er auf einer radikalen anthropologischen Differenz zwischen Tier und Mensch. Gut konstruierte Maschinen wären von Tieren nicht unterscheidbar, auch sie könnten Bewegungen ausführen, als ob sie eine Seele hätten, und dennoch 25verhalten sich beide vorhersehbar und unflexibel. Einem mechanistischen und szientistischen Erklärungsideal folgend, lehnt er Analogieschlüsse vom Menschen auf intelligentes Verhalten von Tieren als unreflektierte Vorurteile ab, etwa das vernünftig erscheinende Verhalten von Füchsen, die sich vorsichtig und prüfend über zugefrorenes Eis bewegen. Dieses Beispiel stammt von einem anderen französischen Philosophen der frühen Neuzeit, Michel de Montaigne, der den antiken Skeptikern wie Sextus Empiricus folgend in den Essais (1580) die Differenz von beiden Seiten her zu verkleinern suchte, indem er die menschliche Überheblichkeit kurieren und die geistigen Vermögen von Tieren zu »humanisieren« trachtete [13].

Auch bei den englischen Empiristen wie etwa John Locke sind die Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten zwischen Menschen und Tieren deutlich geringer als bei Descartes. In seiner Schrift Über den menschlichen Verstand (1690) hält er fest, dass der Unterschied zwischen klugen Tieren und dummen Menschen weit geringer sein könne als der zwischen dummen und klugen Menschen. Und für David Hume scheint keine Wahrheit offenkundiger, als dass Tiere, genauso wie der Mensch, mit Denken und Vernunft ausgestattet sind. Er geht im Traktat über die menschliche Natur (1739) sogar noch einen Schritt weiter und meint, dass die Gründe in diesem Falle so offensichtlich sind, dass sie nicht einmal dem Dümmsten und Unwissendsten entgehen könnten [13].

Wie kommt es nun, dass einige der größten Denker der Geschichte in der Frage des Denkens von Tieren so weit auseinanderliegen? Dass für die einen die Frage selbst schon unsinnig ist, weil sie auf einem Kategorienfehler beruht, für die anderen nicht nur die Frage berechtigt ist, sondern die (bejahende) Antwort nicht einmal dem Dümmsten und Unwissendsten entgehen kann? Ganz offensichtlich beruht diese Diskrepanz nicht auf der Verwendung unterschiedlicher Fakten und Beobachtungen, sondern auf der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe und vari26ierenden methodologischen Auffassungen. Wenn wir einmal von der kartesischen Extremposition tierischer Automaten, denen die Existenz jeglicher geistigen Tätigkeiten abgesprochen wird, absehen, dann bleibt die Frage, welche Begriffe und Entitäten das Verhalten von Tieren und die zugrunde liegenden mentalen Prozesse am besten beschreiben. Ganz gewiss ist es die Aufgabe der empirischen Forschung, tierische Handlungen oder Äußerungen nicht durch einen leichtfertigen Überschritt zum »Denken« zu erklären, sondern die tatsächlichen kognitiven Leistungen der Tiere in dem ihnen eigentümlichen Status zu erkennen [14]. Wesentlich dabei ist, sich nicht auf die bloße Zuspitzung »Denken Tiere, ja oder nein?« einzulassen. Diese Frage würde nämlich nicht nur die Fülle der kognitiven Fähigkeiten von Tieren auf ein einziges Merkmal reduzieren, sondern auch die unselige Lust vieler Philosophen am Streit um bloße Definitionen befeuern. So wie es unsinnig ist, eine Zahl anzugeben, ab der eine Menge von Körnern zu einem »Haufen« wird, oder die Höhe festzulegen, ab der ein »Hügel« zum »Berg« wird, so wird man auch die graduellen Übergänge zwischen einfacheren und komplexeren Formen des Denkens, Entscheidens und Handelns nicht durch willkürliche Grenzziehung zufriedenstellend fassen können. Die absolutistische Bestimmung muss hier der Beschreibung durch Anhäufung von charakteristischen Merkmalen für die jeweiligen Stufen weichen. Denn wenn die Leistungen von Tieren »häufig frappierend denknah oder denkähnlich« [14, S. 31] sind, wenn die Menge an Ähnlichkeiten größer als die Menge an Unterschieden ist und wenn – vor allem – durch das Fehlen wichtiger Daten eine allfällige Bestimmung bloß mangelhaft und vorläufig sein kann, sollten wir uns vor überzogenen und vorschnellen Urteilen hüten.

