Der ganz formale Wahnsinn - Stefan Kühl - E-Book

Der ganz formale Wahnsinn E-Book

Stefan Kühl

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Beschreibung

Ein überraschender Blick auf Themen, bei denen viele der Überzeugung sind, dass sie sich diesbezüglich bereits eine klare Meinung gebildet haben. Was für ein Irrtum!

Warum starten Organisationen Reformen, nur damit alles beim Gleichen bleiben kann? Weswegen verschwindet zwangsläufig die Begeisterung in Start-ups, wenn sie größer werden? Warum werden bei Entscheidungen weder alle möglichen Alternativen in Betracht gezogen noch alle Folgen der Entscheidung mitbedacht? Wie schaffen es Organisationen immer wieder, von Regeln abzuweichen, ohne dass es zur Anarchie kommt?

Stefan Kühl beschreibt in seinem neuen Buch, wie es zu dem ganz formalen Wahnsinn in Organisationen kommt. In kleinen Kolumnen – von Agilität bis Zynismus – wirft er auf unterhaltsame Weise ungewohnte Blicke auf kleine und große Absonderlichkeiten von Organisationen. So entsteht ein Handbuch, in dem Leser:innen einen organisationswissenschaftlich informierten Überblick über zentrale Themen des Managements bekommen. Sie erhalten ein Verständnis darüber, wie Managementmoden entstehen, wie sie am Leben gehalten werden, wie sie vergehen und wie man sie für eigne Vorhaben nutzen kann.

Dr. Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er ist außerdem Senior Consultant bei Metaplan in Quickborn bei Hamburg und publiziert regelmäßig in der SZ, Die Zeit oder der FAZ.

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Zum Inhalt:

Weswegen uns Organisationen manchmal so wahnsinnig erscheinen

Warum starten Organisationen Reformen, nur damit alles beim Gleichen bleiben kann? Warum werden bei Entscheidungen die möglichen Folgen weitgehend ignoriert? Wie schaffen es Organisationen immer wieder, von Regeln abzuweichen, ohne dass es zur Anarchie kommt?

Zum Autor:

Stefan Kühl beschreibt in seinem Buch, wie es zu dem ganz formalen Wahnsinn in Organisationen kommt. In 111 kompakten Kolumnen – von Agilität bis Zynismus – wirft er auf unterhaltsame Weise ungewohnte Blicke auf kleine und große Absonderlichkeiten von Organisationen.

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei der Firma Metaplan in Quickborn.

Der ganz formale Wahnsinn

111 Einsichten in die Welt der Organisationen

 

von

Stefan Kühl

 

 

 

 

 

 

Verlag Franz Vahlen München

5Inhalt

Leitfragen und Lesewege

Zum ganz formalen Wahnsinn – eine erste Orientierung

Weswegen uns Organisationen manchmal so wahnsinnig erscheinen

Über (Gegen-)Sprichwörter des Managements

Wider den Neuigkeitsdramatisierungen

Zuspitzungen als Zumutungen

#1 Agilität

#2 Aktionspläne

#3 Auskühlung

#4 Authentizität

#5 Automation

#6 Autonomie

#7 Benchmarking

#8 Beobachtungen

#9 Bewegungen

#10 Bilanzfälschung

#11 Blinde Flecke

#12 Bullshit

#13 Businesspläne

#14 Cliquen

#15 Coaching

#16 Compliance

#17 Demokratie

#18 Digitalisierung

#19 Disruption

#20 Entscheidungen

#21 Erfolg

#22 Evaluation

#23 Familien

#24 Feiern

#25 Fortschritt

#26 Freundschaften

#27 Führung

#28 Führungskräftebeschimpfung

#29 Fusion

#30 Ganzheitlichkeit

#31 Gefühle

#32 Gemeinschaft

#33 Geschlecht

#34 Gewalt

#35 Gewinn

#36 Gratifikationskrise

#37 Großkonferenzen

#38 Gruppen

#39 Haltung

#40 Heuchelei

#41 Hierarchie

#42 Honorar

#43 Identifikation

#44 Innovation

#45 Integrität

#46 Jobwechsel

#47 Kameradschaft

#48 Karriere

#49 Kollegialität

#50 Kompetenzdarstellungskompetenz

#51 Komplexität

#52 Kontaktinfektionen

#53 Krisen

#54 Kultur

#55 Kündigung

#56 Leitbilder

#57 Lernen

#58 Löhne

#59 Macht

#60 Managementmoden

#61 Mitarbeiterorientierung

#62 Moral

#63 Motivation

#64 Nachhaltigkeit

#65 Partizipation

#66 Personal

#67 Personalauswahl

#68 Personalentwicklung

#69 Persönliches

#70 Professionen

#71 Programme

#72 Projekte

#73 Projektgruppen

#74 Qualitätsmanagement

#75 Rankings

#76 Reformen

#77 Regelbruch

#78 Reputation

#79 Scharlatanerie

#80 Scheitern

#81 Selbstorganisation

#82 Selbstständigkeit

#83 Sinn

#84 Slack

#85 Standardisierung

#86 Strategien

#87 Systemisches

#88 Tabus

#89 Teams

#90 Technik

#91 Transparenz

#92 Verorganisierung

#93 Verständigung

#94 Vertrauen

#95 Vierfelder-Schemata

#96 Vorreiter

#97 Wachstumsschmerzen

#98 Webkonferenzen

#99 Werte

#100 Wertschätzung

#101 Win-win-Situationen

#102 Wissenschaftsgläubigkeit

#103 Workflow

#104 Workshops

#105 Zahlen

#106 Zeitdiagnosen

#107 Ziele

#108 Zwang

#109 Zwecke

#110 Zyklen

#111 Zynismus

Zum Verständnis der Beiträge – eine Einordnung

Danksagung

Index

Impressum

8Leitfragen und Lesewege

1. Unterscheidungen: Wie unterscheiden sich Organisationen von anderen sozialen Gebilden und was passiert, wenn es zu Überschneidungen kommt?

→ Familien → Bewegungen → Freundschaften → Gruppen → Professionen

2. Schauseiten: Wie präsentieren sich Organisationen gegenüber ihrer Außenwelt und welche Wirkungen hat dies in der Organisation?

→ Werte → Sinn → Moral → Integrität → Leitbilder → Nachhaltigkeit → Managementmoden → Bullshit → Heuchelei → Zynismus

3. Formale Seite: Welche Bedeutung hat die Formalität in Organisationen und über welche Hebel gestalten Organisationen diese?

→ Hierarchie → Programme → Zwecke → Transparenz → Compliance → Integrität

4. Informale Seite: Welche Erwartungen bilden sich im Schatten der Formalstruktur aus und wie werden diese in Organisationen gebildet?

→ Kultur → Kollegialität → Kameradschaft → Cliquen → Gemeinschaft → Feiern → Geschlecht → Regelbruch → Qualitätsmanagement

5. Kommunikationswege: Wie werden Kommunikations- und Entscheidungswege eingerichtet und welche gewollten und ungewollten Effekte haben die verschiedenen Modelle?

→ Hierarchie → Führung → Demokratie → Autonomie → Selbstorganisation → Teams → Projektgruppen → Autonomie → Innovation

6. Programme: Wie werden Organisationen über Zielvorgaben und Wenn-Dann-Regeln gesteuert und welche Vor- und Nachteile haben die verschiedenen Vorgehensweisen?

→ Programme → Zwecke → Strategien → Ziele → Standardisierung → Workflow → Technik → Automation → Digitalisierung → Qualität

7. Personal: Wie lassen sich über das Personal Organisationen beeinflussen und welche Herausforderungen treten dabei auf?

→ Personal → Personaleinstellung → Karriere → Jobwechsel → Personalentwicklung → Zyklen → Coaching → Auskühlung → Kündigung

8. 9Interaktionen: Wie laufen Interaktionen in Organisationen ab und welche Dynamiken entwickeln sich dabei?

→ Workshops → Webkonferenzen → Großkonferenzen → Aktionspläne → Tabus → Feiern → Kompetenzdarstellungskompetenz → Verständigungen → Vertrauen → Macht

9. Leistungen: Weswegen erbringen Organisationsmitglieder Leistung (oder auch nicht) und wie wird dies durch die Organisation beeinflusst?

→ Motivation → Löhne → Honorar → Gewalt → Zwang → Reputation → Karriere → Gratifikationskrise

10. Modisches: Welche Modethemen gibt es im Management und welche Bedeutung haben diese für Organisationen?

→ Agilität → Digitalisierung → Disruption → Moral → Nachhaltigkeit → Partizipation → Selbstorganisation → Selbstständigkeit → Sinn → Transparenz → Managementmoden → Zeitdiagnosen → Vorreiter → Fortschritt → Win-win-Situationen → Wissenschaftsgläubigkeit → Systemisches → Bullshit → Zynismus

11. Menschliches: Welche Rolle spielen Menschen in Organisationen und welche Hoffnung sollte man (nicht) auf sie setzen?

→ Persönliches → Authentizität → Ganzheitlichkeit → Gefühle → Gemeinschaft → Haltung → Identifikation → Mitarbeiterorientierung → Selbstständigkeit → Sinn → Wertschätzung → Führung → Führungskräftebeschimpfung

12. Beobachtungen: Wie beobachten Organisationen, was in ihrer Umwelt passiert, welche Rolle spielen Zahlen dabei und welche Verzerrungen gibt es?

