Das Rätsel Seele - Hans Goller - E-Book

Das Rätsel Seele E-Book

Hans Goller

0,0

Beschreibung

Im Alltag ist uns die Einheit von Körperlichem und Seelischem selbstverständlich und das Wort "Seele" aus unserer Sprache nicht wegzudenken. Aber welche Realität verbirgt sich eigentlich hinter diesem schillernden Begriff? Ist die Seele mehr als das Gehirn? Wie sind dabei die Phänomene der Nahtoderfahrungen zu deuten? Ist der christliche Glaube an die Auferstehung der Toten vollkommen unvernünftig? Hans Gollers Buch bietet uns die erste umfassende Darstellung - von den Seelenvorstellungen der alten Völker über die Deutungen durch Philosophie und Theologie bis hin zu den Aussagen heutiger Psychologie und Hirnforschung. Eine spannende und erhellende Zeitreise durch ein noch immer unerschlossenes Gebiet!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 418

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Goller

Das Rätsel Seele

Hans Goller

Das Rätsel Seele

Was sagt uns die Wissenschaft?

Butzon & Bercker

„Orientierung durchDiskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Banderscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, BrunoKern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-2411-6

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4320-9

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4321-6

E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4319-3

© 2017 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland,

www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Mauritius H05682104 Mauritius images/Avalon und Fotolia_97379398

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I. Die Seele in unserer Alltagssprache

Seelische und körperliche Empfindungen

Über die Seele sprechen wir in Metaphern

Frühe Bilder und Vorstellungen von der Seele

Zusammenfassung

II. „Seelenkunde“? Die Seele in der Psychologie

Psychologie ohne Seele

Argumente gegen die Verwendung des Seelenbegriffs

Wiederkehr des Seelenbegriffs

Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten

Erleben und Bewusstsein

Aktualbewusstsein und Hintergrundbewusstsein

Verhalten und Handeln

Handlungen und Widerfahrnisse

Psychologie und das „Seelenproblem“

Tiefenpsychologie

Das Seelenleben als Konflikt

Verhaltenspsychologie

Die Klassische Konditionierung

Die Operante Konditionierung

Das Beobachtungslernen

Kognitive Ansätze

Humanistische Psychologie

Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie

Die Persönlichkeitstheorie von Carl Rogers

Psychotherapie als Hilfe zur Selbstverwirklichung

Zusammenfassung

III. Macht das Gehirn die Seele?

Die Suche nach dem Sitz der Seele

Das Gehirn als Organ der Seele

Veränderung der Persönlichkeit durch Gehirnverletzung

Geteiltes Gehirn, doppelter Geist?

Die Doppelt-Geist-Theorie

Bewusstsein und die rechte Hirnhälfte

Wer hat im Gehirn das Sagen?

Was bewirkt die Einheit des bewussten Erlebens?

Die Suche nach dem Sitz der Seele im engeren Sinne

Die Bedeutung der Emotionen für Erleben, Entscheiden und Handeln

Das limbische System: Sitz des Seelischen?

Die drei Ebenen des limbischen Systems

Das Selbst – ein Ersatz für die Seele?

Die Suche nach der neurobiologischen Grundlage des Selbsterlebens

Selbsterleben und die dunkle Energie des Gehirns

Macht das Gehirn tatsächlich die Seele?

Die These des neurobiologischen Konstruktivismus

Ist der Tod des Gehirns auch der Tod der Seele?

Zusammenfassung

IV. Ist der Geist die Seele?

Dualistische Deutungen des Leib-Seele-Problems

Substanzdualismus

Wechselwirkungstheorie

Psychophysischer Parallelismus

Epiphänomenalismus

Materialistische Deutungen des Leib-Seele-Problems

Identitätstheorie

Eliminativer Materialismus

Funktionalistische Deutung

Das Argument der fehlenden Qualia

Das Argument der vertauschten Qualia

Das Argument des chinesischen Zimmers

Das Rätsel des bewussten Erlebens

Zusammenfassung

V. Überlebt nur die Seele unseren Tod?

Was geschieht mit uns nach dem Tod?

Dualistische Deutungen – Ein Leben nach dem Tod ohne materielle Grundlage

Alvin Plantinga: Christliche Philosophen sollten Dualisten sein

Vito Mancuso: Tod als Verwandlung der Person in reinen Geist

Materialistisch-monistische Deutungen – Ein Leben nach dem Tod mit materieller Grundlage

Peter van Inwagen: Austausch des Körpers im Tod

Dean Zimmerman: Verdoppelung des Körpers im Tod

Vermittelnde Deutungen – Zwischen Dualismus und Materialismus

Lynne Rudder Baker: Konstitutionstheorie der Person

Thomas von Aquin: Auferstehung des ganzen Menschen

Ganztodtheologie

Oscar Cullmann: Der Mensch stirbt ganz und gar

Gisbert Greshake: Auferstehung im Tod

Kosmologie: Tod und ewiges Leben

Stefan Bauberger: Physik und die Auferstehungshoffnung

Markolf Niemz: Sterbliches Ich, unsterbliche Seele

Robert Russell: Transformation des Kosmos

Peter Strasser: Transformation der Person im Tod

Zusammenfassung

Nachwort

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Vorwort

Ist die Seele bloß ein veralteter Begriff, für den die moderne Wissenschaft keine Verwendung mehr hat? Hat die Seele als Urbild des Lebens und Erlebens an Bedeutung verloren? Die Psychologie gebraucht den Begriff „Seele“ nicht. Ist sie deshalb eine völlig seelenlose Wissenschaft oder befasst sie sich doch mit dem seelischen Erleben? Viele Hirnforscher betrachten das Gehirn als Organ der Seele. Demnach erzeugt das Gehirn das Bewusstsein, und der Hirntod ist zugleich das Ende des Bewusstseins. Ist der Tod des Gehirns auch der Tod der Seele? Sind Hirntote als Entseelte zu betrachten?

Im Alltag ist uns die Einheit von Körperlichem und Seelischem selbstverständlich. Das bewusste Erleben ist das vertrauteste und zugleich rätselhafteste Geschehen. Philosophen versuchen seit Langem zu ergründen, in welchem Verhältnis Leib und Seele, Körper und Geist, zueinander stehen. Gibt es eine vom Körper unterscheidbare, immaterielle Seele, oder existiert letztlich nur Materielles? Kann es ein Bewusstsein auch ohne einen Körper geben? Werden wir das Verhältnis von Körper und Geist jemals wirklich verstehen?

Was geschieht mit uns nach dem Tod? Ist der Tod das definitive Ende des Menschen? Gibt es ein Leben jenseits der Todesgrenze? Kann nur die Seele unseren Tod überleben? Ist der christliche Glaube an die Auferstehung der Toten vollkommen unvernünftig? Was bedeutet Hoffnung auf ein ewiges Leben in unserem Universum, in dem in einigen Milliarden Jahren jede Form des Lebens restlos beseitigt sein wird?

Das Buch erörtert, wie unterschiedlich moderne Wissenschaften mit dem Begriff „Seele“ verfahren. Kapitel I zeigt, wie wir im Alltag über Seelisches sprechen und welche Vorstellungen wir von der Seele haben. Kapitel II erörtert, wie verschieden die drei Hauptrichtungen der gegenwärtigen Psychologie den Begriff „Seele“ indirekt aufgreifen und deuten. Kapitel III diskutiert, was Hirnforscher unter „Seele“ verstehen und wie sie nach den neurobiologischen Grundlagen des Seelischen suchen. Kapitel IV befasst sich mit philosophischen Deutungen des Verhältnisses von Leib und Seele, von Körper und Geist. Kapitel V setzt sich mit den Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod auseinander.

Ich möchte das Buch allen widmen, die sich fragen, was uns im Grunde als Menschen ausmacht und was mit dem Ausdruck „Seele“ eigentlich gemeint ist. Ich glaube, die Auseinandersetzung mit dem Thema „Seele“ kann dazu ermutigen, den Menschen als ganzen in seiner Lebendigkeit, seiner Einmaligkeit und seiner Ahnung von etwas Göttlichem oder Übernatürlichem nicht aus dem Blick zu verlieren.

Dem Kollegen Josef Quitterer danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes. P. Robert Miribung SJ danke ich für sein lebhaftes Interesse am Thema des Buches und für seine hilfreichen Anmerkungen. Herrn Dr. Bruno Kern und Herrn Dr. Berthold Weckmann danke ich für die Anregung, eine Monografie über die Seele zu schreiben, und für ihre sorgfältige verlegerische Betreuung.