Natürlich ist es berechtigt und sogar zielführend, von menschlichem Denken auszugehen und sich von dieser relativ sicheren Position aus den Leistungen von Tieren zu nähern. Schließlich wissen wir sowohl aus der Ich-Perspektive – durch Introspektion – als auch durch die Du-Perspektive der gegenseitigen 27sprachlichen Vermittlung, wie wir bestimmte Entscheidungen treffen, was die Motive unseres Handelns sind, welche Ziele wir dabei verfolgen und wie wir uns dabei fühlen. Dieser Erlebens-Aspekt ist von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus nehmen wir als Wissenschaftler aber noch die Perspektive der dritten Person ein und machen menschliches Denken und Handeln zu einem objektiven Untersuchungsgegenstand. Wir erzeugen in Einhaltung etablierter Methoden, im gegenseitigen Diskurs und in vielfältigen Reflexionen eine objektive, weil intersubjektive Welt, in der auch Tiere und ihr Verhalten thematisiert werden.

Begriffsbildung

Ein zentraler Aspekt menschlichen Denkens ist die Begriffsbildung. Manche Philosophen, wie etwa Davidson [4], meinen wie gesagt, dass es ohne Begriffe kein Denken gibt. Und tatsächlich scheint es so, ob wir nun sprechen oder nicht, dass wir in Begriffen oder allgemeiner in Konzepten denken. Zunächst sind Begriffe kondensierte (mentale) Repräsentationen[8]  der Wirklichkeit. Sie sind Konzepte in dem Sinn, als sie einerseits Abstraktionen sind, das heißt, Details, Zufälligkeiten oder situationsbedingte Willkürlichkeiten werden ausgeblendet. Andererseits sind die Konzepte Zusammenfassungen der typischen Eigenschaften und ermöglichen damit Verallgemeinerungen. Eine wesentliche Funktion solcher Konzepte ist die Kategorisierung, die schnelle Einordnung von Objekten oder Ereignissen in die eigenen mentalen Ordnungsstrukturen. Grundlegend ist die Fähigkeit, ähnliche, 28aber nicht identische Dinge aufgrund der gemeinsamen Merkmale als irgendwie gleichwertig zu behandeln, indem man sie in die gleichen Kategorien einordnet und auf sie in der gleichen Art und Weise reagiert.

Menschen belegen diese Konzepte oder Begriffe mit sprachlichen Markern oder Etiketten, durch Bezeichnungen mit Wörtern oder Symbolen, ein Vorgang, der Benennung genannt wird. Ein Begriff kann durch mehrere Benennungen repräsentiert werden, sowohl durch Wörter in verschiedenen Sprachen als auch in einer Sprache (Synonyme). Entscheidend ist dabei aber, dass die Fähigkeit der Konzeptbildung und Kategorisierung nicht von der Sprache abhängt und auch nicht mit oder sogar durch die Sprache entstanden ist.[9]  Philosophen haben unterschiedliche Theorien entwickelt, um die Entstehung von Begriffen vor der menschlichen Sprache zu erklären. Wir können uns zunächst fragen, ob der Löwe einen Begriff von/für Gnus hat. Unzweifelhaft reagiert er sehr genau und sehr zielführend auf den Anblick eines Gnus. Offenbar hat der Löwe – eigentlich sollten wir sagen: die Löwin – eine Art Vorstellung, quasi ein mentales Bild, von diesem Zielobjekt. Kognitionswissenschaftler sprechen in diesem Falle gerne von mentalen Repräsentationen. Nicht erst genaue Untersuchungen haben ergeben, dass die Löwin sehr genaue Unterscheidungen macht, dass sie Gnus gut von anderen Tieren, zum Beispiel 29Geparden, unterscheidet, weil sie Erstere jagt und Letztere nicht. Dieser »Gnu-Begriff« ist zudem ungemein flexibel, weil die Wahrnehmungen von Gnus sehr variabel sind – Farbe und Helligkeit ändern sich mit dem Licht, die Größe mit der Entfernung, die Gestalt mit der Perspektive, die Form im hohen Gras oder hinter Büschen usw. Abhängig von Hunger und anderen Motiven ändert sich auch die Verwendung des Begriffs im Sinne der Reaktion auf seine Inhalte. Die Löwin kann beim ersten Anblick losstürmen, sie kann aber auch zuwarten oder eine Reaktion auch ganz unterlassen, wenn sie nicht in Jagdstimmung ist. Wir sehen also, nicht nur der Inhalt des Gnu-Begriffs der Löwin ist variabel, sondern auch seine Verwendung. Damit sind wesentliche Kriterien eines Begriffs jenseits von Sprache, wie sie zeitgenössische Philosophen postulieren, erfüllt. Die Löwin macht systematische Unterscheidungen [siehe 20], diese sind regelgeleitet, weil sie bestimmten Merkmalskriterien folgen [siehe 21], und sie sind zweckvoll, weil damit ein wichtiges Beutefangverhalten gesteuert werden kann. Womit die Frage bleibt, ob dieser Begriff im Sinne eines angeborenen Beuteschemas evolutionär entstanden ist oder von der Löwin durch Lernen oder andere kognitive Vorgänge individuell erworben wurde.