→ Beobachtungen → Blinde Flecke → Kontaktinfektionen → Zahlen → Bilanzfälschung → Benchmarking → Rankings → Vierfelder-Schemata

13. Wandel: Wann verändern sich Organisationen und welche Mittel verwenden sie dabei?

→ Komplexität → Entscheidung → Evaluation → Lernen → Innovation → Reformen → Projekte → Projektgruppen → Partizipation → Slack → Win-win-Situationen → Scharlatanerie

14. Entwicklungen: Wie entstehen Organisationen, wie wachsen sie und wie gehen sie wieder ein?

→ Kontaktinfektion → Businesspläne → Verorganisierung → Wachstumsschmerzen → Fusion → Erfolg → Gewinn → Krisen → Scheitern

10Zum ganz formalen Wahnsinn – eine erste Orientierung

Liest man die Berichte und Darstellungen über Veränderungsprojekte in Organisationen, dann zeichnen sich diese durch ein hohes Maß an Konsistenz, Schlüssigkeit und Rationalität aus. Unabhängig davon, ob es sich dabei um die Entwicklung einer neuen Strategie, die Etablierung sich selbst steuernder Teams oder die Einführung einer agilen Projektsteuerung handelt – die Geschichten sind in der Regel Schilderungen von rational geplanten Vorgehensweisen. Zwar wird von Hindernissen, Widerständen, Unwägbarkeiten und Unvorhergesehenem berichtet, aber diese Probleme werden in den häufigsten Fällen von den Prozessverantwortlichen, die nicht selten identisch mit den Autoren der Beiträge sind, durch einen plötzlichen Einfall, ein neu entwickeltes Werkzeug oder durch eine gewagte Intervention am Ende erfolgreich bewältigt.1

Diese begeisterten Beschreibungen von den so strikt durchdacht und durchgeplant wirkenden Veränderungsprojekten findet man schon bei derart prominenten Schilderungen wie der Einführung des Fließbandes bei Ford, der Etablierung einer Divisionsstruktur beim US-amerikanischen Chemiekonzern Dupont oder der Entwicklung des Lean Managements durch das japanische Automobilunternehmen Toyota. Sie liegen aber ebenso den Darstellungen der Squad-Struktur des schwedischen Streamingdienstes Spotify oder den selbst organisierten Teams des niederländischen Pflegedienstleisters Buurtzorg zugrunde.2

Diese stringent und schlüssig wirkenden Selbstbeschreibungen, die man im Gros der Managementbücher, in vielen Artikeln der Wirtschaftspresse oder in den Foliengewittern auf Managementkonferenzen finden kann, stehen in auffälliger Diskrepanz zu den Beschreibungen von Veränderungsprozessen, die von distanzierteren Beobachtern zu hören sind. Demnach werden Erfolge nicht als das Ergebnis umfassender Szenarien- und Strategiekonferenzen erzielt, sondern sind vielmehr die Folge zufälliger Erfindungen oder unvorhergesehener Umweltveränderungen. Derweil werden manche Reorganisationsprojekte nur gestartet, damit in der Organisation alles beim Alten bleiben kann: Trotz existierendem Assessment-Center werden Mitarbeiter nicht wegen ihrer Eignung eingestellt, sondern weil es gut etablierte Netzwerke zwischen den Absolventen einer Hochschule gibt. Das Leben in den Organisationen scheint 11viel unberechenbarer zu sein, als es die rational wirkenden Selbstbeschreibungen von Managern oder Beratern erscheinen lassen.

Wie passen diese Hochglanzdarstellungen von Organisationen auf der Vorderbühne und die abweichenden Beschreibungen von Mitarbeitern auf der Hinterbühne zusammen? Wie kommt es zu solchen Diskrepanzen zwischen den Artikeln in Managementzeitschriften, den offiziellen Präsentationen auf Konferenzen und den Inszenierungen auf Websites und den Schilderungen, die in den informellen Gesprächen in den Kaffeeecken oder in vertraulichen Zirkeln am Rande der Versammlungen angefertigt werden?

In diesem Buch finden Leserinnen und Leser in kleinen Beiträgen zu 111 Begriffen Antworten auf diese Fragen. Dabei eröffnet sich ein häufig ungewohnter Blick auf die Funktionsweise von Organisationen. Das Buch soll zum Schmökern einladen. Die Artikel können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Deswegen wird die eine oder andere Einsicht aus der Organisationswissenschaft auch an mehreren Stellen verwendet. Durch (mit einem Pfeil →) markierte Querverweise zwischen den einzelnen Beiträgen lassen sich systematisch Beziehungen herstellen, sodass man sich schrittweise ein umfassendes und konsistentes Verständnis von Organisationen erlesen kann. Wer sich für darüber hinausgehende Zusammenhänge zwischen den Beiträgen interessiert, wird in der Einleitung und dem Schlussteil fündig. Hier werden der Anspruch des Buches sowie das zugrunde liegende Denkgebäude näher erläutert.

Es geht mir in dieser Abhandlung nicht um eine auch nur ansatzweise vollständige Behandlung der in Organisationen diskutierten Themen, sondern vielmehr um das punktuelle Setzen von Denkanstößen. Die Beiträge behandeln dabei – besonders in Phasen des starken Wirtschaftswachstums und einer nahezu vorliegenden Vollbeschäftigung – immer wieder hochgespielte Themen wie Agilität (→ Agilität), Partizipation (→ Partizipation) oder Selbstorganisation (→ Selbstorganisation), greifen aber auch Dauerbrenner der Organisationsgestaltung wie Kultur (→ Kultur), Strategie (→ Strategien) oder Leitbild (→ Leitbild) auf. Unter einigen Stichwörtern – beispielsweise Identifikation (→ Identifikation), Krise (→ Krise), Motivation (→ Motivation) oder Profession (→ Professionen) – wird man sich spontan etwas vorstellen können, während Bezeichnungen wie Auskühlung (→ Auskühlung), Bullshit (→ Bullshit), Slack (→ Slack), Gratifikationskrise (→ Gratifikationskrise), Kompetenzdarstellungskompetenz (→ Kompetenzdarstellungskompetenz) oder Scharlatanerie (→ Scharlatanerie) dazu einladen, sich von den dahinterstehenden organisationswissenschaftlichen Gedanken überraschen zu lassen. Auf Beiträge zu allzu modischen, sich in der Regel aus Anglizismen zusammensetzenden Begriffen wie Business Reengineering, Design Thinking, Homeoffice, Lean Management oder New Work habe ich verzichtet, weil die Halbwertzeit dieser Konzeptionen gering ist und man dieses Buch noch in zehn oder zwanzig Jahren mit Gewinn lesen soll.

Die Einwürfe zu zentralen Themen des Managements illustriere ich an unterschiedlichen Typen von Organisationen – Verwaltungen und Unternehmen, Krankenhäuser und Pflegeheime, Armeen und Polizeien, Universitäten und Schulen, Ministerien und ihre Vorfeldorganisationen, Vereine, Parteien sowie Religionsvereinigungen. Insbesondere in der Managementliteratur ist es ein verbreiteter Kurzschluss, bei Organisationen zuallererst an profitorientierte Unternehmen zu denken. Diese spielen in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zweifellos eine wichtige Rolle, aber das gilt in gleicher Form ebenso für die Bedeutung von Schulen im Erziehungssystem, für Universitäten in der Wissenschaft, für Parteien in der Politik oder für Moscheen, Kirchen und Synagogen in der Religion.

12Da sich die Effekte bestimmter Entscheidungen in einzelnen Organisationstypen besonders gut beobachten lassen, können Rückschlüsse auf andere Organisationstypen gezogen werden. Wenn man beispielsweise über die Nebenfolgen sehr weitgehender Transparenzanforderungen in Parteien informiert ist, dann könnte auch Mitarbeitern in Unternehmen, Krankenhäusern oder Verwaltungen klarer werden, wie stark sie Einsichten in ihre allgemeinen Entscheidungsprozesse zugänglich machen wollen. Wenn man begreift, weswegen das Konzept der lernenden Organisation in Entwicklungshilfeorganisationen eine so wichtige Rolle spielt, dann lässt sich erkennen, wie und warum religiöse Organisationen, Unternehmen oder Schulen erfolgreich daran scheitern können.

Die Organisationswissenschaft hat sich in den letzten hundert Jahren zu einem Feld aus überraschenden Thesen, umfassenden theoretischen Konzepten und faszinierenden empirischen Beschreibungen entwickelt. Ich habe nicht ansatzweise den Anspruch, in den einzelnen Beiträgen die jeweils relevante Quellenlage zu referieren. Vielmehr geht es mir darum, mit eher sparsamen Literaturhinweisen in Fußnoten aufzuzeigen, woher die Ideen stammen und wo sich bei Interesse weiterlesen lässt. Bei den Referenzen handelt es sich gleichermaßen um Verweise auf bekannte Einsichten der Riesen der Organisationswissenschaft, um kleine versteckte Schätze von solchen Organisationswissenschaftlern, die eigentlich für andere Ideen bekannt geworden sind, aber auch um originelle Einsichten von Forschern, die im Stile eines wissenschaftlichen „One-Hit-Wonder“ nur durch diese singuläre Erkenntnis auf sich aufmerksam gemacht haben.

Beiträge, deren thematischen Schwerpunkt ich bereits an anderer Stelle ausführlich entwickelt habe, sind entsprechend markiert. Dort lassen sich vertiefende Analysen und in vielen Fällen auch ausführlichere Literaturnachweise samt kontextueller Einordnung finden. In einigen der in den Fußnoten genannten Arbeiten von mir finden sich darüber hinaus Verweise auf empirische Studien, die den hier kompakt dargestellten Argumenten zugrunde liegen. Oftmals handelt es sich aber um organisationswissenschaftliche Überlegungen, zu denen ich (noch) nicht publiziert habe.