Innsbruck, im Januar 2017

HansGoller

I. Die Seele in unserer Alltagssprache

Wie sprechen wir im Alltag über die Seele? Welchen Begriff von der Seele haben wir und wie verwenden wir die damit zusammenhängenden Begriffe: Körper, Mensch, Bewusstsein, Geist, Leben und Tod? Mit „Seele“ meinen wir etwas Innerliches, etwas, was unabtrennbar und wesentlich zu jedem Menschen gehört, was nicht körperlich, aber eng mit dem Körper verbunden ist. Den Menschen begreifen wir als Wesen mit einem bestimmten Körper und einer bestimmten Seele, als ein einzigartiges seelisch-körperliches Lebewesen. Rein seelische oder unkörperliche Wesen bezeichnen wir nicht als Menschen, sondern als „Geister“ oder „Engel“. Nur lebenden Menschen schreiben wir eine Seele zu. Beim Reden über die Seele, so entdeckte Manuela Di Franco in ihrer Analyse der Alltagssprache, verwenden wir vor allem Bilder und Metaphern (vgl. Di Franco 2009).

Unserer Alltagsvorstellung zufolge verlässt die Seele den Menschen im Tod. Zurück bleibt ein „entseelter“ Körper, eine Leiche. Lebendig und beseelt zu sein bedeutet für uns, zu empfinden und zu fühlen. Totes oder Entseeltes halten wir hingegen für empfindungslos. Dies äußert sich auch in unseren Handlungen. Nur unter der Voraussetzung, dass Tote nichts mehr spüren, empfinden und fühlen, können wir sie ruhigen Gewissens begraben oder verbrennen, ohne befürchten zu müssen, dass die Seele mit dem Körper unter der Erde vermodert oder im Krematorium eingeäschert wird. „Die Vorstellung, als lebendige Seele in einem toten Körper eingeschlossen zu sein, mithin in einem Grab, ist unerträglich. Also muss die Seele beim Tod verschwinden – ganz und gar oder wenigstens aus diesem bewegungsunfähigen Körper.“ (Di Franco 2009, 15) Die Ungewissheit über das Fortbestehen der Seele nach dem Tod ist ein zentraler Aspekt unseres Begriffs der Seele. Was mit der Seele nach ihrer Trennung vom Körper geschieht, darüber gibt es verschiedene Ansichten, die stark religiös und kulturell geprägt sind (siehe Kapitel V).

Als charakteristische Merkmale dessen, was wir im Alltag unter „Seele“ verstehen, nennt Di Franco die Innerlichkeit, die Unkörperlichkeit, die Unsterblichkeit und vor allem die Unfassbarkeit der Seele. „Die Seele kann so wenig begriffen werden, wie sie ergriffen werden kann, und die Unbegreiflichkeit gründet gerade in der Ungreifbarkeit: Wir sehen die Seele nicht und können sie weder ertasten, noch schmecken oder hören.“ (Di Franco 2009, 17) Der Psychiater Daniel Hell beschreibt die Unfassbarkeit der Seele so: „Die Seele ist eher von dem her beschreibbar, was sie nicht ist, als von dem her, was sie ist. Sie ist weder ein objektivierbares Ding, noch hat sie einen lokalisierbaren Ort. Sie lässt sich weder in Definitionen einschließen, noch ist sie auf irgendeine Weise von irgendjemandem in Besitz zu nehmen.“ (Hell 2009, 13)

Mit dem Begriff „Seele“ eng verwandt sind die Begriffe „Geist“, „Bewusstsein“, „Ich“ und „Selbst“. Mit diesen Begriffen meinen wir immer etwas unüberwindbar Individuelles. Sie verweisen auf das Innerliche, Unkörperliche und Einmalige des Menschen. Die Gefühle lokalisieren wir in der Seele, die Gedanken hingegen verorten wir im Geist. Als Ersatz für „Geist“ verwenden wir gelegentlich auch den Ausdruck „Kopf“. Beispielsweise wenn wir sagen, dass wir etwas „im Kopf nicht aushalten“ oder dass wir uns über etwas „den Kopf zerbrechen“. „Den Geist lokalisieren wir im Kopf, genauer gesagt im Gehirn, und je mehr wir über die Funktionsweisen des Gehirns erfahren, desto mehr neigen wir dazu, den Geist mit dem Gehirn zu identifizieren. Ob Geist letztlich genau und nur Gehirn ist, spielt in unserem Alltag nur eine unwesentliche Rolle.“ (Di Franco 2009, 21) Mühelos unterscheiden wir zwischen geistigem „Kopfzerbrechen“ und körperlichen „Kopfschmerzen“, zwischen der bloßen Vorstellung eines körperlichen Schmerzes und dem tatsächlich empfundenen Schmerz. Die Gedanken selbst empfinden wir nicht als körperlich. „Den Prozess der geistigen Bewusstwerdung dessen, was in unserer Seele vor sich geht, nennen wir ‚Selbstbetrachtung‘, ‚Innenschau‘ oder ‚Introspektion‘. Daran ist für uns gewöhnlich nichts Wunderliches.“ (Di Franco 2009, 23)

Seelische und körperliche Empfindungen

Im Alltag unterscheiden wir ohne Schwierigkeiten zwischen seelischen und körperlichen Empfindungen. Sträuben sich uns etwa vor Entsetzen die Haare, kommen wir nicht auf die Idee, uns wärmer anzuziehen, sehr wohl aber dann, wenn wir eine Gänsehaut haben, weil wir frieren. Ebenso wenig verwechseln wir den traurigen Kloß im Hals mit erkältungsbedingten Halsschmerzen. Seelisches zeigt sich in körperlichen Regungen. Di Franco fragt: „Wie könnte es überhaupt wahrgenommen und empfunden werden, wenn es sich in keiner Weise äußern würde, und wie anders, wenn nicht körperlich, könnte es sich äußern? Worin genau unterscheiden sich letztlich seelische und körperliche Empfindungen?“ (Di Franco 2009, 28) Unser Sprechen über seelische und körperliche Empfindungen legt einen engen Zusammenhang zwischen beiden nahe. Diesen Zusammenhang bringen wir ausdrücklich zur Sprache, wenn wir sagen, dass unsere seelischen Regungen zu bestimmten körperlichen Zuständen führen, dass sie sich darin zeigen oder ausdrücken. Wir fühlen zum Beispiel Zorn und Wut in uns „hochsteigen“, wir „kochen“ oder „schäumen“ vor Wut, das Gesicht fleckt sich rot, wir sind „wutentbrannt“. „Beispielsweise äußert sich Verliebtheit, ein seelischer Zustand, in beschleunigtem Herzschlag, Zittern, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und Ähnlichem, jedenfalls Körperlichem. Ebenso sinnvoll können wir sagen: ‚Ich habe einen Kloß im Hals, weil ich traurig bin‘.“ (Di Franco 2009, 28)