In der sogenannten Teleosemantik [siehe 22, 23, 24] wird gerne das Beispiel des Beutefangverhaltens des Frosches diskutiert [25]. Der Frosch schnappt mit seiner Zunge nach einer sich bewegenden Fliege, somit aktiviert der Anblick der Fliege ein neuronales Muster, das einer mentalen Repräsentation entspricht, denn es löst das Schnappen aus. Dieser bestimmte Zustand im Nervensystem des Frosches, so wird argumentiert, repräsentiert genau das Vorhandensein einer Fliege, weil es seine biologische Funktion ist, das Vorhandensein einer Fliege anzuzeigen. Diese Anzeigefunktion entspricht einer evolutionär erzeugten Bedeutung, sie hatte einen Selektionsvorteil und ist somit adaptiv, funktional oder (biologisch) zweckvoll. Obwohl das Fliegenschema – wie vor allem die Erdkröten-Studien von Jörg-Peter Ewert an 30der Universität Kassel gezeigt haben[10]  – modifizierbar ist, bleibt es dennoch von den Sprachbegriffen, die für Davidson und viele andere analytische Philosophen konstitutiv für Denken sind, weit entfernt. Auch der Begriff des Gnus bei Löwen hat trotz aller Variabilität und Flexibilität eine starke genetische Komponente, immerhin finden wir zwischen Löwinnen in ganz Afrika kaum gravierende Unterschiede hinsichtlich der Gnujagd. Wenden wir uns daher der Frage zu, ob Tiere komplexe Objektklassen lernen können, ob sie imstande sind, diese zunächst völlig unbekannten Muster zu »begreifen« – also adäquate Begriffe bilden können.

Kategorisierung und Konzeptbildung

In meiner Doktorarbeit habe ich Versuche mit Tauben beschrieben, die Kategorisierungen mithilfe von Wahrnehmungskonzepten vornehmen [16, 27-29]. Ich konnte zeigen, dass diese Vögel sehr schnell komplexe Reizklassen nach von mir vorgegebenen Kriterien unterscheiden und nach den von mir festgelegten Kategorisierungsregeln einordnen konnten. Dabei konnten sie nicht 31auf angeborene Kategorisierungen zurückgreifen, sondern mussten die für die vorgegebene Regel wichtigen Merkmale der Bilder herausfinden und sie dann in der richtigen Weise zur passenden Kategorisierungsregel verknüpfen (Abb. 1).

Abb. 1: Nach wenigen Trainingseinheiten konnten Tauben die beiden Gesichterklassen mit je 30 Vertretern nach einer polymorphen Merkmalsregel unterscheiden. Dazu mussten sie die vier Merkmalsdimensionen Auge, Nase, Mund und Kinn richtig kombinieren. Der kurze Augenabstand, die tiefe Augenstellung, die kurze Nase und die hohe Mundstellung erhielten (willkürlich) die Attribute –1. Die konträren Ausprägungen erhielten die Attribute +1, die mittleren 0. Durch Addition erhält man das Klassenkriterium (die Summe), welches von –4 bis +4 variiert. Alle Gesichter mit einer negativen Summe (<0) bildeten die linke Klasse, alle Gesichter mit einer positiven Summe (>0) bildeten die rechte Klasse [16]. Die Gesichter mit der Summe 0 wurden nicht verwendet. Aus [16].

Wie ich in vielen weiteren Versuchen mit Tauben zeigen konnte, verfügen diese über mehrere Möglichkeiten der Klassenbildung. Merkmalslernen ist nur eine davon, daneben können sie auch prototypisch vorgehen, aber im Notfall auch exemplarisch, indem sie sich viele Exemplare der Reizklassen merken [27, 29-31]. Die auf sogenannten »polymorphen« (vielgestaltlichen) Merkmalsregeln basierende Klassifikationskompetenz von Tauben ist ein Charakteristikum der wahrnehmungsbasierten Kategorisierung, aber nur eine von mehreren Strategien der vorsprachlichen Begriffsbildung. Wichtig dabei ist, dass die charakteristischen Merkmale von den unwesentlichen unterschieden werden können. Das 32grundlegende Prinzip ist also die Abstraktion von unwichtigen Reizmerkmalen.

Die Kategorisierung wird nicht unbegründet als Grundlage der Kognition angesehen, als ein Prozess, durch den das Individuum Objekten oder Ereignissen Bedeutung zuweist, indem es sie als Äquivalente behandelt [30, 32]. In Anbetracht der enormen Menge an Informationen, die in den Wahrnehmungssystemen mobiler Organismen ankommen, einerseits, und den wenigen möglichen Verhaltensweisen bei nichtmenschlichen Tieren andererseits kann die Kategorisierung daher als eine adäquate Lösung für diesen »Informationsengpass« gesehen werden. Die drastische Informationsverminderung ist ein Grundprinzip der kognitiven Ökonomie und daher im Tierreich weit verbreitet. Der evolutionäre Druck zur Minimierung der Verarbeitungsanforderungen in kleinen informationsverarbeitenden Systemen, wie zum Beispiel bei Bienen und Tauben, ist offensichtlich. Dennoch variieren die spezifischen Lösungen, die von einer Vielzahl von Tierarten gefunden werden, um die Menge der zu verarbeitenden und zu speichernden Informationen zu komprimieren, auf verschiedenen Ebenen, von der rein wahrnehmenden (selektive Aufmerksamkeit) über die Ebene des Lernens oder der Repräsentation bis hin zur Ebene des Denkens.