13Weswegen uns Organisationen manchmal so wahnsinnig erscheinen

Auf den ersten Blick wirkt das Verhalten in Organisationen überraschend gleichförmig. Man sieht Arbeiter in Produktionshallen, die alle zwanzig Sekunden die gleiche Handbewegung machen, Soldaten, die im Gleichschritt über einen Exerzierplatz marschieren, oder Lehrer, die beim Hören eines Klingeltons mehr oder minder geordnet in ihre Klassenräume ziehen. Ein einziger Mechanismus ist für diese Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit des Benehmens in Organisationen verantwortlich – die Formalität.

Hinter der Idee der Formalität versteckt sich ein kleines, aber äußerst folgenreiches Mittel der Verhaltenssteuerung. Wenn ich die Mitgliedschaft unter die Bedingung stelle, dass vorgegebene Erwartungen erfüllt werden müssen, dann kann ich ein überraschend gleichförmiges Auftreten der Mitglieder erreichen. Das Prinzip, welches den Mitgliedern dabei mehr oder minder explizit kommuniziert wird, ist einfach: Wer die vorgegebenen Anforderungen erfüllt, kann bleiben, wer sich offen gegen sie auflehnt, muss gehen.3

Aber das Leben in Organisationen ist viel unkalkulierbarer, als es der Blick auf das schriftlich niedergelegte Regelwerk und die mündlich kommunizierten formalen Anweisungen von Vorgesetzten nahelegen. Es existieren über die ganze Organisation reichende informale Netzwerke, welche für die Verbreitung von Informationen und die Vorbereitung von Entscheidungen nicht selten mindestens genauso wichtig sind wie die formalen Kommunikationswege. Arbeitsabläufe folgen nicht zwangsläufig den formal vorgegebenen Programmen, sondern es bilden sich informale Schleichwege aus, deren Kenntnisse nicht von minderer Relevanz als die der offiziell vorgegebenen sind. (→ Regelbruch) Da werden Entscheidungen nicht mit Verweis auf die formalen Rechte durchgesetzt, sondern über das Mobbing der Kollegen, die sich weigern, diese Beschlüsse mitzutragen. (→ Kündigung) In jeder Organisation bildet sich ein Unterleben aus, das man nicht erfasst, wenn man nur auf die für gewöhnlich gut sichtbaren formalisierten Erwartungen starrt. (→ Kultur)

Mit Blick auf dieses Unterleben gibt es eine Tendenz, Organisationen als „Irrenhäuser“ zu beschreiben. Organisationen würden sich, so die Klage, von „Tretmühlen“, in denen einst alle brav den formalen Regeln gefolgt seien, immer mehr in „Klapsmühlen“ verwandeln. Mit 14Sprüchen wie „Operative Hektik ersetzt geistige Windstille“, „Hier arbeiten wir Hand in Hand; was die eine schafft, lässt die andere liegen“ oder „Wer kriecht, kann nicht stolpern“ würden Mitarbeiter ihre Haltung zum Ausdruck bringen. Arbeitsabläufe, so die Kritik, würden nicht zu einer höheren Effizienz beitragen, sondern endeten in einem „Irrgarten der Sinnlosigkeit“. Führungskräfte ohne Eignung würden „auf den Chefsesseln dilettieren“, ohne dass es groß zu stören scheine. In Meetings ginge es nicht um die Klärung von Sachfragen, sondern es würden sinnlose Machtkämpfe ausgetragen, in denen alle nur an Vorteilen für ihre eigenen Abteilungen interessiert seien.4

Bei allem berechtigten Kopfschütteln über den wahrgenommenen alltäglichen Irrsinn in Organisationen verkennen diese Beschreibungen jedoch die tiefer liegende Rationalität dahinter: Die Wahrnehmung von Chefs als Dilettanten gehört zur Realität vieler Organisationen, doch Angestellte finden in der Regel geeignete Mittel, um diese geschickt zu „unterwachen“. (→ Führungskräftebeschimpfung) Machtkämpfe zwischen Abteilungen mögen von außen betrachtet irrational wirken, führen aber häufig dazu, dass in einer Organisation überhaupt etwas vorangeht. (→ Macht) Kurz: Oftmals sind es gerade die informalen Abweichungen von den formalen Regeln, die kreative Interpretation bestimmter Vorgaben oder die Versuche, eine Idee notfalls auch auf Kosten anderer Abteilungen durchzusetzen, welche die Organisation am Laufen halten.

Angesichts dieser auffälligen Diskrepanz zwischen der formalen und informalen Seite von Organisationen lässt sich immer öfter eine Flucht in klangvolle Konsensformulierungen beobachten. Es wimmelt nur so von Bekenntnissen zu einem „wertschätzenden Umgang“, einer „authentischen Führung“, einer „partizipativen Entscheidungsfindung“, einem „ganzheitlichen Management“, einer „aufrichtigen Kommunikation“ oder einer „vertrauensvollen Zusammenarbeit“. (→ Partizipation → Vertrauen) Der Drang zu solch wohlklingenden Werteformulierungen ist mehr als nachvollziehbar, haben diese doch eine wichtige Beruhigungsfunktion. (→ Wertschätzung → Authenzitität) Die in Leitbildern, Managementkonferenzen und Imagevideos zelebrierten Bekenntnisse zu ihnen halten schließlich die Hoffnung aufrecht, dass es inmitten des ganz formalen Wahnsinns einige verlässliche Haltepunkte gibt. (→ Leitbilder → Werte)

Nicht selten sind die lautstärksten Verkünder dieser Prinzipien Berater, Coaches und Trainer, die als Selbstständige unterwegs sind, ihre eigenen Kleinorganisationen führen oder in einem Netzwerk von Ein-Personen-Unternehmern aktiv sind. Für sie ist allein aufgrund ihrer Tätigkeitsform naheliegend, dass sie sich mit dem Zweck ihrer Berufung identifizieren, einen Sinn in ihrem Wirken sehen und stark an ihren Entscheidungen partizipieren. Dabei begehen sie allerdings den Fehler, dass sie das, was sie selbst in ihrer Klein- oder Kleinstorganisation leben und erleben, für größere Organisationen hochskalieren wollen. (→ Wachstumsschmerzen)

Sicherlich, der Aufbau und die Pflege einer Schauseite haben für Organisationen wichtige Funktionen. Organisationen sind mit widersprüchlichen Anforderungen ihrer Umwelt konfrontiert, müssen aber trotzdem ein konsistentes Bild abgeben. Dabei helfen der Aufbau und die Pflege einer aus konsensfähigen Werten bestehenden Schauseite. Diese bietet der Organisation Schutz: Sie dient dazu, Außenstehenden den Einblick zu verwehren, um in Ruhe Entscheidungen vorbereiten zu können, mögliche Konflikte vor der Außenwelt zu verbergen oder Fehler und Peinlichkeiten zu verheimlichen.5

15Deswegen wird von Mitarbeitern akzeptiert, dass Organisationen sich im Vokabelkasten des aktuellen Managementdiskurses bedienen, um eine attraktive Fassade aufzubauen. Das Klappern mit Modebegriffen gehört selbstverständlich zum Managementhandwerk dazu. (→ Managementmoden) Wenn aber die Führungskräfte anfangen, die Schauseite allzu sehr mit der Realität der Organisation zu verwechseln, ist der Effekt nicht selten erheblich. Schließlich muss dann nicht mehr nur die Diskrepanz zwischen informaler und formaler Seite gemanagt, sondern gleichzeitig auch noch der übermäßige Kontrast zwischen Außendarstellung und alltäglich erfahrener formaler und informaler Realität bearbeitet werden. Die allzu lebhaften Bekenntnisse zu Wertschätzung, Authentizität, Partizipation, Ganzheitlichkeit, Aufrichtigkeit und Vertrauen können dann eine kontraproduktive Wirkung entfalten. (→ Zynismus)

Wie müssen aus dieser Perspektive die Verbesserungsvorschläge von Managern und Beratern eingeschätzt werden, mit denen heutzutage jede Organisation überzogen wird?

Über (Gegen-)Sprichwörter des Managements

Wenn man Managementschriften liest, fühlt man sich nicht selten an die Bücher erinnert, die allabendlich in den Kinderzimmern vorgelesen werden. Gearbeitet wird mit einfachen Schwarz-Weiß-Schemata – hierarchische Fremdsteuerung versus teambasierte Selbststeuerung; Weisungen von oben versus gemeinsame Vereinbarungen; zweckorientierte Formalstruktur versus wertebasierte Organisationskultur; geteilte Einheiten versus kooperierende Zellen; zentralisierte Verantwortlichkeit versus dezentralisierte Verantwortung; starres Management versus flexible Führung oder gedankenlose Anpassung versus agile Haltung. Angesichts der simplen Gegenüberstellungen muss man nicht lange überlegen, mit welcher Seite man sich zu identifizieren hat.

Die Vorzüge solch simpel gebauter Kontraste dürfen nicht unterschätzt werden. Man kann sicher sein, dass die kognitiven Fähigkeiten der Rezipienten auf diese Weise nicht überfordert werden. Es lassen sich übersichtliche Tabellen bauen, in denen das Böse dem Guten gegenübergestellt und damit ein schneller Konsens für das Richtige hergestellt werden kann. Damit einhergehend lassen sich leicht zugängliche Storys konzipieren, in denen der mühsame, aber hochbefriedigende Weg in Richtung Erleuchtung nachgezeichnet werden kann. (→ Fortschritt) Der Nachteil dieser einfachen Kontrastierungen ist allerdings, dass sie mit dem organisationalen Alltag nichts zu tun haben.

