Das Regenmacher-Phänomen - Stefan Kühl - E-Book

Das Regenmacher-Phänomen E-Book

Stefan Kühl

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Beschreibung

Dass Regenmacher Regen bringen, gehört in den Bereich des Aberglaubens. Sie stiften jedoch zweifelsohne Zusammenhalt unter denen, die an dieses Instrument glauben. Stefan Kühl beschreibt, wie dieses »Regenmacher-Phänomen« im Konzept lernender Organisationen wirkt. Viele moderne Managementprinzipien erreichen nicht das, was sie versprechen. Die als Erfolgsrezepte gehandelten Prinzipien wie klare Zielvereinbarungen, Mitarbeiteridentifikation, Partizipation und permanentes Lernen haben aber andere hilfreiche Effekte – sie halten Organisationen in Bewegung.

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Stefan Kühl

Das Regenmacher-Phänomen

Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation

2., aktualisierte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Dass Regenmacher Regen bringen, gehört in den Bereich des Aberglaubens. Sie stiften aber zweifellos Zusammenhalt unter denen, die an ihre Praxis glauben. Stefan Kühl beschreibt, wie das »Regenmacher-Phänomen« im Konzept lernender Organisationen wirkt: Viele moderne Managementprinzipien erreichen nicht das, was sie versprechen. Die als Erfolgsrezepte gehandelten Prinzipien wie klare Zielvereinbarungen, Mitarbeiteridentifikation, Partizipation und permanentes Lernen haben aber andere hilfreiche Effekte – sie halten Organisationen in Bewegung.

Vita

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationsforschung an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan in Quickborn für Ministerien, Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser und Universitäten.

In seiner Trilogie zu neuen Entwicklungen im Management sind im Campus Verlag außerdem »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien« (6., akt. Auflage 2015) und »Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur« (2., akt. Auflage 2015) erschienen.

Kontakt zum Autor über [email protected] [email protected].

Inhalt

Von Regenmachern, Veränderungsprojekten und Managementkonzepten – Vorwort

Die drei Seiten der Organisation

Herausforderungen an ein auch für Praktiker lesbares organisationswissenschaftliches Buch

Kapitel 1Die Grenzen der lernenden Organisation – Einleitung

Die Verklärung der lernenden Organisation

Idealtypische Betrachtung einer Managementmode

Kapitel 2Das Ende des Traums von der optimalen Organisationsstruktur

2.1. Eine erste Lösung für das Stabilitäts- und Veränderungsdilemma – stabile Organisationsstrukturen mit veränderungsorientierten Einheiten

Veränderungsorientierte Einheiten und ein geschützter Kern

Das Anpassungslernen der Mitarbeiter im produktiven Kern

Die rationale Organisation und die Ausblendung von Unsicherheit

Der Wechsel von einer rationalen Organisationsstruktur zur nächsten

2.2. Das Problem mit der optimalen Organisationsstruktur – die Abschottung

Abschottung gegen die Umwelt

Zirkel der Selbstbestätigung

Der Mythos eindeutiger Ziele

2.3. Das Ende der Hoffnung auf eine optimale Organisationsstruktur – die Konfrontation mit einer »turbulenten Umwelt«

Die Tragik der Strukturen – das Risiko der Krise

Widersprüchlichkeiten schlagen durch

Rationalitätszweifel

Kapitel 3Die lernende Organisation – die Hoffnung auf die »guten« Regeln des Wandels

3.1. Lernende Organisationen – neue Wege zur Bearbeitung des Veränderungs- und Stabilitätsdilemmas

Von der Stabilität des Wandels

Codewörter für die Prinzipien »guten« Organisationswandels

3.2. Spuren einer Rationalität des Wandels

Organisationsführung – vom Manager zum Leader

Das mittlere Management – von Gewährleistungseinheiten zur Unterstützung von Veränderungsprozessen

Die neuen Managementtechniken

Veränderung des Beratungsverständnisses

Planerische Verdoppelung des Veränderungsprozesses – Vorstellungen vom geplanten Wandel

3.3. Vom Wandel rationaler Organisationsarchitekturen zu Prinzipien rationalen Wandels

Jenseits von Hyperstabilität und Hyperflexibilität

Verlagerung des Fokus von Management, Beratung und Organisationsforschung

Kapitel 4Die blinden Flecken der lernenden Organisation – sieben Widersprüche zu den Regeln eines »guten« Organisationswandels

Gängige Erklärungen für die Probleme auf dem Weg zur lernenden Organisation

Die einfachen Lösungen

Die Entsorgung von Problemen durch die Personalisierung von Fehlern

Die Schwierigkeit von Wandlungsprozessen – die sieben Widersprüche des Organisationswandels