Um sich angemessen zu verhalten, braucht ein Tier eine Beschreibung der Reize in jeder Umgebung, die zu einer geringen Variation der Signale für bedeutsame Verhaltensfolgen führt. Irgendwie muss das Tier bestimmte Aspekte der Erfahrung auswählen, um sie als Grundlage für die Beurteilung von Gruppierung und Aufspaltung zu verwenden. Dann muss ein Gleichgewicht zwischen den beiden Arten von Prozessen gefunden werden. Unterschiedliche Anlässe erfordern unterschiedliche Beschreibungen und unterschiedliche Dimensionen der Invarianz. Kategorien sind weder rein wahrnehmungsbasiert noch rein funktional, sondern beides. Kategorisierungsaufgaben werden gemeinsam durch die physikalische Variation der Reize und die 33Folgen des Verhaltens bestimmt. Die verfügbaren Belege deuten darauf hin, dass die natürliche Selektion die Tiere mit erheblichen Anpassungen ausgestattet hat, um mit dem Kategorisierungsproblem in diesem Sinne umzugehen [33, 34].

Tiere können auf (mindestens) sechs recht unterschiedliche Arten und Weisen Reizklassen repräsentieren beziehungsweise codieren [19]: (1) bildlich (vorstellbar) als Anordnungen von Merkmalen oder Elementen, die in absoluten statt relationalen Werten definiert sind, wobei es also darum geht, Ähnlichkeit zu beurteilen; (2) assoziativ als Sammlungen von Objekten oder Ereignissen, die dieselbe Folge oder dasselbe Folgeereignis signalisieren; (3) funktional als Sammlungen von Gegenständen mit derselben inhärenten Funktion; (4) abstrakt als Beziehungen zwischen zwei oder mehr Objekten oder Ereignissen; (5) analog als Beziehung zwischen zwei oder mehr Beziehungen; und (6) symbolisch als Beziehungen zu anderen Klassen. Die Kategorisierungsliteratur enthält eine Fülle von Beispielen für die Fähigkeit von Tieren für einen oder mehrere dieser Codierungsmechanismen [35].

Ein wesentliches Kriterium für die Kategorisierung ist die Herstellung von Verbindungen, nicht nur zwischen Reizelementen, sondern auch zwischen Mitgliedern einer Klasse. Die fortgeschrittenste Form basiert auf der Herstellung von Beziehungen zwischen den Beziehungen: Analogien. Viele bisher getestete Tiere sind an solchen Aufgaben gescheitert, aber Menschenaffen und Graupapageien waren erfolgreich, wenn sie zuvor ein entsprechendes (explizites) Training erhielten [36]. Dabei setzen sie besonders effiziente Formen des assoziativen Lernens ein. Assoziative Konzepte bieten eine Grundlage für die menschliche Sprache, sodass gesprochene und geschriebene Worte und die Objekte, die sie repräsentieren, zu einer Klasse von austauschbaren Reizen werden.

Im Gegensatz zu den Wahrnehmungsklassen, die gemeinsame physikalische Eigenschaften haben, ist die Grundlage für die gemeinsame Reaktion auf Mitglieder einer assoziativen Klasse völlig 34willkürlich und muss durch Training erworben werden. Gerade die Eigenschaft der Beliebigkeit verleiht assoziativen Klassen eine Flexibilität, die sich in dem Ausmaß zeigt, in dem sie in der menschlichen Sprache verwendet wird. Eine assoziative Klasse kann aus einem Objekt und seinen verschiedenen symbolischen Darstellungen bestehen. So sind zum Beispiel das Objekt selbst, der Stuhl, das gesprochene Wort »Stuhl« und das geschriebene Wort STUHL alle Mitglieder einer gemeinsamen assoziativen Klasse. Die Mechanismen des assoziativen Konzeptlernens und die damit verbundene Verhaltensflexibilität sind jedoch auch bei den adaptiven Verhaltensweisen von Tieren ohne Sprache offensichtlich [37].