Schon vor etlichen Jahrzehnten hat der Organisationstheoretiker und Wirtschaftswissenschaftler Herbert A. Simon darauf aufmerksam gemacht, dass die landauf, landab verkündeten Prinzipien des Managements wie Sprichwörter funktionieren.6 Für jedes Sprichwort, das eine Weisheit bekannt gibt, lässt sich eine gleichermaßen einleuchtende Redensart finden, mit der genau das Gegenteil belegt werden kann. Die Aussage „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ überzeugt nicht weniger als die Feststellung „Gegensätze ziehen sich an“; „Jeder ist seines Glückes Schmied“, doch „Zusammen sind wir stark“. Zugegeben: „Wer rastet, der rostet“, aber wir wissen auch, dass in „der Ruhe die Kraft liegt“.

Auf ähnliche Weise lässt sich für jede Binsenweisheit, die ein Managementberater verkündet, die Binsenweisheit eines anderen, manchmal sogar desselben Managementberaters finden, welche das genaue Gegenteil empfiehlt. So wird zum einen eine Diversifizierung der Angebote 16gefordert, um die Risiken zu streuen, aber zeitgleich wird auch eine Konzentration auf das Kerngeschäft verlangt. Auf der einen Seite erklingt der Wunsch danach, dass Führungskräfte Verantwortung nach unten abgeben sollen, auf der anderen Seite soll sichergestellt werden, dass im Notfall schnelle Entscheidungen getroffen werden können.7 Mit dem Spruch „vier Augen sehen mehr als zwei“ wird ein Loblied auf Teams gesungen, doch im nächsten Atemzug wird auf die Verantwortungsdiffusion hingewiesen, wenn es heißt, dass „viele Köche den Brei verderben“ würden.8 Die Gemeinsamkeit dieser Vielzahl von Floskeln liegt in dem Umstand, dass in allen Fällen beide Perspektiven zuerst einleuchtend klingen, sich diese Prinzipien in der Realität allerdings widersprechen.9

Letztlich gibt es also keine Beschreibung von Organisationen, ohne dass nicht gleich von und für Praktiker eine Lösung angeboten wird: In Organisationen müssten, so die Aussage, zwei sich eigentlich widersprechende Pole zur gleichen Zeit entfaltet und auf einer höheren Ebene miteinander vereinbar gemacht werden. Es wimmelt nur so von Formulierungen wie „kontrollierte Autonomie“, „geführte Selbststeuerung“ oder „gemanagte Selbstorganisation“, die versprechen, konträre Grundsätze miteinander zu vereinbaren. Das Fremdwort „Ambidextrie“ – die Vereinbarkeit widersprüchlicher Prinzipien – geht inzwischen vielen Managerinnen und Managern problemlos über die Lippen.10

So weit, so gut. Durch die Proklamierung einer Vereinbarung des Unvereinbaren wird allerdings ein zentraler Effekt von Entscheidungen in Organisationen abgedunkelt: Jede Entscheidung in jeder Organisation bringt, allen positiven Wirkungen zum Trotz, zwangsläufig auch immer problematische Nebeneffekte mit sich. (→ Entscheidungen) Die konsequente Verschlankung der Prozesse hat zur Folge, dass man für außergewöhnliche Ereignisse keinen Puffer hat. Die Einforderung und Durchsetzung von Regeltreue führen dazu, dass Organisationen nicht situativ auf etwaige Ereignisse reagieren können. (→ Compliance) Kurz: Egal, wie man sich entscheidet, man kann sicher davon ausgehen, dass sich ungewollte Nebenfolgen ausbilden.11

Das bedeutet, dass man bei jeder, nach langer Überlegung getroffenen Entscheidung mit guten Gründen auch genau das Gegenteil hätte bestimmen können. Man hat sich zwar auf eine klare Strategie festgelegt, doch vielleicht hätte man sich angesichts der sich schnell ändernden Umweltbedingungen nicht allzu sehr festlegen sollen.12 Man hat mit guten Argumenten entschieden, der Empfehlung aus dem Qualitätsmanagement „First time right counts“ zu folgen, nur um dann festzustellen, dass ein „Just do it, and then keep figuring out how to do it better“ genauso plausibel gewesen wäre.13 Letztlich kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass es für die Selbstsicherheit, die in der Managementliteratur verbreitet wird, keine überzeugenden Gründe gibt.

17Wider den Neuigkeitsdramatisierungen

Neue Managementkonzepte werden häufig mit großem Brimborium in den Organisationen verkündet. Jedes neue Programm wird dabei als eine „einzigartige Disruption“ in der Art des Organisierens verkauft.14 Die neuen Managementideen werden den alten Strukturen gegenüber als ein „fundamentales Upgrade“ präsentiert. Jede noch so kleine Modifikation wird als eine bis dahin nie dagewesene „Revolution“ beschrieben.15(→ Disruption)

Ein solcher Drang zur Dramatisierung wirkt auf den ersten Blick durchaus verständlich. Gerade Manager, die neu in eine Organisation eintreten, sehen sich gezwungen, durch zumindest begriffliche Innovationen zu zeigen, dass sie die Dinge anders – und vor allem: erfolgreicher – angehen als ihre Vorgänger. Berater konkurrieren mit anderen Beratern nicht nur um Kunden, sondern auch um die Meinungsführerschaft über Organisationskonzepte. Journalisten mögen zwar durchschauen, dass es sich bei vielen propagierten Managementkonzepten lediglich um die sprachlich aufgemotzte Variante eines bereits seit langer Zeit bekannten Gedankens handelt, stehen aber unter dem Druck, ihren Leserinnen und Lesern originelle Meldungen zu verkaufen. Auf diese Weise tragen sie letztlich immer wieder dazu bei, eine lediglich neu angemalte Sau durch die organisationalen Dörfer zu treiben.16(→ Managementmoden)

Man muss Respekt vor der Kreativität haben, mit der im Managementdiskurs neue Ausdrücke für die eigentlich immer gleichen Phänomene gefunden werden. Erst durch diese rhetorische Erfindungsgabe ist es überhaupt möglich, vergessen zu lassen, dass man die Einführung eines aktuell heiß gehandelten Konzeptes vor zehn und häufig auch schon vor zwanzig Jahren bereits unter einem anderen Synonym versucht hat. Natürlich könnte man einwenden, dass die Erfindung neuer Begriffe für etwas eigentlich Bekanntes das in Organisationen vorhandene Wissen über dessen Vor- und Nachteile vernichte, aber dieser Vorbehalt geht von der naiven Vorstellung aus, dass es in Organisationen vorrangig (oder überhaupt) aufs Lernen ankomme.17(→ Evaluation → Lernen)

Trotz der Anerkennung für die Erfindung neuer Bezeichnungen und deren Funktionen werde ich versuchen, den Drang zur Neuigkeitsdramatisierung an dieser Stelle nicht mitzumachen. Alle zentralen Maximen, nach denen Organisationen ausgerichtet werden können, so die Beobachtung des Managementforschers Peter F. Drucker, sind schon vor über hundert Jahren identifiziert worden. Sämtliche Moden und Konzepte, die seit dieser Phase propagiert wurden, sind lediglich kleinere Variationen und Erweiterungen von seit langer Zeit bekannten Prinzipien zur Ausrichtung von Organisationen.18(→ Agilität)

Trotz dieses gemeinhin zur Verfügung stehenden Wissens ist aber eins klar: Organisationen werden sich in der Regel nur schwer aktuell gehandelten Managementmoden entziehen können. Wenn gerade alle auf diskursive Klingeltöne wie Agilität, Digitalität, Elastizität, Mobilität oder Vitalität reagieren, muss man solchen Trends zumindest oberflächlich Folge leisten, um 18nicht an Legitimität zu verlieren.19 Einen echten Mehrwert in diesem Zusammenhang bietet das Verständnis darüber, wie solche Managementmoden entstehen, wie sie am Leben gehalten werden, wie sie vergehen und – für Praktikerinnen und Praktiker besonders relevant – wie man sie für eigene Vorhaben nutzen kann.

Zuspitzungen als Zumutungen

Die eine oder andere hier vorgestellte Überlegung wird von den Leserinnen und Lesern als provozierend empfunden werden. Was treibt einen Organisationswissenschaftler dazu, schwerwiegende Regelbrüche, die nicht selten die Existenz von Organisationen gefährden können, als „brauchbare Illegalität“ zu bezeichnen? (→ Regelbruch) Wie kann man nur auf die Idee kommen, die „Heuchelei“ als notwendige Überlebensstrategie von Organisationen zu beschreiben? (→ Heuchelei) Wie kann man nur zu der Ansicht gelangen, dass die Funktionen von Coachings vorrangig in der Ermöglichung von „Auskühlungszeiten für Versager“ oder in der Schaffung von „Ersatzbefriedigungen für Personen ohne Aussicht auf ein Weiterkommen“ seien? (→ Auskühlung → Coaching)

Dieses Gefühl der Überraschung, Irritation oder sogar Provokation hängt mit der Art und Weise zusammen, mit der Organisationswissenschaftler – besonders wenn sie von der soziologischen Systemtheorie inspiriert sind – an ihren Untersuchungsgegenstand herangehen. Sie fertigen distanzierte Fremdbeschreibungen von Organisationsphänomen an, die mit den Selbstbeschreibungen, die die sozialen Systeme von sich anfertigen, nicht abgestimmt sind. Die organisationswissenschaftliche Herangehensweise unterscheidet sich somit an dieser Stelle ganz grundlegend von der von Managern oder Beratern, die notgedrungen Rücksicht auf die von ihnen beschriebenen Einrichtungen nehmen müssen. (→ Systemisches)

Zwar stehen auch Berater und Manager nicht selten unter dem Druck, der Organisation etwas Neues bieten zu müssen. Sie müssen aber ihre Überraschungen in der Regel so verpacken, dass sie sich positiv auf die offiziellen Selbstbeschreibungen der Organisationen beziehen. Bei aller offen ausgesprochenen Kritik, die sie sich leisten können, muss immer das Versprechen mitgeführt werden, dass das Gesagte und Gedachte der Organisation unmittelbar weiterhelfen kann. Von diesem Anspruch sind Organisationswissenschaftler – jedenfalls wenn sie den Anspruch an die Wissenschaftlichkeit ernst nehmen – befreit. (→ Wissenschaftsgläubigkeit)

Es ist geradezu das Qualitätskriterium einer Organisationswissenschaft, Beschreibungen anzufertigen, die nicht in den offiziellen Selbstbeschreibungen der Organisationen existieren. Das Schlimmste, was einem als Organisationswissenschaftlerin oder Organisationswissenschaftler passieren kann, ist, wenn man lediglich in semantisch elaborierter Form nacherzählt, was die Praktiker bei offiziellen Anlässen die ganze Zeit von sich geben. In einem solchen Fall bliebe jeglicher Mehrwert in Form einer zusätzlichen Perspektive aus, da lediglich die ohnehin bereits vorherrschenden und für jeden einzusehenden Selbstbeschreibungen in sprachlich aufgemotzter Form dupliziert werden würden.