Im Gegensatz zu Temperaturen, Farben und Klängen scheinen Gefühle, wie auch die Seele selbst, völlig innerlich, von außen nicht sichtbar und nur der erlebenden Person selbst zugänglich zu sein. „Kein anderer kann je meine eigenen Gefühle empfinden. Ebenso wenig kann ich die Gefühle eines anderen haben. Ich kann zwar mit jemandem fühlen. Ich kann mit ihm traurig sein oder Mitleid haben und mich für ihn freuen oder seine Freude teilen. Ich empfinde dann aber nicht seine Gefühle, seine Freude oder seine Trauer, sondern nur mein eigenes Mitgefühl.“ (Di Franco 2009, 31) Unsere seelischen Empfindungen können wir natürlich anderen mitteilen, indem wir darüber sprechen. Äußerungen über die eigene seelische Befindlichkeit beginnen wir typischerweise mit den Worten „ich fühle mich“ und ergänzen sie durch Eigenschaftswörter, die diesen Zustand näher charakterisieren. Zum Beispiel: Ich fühle mich beschwingt, gedrückt, leer, voller Angst oder ausgeglichen. In unserem Sprechen über seelische Regungen zeigt sich eine Abgrenzung und gleichzeitige Verknüpfung von Seele und Körper, von seelischen und körperlichen Zuständen. Gefühle äußern sich körperlich: vor Scham erröten, vor Angst zittern, vor Furcht erstarren. Wir äußern unsere Gefühle sprachlich und nichtsprachlich im Tonfall der Stimme, in Gestik und Mimik. Erstaunlicherweise verwenden wir beim Sprechen über Seelisches dieselben oder ähnliche Ausdrücke wie in der Rede über Körperliches. Wenn wir unser Inneres als hart oder weich, als hell oder dunkel, als leicht oder schwer und als kalt oder warm bezeichnen, dann reden wir über die Seele wie über einen Gegenstand mit handfesten Eigenschaften. Wir bezeichnen uns als gespalten und entzweit, als zerrissen oder hin- und hergerissen, als schwankend oder ausgeglichen, als gequält, gepeinigt und getrieben. Wir fühlen uns abgestumpft oder sind unbelastet. Wir zittern innerlich, wir können beben, bewegt, erregt und erschüttert sein (vgl. Di Franco 2009, 38–39). Über die Seele sprechen wir außerdem wie über einen Raum. Diesen inneren Raum bestimmen wir näher als tief, als leer oder erfüllt oder als ausgebrannt. Die Augen, die wir auch „Fenster zur Seele“ nennen, eröffnen uns einen Blick in das Innere eines Menschen. Über die Seele sprechen wir zudem wie über ein tiefes und weites Gewässer. Wir nennen die Seele unergründlich und abgründig wie einen geheimnisvollen See oder das Meer. Wir sind der Ansicht, dass stille Wasser tief gründen. Der Ausdruck „Seele“ geht höchstwahrscheinlich auf den Ausdruck „See“ zurück. Als Erklärung für diese Wortherkunft wird in der Literatur auf die alte germanische Vorstellung verwiesen, derzufolge die Seelen der Ungeborenen und Toten im Wasser wohnten.

Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm fragt, was wir in der Alltagssprache mit dem Wort „Seele“ bezeichnen. Eine Analyse der Eintragungen des Wortes „Seele“ im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache zeigt, dass wir mit diesem Wort in erster Linie den Gesamtbereich des Empfindens und Erlebens, vorwiegend der Gefühlsregungen, bezeichnen. Unsere Rede von der Seele meint zudem einen besonderen Intensitätsgrad des Erlebens. Das belegen Redewendungen wie: „Ihrem Gesang fehlt die Seele“; „etwas lastet mir schwer auf der Seele“; „jemanden in tiefster Seele hassen“; „in tiefster Seele ergriffen sein“. „Seele“ bezeichnet hier nicht den Ort, an dem Wahrnehmungen und Empfindungen stattfinden, sondern den Intensitätsgrad des Erlebens. „Mit Seele musizieren heißt, nicht nur schöne Töne zu produzieren, sondern die eigenen Gefühle rückhaltlos hineinzulegen; aus tiefster Seele hassen bezeichnet einen mit größter Intensität und Vollständigkeit gehegten Hass.“ (Mumm 2012, 182) In der Rede von der Seele geht es um etwas, das für uns eine persönliche Bedeutung und Wichtigkeit hat, um die Intensität der Beziehung zu unseren Mitmenschen und zur Welt.

Darauf aufbauend, so Mumm, wird die Seele in der alltäglichen Rede zu einer Instanz verfestigt. „Die Seele eines Kindes ist keine einzelne intensive Empfindung, sondern der Inbegriff des Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, den man einem Kind zutraut. In der Wendung Seele von Mensch bezeichnet Seele ebenfalls die Totalität eines Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, allerdings nur in Bezug auf solche Menschen, denen man besonders viel Gutmütigkeit und Einfühlungsvermögen zutraut.“ (Mumm 2012, 182)

Über die Seele sprechen wir in Metaphern

Wir verfügen über eine Fülle von Redewendungen, um über die Zustände und Regungen unserer Seele zu sprechen. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Seele nichts Körperliches ist und folglich weder körperliche Eigenschaften noch Zustände haben kann. „Wie also ist es zu verstehen, wenn wir unsere Seele als ‚tief‘ oder ‚leicht‘ bezeichnen, wenn wir sagen, dass sie ‚bebt‘, ‚zittert‘, ‚spaltet‘ und ‚reißt‘? Wie soll etwas beben, das nicht körperlich ist? Wie kann es zittern und gespalten sein?“ (Di Franco 2009, 41) Alle diese Äußerungen meinen wir in einem übertragenen Sinn. Wir verwenden Bilder und Metaphern, um über die Seele zu sprechen.

Obwohl wir mit „Seele“ etwas Innerliches und Unkörperliches meinen, schreiben wir ihr körperliche Eigenschaften zu, etwa wenn wir sagen: Die Seele ist tief, sie ist abgründig und birgt viele Gefühle. Damit machen wir die Seele zu einem Gegenstand, zu einer Art Behälter für Gefühle. Diese Äußerung ist nur sinnvoll, wenn wir sie nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn meinen. Mit Ausdrücken für Körperliches beschreiben wir etwas Unkörperliches. Über seelische Zustände sprechen wir vorwiegend in Metaphern. Der Ausdruck „Metapher“ bedeutet, dass ein Satz oder ein Ausdruck nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, also bildhaft, gemeint ist. Wenn es darum geht, etwas zu benennen und zu beschreiben, für das es in der Sprache auf Anhieb keine geeigneten Ausdrücke gibt, dann scheinen Metaphern ein besonders geeignetes Mittel der Rede zu sein. Di Franco betont wiederholt, dass wir gar nicht anders können, als in Metaphern über die Seele zu reden. Die Seele entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung in Raum und Zeit. Sie ist weder fassbar noch körperlich. Die Analyse der Metaphern der Seele zeigt, dass die Rede über das Seelische die Rede über das Körperliche voraussetzt. „Das Seelische ist nicht unabhängig vom Körperlichen zu denken, und über das Seelische, das Unkörperliche, kann nicht gesprochen werden, ohne vom Körperlichen zu reden.“ (Di Franco 2009, 98) Zu unserer metaphorischen Redeweise über das Seelische gehört auch das Sprechen darüber, dass Körper und Geist wechselseitig aufeinander einwirken. Die wissenschaftliche Untersuchung der körperlichen Seite des seelischen Erlebens erfolgt zurzeit sehr intensiv durch die Hirnforschung und die Neurowissenschaften (siehe Kapitel III). Die Beziehung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, ist Gegenstand der Leib-Seele-Debatte in der Philosophie (siehe Kapitel IV).

Die Metaphern, die wir in der Rede über die Seele verwenden, erschließen uns überhaupt erst den Bereich des Seelischen. „Es ist daher unumgänglich, metaphorisch über das Seelische zu sprechen. Nur mittels dieser und allenfalls weiterer indirekter Ausdrucksweisen kann das Unfassbare sprachlich fassbar gemacht werden.“ (Di Franco 2009, 110) Dass wir Gefühlsregungen und Seelenzustände überhaupt in Sprache fassen können, verdanken wir den Metaphern.

Das Seelische ist letztlich unbegreiflich. Trotzdem sprechen wir darüber, und unsere Rede über die Seele lässt sich auch darstellen. Beim Sprechen über die Seele verwenden wir indirekte und bildhafte Redensarten, mit deren Hilfe das Unfassbare für uns sprachlich fassbar wird. Das metaphorische Sprechen erschließt uns erst den Bereich des Seelischen. Die Seele selbst ist kein Gegenstand, der direkt beobachtet und erforscht werden kann. Seelisches äußert sich jedoch in körperlichen Erscheinungen, im Sprechen, im Verhalten und Handeln. Diese können Gegenstand psychologischer Forschungen sein (siehe Kapitel II).