4.1. Das Ziel-Dilemma – eine genaue Zielbestimmung gibt Orientierung, reduziert aber die Veränderungsfähigkeit

Die Stärke einer genauen Zielbestimmung

Zielbestimmung als Hindernis für Innovationen

Der Reiz unklarer Ziele und Strategien

Ständiger Zielwandel – kein Ausweg aus dem Dilemma

4.2. Das Identifikationsdilemma – Identifikation mit Wandlungsprozessen reduziert die Elastizität von Organisationen

Die Schattenseite der Identifikation

Trennung des Problems der Motivation von anderen Organisationsproblemen

Identifikation mit Prozessen und Organisationseinheiten – keine Lösung

4.3. Das Mitarbeiterdilemma – wenn der Mensch im Mittelpunkt steht

Mobilisierung der »Ressource Mensch«

Warum Mitarbeiter nur teilweise engagiert sind

Der Mensch ist Mittel•Punkt

Zwischen Corporates und Cowboys – ein Dilemma

4.4. Das Kommunikationsdilemma – die Stärken und Schwächen des Redens

Die Vorteile sprachlicher Kommunikation

Kommunikationsüberlastung

Die Stärken der Hierarchie

Zwischen Verhandlung und Hierarchie

4.5. Das Selbstorganisationsdilemma – die Selbstorganisation, die durch Fremdorganisation geprägt wird

Strukturkonservativ durch Selbstorganisation

Verfremdung durch Fremdorganisation

4.6. Das Fettpolster-Dilemma – die Aufforderung zur Selbstbehinderung

Die Effizienz der Ineffizienz – der Nutzen von Puffern

Forderung nach Fehlerfreundlichkeit – Lob der Verschwendung

Wider die Renaissance der Puffer – das Dilemma der Selbstblockierung

4.7. Das Lerndilemma – wenn erfolgreiches Lernen zum Verhängnis wird

Der Misserfolg erfolgreicher Organisationen

Kompetenzfallen und Lernsackgassen

Das Dilemma des Lernens

4.8. Die Grenzen des geplanten Organisationswandels

Dilemmata des Organisationswandels

Ignoranzen der lernenden Organisation

Ausblick

Kapitel 5Vom Nutzen und von der Gefahr der Irrationalität, Ignoranz und Vergesslichkeit lernender Organisationen

Umstellung des Fokus – die Funktion des Leitbildes der lernenden Organisation

5.1. Die Kunst, unsicheres Wissen wie sicheres zu behandeln

Unsicherheit – die Voraussetzung für Entscheidungen

Das Zögern, etwas Neues auszuprobieren

Die Logik des »Widerstandes«

Der Teufelskreis unsicherer Entscheidungen

5.2. Das Konzept der lernenden Organisation – organisierte Selbstberuhigung

Vergötterung des Wandels

Lernende Organisation reduziert Konflikte über den Zweck von Wandel

Die lernende Organisation – Fokussierung und Orientierung im Wandel

Die heimliche Funktion von Methoden und Rezepten des Wandels

Die nützliche Irrationalität, Ignoranz und Vergesslichkeit der lernenden Organisation

Die Logik des »Tue irgendetwas«

5.3. Die Lernfalle – die lernende Organisation und die Krise

Die Gefahr der blinden Flecken

Konsequenzen für die Praxis des Organisationswandels

Kapitel 6Jenseits der lernenden Organisation – Dilemmata des Organisationswandels managen

6.1. Plädoyer für eine übergreifende Perspektive – über das Management von Widersprüchlichkeiten

Verdrängung von Dilemmata

Die Vorteile einer Entweder-oder-Haltung

Die Gefahr bei der Missachtung von Widersprüchlichkeiten

Durch Mobilisierung von Dilemmata Komplexität erhöhen

Die Methode der »Nicht-igkeit«

Wider eine Überbewertung von Dilemmata – Vorteile einer Metaperspektive

6.2. Jenseits des Traums vom planbaren Wandel

Nachwort zur Methodik

Anmerkungen

Literatur

Von Regenmachern, Veränderungsprojekten und Managementkonzepten – Vorwort

Am Anfang meines Buchprojektes stand eine Irritation. Diese Irritation stellte sich erstmals bei einer Analyse von Entwicklungshilfeprojekten in der Zentralafrikanischen Republik ein. Bei der Begutachtung verschiedener Projekte zur Wirtschaftsförderung, Infrastrukturentwicklung und Gesundheitserziehung sprang die Diskrepanz zwischen den offiziellen Darstellungen und der alltäglichen Realität der Projektbeteiligten förmlich ins Auge. Während in den Projektanträgen, Planungen und Beschreibungen Prinzipien wie Selbstorganisation, Partizipation, fortwährende Kommunikation, permanenter Lernprozess und klare Zielsetzung dominierten, schienen die Projekte im Alltag nach ganz eigenen, widersprüchlichen und umstrittenen Regeln zu funktionieren. Die so positiv klingenden Leitbilder, an denen sich diese Projekte vermeintlich orientierten, hatten mit der von den Beteiligten wahrgenommenen Realität nur wenig gemein (vgl. dazu Kühl 1998).

Es hätte nahegelegen, diese doppelte Realität auf den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Kontext von Entwicklungshilfeprojekten im Allgemeinen und eine Mischung aus Bürgerkriegsfolgen, ausgeprägt postkolonialen Verwaltungsstrukturen, korrupten Beamten und zum Teil inkompetenten Projektmitarbeitern in Zentralafrika im Besonderen zurückzuführen. Später musste ich aber feststellen, dass sich die Erlebnisse mit den zentralafrikanischen Entwicklungshilfeprojekten nicht grundsätzlich von Erfahrungen mit Veränderungsprojekten in Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern, Hochschulen und Armeen in Industrieländern unterscheiden. Auch hier herrscht eine unübersehbare Diskrepanz zwischen den propagierten Leitbildern für einen »guten« Organisationswandel und der von den Beteiligten wahrgenommenen Realität. Während die Organisationsgestalter unter so eingängigen Konzepten wie »lernende Organisation« oder »wissensbasierte Firma« von der Möglichkeit plan- und steuerbaren Wandels ausgehen, sind die konkreten Veränderungsprozesse durch Probleme, Widersprüchlichkeiten und Konflikte geprägt.