Aber obwohl der eine oder andere von Organisationswissenschaftlern formulierte Gedanke als irritierend empfunden werden kann, versteckt sich hinter jeder Idee und Beobachtung dieser Art der zugrunde liegende Anspruch, den Gegenstand „Organisation“ angemessener 19zu beschreiben, als es die übliche Managementliteratur tut. Dahinter befindet sich weiterhin ein enormer Respekt vor dem Wissen von Praktikern, die außerhalb von Führungskräftekonferenzen, Change-Seminaren und Managementverlautbarungen häufig in der Lage sind, sehr präzise Darstellungen über die Funktions- und Vorgehensweisen ihrer Organisationen zu geben. Vieles, das man in vertraulichen Zweiergesprächen erfährt, widerspricht grundlegend der Schauseite der Organisation, ist aber gerade deswegen gar nicht so weit von dem entfernt, wie die Organisationsforscher diese Phänomene beschreiben würden.

Hinter dem Anspruch einer zutreffenderen Beschreibung liegt der Provokationsgehalt organisationswissenschaftlicher Ausführungen. Organisationswissenschaftler wären die Ersten, die Verständnis dafür hätten, wenn solche Schilderungen von den Beschriebenen zurückgewiesen werden würden.20 Egal, ob Organisationswissenschaftler agile Organisationsformen, die Missbrauchsfälle in der Kirche, etwaige Effekte gruppendynamischer Trainings oder die Gräueltaten aus den Vernichtungslagern in der NS-Zeit beschreiben – wenn die organisationswissenschaftlichen Beschreibungen, aus welchen Gründen auch immer, nicht überhört werden können, schützt sich das System mit klassischen Immunisierungsformeln wie „Sie haben das selbst ja noch nicht am eigenen Leib erlebt“, „Sie sind ja damals nicht dabei gewesen“ oder „Das verstehen Sie erst, wenn Gott einmal direkt zu Ihnen gesprochen hat“.21

Aber auch wenn Organisationswissenschaftler Fremdbeschreibungen anfertigen, die mit den offiziellen Selbstbeschreibungen inkompatibel sind, bedeutet das nicht, dass sie ihre für Praktiker ketzerisch wirkenden Charakterisierungen nicht auch situationsbezogen dosieren können. (→ Tabus) In Beratungssituationen brauchen die durch eine organisationswissenschaftliche Perspektive geprägten Organisationsberater – genauso wie alle anderen Konsultanten auch – eine vertrauensvolle Auftraggeber-Auftragnehmerin-Beziehung. (→ Wertschätzung) Die Fremdbeschreibungen werden deswegen in der Regel in homöopathischen Dosen eingebracht, weil sonst jede Intervention sofort durch das Immunsystem der Organisation abgestoßen zu werden droht. In Workshops mit Berufsverbänden von Beratern oder Managern kann es daher durchaus sinnvoll sein, die organisationswissenschaftlichen Einsichten durch die Nutzung von Sprachfiguren wie „autopoietische Prozesse“, „Selbst- und Fremdreferenz“ oder „Form-Medien-Unterscheidungen“ zu kaschieren, weil sonst deren Selbstbild zu stark erschüttert werden könnte. Indes kommt es gerade in Veröffentlichungen, Vorträgen oder Podcasts, die sich an ein allgemeines Publikum richten, darauf an, den überraschenden organisationswissenschaftlichen Gedanken zu dem insbesondere für Praktiker vermeintlich vertrauten und bekannten Phänomen in zugespitzter Form herauszuarbeiten.

Leserinnen und Leser seien also gewarnt: Der Anspruch, organisationswissenschaftliche Ideen in einer verständlichen Weise vorzustellen, setzt die Bereitschaft voraus, sich mit in vielen von den üblichen Darstellungsformen in der Managementliteratur abweichenden Beschreibungen auseinanderzusetzen. Praktikerinnen und Praktiker, die eher auf der Suche nach der Bestätigung von normalerweise im Managementdiskurs bereits Gedachtem und Gesagtem aus sind, sei von der Lektüre dieses Buches abgeraten. Sie würden sich zu sehr ärgern.

20#1 Agilität

… und täglich grüßt das Murmeltier

Eine Zeit lang gehörte es zum guten Stil, dass Manager an ihre Unternehmen, Verwaltungen, Armeen oder Universitäten die Forderung nach mehr „Agilität“ stellten. Berater setzten das Wort „agil“ vor jedes nur irgendwie in der Managementliteratur verwendete Nomen. Es war die Rede von „agiler Projektentwicklung“, „agiler Prozesssteuerung“, „agiler Organisationsentwicklung“, „agilem Qualitätsmanagement“ oder „agiler Führung“. Der Fantasie bei der Verwendung des Begriffs schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Aber was verbirgt sich hinter diesem einst so gefeierten Begriff der Agilität?

„Unter Agilität“ wurde, so eine typische Definition, „die Fähigkeit einer Organisation verstanden, sich kontinuierlich an ihre komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen.“ „Für ein Unternehmen bedeutet Agilität“, so die Logik, „die Fähigkeit, in einer Wettbewerbsumgebung gewinnbringend zu operieren, die charakterisiert ist durch ständige, aber unvorhersehbare, sich ändernde Kundenwünsche.“ Von großer Wichtigkeit sei dabei ein „agiles Mindset“ aller Mitarbeiter, welches einen „wertschätzenden Umgang“, „eine Begegnung auf Augenhöhe“ ermögliche.22 (→ Haltung)

Solche Definitionen für Agilität lösen das Gefühl spontaner Zustimmung aus. Welche Vorgesetzten würden mit Ablehnung reagieren, wenn gefordert wird, dass sich ihre Organisation einer komplexen, turbulenten und unsicheren Umwelt anpassen sollte? Welcher Manager würde sich gegen die Fähigkeit aussprechen, in einer sich ständig wandelnden „Wettbewerbsumgebung zu operieren“? Welche Mitarbeiter würden nicht dafür plädieren, dass es in ihrer Organisation auf einen „wertschätzenden Umgang“ und auf „Begegnungen auf Augenhöhe“ ankäme? Die fast schon automatisch vonstattengehende Akzeptanz dieser Phrasen wurde letztlich durch eine mehr oder minder gut kaschierte Banalität erkauft.

Bei der Auseinandersetzung mit Agilität ist es möglich, ein einfaches Testverfahren anzuwenden, um den Gehalt der Oberflächlichkeit von Managementempfehlungen zu bestimmen: Mit solch Banalitäten haben wir es immer dann zu tun, wenn sich aus der Negation der Empfehlung eine nicht in Betracht kommende Alternative ergibt.23 Wenn der selbst ernannte Managementguru Stephen R. Covey beispielsweise empfiehlt, proaktiv auf Überraschungen zu reagieren, erkennt man die eigentliche Inhaltslosigkeit der Empfehlung durch deren Negation. Es spricht nämlich wenig dafür, sich von Überraschungen überraschen zu lassen. Genauso hat er recht, wenn er vorschlägt, die wichtigste Sache zuerst zu erledigen – schließlich scheint uns die Empfehlung, die wichtigsten Sachen bis zum Ende aufzuheben, als wenig hilfreich.24 (→ Werte)

21Beim Hype um die Agilität konnte man die Grundstruktur beobachten, die den meisten Managementmoden der letzten Jahrzehnte zugrunde lag. Bei einer Managementmode wird ein für einen einzelnen Bereich oder eine einzige Abteilung des Unternehmens sinnvolles Prinzip zu einem Schlüsselkonzept für die ganze Organisation erklärt. Der in vielen Fällen plausible Gedanke, in Teams, in der Entwicklung, der Fertigung, der Montage oder des Vertriebs auf einen Vorgesetzten zu verzichten, wurde in Konzepten der agilen Organisation zum Prinzip für die Gesamtstruktur „hochgejazzt“. Die schlüssige Idee der agilen Softwareentwicklung, statt eines über Monate oder gar Jahre andauernden Planungsprozesses nur noch von Woche zu Woche Ziele für die Softwareentwicklung zu vereinbaren, wurde im Konzept der agilen Organisation als Leitidee für das ganze System ausgegeben. (→ Managementmode)

Je breiter das im Anwendungsfall der agilen Softwareentwicklung konkret ausdefinierte Konzept gefasst wurde, desto unspezifischer wurde es allerdings. Irgendwann wurde das Modell der agilen Organisation nur noch vorrangig auf abstrakte Prinzipien wie „Mut“, „Fokus“, „Leidenschaft“, „Respekt“ und „Offenheit“ zurückgeführt. Die Grundidee wurde auf eher wolkige Maximen wie „Pioniergeist“, „Vertrauen“, „Selbstverantwortung“, „Kollaboration“ und „Lernbereitschaft“ reduziert.