Die Fähigkeit, symbolische Repräsentationen zu bilden, ermöglicht es uns Menschen, Objekte und Ereignisse auf unzählige Arten zu gruppieren oder zu kombinieren. Diese »kombinatorische Explosion« ist gewiss eine der herausragendsten Eigenschaften menschlicher Sprache. Weiters unterscheidet sich die menschliche Begriffsbildung von den bisher genannten Formen der Kategorisierung, insbesondere durch den Grad der Abstraktion. An sich werden alle Begriffe durch Abstrahieren und Verallgemeinern gebildet. Insofern sind auch konkrete Begriffe ein Resultat der Abstraktion, selbst wenn damit ein bestimmter, gegebener Gegenstand oder eine bestimmte Klasse von Gegenständen bezeichnet wird. Aber der Abstraktionsgrad kann von Menschen noch deutlich erhöht werden, entweder um eine Relation zwischen einzelnen Gegenständen zu repräsentieren oder um sich auf nicht gegenständliche Entitäten wie etwa Freiheit oder Gerechtigkeit zu beziehen. Es wird angenommen, dass wir (heute lebende) Menschen über eine »metaphorische Abstraktionsfähigkeit« verfügen, die es uns erlaubt, Fähigkeiten, die ursprünglich für die physische Problemlösung und soziale Koordination entwickelt wurden, zu kooptieren, um sie auf abstrakte Gegenstände anzuwenden und produktiv zu kombinieren [38, 39]. Dieses psycholinguistische Phänomen bezieht sich auf Kon35struktionen, die mit konkreten Szenarien verbunden sind, aber analog auf abstraktere Konzepte ausgedehnt werden. Solche Metaphern sind in den menschlichen Sprachen allgegenwärtig – zum Beispiel »Blumenmeer«, aber außerhalb von Sprachen nicht existent.

Die Kognitionsforschung bei Tieren widmet sich – wie wir sehen werden – unter anderem der Frage, wie weit Tiere vom Konkreten und Akzidentellen absehen und Allgemeines, Dauer- oder Regelhaftes in ihre Vorstellungen von den Dingen und Ereignissen erfassen können. Fraglich ist nicht nur der Gehalt tierischer Konzepte, sondern auch ihre Verwendung. Wie gut können sie kombiniert werden und wie sind sie organisiert – sind sie bloß perlenschnurartig aufgereiht oder vielleicht auch hierarchisch geordnet? Durch die Benennung der Konzepte mit Wörtern oder Symbolen erzeugt der Mensch Begriffe und mit ihnen eine eigene, überaus vielfältige Kombinatorik. Dadurch, und dass die Konzepte durch Namen vertreten werden, ist es möglich, über Klassen von Dingen oder Eigenschaften von Eigenschaften zu sprechen. Und schließlich entstehen aus dem Gefüge der Begriffe, den Sätzen, neue Bedeutungen, die über jene der zugrunde liegenden Konzepte weit hinausgehen können. Doch bleiben wir zunächst bei den Begriffen.

Bereits John Locke unterschied einfache und komplexe Begriffe. Einfache Begriffe werden durch die unmittelbare Erfahrung gewonnen, die allgemeinen Begriffe hingegen sind ein Produkt der Abstraktion und werden vom Verstand gebildet. Beide werden von den englischen Empiristen, darunter auch George Berkeley, mit Vorstellungen oder Bildern im Geist gleichgesetzt.

Auch bei Immanuel Kant gibt es noch Erfahrungs- und Verstandesbegriffe, die im Wesentlichen noch den zuvor beschriebenen Kategorien oder Konzepten entsprechen. Darüber hinaus gibt es aber Vernunftbegriffe (Ideen), die nur das erkennende Subjekt haben kann, denn Gesetze würden niemals in den Erscheinungen existieren können, sondern immer nur im erkennenden Subjekt. 36Begriffe, so Kant, dienen dem Verstand in seiner Tätigkeit, zu urteilen und über das bloß Sinnliche hinauszugehen.

Bereits im 19. Jahrhundert rückt immer mehr die sprachliche Komponente der Begriffsbildung in den Vordergrund. Besonders zu nennen sind dabei Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt. Begriffe im Sinne von Wort, Namen oder Ausdruck sind elementare Bestandteile von Sprache und ersetzen die Bedeutung als kleinste Einheit des Denkens, als Vorstellung oder als Konzept. Umgekehrt meinen nicht wenige, dass die fundamentale Funktion von Sprache die Ermöglichung des konzeptuellen, begrifflichen Denkens ist. Tatsächlich ist es so, dass die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, stark durch die semantische Struktur und den Wortschatz seiner Muttersprache beeinflusst wird – die sogenannte »Sapir-Whorf-Hypothese« [40-42]. Dennoch ist es fraglich, ob daraus bestimmte Gedanken entstehen, die von jemandem, der eine andere Sprache spricht, nicht verstanden werden könnten. Begriffe teilen und ordnen die außersprachliche Wirklichkeit, und dies geschieht in den vielen Einzelsprachen in unterschiedlicher Weise. Hier haben wir es also mit Konventionen zu tun, die einen gewissen Grad an Beliebigkeit aufweisen, aber das ändert nichts an der einen objektiven Wirklichkeit und an ihrer Erkennbarkeit.