Die Erklärungen der Managementliteratur für diese Diskrepanz zwischen den hehren Prinzipien ihrer Leitbilder und Konzepte auf der einen und den Problemen, Widersprüchen und Konflikten in konkreten Veränderungsprozessen auf der anderen Seite lassen wohl nicht wenige Leserinnen und Leser ratlos zurück. Auf einen Nenner gebracht, führt die Literatur diese Widersprüche lediglich auf Umsetzungsprobleme zurück und liefert häufig unter neuen, attraktiv klingenden Namen Rezepte, wie die Veränderungsprozesse durch noch mehr und noch bessere Zielfindung, Partizipation, Selbstorganisation, Mitarbeitermotivation und Lernen doch noch erfolgreich gestaltet werden können. Die Namen ändern sich – aus der »Change Organization« von gestern wird die »lernende Organisation«, und wenn sich dieses Konzept verbraucht haben wird, die »intelligente Organisation« – aber die Praxistipps für Organisationswandel bleiben weitgehend die alten. Angesichts dieser angeblich so erfolgreichen Praxistipps verwundert es jedoch, dass Mitarbeiter in Veränderungsprojekten noch immer unter so vielen Widersprüchlichkeiten und Dilemmata »leiden«.

In Abgrenzung von dieser Art Managementliteratur geht es mir in diesem Buch darum, die Diskrepanz zwischen Leitbildern »guten« Organisationswandels und den Widersprüchlichkeiten in Veränderungsprozessen nicht einer mangelhaften Umsetzung von Veränderungskonzepten anzukreiden, sondern die vermeintlich rationalen Vorstellungen von Organisationswandel dafür verantwortlich zu machen. Es ist eine zentrale Einsicht der systemtheoretischen Organisationsforschung, dass Unternehmen, Verwaltungen, Armeen, Krankenhäuser oder Hochschulen nur sehr begrenzt nach den offiziell propagierten Rationalitätsannahmen funktionieren; deswegen nimmt diese Forschungsrichtung besonders die Differenzen zwischen den verschiedenen Abteilungen und Teams und zwischen verschiedenen hierarchischen Ebenen in den Blick. Aus der Perspektive dieses Differenzierungsansatzes innerhalb der Systemtheorie werden die Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Dilemmata in Organisationen nicht mehr als pathologische Zustände diskriminiert, sondern vielmehr als Kernbestandteil in Veränderungsprozessen verstanden, die lediglich notdürftig durch modische Leitbilder überdeckt werden können.

Trotz dieser Grundskepsis gegenüber Rationalitätsannahmen über Organisationswandel wäre es aber ein Trugschluss zu glauben, auf rational klingende Leitbilder wie lernende Organisation verzichten zu können. Und an dieser Stelle kommen die Regenmacher ins Spiel: Es ist eine in der Zwischenzeit weitgehend akzeptierte Beobachtung der Naturwissenschaften, dass die in Teilen Afrikas verbreiteten Regenmacher in der Regel keinen Regen produzieren. Aber trotzdem wäre es problematisch, wenn traditionelle Kulturen auf ihre Regenmacher verzichteten. Ihr Nutzen, darauf haben schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ethnologen und Soziologen hingewiesen, besteht nicht so sehr im offiziellen Auftrag der übernatürlichen Produktion von Niederschlägen, sondern vielmehr darin, für Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft zu sorgen. Der Regenmacher bietet der Gemeinschaft die Möglichkeit, anhand der Frage von Regen oder Trockenheit zu diskutieren, ob ihnen die Götter und Geister gewogen sind. Der Regenmacher-Effekt beschreibt die Einsicht, dass viele gesellschaftliche Institutionen zwar nicht das erreichen, was sie versprechen, dafür aber andere nützliche, nicht sofort sichtbare Funktionen haben.1

Die zentrale These dieses Buches lautet, dass wir bei den zurzeit im Management gehandelten Konzepten wie der lernenden Organisation, der wissensbasierten Unternehmung oder des agilen Systems einen solchen Regenmacher-Effekt beobachten können. Diese mehr oder minder neuen Managementkonzepte versprechen bewährte, vermeintlich rationale Prinzipien für einen erfolgreichen Organisationswandel. Nur wenn man einen Veränderungsprozess nach bewährten Prinzipien – wie klare Zielsetzung, Identifikation der Mitarbeiter, Partizipation und Kommunikation, permanentes Lernen – organisiere, könne man mit einem Erfolg der Veränderungsmaßnahmen rechnen.2 In diesem Buch wird die Schlüssigkeit dieser Prinzipien grundlegend hinterfragt, ohne aber die neuen, wandlungsorientierten Managementkonzepte gleich als nutzlos verdammen zu wollen. Wie bei den Regenmachern gibt es auch bei den neuen Managementkonzepten einen versteckten, nicht sofort sichtbaren Nutzen. Der versteckte Nutzen der aktuell gehandelten Leitbilder besteht darin, den Mitarbeitern in einer Situation hoher Verunsicherung Orientierung zu geben. Genauso wie es zweifelhaft ist, ob Regenmacher wirklich Regen machen, ist es fragwürdig, ob die Prinzipien »guten« Organisationswandels zum Erfolg der geplanten Veränderungsmaßnahmen führen. Aber sie halten in Momenten radikaler Umbrüche das Gemeinwesen in Betrieben, Verwaltungen, Verbänden oder afrikanischen Dörfern zusammen.