Entkleidet man das Konzept von den nach Zustimmung heischenden Wohlfühlformeln, bleiben letztlich drei zentrale Prinzipien übrig: Erstens ist die Auflösung strikter Grenzen zwischen den Silos der Organisation zu beobachten, wodurch die Zusammenarbeit über Abteilungen hinweg einfacher gemacht wird. Alternativ wird von vornherein ganz auf die Bildung fester Ressorts verzichtet. Zweitens findet eine damit einhergehende Rücknahme der hierarchischen Grundstruktur der Organisation (bis hin zu ihrer kompletten Abschaffung) statt. Schließlich ist auch noch der Verzicht auf eine starke Formalisierung der Organisation zu nennen. Letzteres geschieht in der Hoffnung, dass sich durch die damit einhergehende Selbstorganisation effizientere und effektivere Abstimmungsverfahren ausbilden.25

Für die Auflösung von Abteilungen, die Reduzierung von Hierarchien oder die Rücknahme formaler Steuerung mag in konkreten Situationen einiges sprechen, aber das, was unter dem Label der „agilen Organisation“ serviert wurde, war kalter Kaffee. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden die Prinzipien unter den Namen „synthetische Organisation“, „organische Form des Unternehmens“, „temporäres System“, „Adhocratie“ oder „Flex-Firma“ propagiert. In den 1980ern und 1990ern wurden für die gleichen Ideen dann Begriffe wie „integrativ-innovatives System“, „multizellulare Organisation“, „intelligente Organisation“, „fraktale Unternehmung“ sowie „modulare Organisation“ prominent gemacht. Anschließend wurden Bezeichnungen wie „grenzenlose Organisation“, „zentrumslose Unternehmung“, „kollaborative Organisation“, „horizontales System“ oder „selbstmanagende Organisation“ attraktiv. Die Popularisierung der angesprochenen Prinzipien unter „agiler Organisation“ war also lediglich eine weitere Volte in der Erfindung neuer Namen für das (fast) immer Gleiche.26

22#2 Aktionspläne

Die Suggestion von Handlungsorientierung

„Wer macht was mit wem bis wann“ – an diesen Festlegungen am Ende eines Workshops wird häufig der Erfolg eines Zusammentreffens bemessen. Change-Manager, die die Ergebnisse nicht in Aktionslisten gegossen haben, handeln sich unterdessen Kritik ein, denn Tätigkeitslisten und Aktionspläne signalisieren allen Beteiligten, dass nicht nur „gequatscht“ wurde, sondern auch, dass man über eine systematische Ergebnissicherung den Transfer der Gruppengespräche ins Alltagsgeschäft sichergestellt hat. (→ Businesspläne)

Die regelmäßig zu hörende Klage lautet jedoch, dass Tätigkeitslisten oft nicht in die Praxis umgesetzt würden: Die Aufgaben würden zu generell formuliert, das spätere Abchecken der Listen werde vergessen und Aufgaben würden nur zu dem Zweck erledigt, um in der nächsten Workshoprunde signalisieren zu können, dass man etwas gemacht habe.

Probleme bei der Verfolgung von Tätigkeitslisten und Aktionsplänen werden häufig auf eine mangelnde Veränderungskultur in Organisationen, fehlenden Durchhaltewillen des Managements oder handwerkliche Ungeschicklichkeiten bei der Erstellung der Tätigkeitslisten zurückgeführt. Alles wird als Ursache für die Wirkungslosigkeit der To-do-Listen herangezogen – einzig der Zweck dieser Listen wird nicht infrage gestellt. Die Idee und das Konzept seien gut, lediglich die Praxis lasse zu wünschen übrig.

Für Change-Manager ist diese Erklärung dankbar, können sie die fehlerhafte Praxis als Auftrag zu immer neuen Perfektionierungsversuchen dieser doch so wichtigen Tätigkeitslisten verstehen. Sicherlich ist solch ein ewiger Beschäftigungsauftrag für Berater, Personaler und Weiterbildner finanziell interessant, aber es ist fraglich, ob die hinter den Tätigkeitslisten liegende Dimension wirklich erfasst wird.

Die Organisationswissenschaftler Michael Cohen, James March und Johan Olsen haben festgestellt, dass Handlungen in Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten selten das Ergebnis systematischer Überlegungen, Planungen und Vereinbarungen sind. Viel häufiger komme es vor, dass Aktionen Resultate zufälligen Zusammentreffens von Problemen, von im Raum schwirrenden Lösungen und von interessierten Akteuren seien. Die Anschaffung einer neuen Maschine resultiere nicht aus einer langen, systematischen Investitionsvorbereitung, sondern sei das Ergebnis zufällig vorhandener Mittel, und die Schaffung eines neuen Postens sei keine Folge eines neu entstandenen Aufgabenprofils, sondern diene dazu, einen vorhandenen, altbewährten Mitarbeiter von zentralen Stellen des Unternehmens zu entfernen.27 Der Clou dieses Denkens ist, dass es die Chaotik, Sperrigkeit und Komplexität von Entscheidungsprozessen in Organisationen so beschreibt, wie sie sind, ohne diese im Stil der meisten Managementratgeber allzu schnell mit einem stringenten, zielorientierten Idealmodell zu kontrastieren.

23Derweil hängt die Popularität der Tätigkeitslisten mit der Handlungsorientierung von Managern zusammen. Schließlich gilt das „Do it“ als Ausdruck eines guten Managementstils. Für Berater, Projektleiter und Veränderungsmanager ist die Erstellung von Aktionsplänen ein einfacher Mechanismus, um das organisatorische Glaubensbekenntnis der Handlungsorientierung zu pflegen.28

Man braucht als Berater, Projektmanager oder Change-Manager nicht auf Aktionspläne zu verzichten. Bloß – und das ist der zentrale Gedanke –sollte man nicht enttäuscht sein, wenn viele Tätigkeitslisten im Unternehmen nicht in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Es ist wie mit den Glaubensbekenntnissen in der Kirche, die sehr häufig ebenfalls folgenlos bleiben, aber natürlich trotz (oder auch in) ihrer Folgenlosigkeit wichtige Funktionen für das religiöse Leben erfüllen.

Aktionspläne erfüllen stattdessen ganz andere Funktionen als die offiziell propagierten. Erst indem man signalisiert, dass man sich über konkrete Handlungen unterhält, findet in Diskussionen Verständigung statt. (→ Verständigung) Solange nicht die Drohung im Raum steht, dass das, was diskutiert wird, auch Konsequenzen haben könnte, sehen Mitarbeiter nämlich nicht die Notwendigkeit, sich wirklich ernsthaft miteinander auseinanderzusetzen. Nur durch die mit Aktionsplänen symbolisierte Warnung „Es könnte auch ernst werden“, werden Diskussionen nicht zu reinen Scheingefechten. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass in der Regel diese Verständigungen das Ergebnis der Diskussionen selbst und nicht die Folge der Aktionspläne sind, die häufig ihre wohlverdiente Ruhe in den Schubladen der Organisationen genießen. Aktionspläne haben ihre Schuldigkeit in der Regel bereits getan, bevor sie überhaupt in Aktionen umgesetzt werden.

Nur durch die mit Aktionsplänen symbolisierte Warnung „Es könnte auch ernst werden“, werden Diskussionen nicht zu reinen Scheingefechten.

24#3 Auskühlung

Über das Management von Erwartungen in Organisationen

Die Aussicht auf Aufstieg ist ein zentrales Motiv dafür, dass sich Personen über das formal Erwartete hinaus engagieren. Der Ausblick auf eine studentische Hilfskraftstelle kann Studierende dazu motivieren, sich bei einzelnen Lehrenden besonders ins Zeug zu legen. Die Hoffnung auf eine Karriere in einem Unternehmen kann Mitarbeiter dazu verleiten, Aufgaben zu übernehmen, die laut Stellenbeschreibung nicht vorgesehen sind.

Diese Motivationswirkung von in Aussicht gestellten Aufstiegen kann strategisch eingesetzt werden. Eine Dozentin lobt einen Studenten, der vielleicht noch gar nichts von seinen Fähigkeiten ahnt, und stellt die Unterstützung bei seiner wissenschaftlichen Karriere in Aussicht, um weitere Leistungssteigerungen zu motivieren. Die Vorgesetzte in einem Unternehmen weist ihre Mitarbeiterin, die vielleicht erst einmal nur auf der Suche nach einem gut bezahlten Job war, auf die verschiedenen Karrierestufen innerhalb der Organisation hin und erzeugt so einen zusätzlichen Ansporn. In der Soziologie wird dieses Phänomen der Weckung von Leistungsmotivation bei Personen, die sich ihres Potenzials selbst nicht bewusst waren, als „Aufwärmung“ bezeichnet.29

Das Problem ist jedoch, dass es nicht nur hilfreich sein kann, Erwartungen zu wecken, sondern es nicht selten auch nötig ist, diese zu enttäuschen.30 Wir kennen das aus dem Alltag. Gewiefte Trickbetrüger wissen, dass sie nach einem erfolgreichen Betrug ihre Opfer nicht allein lassen sollten. Sie lassen daher einen sogenannten „Cooler“ beim Opfer, der versucht, das Opfer an seinen Verlust zu gewöhnen und allzu heftige Reaktionen zu verhindern.31 In Nachtclubs und Singletreffs kann man beobachten, wie Frauen – und zunehmend auch Männer – Strategien entwickeln, um Verehrer auszukühlen. Diese Auskühlungsstrategien können von Verweisen auf einen festen Freund, dem folgenlosen Hinterlassen von (meistens falschen) Telefonnummern bis hin zu der plötzlichen Entdeckung der eigenen Homosexualität reichen, weil gerade diese als ein akzeptiertes Ablehnungsmotiv für andersgeschlechtliche Wesen gilt.32 Die „Henkersmahlzeit“ oder die „letzte Zigarette“, die einem zur Todesstrafe verurteilten Häftling vor der Exekution angeboten wird, hat eine ähnliche Funktion. Dadurch, dass der Todeskandidat die Mahlzeit oder Zigarette annimmt, wird der Delinquent an die Akzeptanz des Urteils herangeführt.33 Techniken, um Personen an unangenehme Entscheidungen zu gewöhnen, hat der Soziologe Erving Goffman mit dem Begriff der „Auskühlung“ bezeichnet.34