Frühe Bilder und Vorstellungen von der Seele

Wann tauchen die ersten Vorstellungen von einer Seele auf? Welche archäologischen Funde und Befunde weisen auf die Existenz derartiger Vorstellungen hin? Allgemein gelten Bestattungen und Grabbeigaben als Beleg für den Glauben an ein Jenseits und an die Existenz einer Seele. Religiöse Handlungen und Rituale sind jedoch schwer empirisch nachzuweisen, weil sie nicht notwendigerweise archäologische Relikte erzeugen (vgl. Lang 2012). Sorgfältig gebaute Gräber und reiche Grabbeigaben gelten vielfach als Hinweis auf Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Erste derartige Bestattungen datieren in die Zeit ab etwa 120.000 v. Chr. „Mit dem Jungpaläolithikum (ca. 35.000–10.000 v. Chr.) entwickelte sich dann eine differenzierte Behandlung von Toten, bei der die Körperbestattung mit Beigaben in sorgfältig hergerichteten Gräbern den Glauben an ein Jenseits erschließen lässt.“ (Lang 2012, 81) Noch vor rund hundert Jahren, so Amei Lang, wurde die Existenz paläolithischer Gräber vehement bestritten. Manche Experten waren der Meinung, die Menschen der Eiszeit hätten keinerlei religiöse Ideen und Gefühle gehabt und der Tod hätte ihnen nichts bedeutet. Es hätte auch noch keinen Glauben an die Existenz einer Seele gegeben. Die moderne Religionswissenschaft kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und spricht den mittel- und jungpaläolithischen Bestattungen ebenso wie den Höhlenmalereien einen religiösen Hintergrund ab (vgl. Lang 2012, 81).

Wie lässt sich etwas Unsichtbares wie die Seele bildlich darstellen? Im Alten Ägypten gab es die Darstellung des Seelenvogels. Dieser Vogel war mit einem menschlichen Kopf ausgestattet, der dem Toten ähnlich sah. Der Seelenvogel war die bildliche Darstellung davon, was nach dem Tod eines Menschen als dessen Identität zu betrachten war (siehe Abb. 1). Aus dem Mittelalter sind Darstellungen bekannt, auf denen zu sehen ist, wie beim Eintreten des Todes einer Person ein kleines „Menschlein“ aus dem Mund entweicht (siehe Abb. 2). Die Seele stellte man sich vielfach auch als Tier vor, wobei vor allem Vögel als geflügelte Lebewesen die Seele repräsentierten. Der Schmetterling ist zum Beispiel ein frühes Sinnbild des seelischen Erlebens. „Vögel, Schmetterlinge und andere beflügelte Lebewesen drücken die Beweglichkeit und Lebendigkeit ‚beseelter‘ Organismen aus.“ (Hell 2009, 49) Ein frühes Symbol für die Seele ist auch der Hauch oder der Atem. Sowohl das hebräische Wort ruah (Ruach) als auch der griechische Ausdruck psyché bezeichnen den Atem.

Abb. 1: Die Ba-Seele als Vogel mit Menschenkopf

Abb. 2: Die Seele entweicht aus dem Mund eines Sterbenden (Holzschnitt von Jörg Nadler)

Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm weist allerdings darauf hin, dass das Wort psyché beim griechischen Dichter Homer, im Gegensatz zum klassischen Griechisch, noch nicht die lebendige, empfindende Seele, sondern die Totenseele bezeichnet. Von der Wortherkunft kann psyché nicht auf „atmen“ zurückgeführt werden, denn das zugrunde liegende Tätigkeitswort heißt blasen, kalt machen. Der Ausdruck psyché ist als Lehnbildung aus dem Akkadischen zu verstehen und bedeutet: wehen, blasen, kalt machen. In seiner vorhomerischen Bedeutung ist psyché als „windartiger Totengeist“ zu verstehen. Diese Vorstellung wurde ursprünglich aus Mesopotamien übernommen. Erst später entwickelte sie sich über die „Schattenseele“ zur klassischen Seelenauffassung, in der die Seele teils das Organ der Empfindung, teils vom Körper abtrennbar ist (vgl. Mumm 2012, 181). Psyché bezeichnet in seiner ältesten Überlieferung bei Homer nicht die Atemseele, den atmenden oder lebenden Menschen, sondern stets nur die Schattenseele, den Totengeist, also das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er aufhört zu atmen. Nach mesopotamischer Vorstellung verlässt der Atem mit dem Tod den Körper als Wind. Der Atem wird vom Leichnam fortgeblasen und begibt sich in seiner windartigen Natur in die Unterwelt. „Im Atem kann das Individuum sich spüren und sich seiner Lebendigkeit versichern. Der letzte Atemzug im Leben wird nicht als etwas angesehen, das keine Selbstvergewisserung mehr zulässt, sondern als verselbstständigte Selbstempfindung, die dann als wenig machtvoller Windgeist fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) In Mesopotamien umfasste der Totengeist sowohl den Innenaspekt als auch den Außenaspekt der Seele. Bei der Übertragung ins Griechische entfiel mit dem Merkmal des kalten Hauchs der Innenaspekt. Die psyché hatte deshalb das Merkmal des verselbstständigten, kalt gewordenen Atems nicht mehr. Sie war nur noch das Schattenbild des Verstorbenen. In der weiteren griechischen Entwicklung wurde dieses Schattenbild dann wieder in das lebendige Individuum zurückgeholt. Damit bekam die Seele eine Doppelnatur: „Die Schattenseele wurde nach und nach als eine Instanz angesehen, die bereits im lebendigen Menschen tätig ist, und zwar als Organ der Empfindung; die Empfindung umgekehrt wurde damit als etwas gedeutet, das von eben dem Organ in uns ausgeht, das nach dem Tod fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) Die Literatur in der Zeit nach Homer schrieb der psyché im lebenden Menschen immer stärker die emotionalen und intellektuellen Eigenschaften sowie den Willen zu, die früher dem unbestatteten Körper zugedacht waren. Erst in relativ späterer Zeit lässt sich am griechischen Sprachgebrauch ablesen, dass das Wort psyché mit der Vorstellung verknüpft ist, der Mensch besitze einen Wesenskern, der unabhängig vom Körper zu denken ist, der als Träger seiner Lebenskraft, seines Empfindens und seines Bewusstseins gilt und der zudem sein religiös-moralisches Selbst darstellt (vgl. Marinković 2010, 314).

Welche ursprünglichen Vorstellungen von der Seele finden sich in der Bibel? Peter Marinković fragt, ob in den Schriften des Alten Testamentes, insbesondere in deren griechischer Version, der Septuaginta, Ansätze zu finden sind, die auf einen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele hinweisen (vgl. Marinković 2012). Die Septuaginta ist die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die altgriechische Alltagssprache. Das zentrale Schlüsselwort für das Verständnis der Seele in der Hebräisch-Aramäischen Bibel ist nephesh. Dieses Wort ist mit einer Reihe von Bedeutungen verbunden: Lebensatem, Schlund, Rachen, Kehle, Atem oder atmendes Wesen, Verlangen, Begehren oder Lust, die Person als ganze, Leben, Lebendigkeit und Blut. In der Septuaginta wird das Wort nephesh mit dem Wort psyché übersetzt. An keiner Stelle der hebräisch-aramäischen Bibel bezeichnet nephesh einen körperlosen Teil des Lebewesens, der den Tod des Körpers überlebt. Darin finden sich ausschließlich Seelenkonzepte, die nephesh nicht vom Körper trennen. Im Buch Genesis heißt es: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen 2,7) Diese Stelle ist aufschlussreich für das Lebens- und Todesverständnis der hebräischen Bibel. Gott gibt dem Menschen das Leben, indem er ihn mit nephesh ausstattet und dadurch zu einem Lebewesen werden lässt. „Ein Mensch, der stirbt, ist gemäß den Texten der hebräischen Bibel voll und ganz tot.“ (Marinković 2012, 188)

In der Septuaginta ist psyché der Hauptbegriff für „Seele“. In zirka 680 von 754 möglichen Fällen wird dort der hebräische Ausdruck nephesh mit psyché übersetzt. Damit umfasst das griechische Wort psyché die Bandbreite der Bedeutungen, die in der hebräischen Bibel mit nephesh verbunden sind. Psyché bedeutet demnach Sitz des Lebens, der körperlichen Empfindungen, der Gefühle, des Willens, der Entscheidung, des Denkens und der religiösen und moralischen Ideen. Das entspricht im Wesentlichen dem Verständnis von Seele bei den vorsokratischen Philosophen und auch dem des antiken Philosophen Aristoteles. In der Septuaginta finden sich weitgehend Vorstellungen von der Seele, in denen die Seele nicht getrennt vom Köper gesehen wird. Die Septuaginta enthält allerdings auch Texte über „Seele“ und „Unsterblichkeit“, die in der hebräischen Bibel nicht überliefert sind. Das Buch der Weisheit, das wahrscheinlich in Ägypten gegen Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr. verfasst wurde, enthält folgenden Text: „Unsicher sind die Berechnungen der Sterblichen und hinfällig unsere Gedanken; denn der vergängliche Leib beschwert die Seele, und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Geist.“ (Weish 9,14–15) Die meisten Interpreten deuten diese Stelle im Sinne eines Leib-Seele-Dualismus. Unsterblichkeit ist hier jedoch nicht als naturgegebene Eigenschaft der Seele zu verstehen, sondern als eine von Gott zugedachte Gabe (vgl. Marinković 2012, 190–191). Das vierte Makkabäerbuch zeigt am Beispiel der Märtyrer des Makkabäeraufstandes, wie diesen nach ihrem Tod ausgleichende Gerechtigkeit dadurch widerfährt, dass sie von Gott „unsterbliche Seelen empfangen“ und „dem Chor der Väter zugesellt“ werden (4 Makk 18,23). „Erst in der späthellenistisch-römischen Zeit tauchen in jüdischen Schriften Konzepte einer ‚unsterblichen Seele‘ auf, in der biblischen Tradition insbesondere im Buch der Weisheit Salomos und im 4. Makkabäerbuch.“ (Marinković 2012, 194).