Die drei Seiten der Organisation

In der Auseinandersetzung mit Konzepten wie der lernenden Organisation, der wissensbasierten Firma oder des agilen Systems gehe ich von der Annahme aus, dass man systematisch drei Seiten einer Organisation unterscheiden muss (vgl. Kühl 2011: 90f.). Bei der Schauseite handelt es sich um die Fassade der Organisation. Sie soll durch ihre Ausschmückungen, durch ihre Ornamente oder auch nur ihre Ebenmäßigkeit etwas darstellen (vgl. Rottenburg 1996: 191ff.). Organisationen präsentieren nach außen hin eine möglichst attraktive »Fassade«, um die Zuneigung der Kunden zu erhalten, eine positive Grundhaltung der Massenmedien ihnen gegenüber zu erzeugen oder um Legitimierung durch die politischen Kräfte zu bewirken. Was im hinteren Teil des »Geschäfts« abläuft, ist nicht völlig unwichtig, aber das Überleben einer Organisation hängt in vielen Fällen maßgeblich davon ab, dass die »Fassade« mit ihren »Schaufenstern« entsprechend verschönert wird. Bei der formalen Seite handelt es sich um das offizielle Regelwerk, an das sich die Mitglieder gebunden fühlen. Dies ist die Seite der Organisation, die am ehesten die Assoziation von Organisationen als Maschinen weckt. Wie Maschinen setzten sich auch Organisationen aus präzise definierten Einzelteilen zusammen. Jedes Einzelteil diene dabei einer genau festgelegten Funktion innerhalb der Maschinerie (vgl. Ward 1964: 37ff.). Die informale Seite einer Organisation lässt sich am ehesten mit der Metapher des Spiels beschreiben. Wenn man sich die informale Seite einer Organisation ansieht, dann fühlt man sich ein bisschen an das »Fußballspiel der Tiere« aus Walt Disneys »Tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett« erinnert. Das »wilde Leben in der Organisation« erinnert an ein Spiel auf einem runden, schräg geneigten Spielfeld mit einer Vielzahl von Toren, bei dem die Beteiligten nach Lust und Laune zusätzliche Bälle ins Spiel werfen können und jeder bei einem Treffer höllisch aufpassen muss, dass ein Tor ihm auch zugeschrieben wird (vgl. Weick 1976: 1).

Aus meiner Sicht stellen Konzepte wie lernende Organisation, wissensbasierte Firma, agile Systeme oder wie die Rezepte für rationalen Organisationswandel in Zukunft auch immer heißen mögen, erst einmal »nur« Veränderungen auf der Schauseite der Organisation dar. Während Organisationen sich früher vorrangig mit ihren rationalen Formen der Organisationsstruktur präsentiert haben, preisen sie jetzt immer mehr ihre vermeintlich rationalen Formen des Organisationswandels. In diesem Buch nehme ich die Schauseiten der lernenden Organisationen, der wissensbasierten Firmen, der agilen Systeme ernst und zeige, was passieren würde, wenn Organisationen tatsächlich nach diesen als rational präsentierten Prinzipien des Wandels leben würden. Mit diesen Prinzipien, die auf der Schauseite so überzeugend wirken, handelt man sich – so meine These – im Organisationsalltag eine Vielzahl von ungewollten Nebenfolgen ein. Diese Nebenfolgen können erklären, weswegen die lernenden Organisationen, die wissensbasierten Firmen nie so funktionieren, wie sie sich auf ihrer Schauseite präsentieren.

Herausforderungen an ein auch für Praktiker lesbares organisationswissenschaftliches Buch

Die Herausforderung beim Schreiben dieses Buches bestand für mich darin, die Probleme, die Organisationspraktiker in Veränderungsprojekten beobachten, mit Einsichten der Organisationsforschung zu verknüpfen. Es gibt gute Gründe dafür, dass es zwischen der Organisationspraxis auf der einen Seite und der Organisationswissenschaft auf der anderen Seite »Kommunikationsbarrieren« gibt. Organisationspraktiker müssen in Organisationen kurzfristig Probleme aus der Welt schaffen und identifizieren sich fast zwangsläufig mit den von ihnen praktizierten Lösungen. Organisationswissenschaftlern dagegen geht es um eine möglichst präzise Beschreibung der Organisation. Sie nehmen deswegen häufig eine distanzierte Haltung zu den in Organisationen existierenden Problemen und Lösungsansätzen ein.

Trotz dieser Kommunikationsbarrieren habe ich jedoch die Hoffnung, durch meine Einmischung in die Diskussion über die lernende Organisation und die wissensbasierte Unternehmung eine Brücke zwischen den weitgehend getrennten Welten der Organisationspraxis auf der einen und der tendenziell im wissenschaftlichen Elfenbeinturm verharrenden Organisationstheorie auf der anderen Seite zu schlagen. Organisationswissenschaftlern wird dabei zugemutet, Überlegungen und Thesen in essayistischer Form präsentiert zu bekommen, in einer Form also, die nicht den gewohnten Kriterien des innerwissenschaftlichen Diskurses entspricht. In diesem zugegebenermaßen etwas länger geratenen Essay greife ich zwar vielfach auf illustrierende Geschichten »aus dem Leben« der Organisationen zurück, führe sie aber nicht mit den in der Organisationswissenschaft üblichen ausführlichen Methoden- und Falldarstellungen ein. Trotz dieses Abweichens von den üblichen wissenschaftlichen Standards können aber auch Organisationswissenschaftler – vorausgesetzt, sie lassen sich durch den essayistischen Charakter dieses Textes nicht abschrecken – die eine oder andere These, die eine oder andere Beobachtung entdecken, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung über Organisationswandel voranbringen kann.

Organisationspraktiker können insofern beruhigt sein, als es sich nicht um ein »typisch wissenschaftliches Buch« handelt. Obwohl dieses Buch auf der systemtheoretischen Organisationswissenschaft basiert, werden die Überlegungen in einer Form präsentiert, die auch Praktikern zugänglich ist. Organisationspraktikern wird aber abverlangt, sich mit einer Sichtweise von Organisationen auseinanderzusetzen, die nicht den gängigen Vorstellungen von »Erfolgsversprechen« und »Schlüssigkeit« entspricht. Die Überlegungen in diesem Buch haben zwar den Anspruch, »praktisch« zu sein, sie sind aber nicht dafür geschaffen, eins zu eins in konkretes Handeln umgesetzt zu werden. Wer die Hoffnung hat, am Ende dieses Buches eine Checkliste mit dem Titel »Was Sie ab nächster Woche anders machen müssen« zu finden, wird enttäuscht sein. Wer sichere Wege für größeren organisationalen Erfolg, finanziellen Reichtum oder ein optimales »Change Management« erwartet, der sollte dieses Buch besser zur Seite legen.