25In Organisationen werden Mechanismen der Auskühlung systematisch dafür genutzt, um eine Trennung von Mitgliedern vorzubereiten. Outplacement-Berater sowie Organisations-Coaches haben die Aufgabe, über Beratungsgespräche Halt zu bieten. Der zu Entlassende freundet sich in den Beratungsgesprächen langsam mit der Trennung von der Organisation an und sein Widerstand und Widerwille gegen diese Entlassung wird so erfolgreich kleingearbeitet. (→ Kündigung)

Durch die Einrichtung von speziellen Interaktionsformaten wird zu verhindern versucht, dass das Phänomen der Entlassung in Form von unerwünschten Besuchen des Entlassenen am Arbeitsplatz, des Überziehens der Organisation mit Arbeitsrechtsprozessen oder der besonders in den USA berühmt-berüchtigten waffenunterstützten Amokläufe in die Organisation zurückgespielt wird.35 Für den zu Entlassenden wird ein „Würdeasyl“ geschaffen und so verhindert, dass der Entlassene seine Wahrnehmungen, Eindrücke und Gefühle in allzu deutlicher Form mit seinen ehemaligen Kollegen teilt.36

Das Problem ist, dass es nicht nur hilfreich sein kann, Erwartungen zu wecken, sondern es nicht selten auch nötig ist, diese zu enttäuschen.

26#4 Authentizität

Zur Produktion von Ich-Befangenheit in Organisationen

Die Forderung nach Authentizität ist im Managementdiskurs und in der Wirtschaftspresse kaum noch zu überhören. Organisationen wollen als Mitarbeiter „Typen, nicht Stereotypen“, „Leute, die sich treu bleiben“, „sich nicht verbiegen lassen“ und „morgens noch in den Spiegel schauen können“.37 Angestellte sollen sich, so der Gedanken, als Erstes selbst erkennen, sich authentisch verhalten und auf diese Weise auch andere auf ihrem Weg zu einem authentischen Verhalten unterstützten.38

Was steckt hinter dieser auffälligen Zelebrierung von Authentizität? Es verlangt nach einer Erklärung, dass man bei – sagen wir mal – Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften in der Regel nicht auf den Gedanken kommt, ein „authentisches“ Verhalten zu verlangen, während die Forderung nach Authentizität bei Managern, Politikern oder Beratern selbst bei akuter Schwerhörigkeit nicht zu überhören ist.39

Bei der Forderung nach Authentizität geht es offenbar um die Differenz von Rolle und Person in Organisationen. Von Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften scheint die Vorstellung zu herrschen, dass die Rolle so geringe Darstellungsmöglichkeiten für die Personen beinhaltet, dass sich die Frage nach Authentizität im Verhalten gar nicht erst stellt. Derweil beinhalten die Rollen von Managern, Politikern oder Beratern so viele individuelle Darstellungsoptionen für die sie ausfüllenden Menschen, dass es durchaus möglich ist, persönliche Noten zu setzen.

Die Sorge der Authentizitätsanhänger scheint hier zu sein, dass sich Personen aufgrund der Rollenanforderung zu sehr verbiegen, aber vielleicht sollte man an dieser Stelle das Loblied der „strategischen Kommunikation“ anstimmen. Vieles spricht dafür, dass die Qualität der Arbeit in Organisationen nicht so sehr von der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit der Mitglieder in der Organisation abhängt. Entscheidend ist vielmehr die Professionalität, mit der Mitarbeiter ihre Rollen ausüben.40 Zu dieser Professionalität in der Rollenausübung gehört unter anderem die Fähigkeit, sein eigenes Verhalten an der einen oder anderen Stelle zu dramatisieren. Die Chirurgin, der Geigenspieler oder die Polizistin können bei Einsätzen gezwungen sein, eine „dramatische Darstellung“ zu bieten, um ihre Rolle gut ausüben zu können.41 Das mag in vielen Fällen zwar nicht authentisch sein, weil es eine Anforderung der Rolle ist, die nicht dem Charakter der Person entspricht. Für die Organisation ist diese Form der „Verstellung“ aber zweifellos funktional.

27Auch wenn man sich durch die Überlegungen nicht überzeugen lässt – in letzter Konsequenz hilft der an andere gerichtete Appell nach Authentizität nicht. Er treibt die Adressaten dieser Forderung lediglich in ein „Sei-authentisch-Paradox“. Wie auch beim „Sei-spontan-Paradox“ existiert beim „Sei-authentisch-Paradox“ das Problem, dass etwas eingefordert wird, das nicht auf Anforderung produziert werden kann.42 Schlimmer noch: Je stärker Authentizität eingefordert wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich ausbildet. Die Aufforderung, authentisch zu sein, oder auch nur das Wissen, dass man im Hinblick auf „Authentizität“ beobachtet wird, führt zu einem Phänomen, das der Soziologe Erving Goffman als „Ich-Befangenheit“ bezeichnet hat.43 Man richtet seine Aufmerksamkeit immer mehr auf sich selbst und beobachtet sich daraufhin, ob man authentisch wirkt. Damit entfremdet man sich immer mehr von der Interaktion und die Wahrscheinlichkeit, dass man authentisch wirkt, reduziert sich noch weiter. Kurz: Je mehr man versucht, authentisch zu wirken, desto weniger authentisch ist man.44

Je stärker Authentizität eingefordert wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich ausbildet.

28#5 Automation

Die trügerische Entlastung durch Technik

Anfang der 1960er-Jahre fragte der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, wonach künftige Generationen einmal „unser Zeitalter“ beurteilen würden – „vielleicht die Bombe, vielleicht die Pille, vielleicht auch die Automation“. Der Begriff „Automation“ mag hier überraschen, weil etliche Jahrzehnte später dieser sicherlich nicht mehr zum allgemeinen Wortschatz der meisten Menschen gehört.45 Automation bedeutet letztlich nichts anderes, als Prozesse so weit zu technisieren, dass sie statt von Menschen von Maschinen ausgeführt werden können. (→ Technik)

Aus der frühen Diskussion über den Begriff „Automation“ kann man lernen, wie alt die Debatte über die Möglichkeiten neuer computerbasierter Technologien ist. Die Themen, die in den 1960er-Jahren unter dem Begriff der „Automation“ heftig debattiert wurden, wurden in den 1970er-Jahren unter dem Begriff der „Datenverarbeitungssysteme“ weiter diskutiert, in den 1980er-Jahren unter der Bezeichnung der „Informations- und Kommunikationstechnologien“ wieder hervorgeholt und dann ab den 2000er-Jahren unter dem Begriff der Digitalisierung gepusht. (→ Digitalisierung)

Sicherlich, die technischen Möglichkeiten haben sich erheblich erweitert. Technikmuseen beeindrucken ihre jungen Besucher inzwischen dadurch, dass sie die riesigen, mit Lochkarten zu fütternden Rechenmaschinen der 1950er- und 1960er-Jahre zeigen, die weit weniger Rechenleistungen hatten als jeder elektronische Wecker heutzutage. Das Moore’sche Gesetz – die Prognose, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computerchips jedes Jahr verdoppelt – hat dazu geführt, dass in industrialisierten Ländern jeder Mensch über eine Vielzahl von elektronischen Geräten verfügt, für deren Kapazitäten früher ganze Etagen von Bürogebäuden notwendig gewesen wären.

Techniken – also die reflexartige Reaktion auf einen vorher definierten Impuls – lassen sich dabei sowohl im menschlichen Verhalten als auch eingebettet in Maschinen finden. (→ Technik) Automation beschreibt hierbei den Versuch, die Langsamkeiten, Ineffizienzen und Unsicherheiten, die dem menschlichen Verhalten inhärent sind, dadurch zu vermeiden, dass die Technik in Maschinen integriert wird. Das genau programmierte Einschrauben eines Seitenspiegels durch eine Montagearbeiterin in der Automobilproduktion wird dann von einem Montageroboter übernommen. Automation ist, um es kurz zu fassen, die Verlagerung der Ausführung von enggekoppelten Wenn-dann-Programmen vom Menschen auf die Maschinen.46(→ Führung → Programme → Technik)

Auf den ersten Blick produziert die Automation den gleichen grundlegenden Effekt wie Techniken im menschlichen Verhalten auch – Entlastung.47 Die Erfindung der Schreibmaschine machte es überflüssig, sich darüber zu verständigen, wie groß oder klein und in welcher Weise 29Buchstaben geschrieben werden mussten, und löste nachvollziehbare Proteste bei Buchhaltern aus, die mit der „Abwertung der gestochenen Handschrift“ das „Ethos des ganzen Berufes“ infrage gestellt sahen.48 Die Einführung von Grafikcomputern führte dazu, dass Studierende der Ingenieurswissenschaften nicht mehr mühevoll die genau genormten Schriften lernen mussten, um die am Reißbrett entworfenen Maschinen zu beschriften, weil die ehemals durch die Normen genau definierten Rundungen und Abstände der Buchstaben nunmehr in die Computerprogramme eingeschrieben waren.49 Die Etablierung betriebswirtschaftlicher Software ermöglichte es, vorher schriftlich niedergelegte formale Regeln und bürokratische Prozeduren technisch abzubilden, und reduzierte so Kontrollnotwendigkeiten in Organisationen.50