Die hebräischen Schriften des christlichen Alten Testamentes zeichnen ein ganzheitliches Bild vom Menschen. Erst die in der hellenistischen Zeit verfassten Schriften unterscheiden zunehmend zwischen „Leib“ und „Seele“. In der Folgezeit wird die Seele als etwas Unkörperliches gesehen, das sich im Wechsel der Lebensvorgänge durchhält, den Körper belebt und das psychische Leben hervorbringt und trägt. Die Seele gilt als Träger der Vitalität oder Lebendigkeit des Menschen, seiner Empfindungen, seiner Emotionen, seines Wissens und Wollens.

Das Frühjudentum und das frühe Christentum ringen um die geistige Innenseite des Menschen, wie sie der deutsche Begriff „Seele“ zu fassen versucht (vgl. Heckel 2010). Die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zwingt, darüber nachzudenken, wie die Identität des Menschen über den Tod hinaus gewährleistet werden kann. Dieser Frage widmet sich eingehender Kapitel V.

Zusammenfassung

Was verstehen wir im Alltag unter „Seele“? Den Menschen betrachten wir als ein Wesen mit einem bestimmten Körper und einer bestimmten Seele. Wir unterscheiden zwischen körperlichen und seelischen Empfindungen. Mit „Seele“ meinen wir unsere Empfindungen, unsere Gefühle und Stimmungen sowie die Intensität, mit der wir diese erleben. Als wesentliche Eigenschaften der Seele betrachten wir ihre Innerlichkeit, Unkörperlichkeit, Unsterblichkeit und Unfassbarkeit. Obwohl wir mit „Seele“ etwas Unkörperliches meinen, schreiben wir ihr körperliche Eigenschaften zu. Über Seelisches können wir nicht sprechen, ohne vom Körperlichen zu sprechen. In unserer Rede über die Seele verwenden wir vorwiegend Bilder, Vergleiche und Metaphern. Diese erschließen uns überhaupt erst den Bereich des Seelischen.

Wie lässt sich die Seele, etwas Unfassbares und Unstoffliches, darstellen? Sehr frühe Vorstellungen von der Seele enthalten das Bild des kalten Atems oder des windartigen Totengeistes sowie Bilder von geflügelten Wesen wie Vögeln oder Schmetterlingen. Spätere Vorstellungen sehen die Seele als einen vom Körper unabhängigen Träger der Lebenskraft, der Empfindungen und des Bewusstseins. In der hebräisch-aramäischen Bibel wird die Seele mit Leben, Lebendigkeit und Blut, mit körperlichen Empfindungen, mit Gefühlen, mit dem Begehren und mit der Person als ganzer in Verbindung gebracht. Sie wird keineswegs als etwas Unkörperliches verstanden, das den Tod des Körpers überleben kann. Zum Großteil trifft das auch auf die Septuaginta, die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, zu. Allerdings finden sich dort auch Texte über die Unsterblichkeit der Seele, die in der hebräisch-aramäischen Bibel nicht überliefert sind. Erst in späteren Schriften aus der hellenistischen Zeit wird zwischen „Leib“ und „Seele“ unterschieden. Die Seele wird zunehmend als unstoffliche Substanz, als Grundlage oder Träger aller Lebensprozesse und sämtlicher geistiger Tätigkeiten aufgefasst.

II. „Seelenkunde“? Die Seele in der Psychologie

Psychologie ohne Seele

Wörtlich übersetzt bedeutet Psychologie „Lehre von der Seele“ oder „Seelenkunde“, und Psychiatrie „Seelenheilkunde“. Beide Disziplinen sind, wie der Psychiater Daniel Hell betont, jedoch weit davon entfernt, eine Seelenlehre oder eine Seelenheilkunde zu vertreten. Hell bezeichnet die gegenwärtige Psychologie und Psychiatrie als weitgehend seelenlose Wissenschaften. Beide verstehen sich nicht mehr im wörtlichen Sinne als Seelenlehre und Seelenheilkunde, sondern definieren sich zunehmend als angewandte Neurowissenschaft. Beide Disziplinen bemühen sich um eine naturwissenschaftliche Objektivierung ihrer Aussagen. Abbildungen des Gehirns ersetzen dabei die früheren Seelensymbole. Je mehr sich die Psychologie und die Psychiatrie auf das Beobachtbare und Machbare konzentrierten, desto stärker kam ihnen das Seelische abhanden. Die Seele sei kein objektivierbares Phänomen. Nicht nur in der Medizin und in den Naturwissenschaften habe die Seele als Urbild des Lebens und Erlebens an Bedeutung verloren, sondern auch in den Geisteswissenschaften. Dort habe der Begriff „Geist“ das Erbe des ursprünglich umfassenderen Begriffs „Seele“ angetreten (vgl. Hell, 2005, 26–37; 2009, 60).

Die zeitgenössische akademische Psychologie verwendet den Begriff „Seele“ nicht. Er ist weder in ihren Theorien noch in ihren Forschungsprogrammen zu finden. Ein Standardlehrbuch der Psychologie aus dem Jahr 1978 definiert Psychologie als die „Wissenschaft vom Verhalten der Lebewesen“ (Zimbardo & Ruch, 1978, 24). Von „Seele“ ist in diesem Lehrbuch lediglich einmal die Rede, und zwar im Kapitel über die physiologischen Grundlagen des Verhaltens. Dort erwähnen die Autoren, dass die Forscher der Antike und des Mittelalters zwischen physikalischen, physiologischen und psychologischen Fragestellungen nicht unterschieden. Sie versuchten vielmehr, den Einfluss der Seele auf die Wahrnehmung zu ergründen. Erst der französische Philosoph René Descartes habe zu Beginn des 17. Jahrhunderts die richtigen Fragen gestellt. Er betrachtete den Körper als eine Maschine, die man wissenschaftlich untersuchen kann. Die Tätigkeiten von Körper und Gehirn trennte er von denen der Seele und des Geistes. Dadurch ermöglichte er die wissenschaftliche Erforschung des lebendigen Körpers. „Nach Descartes interagieren Seele und Körper in der Zirbeldrüse, dem einzigen Teil des Gehirns, der nicht in jeder der beiden Hirn-Hemisphären abgebildet ist.“ (Zimbardo & Ruch 1978, 37) In der zwanzigsten Auflage dieses von Philip Zimbardo begründeten Lehrbuchs definieren die Autoren Psychologie als „die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihrer kognitiven Prozesse“ (Gerrig & Zimbardo 2015, 2). Gegenstand der Psychologie ist demnach vor allem das beobachtbare Verhalten von Menschen und Tieren. Doch menschliches Verhalten lasse sich nicht verstehen, ohne die kognitiven Prozesse, die Arbeitsweise des menschlichen Geistes, zu berücksichtigen. Viele menschliche Aktivitäten wie Denken, Planen, Schlussfolgern, Fantasieren und Träumen finden als private, innere Ereignisse statt. Im Stichwortverzeichnis dieses Lehrbuches sucht man ebenfalls vergeblich nach dem Wort „Seele“, man findet dort aber den Begriff „Seelsorger“. Die Autoren beschreiben Seelsorger als „Mitglieder einer religiösen Gruppe, die sich auf die Behandlung psychischer Probleme spezialisiert haben und häufig Spiritualität mit praktischer Problemlösung kombinieren“ (Gerrig & Zimbardo 2015, 206, 743).