Kapitel 1Die Grenzen der lernenden Organisation – Einleitung

»Je planmäßiger die Menschen vorgehen,

desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.«

Friedrich Dürrenmatt

Organisationen, die viel und systematisch lernen und ihr Wissen effektiv managen, sind besser als Organisationen, die wenig oder gar nicht lernen. So lautet die allseits akzeptierte Annahme hinter der Idee der lernenden Organisation. Je stärker man sich wandele, desto besser funktioniere die Anpassung an die sich verändernden Umweltbedingungen. Die lernende Organisation wird als die Form der Unternehmung gepriesen, die am besten »proaktiv auf die wechselnden Umweltbedingungen einzugehen vermag« (vgl. Wieselhuber 1996: 20). Sie fördere das ständige »Lernen und die Entwicklung individueller Fähigkeiten zur flexiblen Anpassung des einzelnen Mitarbeiters und des Gesamtunternehmens« (vgl. Otala 1994: 14f.). Nur eine solche Organisation sei in der Lage, »Wissen zu schöpfen, zu erwerben und weiterzugeben sowie ihr Verhalten im Lichte neuer Kenntnisse und Einsichten teilweise zu revidieren« (vgl. Garvin 1994: 76).

Das Ziel scheint eine Organisation zu sein, die ununterbrochen lernt. Deswegen sprechen besonders avancierte Wissenschaftler und Berater gar nicht mehr von der »lernenden Organisation«, sondern gleich von der »schnell lernenden Organisation« (Wildemann 1996), der »schnellstlernenden Organisation« (Fatzer 1997: 7) oder gar von der »megaschnell lernenden Organisation«.3

Als Merkmale der lernenden, schnell lernenden oder am schnellsten lernenden Organisation werden Elemente benannt, die zurzeit als zentrale Erfolgsfaktoren von Unternehmen, Verwaltungen und Verbänden gehandelt werden: offene Kommunikation, Selbstorganisation, Partizipation, Mitarbeiter als zentrale Ressource, kurze Lernzyklen, spontaner Arbeitsstil und eine vertrauensbasierte Organisationskultur. In einem »virtuosen Methoden-Mix«, so die Vertreter dieses Konzepts, werden bisher separat eingesetzte Instrumente des Change Managements wie Benchmarking, Kontinuierlicher Verbesserungsprozess, Qualitätszirkel, Gruppenarbeit, Balanced Scorecard oder Vernetzung neu kombiniert und systematisch zu einer umfassenden Lernorganisation ausgebaut.

Die lernende Organisation schafft – glaubt man ihren Verfechtern – die Quadratur des Kreises: Sie sei in ihrer Ausrichtung auf Organisationswandel gleichzeitig kunden-, innovations-, mitarbeiter-, prozess- und produktorientiert. Es entstünden »Win-win-Situationen«, in denen gleichermaßen die Bedürfnisse der Kunden, der Geschäftsführung, der Eigentümer und der Mitarbeiter befriedigt würden.4

Wie in kaum einem anderen Konzept verdichten sich im Leitbild der lernenden Organisation die zurzeit im Management dominierenden Vorstellungen vom plan- und steuerbaren Wandel. Der überwältigende Teil der Literatur zum Thema lernende Organisation setzt sich damit auseinander, wie Organisationen ihre Lernprozesse und ihr Wissensmanagement verbessern und ihre Veränderungsprozesse noch effektiver gestalten können. Gesucht wird nach lernfreundlichen Rahmenbedingungen und Instrumenten, die Lernen, Wissensaneignung und -verbreitung in Organisationen unterstützen. Lernpathologien, Veränderungsblockaden und defensive Routinen werden analysiert und Mechanismen zu ihrer Überwindung entwickelt.

Die Frage, ob Organisationen, die lernen und ihr Wissen effektiv managen, wirklich besser funktionieren als Organisationen, die nicht lernen, wird nicht gestellt. Die über das Leitbild der lernenden Organisation transportierten Vorstellungen vom steuerbaren Wandel bleiben unhinterfragt.

Die Verklärung der lernenden Organisation

Es gibt zwei zentrale Gründe, weswegen kritische Auseinandersetzungen mit dem Konzept der lernenden Organisation so selten zu finden sind. Ein erster Grund ist, dass unter dem Begriff der lernenden Organisation oder der wissensbasierten Unternehmung die ganze Palette humanistisch klingender Organisationsvorstellungen mobilisiert wird: Partizipation, Mensch im Mittelpunkt, Kommunikation, Selbstorganisation oder permanenter Wandel sind so positiv besetzte Vorstellungen, dass sich jede Kritik an der lernenden Organisation erst einmal den Vorwurf des Antihumanismus einhandeln würde.

Ein zweiter Grund ist, dass sich die lernende Organisation bisher lediglich als eine ambitionierte Zielvorstellung darstellt. Es wird argumentiert, dass das Konzept bislang nur unvollständig in die organisatorische Praxis umgesetzt worden sei. Verfechter des Konzeptes verweisen darauf, dass die Anwendung noch mit Verzögerungen und Schwierigkeiten ringe, weil das Personal einfach einige Zeit brauchen würde, um sich von einer hierarchischen Organisation auf die Prinzipien einer sich permanent wandelnden Organisation umzustellen. Durch den Verweis auf die noch fehlende hundertprozentige Umsetzung immunisieren die Verfechter der lernenden Organisation das Konzept gegen eine substanzielle Kritik: das Scheitern in der Praxis. Wenn alle Unternehmen, Verbände und Verwaltungen sich lediglich als auf dem »Weg zur lernenden Organisation« beschreiben, dann lässt sich ein Scheitern von lernenden Organisationen empirisch nicht nachweisen. Es kann ja immer darauf verwiesen werden, dass eine Organisation gescheitert ist, weil sie noch nicht genug gelernt hat – und nicht etwa, weil sie schon zu viel gelernt hat.5