Auf den zweiten Blick produziert die Automation neue Abstimmungsnotwendigkeiten. Wer sich die Einrichtung eines hoch automatisierten Fertigungsprozesses genau ansieht, stellt fest, dass ein Großteil dieser Prozesse nur funktioniert, weil Mitarbeiter sehr viel Fantasie aufwenden, um mit den Tücken der neuen Praxis umzugehen. Wer jemals die Einführung einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware in einem Unternehmen, einer Verwaltung oder einer Universität begleitet hat, sieht nicht unbedingt zuerst die Rationalisierungseffekte, sondern staunt stattdessen, mit wie viel – häufig auch regelbrechender – Kreativität die Mitarbeiter die Software „austricksen“, um eine gewisse Flexibilität von Organisationen zu erhalten.51(→ Regelbruch → Zahlen)

Diese Vereinfachung von Abläufen durch die Digitalisierung schafft, so paradox dies auch klingen mag, eine neue Komplexität auf höherer Ebene. (→ Komplexität) Die Organisation kann sich einerseits durch die Automation Entlastung verschaffen, muss sich jedoch andererseits mit den damit einhergehenden, neu geschaffenen Abstimmungsproblemen auseinandersetzen. Durch die Automation werden zwar elementare Abläufe in der Organisation vereinfacht, gleichzeitig aber von Menschen vorzunehmende Anpassungsnotwendigkeiten auf einem höheren Niveau produziert. Schon vor Jahrzehnten hat die Psychologin Lisanne Bainbridge diesen Effekt als „Ironie der Automation“ bezeichnet.52 Bei der Automation ist es wie beim bekannten Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel: Kaum hat man in Technik investiert, um eine Entlastung zu produzieren, schon ist die gesteigerte Komplexität da und kreiert neue Entlastungsbedürfnisse.53

30#6 Autonomie

Zur Eigenständigkeit von Organisationseinheiten

Zellen, Stämme oder Chapters – die Namen sind unterschiedlich, aber die Idee ist immer die gleiche: Die einzelnen Subeinheiten einer Organisation sollen so autonom strukturiert werden, dass sie ihre Leistungen bestenfalls ohne andere Abteilungen erbringen können. Statt der zeitaufwendigen Abstimmung mit anderen Ressorts sollen sie, so die Vorstellung, alle relevanten Entscheidungen selbst treffen. (→ Teams)

Manager hegen hier einen alten Traum, der seine Zuspitzung in der Idee des Profitcenters gefunden hat: Die für die Leistungserbringung notwendigen Kompetenzen sollten nicht in strikt voneinander getrennte Bereiche für Forschung, Einkauf, Marketing, Vertrieb sowie Produktion aufgeteilt werden. Diese würden lediglich über Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Kompetenzen im Dauerklinsch liegen und darüber das „große Ganze“ aus den Augen verlieren. Statt einer nach Funktionen unterteilten Unternehmung seien stattdessen weitgehend autonome und an eigenen Renditezielen orientierte Segmente zu bilden, in die alle wichtigen Aufgaben integriert werden sollten.

Auf diese Weise könnten, so jedenfalls die Vorstellung bei den Profitcentern, alle Segmente eines Unternehmens am Markt ausgerichtet werden. Wenn diese Subeinheiten sich dann noch untereinander abstimmen müssten, ließe sich dies über marktähnliche Beziehungen regeln. Die Hoffnung liegt an dieser Stelle auf der unsichtbaren Hand des Marktes, welche die Koordination der Unternehmensbereiche untereinander besser und zeitsparender als die eiserne Faust des Topmanagers lösen könnte. Die segmentäre Organisationsstruktur würde in diesem idealtypisch gedachten Szenario weitgehend reibungslos und konfliktfrei funktionieren. Der Traum des Managements mündet letztlich in der Hoffnung der eigenen Abschaffung, weil Koordinationsbedarf entweder nicht mehr anfällt, vor Ort gelöst wird oder eben über Marktbeziehungen geklärt wird. (→ Selbstständigkeit)

Aber schon in der zugespitzten Form des Profitcenters ist deutlich geworden, dass die modulare Organisation alles andere als ein neuer Königsweg ist: Durch die Segmentierung in autonome Einheiten, so die Einsicht, kann es zu einer „Balkanisierung der Organisation“ kommen, weil die selbstständigen Fragmente wie kleine, sich bekämpfende Fürstentümer agieren. Erfahrungen mit Profitcentern zeigen, dass Kunden dann nicht mehr aus einer Hand, sondern von den unterschiedlichen Einheiten gleichzeitig – und nicht selten auch gegeneinander – betreut werden. Die eigenständig handelnden Ressorts buhlen um die knappen Ressourcen, die von der Zentrale zur Verfügung gestellt werden, und scheren sich dabei einen Dreck um die Bedürfnisse anderer interner Sektoren. Das Topmanagement ist derweil damit beschäftigt, das Auseinanderdriften der nur an den eigenen Zielen orientierten Bereiche zu verhindern.54

In letzter Konsequenz verlagert sich durch die Einrichtung autonomer Einheiten lediglich die Art der Konflikte: Während in der in funktionale Abteilungen zerlegten Organisation um Zuständigkeiten und Kompetenzen gekämpft wurde, wird in den eigenständig handelnden 31Domänen um knappe Ressourcen wie zentrale Forschungs- und Entwicklungsgelder, Kunden oder Aufmerksamkeiten des Topmanagements gerangelt.

Fazit: Eine reibungslose und konfliktfreie Organisation, in der alle Einheiten erfolgreich an einem übergreifenden Ziel ausgerichtet werden, ist und bleibt eine Illusion. Ob eine segmentierte oder funktionale Strukturierung seitens des Managements zu wählen ist, ist im Grunde genommen davon abhängig, welche Form von Konflikten und Reibungen zwischen den Einheiten man favorisiert.

Durch die Segmentierung in autonome Einheiten kann es zu einer „Balkanisierung der Organisation“ kommen, weil die selbstständigen Fragmente wie kleine, sich bekämpfende Fürstentümer agieren.

32#7 Benchmarking

Über künstlich produzierte Krisen

Benchmarking ist ein kontinuierlicher Prozess, um Produkte, Dienstleistungen und Praktiken gegen die stärksten Mitbewerber oder die Firmen, die als Industrieführer angesehen werden, zu messen. Statt den Blick nach innen zu wenden und beim Organisationswandel eine Nabelschau zu betreiben, sollen durch Benchmarking neue Ideen für erprobte Verfahren von Vorreiterunternehmen übernommen werden. Durch Benchmarking, so die Hoffnung, könnten die Realität des Marktes besser erfasst, die Stärken und Schwächen der Konkurrenzen treffender analysiert sowie eine objektive Auswertung der Kundenanforderungen erreicht werden.

Die klassische Annahme ist, dass es beim Benchmarking um eine „objektive Bestandsaufnahme“ geht. Eine Annahme, die angesichts der Tatsache, dass selbst die „Best-Practice-Unternehmen“ häufig gar keinen „objektiven Überblick“ über all ihre Zahlen haben und die intern gehandelten Bilanzen natürlich auch aus verständlichen Gründen anderen Unternehmen nicht völlig ungefiltert zur Verfügung stellen, nicht wenige Praktiker überrascht, aber vielleicht geht es beim Benchmarking in Wirklichkeit um etwas anderes.55

In der Organisationswissenschaft setzt sich die Einsicht durch, dass Organisationen nur in sehr stabilen Verhältnissen ihre Umweltbedingungen einigermaßen verlässlich „scannen“ können. In einer komplexen Umwelt hingegen, so die Überzeugung, schaffen sich Unternehmen, Verwaltungen und Verbände ihre eigene Umwelt, indem sie die verwirrende, chaotische und irritierende Welt nach ihrem Gutdünken interpretieren und sich in dieser konstruierten Umwelt bewegen. Organisationen reagieren dann also nicht auf gegebene Umweltbedingungen, sondern sie erfinden, erschaffen und konstruieren sich ihre Wirklichkeit selbst. Sie „setzen in Szene“, was sie als Marktbedingung, politisches Umfeld oder Kundenwünsche ansehen und als Rahmen für ihre Handlungen verstehen wollen.56(→ Beobachtungen)

Diese Kreation von Umweltbedingungen ist häufig ein wildwüchsiger Prozess. Es gelingt dem Management nur sehr begrenzt zu bestimmen, was in der Organisation überhaupt als relevanter Umweltfaktor begriffen wird. Benchmarking ist der Versuch, diesen wildwüchsigen Prozess wieder in den Griff zu bekommen. Es dient als Instrument, um sich als Organisation in gesteuerter Form ein eigenes Bild von der Umwelt zu erarbeiten.

In Unternehmen kann es keine Gewissheit über die Zukunft geben – das ist die Spezifik von Zukunft gegenüber Gegenwart und Vergangenheit. Diese Unbestimmtheit der Zukunft erzeugt Stresssymptome in den Organisationen. Man ist sich unsicher, ob man für die nächsten Jahre gerüstet ist. Es ist unklar, ob man vielleicht in eine Winterstarre zu fallen droht. Durch Benchmarking versuchen sich Unternehmen daher eine Antwort auf die bei Sozialpädagogen so beliebte Frage zu geben, ob man „okay“ ist. Benchmarking vermittelt das Gefühl, dass 33man sich durch aktive Umweltbeobachtung und Offenheit gegenüber Veränderungen für die Zukunft „selbst versichert“.