Traditionell enthält der Begriff „Seele“ die Vorstellung, dass es etwas vom Körper Getrenntes oder Trennbares gibt, das man Seele, Psyche oder Selbst nennt. Die gegenwärtige Psychologie ist, zumindest der Fachterminologie nach, jedoch eine Psychologie ohne Seele. Seele scheint für sie nur ein historischer Begriff zu sein, der weder in der Theoriebildung noch bei der Formulierung von Forschungsfragen eine nennenswerte Rolle spielt. Forschung und Lehre der Psychologie blühen und gedeihen auch ohne den Begriff „Seele“. In den aktuellen Lehrbüchern der Psychologie und in den Datenbanken der psychologischen Forschungsliteratur ist jedenfalls kaum etwas zum Begriff „Seele“ zu finden. Deutlich weniger als ein Hundertstel Prozent der jährlichen Fachpublikationen führen den Ausdruck „Seele“ im Titel, wobei mehr als drei Viertel davon bereits vom Titel her erkennen lassen, dass der Begriff „Seele“ nur metaphorisch gebraucht wird. Die Verwendung der Ausdrücke „seelisch“, „psychisch“, „mental“ und „geistig“ zeigt jedoch, dass die Seele in der Psychologie als Eigenschaftswort weiterlebt, im englischen Sprachraum vor allem in Form des Adjektivs „mental“ (vgl. Mack 2015, 167–168).

Im 19. Jahrhundert erhob man den Anspruch, seelische Phänomene zu objektivieren. Damit begann die Psychologie, sich als eigenständiges akademisches Fach zu etablieren. Der Mediziner und Zoologe Carl Vogt (1817–1895) bezeichnete die Seele als unnötige Hypothese. Alle Fähigkeiten, die wir unter dem Namen „Seelentätigkeiten“ begreifen, sind nichts anderes als Funktionen der Hirnsubstanz. In Physiologische Briefe für Gebildetealler Stände betont er: „Um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: dass die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirnes wie eines Instrumentes bedient, mit dem sie arbeiten kann, wie es ihr gefällt, ist reiner Unsinn.“ (Vogt 1847, 323)

Der Theologe, Philosoph und Pädagoge Friedrich Albert Lange (1828–1875) fragte: Heißt Psychologie nicht Lehre von der Seele? Wie soll man sich eine Wissenschaft vorstellen, die es zweifelhaft erscheinen lässt, ob sie überhaupt ein Objekt hat? In seinem Werk Geschichte des Materialismus prägte er die Redewendung von der „Psychologie ohne Seele“. Diese wurde vielfach zitiert, um die Psychologie dahingehend zu kritisieren, dass sie ihren Gegenstand verfehlt oder gar keinen hat (vgl. Mack 2015, 171). Friedrich Lange vermutete jedoch, dass hier eine Verwechslung von Name und Sache vorliegt. Den Ausdruck „Seele“ betrachtete er als überlieferten Namen für eine große, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Der Begriff „Seele“ stamme aus einer Zeit, in der man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit noch nicht kannte. Psychologie verstand Lange als objektive Wissenschaft, die auf der Physiologie aufbaut und in der die Selbstbeobachtung (Introspektion) durch die Fremdbeobachtung ersetzt wird. Naturwissenschaftliche Methoden sollten auf seelische Erscheinungen angewendet werden. Die Psychologie sollte sich ähnlich den Naturwissenschaften von der Philosophie und der Theologie lösen, denn eine Seele könne man empirisch nicht feststellen. Der Name „Seele“ sei jedoch durchaus brauchbar, solange es irgendetwas zu tun gibt, was nicht von einer anderen Wissenschaft vollständig mit besorgt wird (vgl. Lange 1875). Um welche konkreten Erscheinungen es sich handelt, die für die Existenz der Seele sprechen, bleibt jedoch unklar. Die Rede von der Psychologie ohne Seele unterstellt, dass es früher eine Psychologie mit Seele gab und dass die Psychologie ohne Seele ein Verlust ist. Dem ist aber nicht so, betont Wolfgang Mack, denn vor Friedrich Lange gab es an den Universitäten gar keine selbstständige wissenschaftliche Disziplin mit dem Namen „Psychologie“. „Die moderne Psychologie begann nicht als empirische Wissenschaft von der Seele, sondern als empirische Bewusstseinspsychologie, als empirische Wissenschaft der seelischen Erscheinungen, und war daher eigentlich von Beginn an eine Psychologie ohne Seele.“ (Mack, 2015, 181)

Die Psychologie als Lehre von der Seele hat in der Philosophie eine lange Tradition. Die Geschichte der akademischen Psychologie ist hingegen verhältnismäßig kurz. Als sich die Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständiges Fach etablierte, war die Seele im Sinne der Philosophie und Theologie nicht ihr Hauptgegenstand. Sie orientierte sich an den Naturwissenschaften und deren Forschungsmethoden. Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Professor für Physik in Leipzig, der auch Medizin und Philosophie studiert hatte, untersuchte die Beziehung zwischen objektiven, physikalischen Reizen und subjektiven Empfindungen. Damit begründete er die sogenannte Psychophysik, ein Forschungsgebiet, das sich mit den gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zwischen objektiv messbaren physikalischen Reizen und dem subjektiven Erleben befasst. Wie schwach darf ein akustischer Reiz sein, damit er gerade noch gehört wird? Wie schwach darf ein Lichtreiz sein, um gerade noch gesehen zu werden? Die Experimente der Psychophysik setzen die Stärke von Empfindungen wie Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Berühren zur Stärke der Reize in Beziehung. Man kann diese Experimente durchaus verstehen als Öffentlichmachen von Seelischem, damit es für mehrere Beobachter gleichermaßen wahrnehmbar und überprüfbar wird. Seelisches äußert sich über den Körper und ist durch körperliche Reaktionen erkennbar. Es entspricht der Auffassung des griechischen Philosophen Aristoteles, dass die Erforschung der Seele über die Erforschung des Körpers möglich ist, denn die Seele ist vom Körper nicht trennbar. Man könnte Aristoteles deshalb sogar als Begründer der wissenschaftlichen Psychologie betrachten (vgl. Hinterhuber 2012, 223).

Wilhelm Wundt (1832–1920), der Medizin, Physiologie und Philosophie studierte, gilt in der Geschichte der Psychologie als Gründungsvater der modernen empirisch-experimentellen Psychologie. Er gründete 1879 in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie. In seinem Werk Grundzüge der physiologischenPsychologie versuchte er, Psychologie als eigenständiges Fach darzustellen, indem er die Fragestellungen der Psychologie sowohl gegen jene der Philosophie als auch gegen jene der Physiologie abgrenzte. In seinen Vorlesungen überdie Menschen- und Thierseele (1836) fragte er: „‚Wie ist es möglich [...], an der Seele, die sich ja ganz unserer sinnlichen Anschauung entzieht, Experimente anzustellen?‘ Die Antwort ist: ‚Durch die Sinne, durch Körperbewegungen steht die Seele in fortwährender Verbindung mit der Außenwelt. Auf die Sinne und auf die Bewegungen können wir nach Willkür äußere Einwirkungen anwenden, die Erfolge beobachten und aus diesen Erfolgen Rückschlüsse machen auf die Natur der psychischen Prozesse.‘“ (Zit. nach Mack 2015, 182)

Seelisches ist demnach über die Ausdruckserscheinungen erfassbar. Diese lassen sich objektiv feststellen und untersuchen. Bewusste Erfahrungen eröffnen einen Zugang zum Seelischen. Für Wundt war Psychologie die Wissenschaft von den unmittelbaren Erfahrungen und deshalb Bewusstseinspsychologie. Er versuchte, den Geist dadurch zu erforschen, dass er sich besonders der experimentellen Untersuchung der Elemente der Empfindung wie Intensität, Dauer und Lage widmete. Das Wort „Seele“ verstand er als Sammelbegriff für seelische Ereignisse und Eigenschaften, als einen „Hilfsbegriff“ der Psychologie, vergleichbar dem Hilfsbegriff „Materie“ in der Naturwissenschaft. Psychologische und physiologische Tatsachen betrachtete Wundt nicht als verschiedene Erfahrungsobjekte, sondern als unterschiedliche Standpunkte gegenüber ein und derselben Erfahrung. „Diese Begriffserläuterung Wundts macht deutlich, dass das Substantiv Seele allenfalls ein grammatisches Subjekt ist, von dem man seelische Prädikate aussagen kann. Das heißt, die Seele gibt es allenfalls als Ordnungsbegriff für seelische Eigenschaften.“ (Mack 2015, 183)