Das Prinzip dieser »sprachlichen Relativität«, die schon im 19. Jahrhundert von Wilhelm von Humboldt mit dem Konzept der inneren Sprachform vorweggenommen wurde [43], ist weit entfernt von einem darüber hinausgehenden »linguistischen oder sprachlichen Relativismus«, der die vollkommene Abhängigkeit des Denkens von der Sprache postuliert. Zwar mag die semantische Struktur einer Sprache die Möglichkeiten der Begriffsbildung beeinflussen und limitieren, unser Weltbild mag von unserer Sprache beeinflusst sein, und wir mögen auch zu unterschiedlichen Weltauffassungen gelangen, aber unsere fundamentale Wahrnehmung und Erkenntnis ist dadurch nicht vollkommen determiniert.

37Gedanken, Urteile und die Suche nach Wahrheit

Irgendwann im Laufe der Hominidenevolution haben unsere Vorfahren die Fähigkeit entwickelt, Dinge, deren Beziehungen sowie Prozesse zu isolieren und sie in ihrer abstrakten Bedeutung zu verstehen. Dabei kann der Mensch nicht nur »Über-etwas-Denken«, sondern er kann »Etwas-Denken« oder »Es-Denken« [44]. Der menschliche Denkprozess zeichnet sich dadurch aus, dass das Denken und das Gedachte intrinsisch zusammengehören. Infolgedessen können Gedanken fixiert und weitergegeben werden. Sie werden zu einem intersubjektiven Gemeingut.

In der Philosophie des Geistes hat sich dementsprechend auch die Vorstellung vom Gedanken geändert. Vereinfacht gesagt, könnte man den Gedanken als das Resultat eines Denkvorgangs betrachten. Er enthält, woran gedacht worden ist, in der Folge aber auch eine Meinung, eine Ansicht oder einen Einfall beziehungsweise eine Idee. Zunehmend wurde jedoch dieses subjektive, kognitive und individuelle Verständnis von Gedanken durch ein Verständnis im abstrakten, objektiven, dauerhaften und wahrhaftigen Sinn abgelöst. Mit der Betonung des Allgemeinen, des Wesentlichen und Gesetzmäßigen tritt der Geltungsaspekt des Denkens gegenüber dem Entstehungsaspekt in den Vordergrund. Logiker wie Gottlob Frege oder Edmund Husserl sehen in Gedanken ein Produkt des Denkprozesses in Form eines Urteils, eines Begriffs oder einer Kombination von beidem. Damit kommen wir nach den Dingen der Außenwelt und den (subjektiven) Vorstellungen zum Bereich der Logik. Ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen Form von geist- und zeitlosen Gedanken ist, dass so etwas wie Wahrheit ins Spiel kommt. »Ein Gedanke aber ist etwas, von dem gilt: wahr oder falsch, ein Drittes gibt es nicht« [45, S. 36]. Dieser bezieht sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wie den Pythagoräischen Lehrsatz, womit er sich weit vom ursprünglichen Konzept des (psychologischen) Gedankens in Form einer Idee oder Vorstellung entfernt. In der Frage der Geltung geht es nicht um Wahrnehmung, sondern um Wahrheit, 38ganz unabhängig davon, ob er von diesem oder jenem Menschen gedacht wird oder nicht. Zusammengefasst ist der Gedanke »der von einer Aussage behauptete Sachverhalt« [46, S. 223]. Ein Wesen kann also nur dann Gedanken haben, wenn es Dinge wissen oder sich irren kann und wenn es bestimmte Absichten haben kann.

Mit der Fokussierung auf den objektiven Gehalt eines Gedankens, den Sachverhalt oder die sogenannte Proposition, erfährt auch der Prozess des Denkens in der modernen Logik eine grundsätzliche Akzentverschiebung. Nach Frege ist das Denken nicht als Hervorbringen des Gedankens, sondern als dessen »Erfassung« anzusehen. Danach folgt das Urteilen als die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens. Und schließlich äußert sich der Gedanke im Behaupten, der Kundgebung des Urteils.

Als Folge dieser rationalistischen Konzeption kommt es zu einer Verquickung von Denken und Sprache, vermittelt über das Urteil und die Behauptung. Dieses formallogisch urteilende Denken ist jedoch nicht neu, sondern gilt schon seit der Antike als das Rationalitätsmerkmal par excellence [44]. Das logische Denken ist nicht spontan, subjektiv oder psychologisierbar, denn es folgt den Denkgesetzen (dem Satz von Widerspruch, dem Satz der Identität, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und dem Satz vom zureichenden Grunde) und strebt nach Wahrheit und Gültigkeit. Im Mittelpunkt steht die Aussage beziehungsweise die Behauptung als Folge formal richtiger Schlüsse. Es ist jedoch umstritten, welche formal richtigen Schlussfolgerungen in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens inhaltlich korrekt sind und welche nicht. Zwar mag der Satz »Ich liebe und hasse dich zugleich« widersprüchlich sein, aber ist er nicht dennoch Bestandteil unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit [44]?

Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung von Gedanken und Begriffen in den philosophischen Diskursen geändert, im Wesentlichen dadurch, dass auf andere Aspekte Bezug genommen wurde als in der Biologie und der (kognitiven) Psychologie, wo der 39Schwerpunkt auf dem Subjekt liegt, das über Gedanken verfügt, nämlich im Sinne von individuellen Repräsentationen, die für die Verursachung von Handlungen relevant sind. Gedanken sind hier in erster Linie Denkoperationen, bewusste psychische Handlungen. Von dieser subjektiven Dimension haben sich zwei wichtige philosophische Strömungen entfernt. Während die einen die objektive Dimension in den Vordergrund stellen, in dem Begriffe in Bezug zur Welt, zu ihrer Extension stehen, legen andere, nach der sogenannten linguistischen Wende den Schwerpunkt auf den intersubjektiven Bezug zur Sprachgemeinschaft, die eine Praxis der Glaubenszuschreibungen pflegt. Sie fragen, wie das betreffende Wort im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet wird und was der Sprecher damit zum Ausdruck bringen will. Im Spätwerk war für Ludwig Wittgenstein [47] und die ihm dabei nachfolgenden Sprachphilosophen nicht mehr der Bezug zur außersubjektiven Wirklichkeit maßgeblich, sondern die internen Spielregeln eines Sprachspiels, das heißt die Regeln der Verwendungsweise der einzelnen Wörter und Sätze.

Beiden Denkschulen ist gemeinsam, dass sie dem Menschen die Fähigkeit attestieren, die Wirklichkeit intersubjektiv zu erfassen. Damit wird die subjektive, egozentrische Perspektive überwunden und ein objektiver Bezug auf die Welt erzeugt. Im Dreieck von Sprecher, Interpret und Objekt entsteht so etwas wie eine gemeinsame Welt. Ob (anfänglich) durch Zeigegesten oder (später) durch Zeichen, Symbole oder Worte, Menschen referieren auf etwas außerhalb ihrer selbst und stellen damit einen objektivierenden Bezug her.

Ab dem ersten Lebensjahr kommunizieren Menschen auf komplexe Weise mit Gesten, die als intentionale Signale definiert werden können, indem sie mit dem Ziel auf einen Empfänger gerichtet sind, sein Verhalten in einer bestimmten Art und Weise zu beeinflussen [48]. Menschenkinder verwenden Gesten wie Zeigen (zum Beispiel mit der ausgestreckten Hand und dem Zeigefinger) oder Anbieten (von Gegenständen), um die Aufmerksamkeit ei40nes anderen auf ein bestimmtes Objekt in der Umwelt zu lenken, insbesondere um das Interesse an diesem Gegenstand zu teilen oder ein konkreteres Ziel zu erreichen, wie zum Beispiel das Wiederfinden des Gegenstandes [49]. Diese Signale sind mechanisch unwirksam – abgesehen von einer Verhaltensänderung des Empfängers – und sind referentiell, weil sie dazu benutzt werden, die Aufmerksamkeit anderer auf eine äußere Entität zu lenken. Als triadische Interaktionen – Sender, Empfänger, Gegenstand – stellen sie frühe Schlüsselelemente der menschlichen Sprachentwicklung dar.

Es gibt nun allerdings eine zunehmende Zahl von ethologischen Studien zur referentiellen Kommunikation bei Tieren. Nicht nur in Laborexperimenten verwenden Schimpansen Zeigegesten zur Kommunikation [zum Beispiel 50], auch in freier Wildbahn scheinen sie mit gezieltem Kratzen Artgenossen auf Körperbereiche hinzuweisen, in denen sie gepflegt werden möchten [51]. Bonobos scheinen Zeigegesten zu verwenden, um auf potenzielle Gefahren für Artgenossen hinzuweisen [52]. Dass referentielle, Gedanken in Bezug zu Objekten setzende Kommunikation darüber hinaus nicht auf Menschen und Menschenaffen beschränkt ist, sondern im Tierreich weit verbreitet ist, legen neuere Studien mit Vögeln und Fischen nahe. Kolkraben konnten bei der Verwendung von Referenzgesten im Zusammenhang mit der sozialen Bindung zwischen den Paarpartnern beobachtet werden [53]. Selbst Fische wie der umherziehende Rotmeer-Forellenbarsch und der Leopard-Forellenbarsch stehen den Intelligenzbestien aus dem Reich der Säuger und Vögel nicht nach, verwenden sie doch referentielle Signale zum Anzeigen von versteckter Beute an kooperierende, artfremde Jagdpartner [54]. Alle diese Fallbeispiele weisen fünf Wesensmerkmale für referentielle Signale auf: Sie sind auf ein Objekt gerichtet, ebenso auf einen Empfänger, sie sind mechanisch unwirksam für einen anderen Zweck als ein Signal, sie erhalten eine freiwillige Antwort und sie weisen die Markenzeichen von Intentionalität auf [53].