Aus diesen Gründen ist in Teilen der Organisationswissenschaft eine Tendenz zu beobachten, die Auseinandersetzung mit der Managementkonzeption der lernenden Organisation oder der wissensbasierten Unternehmung in den Aufgabenbereich der Religions- und Mythenforschung zu delegieren. Für einen distanzierten Wissenschaftler scheint auf den ersten Blick vieles von dem, was in Organisationen momentan auf den Wunschlisten »guten« Organisationswandels gehandelt wird, eher an einen Voodoo-Zauber als an grundlegende Veränderungen in der Praxis von Organisationen zu erinnern.6 Deswegen beschäftigen sich viele Wissenschaftler unter dem Stichwort »organisatorisches Lernen« oder »Wissensmanagement« lieber mit den »realen« Lern- und Veränderungsprozessen in Organisationen, statt sich mit den neuen, an einem Organisationswandel orientierten Managementleitbildern intensiver auseinanderzusetzen.

Gegen diesen Trend stehen hier die an einem Organisationswandel orientierten Managementkonzepte wie lernende Organisation, evolutionäre Unternehmung und wissensbasierte Firma im Mittelpunkt.7 Diese Leitbilder »guten« Organisationswandels sind sicherlich nur lose mit der Praxis des Organisationswandels gekoppelt – aber sie sind gekoppelt. In Organisationen prägen sie das Denken und Reden über Veränderungen als plan- und steuerbare Prozesse und entwickeln so eine Wirkmächtigkeit. Mit ihrer orientierenden, sinnstiftenden und legitimierenden Funktion beeinflussen sie als Grundsätze »guten« Handelns die konkrete Ausgestaltung von Veränderungsprozessen.

Idealtypische Betrachtung einer Managementmode

Ich möchte die Vertreter des Managementkonzeptes der lernenden Organisation beim Wort nehmen und die Kriterien rationalen Organisationswandels auf ihre Tragfähigkeit hin untersuchen. Dabei behandele ich diese Leitbilder »guten« Change Managements als Idealtypen. Der Soziologe Max Weber hat das Konzept des Idealtypus als Untersuchungsmethode entwickelt, um komplexe soziale Sachverhalte erfassen zu können. Bei einem Idealtypus handelt es sich um die (Re-)Konstruktion eines weitgehend rationalen Organisationsbildes. Es wird ein in sich schlüssiges Modell gebildet, das sich als Raster zur Analyse von Entwicklungstrends in Organisationen nutzen lässt.

Das Arbeiten mit dem Idealtypus der lernenden Organisation ermöglicht es, kritische Fragen an die damit verknüpften, vermeintlich rationalen Managementkonzepte zu stellen: Weswegen tragen die klassischen Vorstellungen von einer rationalen Organisationsstruktur nicht mehr? Warum haben an Organisationsstrukturen orientierte Managementkonzeptionen wie Lean Management oder Business Process Reengineering so viel an Überzeugungskraft eingebüßt? (Leitfragen für Kapitel 2). Worin besteht das spezifisch Neue des Leitbildes der lernenden Organisationen? Welche Rolle spielen die Regeln »guten« Organisationswandels in diesem Konzept? Auf welche Weise setzen sich durch das neue Leitbild Vorstellungen von plan- und steuerbarem Wandel in Organisationen durch? (Leitfragen für Kapitel 3). Worin bestehen die Schwachstellen einer auf Wandlung und Lernen konzentrierten neuen »idealen Organisationsform«? Wie tragfähig sind die allgemein akzeptierten Prinzipien einer lernenden Organisation wie etwa klare gemeinsame Zielsetzungen, Identifikation der Mitarbeiter, Partizipation, Selbstorganisation oder Wandel als permanenter Lernprozess? Welche blinden Flecken schafft man sich mit der Managementkonzeption der lernenden Organisation? (Leitfragen für Kapitel 4). Wenn sich die Kriterien der lernenden Organisation als nicht ganz so rational darstellen, wie man es sich eigentlich erhofft hat – welche Funktionen erfüllt das Propagieren des Konzepts? Wo liegt sein versteckter Nutzen? Haben wir es in lernenden Organisationen vielleicht mit einer besonders ausgefeilten Strategie von Irrationalität, Ignoranz und Vergesslichkeit zu tun, die die Organisation am Ende aber erst handlungsfähig macht? (Leitfragen für Kapitel 5). Was bedeuten diese Überlegungen für die Praxis des Organisationswandels? Gibt es jenseits der Vorstellungen eines »guten« Organisationswandels noch weitere Alternativen? (Leitfragen für Kapitel 6).

Über die Auseinandersetzung mit den Schwachstellen und dem versteckten Nutzen des Konzepts der lernenden Organisation möchte ich Einsichten in die Wandlungsprozesse von Organisationen eröffnen. Es fällt auf, dass auf der einen Seite ein großer Teil der Manager die Eigenkomplexität der Organisation anerkennt und sich zunehmend von jenen einfachen Steuerungsvorstellungen distanziert, die lange Zeit die Diskussion über effektive und effiziente Organisationsstrukturen beherrscht haben. Organisationen werden kaum noch wie triviale Maschinen behandelt. Der Glaube an den »einen besten Weg« der Organisation scheint in der Zwischenzeit weitgehend verpönt zu sein (Thema des Kapitels 2).