Franz Brentano (1838–1917) wollte eine neue Psychologie gründen und definierte diese als Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen. In seiner Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt meint er: „Denn mag es eine Seele geben oder nicht, die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden. Und der Anhänger der Seelensubstanz wird nicht leugnen, dass alles, was er in Bezug auf die Seele feststellen könne, auch eine Beziehung zu den psychischen Erscheinungen habe.“ (Brentano 1874, 34) Brentano war Philosoph und ehemaliger katholischer Priester. Seiner Meinung nach lassen sich die Ergebnisse der empirischen Psychologie sowohl mit der Annahme einer Seele als auch mit der Annahme einer Psychologie ohne Seele vereinbaren. Der Seelenbegriff werde vor allem im Rahmen der Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele verwendet. Klammere man diesen Aspekt aus, dann brauche man für die empirische Psychologie keinen Seelenbegriff (vgl. Mack 2015, 183–184). Brentano sah in der Intentionalität des Psychischen den entscheidenden Unterschied zum Physischen. Psychisches bezieht sich, anders als Physisches, immer auf etwas, auf reale oder vorgestellte Gegenstände und Sachverhalte. Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Wünsche und Gefühle beziehen sich auf Inhalte und Bedeutungen. „Ich sehe, dass es schneit; ich denke, dass die Rechnung stimmt; ich erinnere mich an die Person; ich freue mich über das Geschenk; ich wünsche mir, dass die Situation sich ändert.“ Psychisches bezieht sich immer auf etwas und bedeutet etwas. Das Problem der Intentionalität des Psychischen ist in der Philosophie des Geistes als „Brentanos Problem“ bekannt, als die Frage nach der Entstehung von Bedeutung.

Argumente gegen die Verwendung des Seelenbegriffs

Die moderne Psychologie führt in ihrem Titel immer noch das Wort „Psyche“, obwohl der Begriff „Seele“ in ihren Theorien und Forschungsfragen nicht zu finden ist.

Warum wird der Begriff „Seele“ in der Psychologie nicht verwendet? Gegen seine Verwendung werden vor allem zwei Argumente angeführt: Erstens ein erkenntnistheoretisches, demzufolge sich die Existenz einer Seele empirisch nicht beweisen lässt, und zweitens ein physiologisches, demzufolge es eine zentrale Steuerungsinstanz gibt, das menschliche Gehirn. Das Gehirn repräsentiert Erleben und Verhalten in Form neuronaler Aktivitätsmuster und stimmt diese aufeinander ab. Aus der Gesamtheit der Hirnprozesse entsteht die Einheit und Ganzheit der Person. Solange die technischen Voraussetzungen zur Erforschung des Gehirns fehlten, habe der Begriff Seele durchaus seine Berechtigung gehabt. Durch den enormen Wissenszuwachs in der Hirnforschung und den Neurowissenschaften werde dieser Begriff jedoch durch exakte Beschreibungen von Hirnvorgängen ersetzt.

In psychologischen Fachkreisen ist es beinahe verpönt, sich zum Begriff „Seele“ zu äußern. Am ehesten gesteht man diesem Begriff noch eine Bedeutung innerhalb des religiösen Sprachgebrauchs zu. Aber auch dort ist dieser Begriff nicht besonders populär. Selbst Theologen scheuen vor dem Gebrauch des Begriffs „Seele“ zurück und verwenden ihn kaum noch zur systematischen Begründung von Glaubensinhalten. Psychologen, Kognitionswissenschaftler und Neurowissenschaftler betrachten den Begriff „Seele“ als Bestandteil eines veralteten Begriffssystems zur Erklärung des menschlichen Verhaltens. Angesichts der Forschungsergebnisse in den Neurowissenschaften sei dieser Begriff nicht mehr nötig. Der Molekularbiologe, Gentechnik-Pionier und Nobelpreisträger Francis Crick drückt diese Überzeugung mit folgenden Worten aus: „Ein moderner Neurobiologe braucht die religiöse Vorstellung einer Seele nicht, um das Verhalten von Menschen und anderen Lebewesen zu erklären. Man erinnert sich hier daran, wie Napoleon, als Pierre-Simon Laplace ihm das Sonnensystem erklärt hatte, fragte: Und wo kommt Gott in all das hinein? Worauf Laplace erwiderte: ‚Sire, ich brauche diese Hypothese nicht.‘“ (Crick, 1994, 21) Aufgrund der Fortschritte in den Neurowissenschaften glaubt Crick, in Zukunft das Bewusstsein naturwissenschaftlich erklären zu können. Wenn wir einmal genau wissen, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, dann haben wir das Rätsel des Bewusstseins gelöst. Crick ist überzeugt, dass unser Geist sich durch die Wechselwirkungen zwischen den Nervenzellen und anderen Zellen erklären lässt. Der Hirnforschung gehe es vor allem darum, die wahre Natur der menschlichen Seele zu erfassen. Wenn wir uns selbst verstehen wollen, dann müssen wir das Verhalten und die Arbeitsweise der Nervenzellen verstehen. In seinem Buch Was die Seele wirklich ist formuliert Crick folgende „erstaunliche Hypothese“: „‚Sie‘, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: ‚Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.‘ Diese Hypothese ist so weit von den Vorstellungen der meisten Menschen entfernt, dass man sie wahrlich als erstaunlich bezeichnen kann.“ (Crick, 1994, 17)

Der Philosoph Paul Churchland vertritt eine ähnliche Auffassung. Er vergleicht das zukünftige Schicksal des Seelenbegriffs mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt. Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte haben bestimmte Theorien sich als unhaltbar herausgestellt und wurden durch empirisch besser bestätigte Theorien ersetzt. Auf ähnliche Weise werde der Glaube an die Existenz einer Seele früher oder später als antiquierte Vorstellung aus unserem Sprachgebrauch verschwinden. Wer weiterhin an dieser überholten Vorstellung festhält, ähnelt Menschen, die früher daran glaubten, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei (vgl. Churchland 1990, 195).

Der Neurobiologe Hans Flohr vermutet die Gründe für das Festhalten an der Vorstellung einer immateriellen Seele in tiefsitzenden ideologisch bedingten Widerständen. Der Versuch, Bewusstsein oder das Mentale naturalistisch zu erklären, sei ein Angriff auf diejenigen Welt- und Menschenbilder, die dem Menschen eine metaphysische Dimension zuschreiben. Er bezieht sich auf Sigmund Freud, der von drei großen Kränkungen sprach, von drei empfindlichen Demütigungen, welche die Wissenschaft uns Menschen zugefügt habe: die kosmologische, die biologische und die psychologische Kränkung. Die kosmologische Kränkung geht auf Kopernikus und seine Entdeckung zurück, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Kopernikus verdrängte die Erde und damit den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls. Die biologische Kränkung fügte uns Charles Darwin zu, indem er uns mit seiner Evolutionstheorie auf unsere tierische Herkunft aufmerksam machte. Der Mensch, der sich vom Tier durch göttliche Abstammung, durch Vernunft und durch eine unsterbliche Seele unterschied, wurde zu einem Tier unter Tieren. Die psychologische Kränkung stammt von Sigmund Freud. Freud war überzeugt, diese Kränkung habe uns Menschen am empfindlichsten getroffen. Nach den beiden ersten Kränkungen blieb uns zumindest noch die Hoffnung, wenigstens Herr im eigenen Haus zu sein. Freud glaubte jedoch, mit seiner psychoanalytischen Theorie gezeigt zu haben, dass wir Menschen nicht einmal Herr im eigenen Haus sind, sondern Hausknechte der uns beherrschenden Triebe. Hans Flohr zufolge steht uns zurzeit eine vierte Kränkung ins Haus, und zwar mit weit verheerenderen Folgen für unser überliefertes Selbstverständnis als alle bisherigen Demütigungen durch die Wissenschaft: die reduktionistische Theorie des Geistes. Ihr zufolge ist der Geist (die Seele) nichts anderes als das Gehirn (vgl. Flohr, 2002).