41Geteilte Intentionalität

Vergleichende Psychologen erkennen die absichtsvollen Hinweiszeichen der genannten Beispiele zwar an – insbesondere bei Menschenaffen, die immer wieder für Vergleiche mit Kindern herangezogen werden –, schränken aber ein, dass es den Tieren dabei um ihre eigenen individuellen Bedürfnisse und Ziele geht, indem sie andere ausnutzen oder gar ausbeuten [55]. Da die Tiere um wichtige Ressourcen konkurrieren, würden sie Informationen von anderen sammeln, um diese als »soziale Werkzeuge« zu manipulieren, und selbst wenn sie Aktionen mit ihnen koordinieren, geschehe dies meist zu ihrem eigenen Nutzen. Im Gegensatz dazu wären Menschenkinder oft damit beschäftigt, Informationen mit anderen auszutauschen, indem sie ihnen hilfreiche Hinweise geben, gemeinsame Absichten und Aufmerksamkeit mit ihnen teilen, aber auch aus Demonstrationen lernen, die zu ihrem Nutzen produziert wurden.

Aus einer uneigennützigen, kooperativen Grundhaltung heraus würden Kleinkinder, so das Argument, die schon bei ihren tierischen Vorfahren vorhandenen Fähigkeiten der referentiellen, manipulativen Kommunikation, des sozialen Lernens, der Kooperation, des Abstimmens von Gruppenaktivitäten (denken wir nur an das gemeinsame Jagen von Schimpansen) und andere soziokognitive Verhaltensweisen wie Blickverfolgung in den Dienst der kulturell geprägten Gemeinschaft stellen [55, 56]. Im Gegensatz zu Schimpansen leben Menschen nicht bloß in Gemeinschaften, sondern in Kulturen, die aus sozialen Praktiken, Normen und Institutionen bestehen, deren eigentliches Gefüge aus Kooperation und Arbeitsteilung für ein gemeinsames Ziel besteht. Im Laufe der menschlichen Evolution seien die soziokognitiven Fähigkeiten und Motive für geteilte Intentionalität verstärkt und teilweise auch transformiert worden, sodass sie Kindern ermöglicht, an den kulturellen Praktiken um sie herum teilzunehmen.

Zu den stammesgeschichtlich erworbenen, soziokognitiven Fähigkeiten, die seit nunmehr dreißig Jahren bei verschiedensten 42Tierarten unter dem Begriff der »machiavellischen Intelligenz« [57] untersucht werden, soll bei Menschenkindern gegen Ende des ersten Lebensjahres eine starke Motivation für geteilte Aufmerksamkeit und Weitergabe von Informationen, Emotionen, Interessen und eigenen psychischen Zuständen hinzukommen, welche diese soziokognitiven Fähigkeiten erweitern und transformieren. Bereits Säuglinge tauschen wechselseitig nicht nur Blicke, sondern auch emotionale Zustände mit anderen. Dieses starke Bedürfnis, sich anderen (vorsprachlich) mitzuteilen und mit ihnen Informationen und Emotionen auszutauschen, ermöglicht es den heranwachsenden Kindern, später auf verschiedene Arten von sozialen Normen, kollektiven Überzeugungen und kulturellen Institutionen zu reagieren und diese sogar zu verinnerlichen [55].

In dieser frühen Phase ist vorwiegend die Bezugsperson, in der Regel die Mutter oder der Vater, das Ziel der sogenannten sozialen Referenzierung, der für die Bewertung einer Handlung oder eines Ereignisses wichtigen Orientierung an deren emotionaler Körpersprache, insbesondere am Gesichtsausdruck [58, 59]. Neben der kognitiven Reifung bildet diese Art von Rückversicherung einen wichtigen Bestandteil der emotionalen Entwicklung des Kindes. Kognitiv gesehen ist die soziale Referenzierung der Beginn der Fähigkeit, in anderen Personen Gefühle, Bedürfnisse, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten. Wenn sich das unsichere Kind hinsichtlich der Affekte der Mutter rückversichert, bedeutet das, dass das Kind bereits weiß, dass die Mutter auf die Außenwelt gerichtete Intentionen hat. Man kann diese Einstellung also als Vorstufe in der Entwicklung der Perspektivenübernahme beziehungsweise des Gedankenlesens (siehe Kapitel 8) sehen.

Im Vergleich zwischen Schimpansen und Kleinkindern wurden vier Arten von Transformationen von individualistischen zu soziokulturellen Tendenzen untersucht [55]: von der Blickverfolgung zur gemeinsamen Aufmerksamkeit, der sozialen Manipulation 43