Auf der anderen Seite scheinen sich aber relativ simple Rationalitäts- und Steuerungsvorstellungen durch die Hintertür wieder einzuschleichen. Man geht zwar nicht mehr davon aus, dass es die eine »gute« Organisationsstruktur gibt, aber man glaubt daran, dass es Regeln für einen »guten« Organisationswandel gibt. In der Management- und Beraterszene setzt sich zunehmend die Vorstellung durch, dass stabile Kriterien für erfolgreiche Projekte des Wandels entwickelt werden können. Man geht davon aus, dass betroffene Mitarbeiter in einem gut geplanten Wandel überzeugende Lösungen für diagnostizierte Probleme finden und diese dann auch in der Praxis verwirklichen können. Die lernende Organisation, die evolutionäre Unternehmung oder die wissensbasierte Firma sind die Managementleitbilder, unter denen diese Vorstellungen eines rationalen Organisationswandels gehandelt werden (Thema des Kapitels 3).

Wenn Schwierigkeiten in Veränderungsprozessen auftreten, dann wird darauf verwiesen, dass das Personal die Kriterien für den »guten« Organisationswandel noch nicht ausreichend verinnerlicht habe. Es werde, so die Argumentation, einfach noch zu wenig partizipiert, selbst organisiert, kommuniziert und gelernt. Das Personal sei noch nicht weit genug, um die rationalen Kriterien für einen guten Organisationswandel zu erfüllen und ein Change-Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen.

Diese Problemanalyse geht davon aus, dass Organisationswandel vernünftig und effektiv funktionieren könnte, wenn es gelänge, den menschlichen Faktor in den Griff zu bekommen. Es herrscht die Überzeugung, dass die Probleme zu bewältigen wären, wenn es gelänge, die Anforderungen der Organisation in ausreichender Weise mit den Erwartungen und Hoffnungen der Menschen zu verknüpfen.

Dieses Erklärungsmuster für Probleme im Verlauf von Veränderungsprozessen stelle ich grundsätzlich infrage. Die Personalisierung von Problemen verbaut den Blick auf die strukturellen Schwierigkeiten, die in betrieblichen Veränderungsprozessen auftreten. Sie führt dazu, dass Organisationsgestalter in relativ simplen Vorstellungen der Steuer- und Beherrschbarkeit von Prozessen des Wandels verhaftet bleiben. In Abgrenzung von diesen Vorstellungen der Steuerbarkeit geht es mir darum, ein Organisationsverständnis zu entwickeln, das die in Veränderungsprozessen immer wieder entstehenden Widersprüchlichkeiten veranschaulicht und begreifbar macht.8

Leitbilder des »guten« Organisationswandels, so meine These, können nur dann Plausibilität gewinnen, wenn die grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten des Konzepts ignoriert werden. Die Konzepte der lernenden Organisation oder der evolutionären Unternehmung erwecken den Anschein von Rationalität nur durch die Inkaufnahme vielfältiger blinder Flecken. Ein Blick auf diese blinden Flecken kann zeigen, dass die Ver- und Beschreibungen der lernenden Organisation, wie klare Zielsetzung, Identifikation der Mitarbeiter mit der Organisation, Mensch im Mittelpunkt, Selbstorganisation, Kommunikation und permanenter Lernprozess, höchst problematisch sind.9 Sie können bei konsequenter Anwendung gar zu einem Scheitern der Organisation führen. Es lassen sich gute Gründe dafür finden, es mit den momentanen Vorstellungen rationalen Organisationswandels nicht so genau zu nehmen (Thema des Kapitels 4).

Die Hinweise auf die blinden Flecken der lernenden Organisation sollen jedoch nicht als grundsätzliches Plädoyer gegen dieses Managementleitbild verstanden werden. Die Kriterien eines »guten« Organisationswandels sind zwar nicht so tragfähig, wie gern suggeriert wird, das Leitbild erfüllt aber durchaus versteckte, nicht auf der Hand liegende Funktionen. Organisationen bringen häufig erst durch die systematische Ignoranz gegenüber den problematischen Nebenfolgen eines Organisationswandels den Mut auf, unter Bedingungen hoher Unsicherheit neue Abläufe zu proben. Das Leitbild der lernenden Organisation trägt zur Missachtung dieser Nebenfolgen bei. Es mag paradox klingen, aber die Stärke der lernenden Organisation als Managementleitbild liegt gerade in ihrer Ignoranz, Irrationalität und Vergesslichkeit. Diese Eigenschaften aber können – und das ist die andere Seite der Medaille – Organisationen auch in schwerwiegende Krisen stürzen (Thema des Kapitels 5).

Dieses Buch stellt jene Vorstellungen über die Ordnung von Organisationen und ihre Steuer- und Beherrschbarkeit grundlegend infrage, die die Programme zum Organisationswandel bislang dominieren. Es ist jedoch kein Plädoyer für ein postmodernes everything goes. Es reiht sich auch nicht ein in die wachsende Zahl von Büchern und Artikeln, die versuchen, die jeweils aktuellen Managementkonzepte als »heiße Luft« oder »alten Wein in neuen Schläuchen« zu entlarven. Ich will vielmehr eine übergreifende Sichtweise auf Veränderungsprozesse entwickeln, die es erlaubt, sich eben nicht zum Protagonisten des jeweils gerade als rational und optimal gehandelten Leitbildes zu machen, sondern die dieses aktuelle Leitbild gezielt nutzt, um die Organisation ignoranter und damit handlungsfähiger zu machen.

Das in diesem Buch propagierte Management von Dilemmata basiert auf der Überlegung, dass man zwei Möglichkeiten hat, mit den vielfältigen Widersprüchlichkeiten in Organisationen umzugehen: Einerseits können diese Widersprüchlichkeiten in Organisationen mithilfe der beschriebenen Leitbilder ausgeblendet werden. Andererseits können jedoch auch Rationalitätsmythen kritisch hinterfragt und Organisationen so mit ihren jeweils eigenen blinden Flecken konfrontiert werden. Für beide Vorgehensweisen kann es gute Gründe geben. Die Kunst des Managements besteht zunehmend darin, Dilemmata, Paradoxien und Widersprüchlichkeiten der Situation angemessen entweder auszublenden oder zu mobilisieren (Thema des Kapitels 6).