Derartige Behauptungen sind nicht unumstritten und erfordern zumindest eine weitere Begründung. Wer für die Abschaffung des Seelenbegriffs argumentiert, der lange Zeit zur Erklärung bestimmter Phänomene verwendet wurde und weiterhin verwendet wird, muss Gründe dafür angeben. Ein bloßer Hinweis auf die Geschichte der Wissenschaft reicht nicht aus. Im Unterschied zum geozentrischen Weltbild setzen viele Menschen im Alltag die Existenz einer Seele faktisch voraus und verwenden diesen Begriff zur Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Es müsste vorerst genauer ermittelt werden, welches Begriffssystem die faktische Annahme einer Seele überflüssig machen könnte. Die Beweislast liegt folglich bei denen, die eine Änderung des alltäglichen Begriffssystems fordern. Sie müssen Gründe angeben, die ausreichend erklären, warum der Seelenbegriff überflüssig ist. Dies ließe sich grundsätzlich durch zwei unterschiedliche Beweisführungen erreichen: 1. Man müsste zeigen, dass alles, was mit dem Seelenbegriff erklärt wird, mit einer neurobiologischen Theorie ebenso gut oder sogar besser erklärt werden kann. Ist es möglich, unser Erleben und Verhalten mit den Begriffen der Hirnforschung tatsächlich besser auszudrücken und zu erklären als mit den Begriffen der Alltagspsychologie? 2. Man müsste wissenschaftlich beweisen, dass es so etwas wie eine Seele gar nicht gibt. Dieser Beweis ist jedoch praktisch nicht durchführbar, denn in der Regel verstehen Menschen, welche die Existenz einer Seele voraussetzen, unter „Seele“ etwas Immaterielles, etwas, was wissenschaftlich prinzipiell nicht erfassbar ist. Die Nichtexistenz einer immateriellen Seele müsste mit den Mitteln der positiven Wissenschaften bewiesen werden, und das ist unmöglich. Damit bleibt als einzige Möglichkeit die erste Beweisführung. Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass alles, was bisher durch die Annahme einer Seele erklärt wurde, genauso gut oder sogar besser durch eine neurobiologische Theorie erklärt werden kann, dann könnte man zumindest in psychologischen und philosophischen Fachdiskussionen auf die Annahme einer Seele verzichten (vgl. Quitterer, 2005, 111–113).

Wiederkehr des Seelenbegriffs

Erstaunlicherweise scheint der Seelenbegriff zurzeit eine Art Renaissance zu erleben. Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell spricht von einem „Aufschwung für die Seele“, von der „Wiederkehr der Seele“, von „Seelenangst“ und „Seelenhunger“ (vgl. Hell 2005, 7–50). Die Seele symbolisiert von alters her das, was lebt und gegenwärtig ist. Seele meint immer etwas Letztes, nicht auf anderes Zurückführbares. Seele steht für das, was wir nur an uns selbst, gleichsam „aus erster Hand“ erfahren können. Wir erfahren uns als seelisch, wenn wir auf unser Erleben und Tun achten. Das seelische Erleben ist genauso wirklich wie die objektivierbaren Beobachtungen. Das Seelische kann Menschen, die alles rational begreifen und bestimmen wollen, auch Angst machen, denn was wir empfinden und fühlen, lässt sich nicht in den Griff bekommen. „Wer sich dem konkreten seelischen Erleben aussetzt, verlässt den sicheren Hafen abstrakter logischer Gesetzmäßigkeiten. Nicht zufällig leitet sich das deutsche Wort ‚Seele‘ von der See ab, die in ihrer Tiefe unergründlich ist und im Sturm wild aufbegehrt.“ (Hell 2009, 35) Seelische Erfahrung ist nicht nur sinnlich, sie stiftet auch Sinn, der naturwissenschaftlich nicht erfassbar ist. Menschen dürsten nach einem Verständnis für ihr Erleben. „Die Seele steht für die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Menschen. Es gibt keinen anderen Begriff, welcher der Individualität des Menschen und seiner Teilhabe an einem Umfassenderen so gerecht wird wie die Seele.“ (Hell 2009, 69).

Der Neurobiologe und Philosoph Gerhard Roth findet es sinnvoll, den Begriff „Seele“ auch in der Hirnforschung zu verwenden. Seele bezeichnet nach Roth die Einheit kognitiver und emotionaler Zustände und Leistungen. Das Seelische sei umfassender als das rein Kognitiv-Rationale. Roth geht davon aus, dass das Gehirn unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Erinnerungen konstruiert. Er wehrt sich jedoch gegen den Vorwurf, Hirnforscher würden behaupten, das Seelische sei nichts anderes als das Feuern von Neuronen. Bewusstsein, betont er, ist nicht identisch mit neuronalen Zuständen des Gehirns, denn diese haben nichts an sich, was dem Bewusstsein zukommt. Seelisches, insofern es individuell erlebt wird, ist jedoch unabtrennbar an Hirnstrukturen und Hirnprozesse gebunden. Seelisches hört zum Zeitpunkt des Ganzhirntodes auf und stirbt gemeinsam mit den Hirnstrukturen, die es ermöglichen. Ob es darüber hinaus eine unsterbliche Seele gibt, könne weder bewiesen noch bestritten werden. Roth unterscheidet zwischen „Realität“ und „Wirklichkeit“. Als „Wirklichkeit“ bezeichnet er die uns vertraute Erlebniswelt. Diese wird von unserem Gehirn konstruiert. „Realität“ nennt er die objektive Welt, die Welt an sich, die bewusstseinsunabhängige Welt. Roth geht von der Unterscheidung des Philosophen Immanuel Kant aus, der zwischen den „Dingen für uns“ (den Phainomena) und den „Dingen an sich“ (Noumena) unterschied, und betont:

„Uns ist bewusstseinsmäßig nur die Wirklichkeit direkt zugänglich, auch wenn wir zutiefst davon überzeugt sein mögen, dass es eine bewusstseinsunabhängige Realität gibt. Über diese Realität können wir natürlich beliebig spekulieren, eine gesicherte Erkenntnis über sie ist jedoch nicht möglich, denn sie würde – so Kant – alle Grenzen unserer Erfahrung überschreiten. Diese prinzipielle Unerkennbarkeit gilt selbstverständlich auch für dasjenige reale Gehirn, das vermutlich unsere Erlebniswelt hervorgebracht hat und das schon allein aus logischen Gründen nicht mit unserem wirklichen Gehirn identisch sein kann. Der Produzent (das reale Gehirn) kann keine echte Teilmenge seines Produkts (unserer bewusst erfahrbaren Welt) sein.“ (Roth & Strüber 2015, 237–238)

Was wir als „seelisch“ erleben, dürfen wir Roth zufolge unter keinen Umständen mit der realen Natur des Seelischen verwechseln, denn dieses bleibt uns für immer verschlossen. Roth unterscheidet zwischen einem realen Gehirn und einem wirklichen Gehirn. Das reale Gehirn konstruiert das wirkliche Gehirn und mit ihm die Welt, wie wir sie erleben und wie die Wissenschaften sie uns beschreiben. Gehirnforschung erfolgt ausschließlich innerhalb der Wirklichkeit und kann nur „wirkliche Gehirne“ untersuchen, jedoch niemals „reale Gehirne“. Über die Eigenschaften des realen Gehirns, über „reale Neurone“, können wir nur Vermutungen anstellen. Die Realität sei radikal anders als die Wirklichkeit, die wir direkt oder mit den Methoden der Wissenschaft erfahren können. Bezüglich der Realität meint Roth:

„Hier mag es Gott, eine unsterbliche Seele, einen anderen Raum und eine andere Zeit geben (oder ein raum- und zeitloses Existieren). Niemand verbietet uns, über die Realität zu spekulieren, aber es sind Spekulationen innerhalb unserer Erfahrungswelt, der Wirklichkeit, nicht der Realität. Wie die Realität aussieht, kann niemand wissen. Deshalb kann auch niemand etwas Plausibles über die Existenz oder Nichtexistenz einer unsterblichen Seele aussagen, wenn es in unserer Erfahrungswelt keinerlei Hinweise dafür gibt.“(Roth, 2005, 38)

Der Psychiater Hartmann Hinterhuber spricht von einer Wiederaneignung des Seelenbegriffs. Körper und Seele seien zwei Perspektiven des Lebendigen, zwei Möglichkeiten, ein und dasselbe Lebewesen zu betrachten. Die beiden Perspektiven müssen nicht erst „zusammengesetzt“ werden, denn beide seien ohne die jeweils andere nicht möglich (vgl. Hinterhuber 2012, 230).