Kapitel 2Das Ende des Traums von der optimalen Organisationsstruktur

»Ein erstklassiger Geist zeichnet sich dadurch aus,

dass er in der Lage ist, zwei gegensätzliche Ideen in seinem Kopf

auszuhalten und trotzdem noch in der Lage ist zu funktionieren.«

F. Scott Fitzgerald

Es gehört mittlerweile zu einer der bestgepflegten Vermutungen im Management, dass früher das Umfeld von Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern, Hochschulen und Verbänden durch Stabilität geprägt war. In diesem stabilen Umfeld, so die Annahme, waren die Aufgaben des Managements relativ einfach: Das Management konnte sich darauf konzentrieren, die Grenzen der Organisation so zu gestalten, dass möglichst nur eindeutige Informationen aus der Umwelt in die Organisation eindrangen und alles andere außen vor blieb. Die ganze Widersprüchlichkeit der Welt wurde durch diese engen Grenzen auf einige wenige klare Nachrichten heruntergebrochen. Informationen, die Veränderung erfordert hätten, wurden ausgeblendet. Der Eindruck, dass eine Angelegenheit auch anders gehandhabt werden könnte, wurde gezielt vermieden.

So nahmen die für die Bearbeitung von Auftragseingängen zuständigen Mitarbeiter nur die Kundenwünsche wahr, die weitgehend ohne Veränderung der Organisationsroutinen bearbeitet werden konnten. Alle anderen Anfragen wurden mit Aussagen wie »Das führen wir nicht!« oder »Damit sind Sie bei uns falsch!« abgewiesen. Die Organisation, so die Vorstellung, funktioniere wie eine simple Maschine.

Natürlich ist es illusorisch zu glauben, dass das Management bei stabilen Umweltbedingungen die Grenzen so abschotten könnte, dass keine widersprüchlichen Informationen in die Organisation gelängen. Häufig kommt es vor, dass Kunden dann doch nicht mehr genauso viele Autos, Zahnbürsten oder Kochtöpfe nachfragen, wie man es anhand der Vorjahreszahlen geplant hatte. Kunden ändern ihre Wünsche kurzfristig. Kapitalgeber wechseln. Mitarbeiter versuchen, ihre eigenen Interessen gegenüber den Interessen des Managements durchzusetzen.10

Die zentrale Herausforderung an Führungskräfte besteht darin, Stabilität und Wandel gleichzeitig möglich zu machen. Angesichts wechselnder Umweltbedingungen müssen Manager Veränderungen in der Organisation fördern, gleichzeitig aber eine Kontinuität der Wertschöpfung sicherstellen und das eigene Image stabil halten. Sie müssen sowohl Veränderungsfähigkeit gewährleisten (um sich an verändernde Rahmenbedingungen organisatorisch anpassen und mit unberechenbaren Situationen umgehen zu können) als auch ein erhebliches Maß an technologischer und organisatorischer Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit garantieren. Um gemeinschaftlich handeln zu können, müssen sie dafür sorgen, dass Regeln, Werte und Einstellungen existieren, die von allen Mitarbeitern akzeptiert werden. Gleichzeitig müssen sie aber auch Veränderungen gegen den Willen betroffener Mitarbeitergruppen durchsetzen.

Im ersten Teil dieses Kapitels (Abschnitt 2.1.) zeige ich, dass das zentrale Problem der Gleichzeitigkeit von Stabilität und Wandel durch die Etablierung getrennter organisatorischer Zuständigkeiten gelöst wurde und wird, und zwar sowohl in den bürokratischen und tayloristischen Organisationsmodellen als auch im Lean Management und im Business Process Reengineering. Spezialisierte Einheiten wurden beziehungsweise werden damit beauftragt, in einem möglichst stabilen Prozess die Wertschöpfungsaktivitäten zu gestalten, während andere Einheiten wie zum Beispiel der Einkauf, der Verkauf oder die Qualitätssicherung die Organisation an neue Umweltanforderungen anzupassen hatten beziehungsweise haben.

Diese Trennung der Funktionen – Innovations- und Veränderungsaufgaben auf der einen Seite und stabile Wertschöpfungsaktivitäten auf der anderen Seite – wird jedoch immer riskanter. Im zweiten Teil des Kapitels (Abschnitt 2.2.) wird deutlich, dass die Trennung von Innovations- und Routineaufgaben eine schnelle Umsetzung von Veränderungen verhindert. Deswegen geht das Management dazu über, alle organisatorischen Einheiten damit zu beauftragen, neben Routinetätigkeiten selbstständig Innovationen und Veränderungen vorzunehmen. Diese permanenten Veränderungsprozesse führen jedoch zu mehr Unsicherheit und Instabilität im organisationalen Alltag (Abschnitt 2.3.).

2.1. Eine erste Lösung für das Stabilitäts- und Veränderungsdilemma – stabile Organisationsstrukturen mit veränderungsorientierten Einheiten

Die nächstliegende Strategie, um auf die gegensätzlichen Anforderungen nach Stabilität und Veränderung zu reagieren, wäre ein Mittelweg. Die Forderung nach einer »vernünftigen Mitte« ist für den unbefangenen Beobachter die einfachste Lösung, um mit dem Problem umzugehen, dass Veränderung und Stabilität verschiedene organisatorische Handlungsweisen verlangen. Es reicht aus – oberflächlich beurteilt –, herauszufinden, wie viel Veränderung ein soziales System »ertragen« kann, ohne seine Identität und damit seine Existenz zu gefährden, und die Organisation dann in diesem Zustand zu halten.